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Kapitel 17 - Dienstag, 27.07.1999



"Papi?"
"Ich bin wach, Bolzen. Guten Morgen."
"Morgen!" Sie gab mir einen Kuß, dann sah sie mich an. "Können wir was reden?"
"Sicher. Unten?"
"Ja."
Sie nahm mich an die Hand und ging mit mir in die Küche, wo wir uns etwas zu trinken holten, dann setzten wir uns ins Wohnzimmer. Es war kurz vor halb fünf; die Sonne ging langsam auf und tauchte das Wohnzimmer in ein angenehmes Dämmerlicht.
"Leg los, Bolzen."
Gleich ihre erste Frage traf ins Schwarze. "Wie alt ist Shannon? Ganz ehrlich!"
"Das weißt du doch", lenkte ich ab. "Fünfzehn."
"Nein." Kerstin schüttelte ihr weises Haupt. "Sie ist viel älter. Sie hat sich gestern, als wir über den Jungbrunnen geredet haben, verstellt. Das habe ich ganz deutlich gespürt. Wie alt ist sie?"
"Gegenfrage: warum hast du gestern gesagt, daß alle vom Jungbrunnen trinken sollen? Daß keiner ausgelassen werden darf?"
"Weil ich das auch gespürt habe, Papi. Du und Shannon wißt etwas, was wir noch nicht wissen. Ihr werdet uns das sagen, aber ich will das jetzt schon wissen. Und jetzt mußt du meine Frage beantworten. Wie alt ist Shannon?"
"Sag es ihr." Von uns unbemerkt war Shannon die Treppe herunter und zu uns ins Wohnzimmer gekommen. Sie setzte sich an meine andere Seite und sah mich an. "Sag es ihr, Liebster."
Ich seufzte stumm. "231 Jahre, Kerstin." Entgegen aller Erwartungen blieb Kerstin ruhig sitzen. Sie nickte nur nachdenklich.
"Wie kam das?"
Shannon gab ihr eine sehr kurze Zusammenfassung der Umstände. Wieder nickte Kerstin.
"Und das könnten wir bei uns auch machen lassen?"
"Ja." Shannon blickte ihr tief in die Augen, und nun verstand ich den Blick. Es war die Erfahrung von über 200 Lebensjahren, die sich in ihren Augen niederschlug.
"Ja, Kerstin, das könntet ihr bei euch auch machen lassen. Und genau wie wir bisher müßtet auch ihr alle paar Jahre umziehen, weg von allem, was euch vertraut ist, und ein vollständig neues Leben anfangen. Keine Freunde mehr, mit denen du über alles reden kannst, nur noch Verstecken und Lügen. So wie ich euch am Anfang belogen habe. Es waren keine direkten Lügen, aber auch keine Wahrheiten. Möchtest du so leben?"
"Gegenfrage." Meine Tochter lernte schnell. "Lohnt es sich?"
Shannon sah sie an; ein tiefes, herzliches Lächeln zog über ihr Gesicht. "Ja, Kerstin. Für mich hat es sich gelohnt."
"Wie wird das gemacht? Eine Spritze oder so?"
"Nein. Ich muß dich einfach nur beißen. Als Wolf. Dann hörst du auch auf, älter zu werden." Sie sah Kerstin bedeutungsvoll an. "Bolzen, du wirst nur alle hundert Jahre ein Jahr älter. So etwa; ganz genau weiß ich das noch nicht. Aber das kommt ungefähr hin. Du mußt noch fünfhundert Jahre warten, bis du volljährig bist. Fünfhundert Jahre, bis du Autofahren kannst. Fünfhundert Jahre, bis du dir eine eigene Wohnung mieten kannst. Du mußt im Durchschnitt hundert Jahre lang die gleiche Klasse in der Schule besuchen. Nach jedem Umzug kommst du wieder zurück in die achte Klasse. Erst in hundert Jahren kommst du in die neunte. Möchtest du das?"
"Nein." Sie erwiderte Shannons Blick gelassen. "Aber das muß ich ja auch nicht. Wenn wir den ganzen Schmuck verkauft haben, können wir doch wohnen, wo wir wollen, oder? Dann können wir doch irgendwo hinziehen, wo es kaum Menschen gibt. Ich weiß, daß es in manchen Ländern erlaubt ist, zu Hause unterrichtet zu werden. Werden Mandy und Becky auch nicht älter?"
"Nein. Sie bleiben auch so, wie sie jetzt sind."
"Und Mami?"
"Deine Mutter auch."
"Und du?" Sie sah mich an.
"Ich werde auch nicht älter, Bolzen", sagte ich etwas traurig. "Aber das sind keine Gründe für dich, das auch zu tun, Kerstin. Bei Mandy und Becky und Shannon war es ein Unfall. Bei deiner Mutter in gewisser Weise auch. Aber du, du entscheidest jetzt über dein gesamtes zukünftiges Leben, Kerstin." Ich nahm ihre Hände in meine. "Über die nächsten paar tausend Jahre. Ich kann nicht zulassen, daß du eine so schwerwiegende Entscheidung kurz nach dem Aufstehen triffst."
"Hältst du mich eigentlich nur für doof?" fragte Kerstin erzürnt. "Papa, du schwafelst hier rum und sagst Dinge, die überhaupt nicht zutreffen! Glaubst du etwa, ich könnte jetzt noch völlig normal leben? Wieder zur Schule gehen und so tun, als wäre ich ein ganz normaler Mensch? Ohne den Wolf in mir? Über mein Leben wurde doch schon entschieden, als ich gerade geboren war! Denk nach, Papa! Ich habe den Wolf von dir geerbt, und wenn ihr so lange lebt, will ich das auch! Ich kann doch keine richtigen Freunde mehr haben. Jetzt nicht mehr. Mandy und ich haben uns schon sehr lange darüber unterhalten, wie das ist, ein Wolfsmensch zu sein. Sie hat auch keine Freunde. Eben weil sie nicht will, daß jemand erfährt, wer sie wirklich ist." Sie stand wütend auf und stach mit dem Finger nach mir.
"Und du, du schreibst mir nicht mehr vor, welche Entscheidungen ich wann zu treffen habe, klar? Wenn du glaubst, ich sehe zu, wie ihr alle jung bleibt und nur ich muß älter werden, dann hast du dich gewaltig geschnitten. Gewaltig!" Zornig rauschte sie ab. Shannon sah ihr beeindruckt hinterher.
"Ganz schön temperamentvoll, die junge Dame. Jetzt verstehe ich auch, wie sie zu dem Spitznamen Bolzen kommt. Sie trifft genau den Kern der Dinge, und das mit voller Wucht."
"Das tut sie", seufzte ich. "Und sie hat auch völlig recht mit dem, was sie sagt. Aber trotzdem! Shannon, sie ist erst 13! Ich kann sie doch nicht eine Entscheidung treffen lassen, deren Auswirkungen sie noch gar nicht abschätzen kann!"
"Konntest du es?"
"Bitte?"
"Konntest du gestern abschätzen, was auf dich zukommt, Liebster? Wußtest du genau, wie dein weiteres Leben verlaufen wird, als du mich gebeten hast, dich zu beißen?"
Ich schüttelte schweigend den Kopf.
"Und trotzdem hast du dich dafür entschieden", sagte Shannon leise. "Warum, Liebster?"
"Wegen euch. Wegen dir, wegen Vera. Die Aussicht, so lange wie möglich mit euch zusammen zu sein, war stärker als jede Angst vor der Zukunft."
"Das ist genau die Sichtweise, die Kerstin auch hat, Liebster. Sie will auch nicht altern, weil sie genau spürt, daß sie im Grunde ein Wolf ist und ein Rudel braucht. Eines, mit dem sie vertraut ist." Sie schmiegte sich an mich.
"Notfalls", sagte sie gedankenverloren, "können wir nach Finnland ziehen. Dort sind wunderbare Wälder, Liebster. Waren es zumindest vor 50 Jahren noch. Oder nach Kanada. Wo wir leben, spielt im Grunde keine Rolle. Für Kerstin ist nur wichtig, daß sie bei euch bleibt. Und das verstehe ich sehr gut. Aber du hast offensichtlich eins noch nicht verstanden, Liebster." Ihre Hand strich zärtlich über meine Wange.
"Nämlich daß bei Wölfen nicht der einzelne Wolf zählt, sondern nur das Rudel. Wölfe werden geboren und sterben, aber das Rudel besteht fort. Jeder einzelne Wolf trägt das Verlangen nach einem Rudel in sich, Toni. Es gibt zwar einsame Wölfe, aber die überleben nicht lange. Die meisten jedenfalls nicht. Kerstin spürt dieses Verlangen auch in sich, genau wie du, Liebster. Dein menschlicher Teil sagt, daß du mich liebst und daß du deswegen bei mir bleiben willst. Der Wolf in dir hat jedoch entschieden, daß du genauso lange leben willst wie ich, weil wir nur so für das Rudel sorgen können. Wenn Kerstin nun das Verlangen, das sie als Wolf spürt, mit menschlichen Worten ausdrückt, darfst du sie nicht als menschliche Worte nehmen, sondern als das, was sie sind: Ausdruck ihren Verlangens als Wolf, zum Rudel zu gehören." Sie gab mir einen sanften Kuß auf die Wange.
"Ich leg mich noch etwas hin. Bis gleich."
"Ja, Shannon. Bis gleich." Ich sah ihr hinterher, bis sie auf der Treppe nach oben verschwunden war, dann schloß ich die Augen und dachte lange und gründlich nach. Als Vater, als Mensch, und als Wolf.

* * *

Die Information am Flughafen wies uns die Richtung. Shannon und ich folgten den Hinweisschildern, bis wir vor dem Ausgang standen, durch den Noel kommen würde. Wir setzten uns auf eine der vielen Bänke und warteten.
"Schon entschieden?" fragte Shannon leise. Ich schüttelte den Kopf.
"Nein, mein Liebling. Im Grunde ist es Kerstins Entscheidung, aber mir kommt es trotzdem nicht richtig vor, ihr so ein Leben, wie du es geschildert hast, zuzumuten."
"Mit einem Unterschied." Shannon sah mich ernst an. "Kerstin hat eine Familie. Ich hatte nichts, als ich davongejagt wurde."
"Und diese anderen Dinge, Shannon? Nachbarn, Freunde, Schule?"
"Ja. Die werden gleich sein. Aber die werden auch schon auf Vera und dich zukommen, Liebster." Sie lächelte schief. "Schon in wenigen Jahren wirst du die Sprüche hören. Du wirst ja gar nicht älter! Hast du dich gut gehalten! Sag mal, benutzt du das Make-Up deiner Frau?" Shannon lachte leise.
"So war es bei Noel, und immer, wenn er das hörte, war es Zeit, wegzugehen. Liebster, ich will dich nicht zu etwas überreden, was du eigentlich nicht willst, aber du mußt Kerstin das Recht zugestehen, als Mensch wie als Wolf ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Dreizehn hört sich noch sehr jung an, aber du glaubst gar nicht, was ein Mensch in dem Alter schon erreichen kann, wenn es sein muß. Mit 13 - dem Kalender nach! - habe ich schon mitgeholfen, ein Baby zur Welt zu bringen. Ich habe Knochenbrüche geschient und klaffende Wunden versorgt. Und ich bin bestimmt nicht robuster als euer Bolzen." Sie zwinkerte mir zu, und ich mußte trotz meiner Sorgen lachen.
"Das Gefühl habe ich allerdings auch, Shannon! Kerstin wird all das erreichen, was sie sich vornimmt. Sie kann höflich und nett sein, wie du weißt, aber wenn man ihr auf die Zehen tritt, dann war das von heute morgen nur ein netter, gemütlicher Plausch."
"Au weia!" lachte Shannon. "So schlimm?"
"Noch schlimmer!" Ich drückte kurz ihre Hand und atmete laut aus.
"Du hast schon recht, mein Liebling. Im Prinzip ist es Kerstins alleinige Entscheidung. Ich denke nur, sie handelt aus Trotz oder Gruppendruck oder was auch immer."
"Das tut sie nicht, Liebster. Sie hat nicht nur mit Mandy, sondern auch schon mit mir darüber gesprochen, wie wir mit unserem Leben als Wolf klarkommen. All das, Toni, was wir ihr gesagt haben, hatte sie sich schon selbst ausgerechnet. Nicht so detailliert, wie wir das erlebt haben, aber in den Grundzügen doch schon völlig korrekt. Ich schätze sie inzwischen so ein, daß sie erst dann den Mund aufmacht, wenn sie innerlich schon ihre Entscheidung getroffen hat. Die Fragen, die sie dann stellt, kommen nur zur Absicherung der Entscheidung. Danach geht sie her und überdenkt alles noch einmal von Anfang bis Ende, und dann entschließt sie sich endgültig. Stimmt's?"
"Gut erkannt, Liebling. So handelt sie tatsächlich. Im Grunde ist Vera die impulsivste von uns allen. Die Kinder handeln überlegter. Selbst Birgit macht sich im Vorfeld schon viele Gedanken und entscheidet nicht einfach aus dem Bauch heraus."
"Dann denke ich, daß einer von uns beiden Kerstin heute abend beißen darf." Shannon lächelte mir aufmunternd zu. "Ist das für dich nicht auch schöner, deine Tochter noch ein paar hundert Jahre bei dir zu haben anstatt nur fünf oder sieben?"
"Shannon!" Ich schaute sie strafend an. "Jetzt versuch nicht, mich einzuwickeln!"
"Laß mich doch!" grinste sie schmollend. "Antworte bitte."
"Natürlich ist das schöner", seufzte ich. "Aber was ist, wenn sie in vierzig, fünfzig Jahren die Nase voll hat vom ewigen Leben? Der Prozeß kann doch nicht umgekehrt werden, oder?"
"Nein, das kann er nicht. Aber warum sollte sie die Nase voll haben, Liebster? Solange sie Eltern hat, die ihr zur Seite stehen, und Geschwister und Freunde, mit denen sie sich bestens versteht, solange wird sie nicht die Nase voll haben." Sie atmete kräftig durch und sah sich gleichzeitig um, dann brachte sie ihren Mund an mein Ohr.
"Es war 1929", flüsterte sie. "Da haben wir einen Mann getroffen, dem es genauso ergangen war wir mir. Aber das schon im Jahre 1388. Er war über fünfhundert Jahre alt, Toni! Und er war so lebenslustig und munter, wie ich es heute bin."
"Kennst du noch mehr so Menschen?" fragte ich etwas verstört.
"Ja, ein paar habe ich getroffen. Aber wo sie wohnen, weiß ich nicht. Ich kenne auch nur die Vornamen. Noel hat da mehr den Überblick. Es gibt weltweit etwa zwanzig Menschen wie uns. Auch deswegen wollte er so schnell kommen. Er sieht sich die Menschen, die gerade zum Wolf geworden sind, gerne persönlich an."
"Und beurteilt sie?"
"Ja, das kann passieren."
"Aha." Ein leichter Ärger gegen diesen Noel begann sich aufzubauen. "Und was macht er, wenn ihm jemand nicht gefällt?"
"Nichts!" lachte Shannon leise. "Toni, er ist nicht Gott oder so etwas. Er hat nur gerne einen Überblick, wer gerade wo ist. Das hilft ihm, gewisse Dinge unter Kontrolle zu halten. Kennst du eigentlich den Unterschied zwischen Zauberer und Magier?"
"Sicher. Der Magier hat einen höheren Hut."
"Blödmann!" Shannon warf sich lachend an mich. "Toni, Liebster! Du mußt nicht eifersüchtig sein. Auf Noel schon gar nicht."
"Ich bin nicht -" Ich unterbrach mich und nickte. "Doch, du hast recht. Tut mir leid, mein Liebling. Du kennst ihn seit siebzig Jahren und verdankst ihm sehr viel. Ich habe kein Recht, irgend etwas über ihn zu sagen."
"Jetzt verstehe ich endgültig, warum Vera dich so liebt", flüsterte sie. "Paß auf. Ein Zauberer zaubert, wie der Name schon sagt. Er ist auf sehr viele Hilfsmittel wie Tränke, Kristalle, Gegenstände und so weiter angewiesen. Er kann bestimmte Dinge in andere verwandeln, er kann Menschen etwas beeinflussen. Ein Magier kann mehr. Seine Kräfte sind nicht mehr von Gegenständen abhängig, er hat die benötigte Kraft in sich. Auch er kann Dinge verwandeln, tut es aber nur in den seltensten Fällen, weil ihm das Gleichgewicht der Natur jederzeit bewußt ist. Ein Zauberer hätte niemals eine so mächtige Falle an der Truhe anbringen können. Ein Magier schon eher."
"Verstehe. Also sind die Magier die gefährlicheren?"
"Nein, genau im Gegenteil. Die Zauberer sind gefährlicher, weil sie nicht immer wissen, wie ihr Wirken in den Kreislauf der Welt eingreift. Ein Magier weiß das. Magier sind mächtiger, wenn du so willst, aber gefährlicher sind die Zauberer. Für andere wie für sich."
"Aha. Kann denn ein Zauberer zum Magier befördert werden, so wie bei Noel?"
"Nein."
"Nein? Aber -"
Shannon seufzte. "Toni, ich kann nicht viel darüber sagen. Nur soviel: Noel hat sich mit bestimmten - äh, Zeichen beschäftigt, und durch eine gewisse Kombination der Zeichen hat er sein magisches Potential innerhalb von wenigen Monaten auf ein so hohes Niveau bekommen, daß er selber darunter zu leiden hatte. Aber er hat es in den Griff bekommen, und das sogar ganz ohne Schäden, was eigentlich das Erstaunlichste an der ganzen Sache ist."
"Du sprichst von den nordischen Zeichen, richtig?"
"Ja, Liebster." Shannon lächelte. "Kennst du sie?"
"Nur diese eine kreuzförmige. Ich habe diese Stellung mal probiert, weil sie Ruhe, Kraft und Frieden geben sollte, aber außer Schwindel kam nichts. Da habe ich aufgehört."
"Dieser Schwindel ist das erste Anzeichen für eine große Veränderung in deinem Bewußtsein, Liebster. Aber bei diesem kann nichts Schlimmes passieren. Es gibt andere, die weitaus gefährlicher sind. Sie versprechen zwar große magische Kräfte, aber wenn du für diese Kräfte nicht bereit bist, droht dir die Klapsmühle, und das ist nicht nur so locker dahingesagt."
"Kann ich mir denken. Ich habe mal irgendwo gelesen, daß ein Mißbrauch dieser Symbole auf den Anwender zurückschlägt. Stimmt das?"
"Ja und nein. Wie gesagt, ich weiß nicht so sehr viel darüber, aber der Mißbrauch ist eine Frage der Motive. Wenn du diese Dinger anwenden willst, um einem Menschen in Not zu helfen, dann wird es klappen, auch wenn du überhaupt nicht weißt, was du da eigentlich tust. Das ist an sich schon Mißbrauch, wird aber aufgrund des Motivs - der Hilfeleistung für einen bedürftigen Menschen - nicht so gewertet. Benutzt du sie jedoch zum Erreichen egoistischer Ziele, dann... Ja, dann hast du ein echtes Problem. Du wirst mit Energien, Kräften und Bildern konfrontiert, die du weder einordnen noch verstehen kannst, aber du kannst sie auch nicht von dir abhalten. Da sind schon einige bei vor die Hunde gegangen. Noel hat mich mal zu so einem armen Schwein mitgenommen. Der Typ lag vollkommen irre auf dem Boden und sabberte nur noch. Klingt wie aus einem schlechten Film, war aber so. Er hat etwas gesehen, mit dem er geistig einfach nicht mehr fertig wurde, und flüchtete sich in den Wahnsinn. Noel mußte dieses - dieses Wesen, was sich an ihn geheftet hatte, wieder von ihm entfernen und den armen Kerl anschließend umbringen."
"Umbringen?" Ich starrte sie schockiert an. Shannon nickte verschlossen.
"Ja. Toni, informiere dich bitte über die Art der psychiatrischen Behandlungsmethoden Ende des 19. Jahrhunderts. Danach können wir gerne weiterreden. Ich war auch nicht damit einverstanden, aber Noel hat mir mal so ein - eine Anstalt gezeigt. Es war für den armen Kerl besser so, glaub mir. Er war ja sowieso nicht mehr er selbst. Und wäre es auch nie wieder geworden."
"Puh!" Ich stieß den Atem aus. "Shannon, du knallst mir hier ganz schön harte Brocken um die Ohren!"
"Ich weiß." Sie lächelte mich entschuldigend an. "Ich hab's halt erlebt, Liebster. Heute kann selbst eine schwere Schizophrenie mit Medikamenten kontrolliert und sogar geheilt werden, aber vor hundert Jahren... Es wurde mit Methoden experimentiert, die heute unter den Begriff 'Sadismus' fallen. Ah, da tut sich was!" Sie deutete auf die Anzeigetafel. Noels Flug leuchtete soeben als "Gelandet" auf.
"Toll!" freute Shannon sich. "Wie lange braucht er jetzt noch?"
"Wenn er kein Gepäck dabei hat, etwa fünf bis zehn Minuten. Der Flieger muß erst mal ausrollen, dann zur Gateway und andocken. Anschließend durch den Zoll. Mit Koffer etwa 20 Minuten."
Wir mußten knapp zehn Minuten warten, dann winkte Shannon jemandem aufgeregt zu. Ich wußte nicht genau, was ich erwarten sollte; auch wenn ich immer wieder an einen alten Mann mit langen weißen Haaren, grauer Robe und langem Stab in der Linken denken mußte, war mir schon klar, daß ein so aussehender Passagier niemals ohne mißtrauische und bewaffnete Begleitung aus dem Flugzeug gekommen wäre. Aber Noel...
Als Shannon ihn nach dem Zoll umarmte, kam ich aus dem Staunen nicht mehr heraus. Noel sah aus wie ein Mensch des Jahres 1999. Weißes Hemd mit kurzem Arm, Blue Jeans, modische, dunkelblaue Krawatte, schwarze Socken und schwarze Schuhe. Eine ganz normale Reisetasche in einem dunklen Grün hing an einem breiten Riemen über seiner Schulter. Noel war, meiner Einschätzung nach, nur ein paar Jahre älter als ich; seine schwarzen Haare waren modisch frisiert. Erst als ich in seine klaren blauen Augen sah, erkannte ich seine Kraft. Wären wir uns als Wölfe begegnet, hätte ich mich sofort auf den Boden gelegt und um Gnade gewinselt.
"Na, na, na!" lachte Noel laut und kam mit ausgestreckter Hand auf mich zu. "Sie sind Toni?" Sein Lachen ließ ihn wieder als einen völlig harmlosen, umgänglichen Menschen erscheinen. Sehr verwirrend.
'Äh - ja", stotterte ich. "Dann müssen Sie Noel sein."
"Ist er!" strahlte Shannon. "Jetzt hab ich meine beiden wichtigsten Männer in meinem Leben endlich mal zusammen!" Sie umarmte uns beide gleichzeitig. Noel lächelte verzeihend.
"Dir scheint es ja blendend zu gehen, Shannon."
"Tut es auch, Noel. Toni und ich haben uns gesucht und gefunden."
"Und Ian? Dein Anruf von vor ein paar Wochen war ziemlich unverständlich, Shannon. Nicht nur wegen der schlechten Leitung auf meiner Seite, sondern auch wegen dem, was du losgelassen hast. Ihr wolltet weg und doch wieder nicht oder so etwas? Ich wurde nicht schlau daraus."
Shannon nahm Noel die Tasche ab und hängte sie sich um. "Ian wollte uns loswerden", meinte sie gleichgültig, während sie sich in Marsch setzte. Wir gingen neben ihr her. "Gleiche Grund wie alle anderen auch, Noel, also tu ihm bitte nichts. Seine Angst wurde einfach zu groß."
"Wie Madame befehlen", lächelte Noel. "Was ist mit Shelley?"
"Die gibt's schon lange nicht mehr", plauderte Shannon, während wir langsam durch das riesige Gebäude auf den Ausgang zu schlenderten. "Ihr Wunsch wurde erfüllt, und das so gut, daß Ian sie rausgeschmissen hat, als wir drei Jahre bei ihm waren. Wieso hast du ihr eigentlich diesen Wunsch erfüllt? Du konntest dir doch ausrechnen, was passieren würde."
"Das habe ich dir in meinem Brief von damals geschrieben, Shannon."
"Brief?" Shannon sah ihn erstaunt an. "Noel, ich hab in all den Jahren, in denen wir hier in Deutschland sind, keinen einzigen Brief von dir bekommen!"
Nun war es an Noel, erstaunt zu sein. "Aha? Ian hat mir eure neue Adresse durchgegeben, als ihr noch in Irland wart. Sekunde." Er kramte in der Seitentasche seiner Seitentasche herum und zog ein ganz normales Adressbüchlein heraus. "So... Shannon... Da: Shannon McDonaghue, Westring 69, und die Stadt." Er zeigte ihr die Adresse. Shannon schüttelte den Kopf.
"Nie! Noel, wir sind hier in einen der Vororte gezogen! Von der Stadt habe ich noch nie etwas gehört! Toni?" Sie ließ mich in das Büchlein sehen; Ian hielt die Zeile unter Shannons Eintrag bedeckt. Ich nickte.
"Diese Stadt liegt etwa 400 Kilometer von hier entfernt, Noel. In Richtung Südosten."
Noel nickte langsam und sah Shannon an. "Deshalb. Ich dachte, du wolltest mich ärgern, weil du mich in deinen Briefen mehrmals gefragt hast, warum ich dir nicht mehr schreibe. Ich habe versucht, über unsere internationale Auskunft Ians Nummer zu bekommen, aber es gab keinen Eintrag. Das ist an sich nichts Ungewöhnliches heutzutage, nur... Doch. Langsam werden mir verschiedene Dinge klar."
"Und ich dachte", sagte Shannon leise, "daß du mit uns nichts mehr zu tun haben wolltest, und habe auch aufgehört, dir zu schreiben. Das tut mir so leid, Noel. Ich war ziemlich lange böse auf dich. Deswegen war ich gestern auch so kühl am Telefon."
"Hab ich gemerkt", lächelte Noel. "Aber warum, kam nicht an. Oder ich hab's nicht verstanden. Ich habe dich auch nicht auf die Briefe angesprochen, weil ich mir dachte, daß du deine Gründe haben würdest. Tolles Mißverständnis auf beiden Seiten. Auf jeden Fall werde ich mich mal mit Ian unterhalten. Was er da getrieben hat, geht ganz klar gegen unsere Absprache, und das lasse ich nicht zu." Weder Stimme noch Mimik hatten sich verändert, aber die Kraft in seinen Augen blitzte für einen Moment intensiv auf. Dann war es wieder vorbei. Noel sah mich an, seine Augen funkelten vor Vergnügen.
"Und Sie sind also der Grund für Shannons übersprudelnde Freude, die mich in den letzten Wochen immer wieder vom Schlafen abgehalten hat?"
"Da könnt ihr gleich drüber reden!" unterbrach Shannon mein Luftholen. "Was war mit Shelley?"
"Ach so. Ja... Ich habe natürlich mit ihr geredet, Shannon, und ihr ganz klar gesagt, daß sie damit ihre gerade frisch eingegangene Ehe aufs Spiel setzt, aber das war ihr egal. Sie sagte, sie würde es schon im Griff haben. Tut mir ehrlich leid, Shannon." Er strich ihr kurz über das Haar. "Ich war damals tief in meinen Studien über ein Wesen, das - Ist ja egal. Auf jeden Fall hätte ich mir viel mehr Zeit nehmen sollen, aber Ian machte eigentlich einen sehr soliden Eindruck, so daß ich davon ausging, daß er seine Frau wohl unter Kontrolle haben würde. Tut mir leid, daß es anders gekommen ist. War es sehr schlimm?"
"Ging so", meinte Shannon leise. "Wir hatten vom einen auf den anderen Tag keine Mutter mehr, und der Vater war am Arbeiten wie ein Ochse. Wir haben sehr lange nur für uns gelebt, Noel. Aber immerhin haben wir durch den letzten Umzug Toni und seine Frau Vera kennengelernt. Sie haben auch zwei Kinder, die genau in Mandys und Beckys biologischem Alter sind."
"Das freut mich!" rief Noel herzlich aus. "Shannon, das freut mich wirklich für euch! Wieso hast du mich denn nicht angerufen, wenn es so schlimm war?"
"Es war nie so schlimm, daß wir weg wollten, Noel. Erst als wir Toni kennengelernt haben, kam der Wunsch, und da war Ian schon vorbereitet. Er hatte sich schon in dem Vorort, in dem wir bis dahin gewohnt haben, um eine Pflegefamilie bemüht, aber keinen Erfolg gehabt. Erst mit Toni hat es geklappt, was ich dir ja schon am Telefon angedeutet habe. Wir sind jetzt ganz offiziell seine Pflegekinder."
"Ian konnte auch keinen Erfolg haben." Noel sah sie durchdringend an. "Genau das habe ich ihm nämlich verboten, Shannon. Er hatte die ganz klare Anweisung, sich bei mir zu melden, wenn es Schwierigkeiten geben sollte. Warum ihr jetzt trotzdem als Pflegekinder untergekommen seid, muß ich noch klären. Wo wohnt Ian jetzt?"
"Laß ihn, Noel!" bat Shannon flehend. Noels Augen blitzten auf. Shannon erstarrte.
"Gleich neben uns", sagte sie tonlos. "Ein Haus vor unserem. Nummer 58."
"Danke." Noels Augen normalisierten sich wieder, und Shannon kam wieder zu sich. Bedrückt ging sie vor. Halb fasziniert und halb schockiert sah ich Noel an, der meinen Blick gelassen erwiderte.
"Was machen Sie beruflich?" fragte er im Plauderton.
"Gruselromane schreiben."
Noel nickte. "Sind Sie vertraglich gebunden?"
"Natürlich."
"Was passiert, wenn Sie ihre Fristen nicht einhalten? Gibt es dann eine Vertragsstrafe?"
"Ja, so ist das vorgesehen."
"Sehen Sie, Toni. Das meinte ich. Ian, Shelley und ich hatten einen Vertrag. Ich komme aus einer Zeit, in der Papier weniger galt als eine mündliche Zusage, und für mich ist ein deutliches Ja noch bindender als eine Unterschrift vor einem - Notar heißt das hier, richtig? Gut. Ian und Shelley haben ganz klar einen Vertragsbruch begangen, und demzufolge sehe ich mich auch nicht mehr an meine Zusage gebunden. Allerdings will ich vorher mit Ian reden und erfahren, was seine Motive waren. Wenn er tatsächlich nur Angst - Shannon hat Ihnen schon alles über sich erzählt?"
"Das Wichtigste", lächelte ich, schon wieder beruhigt, daß Noel nicht auf einen blitzeschleudernden Rachefeldzug ging. "Alles würde bedeuten, sie müßte bis Weihnachten reden."
"Wenn sie damit auskommt", erwiderte Noel trocken. "Wenn Ian also tatsächlich nur Angst vor den drei Mädchen hatte, sehe ich von einer schweren Strafe ab. Allerdings hatte er die Aufgabe, drei nach außen hin minderjährige Mädchen aufzunehmen und ihnen ein ordentliches Heim zu geben, und dieser Aufgabe ist er nicht nachgekommen. Diese Möglichkeit wurde auch zwischen uns besprochen, und er sollte mich anrufen, wenn es soweit wäre. Das hat er aber auch nicht getan. Er hat mir im Gegenteil eine falsche Adresse gegeben. Wenn es hier um Hunde oder Katzen gehen würde, könnte ich noch ein Auge zudrücken, aber nicht bei drei Menschen, die in der heutigen Zeit auf die Hilfe und den Beistand von Erwachsenen angewiesen sind. Wenn Sie selbst Kinder haben, werden Sie verstehen, was ich meine. Jetzt aber Schluß mit diesem traurigen Thema. Shannon ist glücklich, das sehe ich ihr an. Sie auch, Toni?"
"O ja!" lächelte ich. "Ich dachte erst, daß ich mit meiner Frau schon glücklich wäre, aber seit Shannon dabei ist, sind wir alle überglücklich."
"So, so!" feixte Noel verschmitzt. "Eine dieser unmoralischen Beziehungen also?"
"Noel!" rief Shannon mit roten Ohren aus. "Ich bin 231 Jahre alt! Ich darf selbst entscheiden, was moralisch ist und was nicht!"
"Sicher", grinste Noel nun offen. "Ach übrigens, was ist eigentlich aus deinen Hemmungen geworden, Shannon? Regst du dich immer noch über knielange Röcke auf, oder hat sich das gelegt?"
"Natürlich hat sich das gelegt!" erwiderte Shannon erbost. "Noel, wir waren von 1959 bis 1973 in London! In der Zeit kam der Minirock!"
"Und du hast dir gleich einen gekauft?"
"Nein", gestand Shannon verlegen. "Ich hab mir gleich ein Dutzend davon gekauft."
"Würde ich gern mal sehen", schmunzelte Noel. "Anders als in einem langen Kleid habe ich dich ja nie zu Gesicht bekommen."
"Du sollt das lassen!" lachte Shannon. "Kerl, seit vierzig Jahren baggerst du mich regelmäßig an, wenn wir uns mal sehen!"
"Gönn mir doch auch etwas Freude! Außerdem baggere ich dich nicht an. Ich sage nur, daß ich gerne einmal deine Beine sehen würde. Selbst heute hast du eine Jeans an."
"Kannst du ja nachher", antwortete Shannon versöhnlich. "Da siehst du sogar Mandy und Becky im Badeanzug." Ich spürte, daß Noels Äußerungen nur harmlose Neckereien waren, und daß er keine wirklichen Absichten in Bezug auf Shannon hatte. Es wurde mir mit jeder Minute sympathischer.
Wir waren inzwischen bei meinem Auto angelangt. Schnell war Noels Tasche verstaut, dann stiegen wir ein und fuhren los.
"Apropos", meinte Noel. "Wie weit ist Mandy? Auch schon erwacht?"
"Ja, in der Nacht zum 30.06. Da ging's bei ihr los. Und ich bin sogar meine Schmerzen bei der Verwandlung los! Toni hat mir dabei geholfen; er sagte, daß ich wahrscheinlich ungern wieder Mensch werden würde, und damit hatte er auch total recht."
"Bei mir ist das genau andersherum", lächelte Noel. "Mir tut es weh, wenn ich zum Wolf werde. Aber das liegt daran, daß ich als Wolf keine magischen Kräfte habe. Womit wir beim Thema wären. Toni, wie sah dieses Wesen aus? Shannon hat es mir schon beschrieben, aber ich würde gerne Ihre Meinung dazu hören."
"Es sah wie eine Wolke aus, Noel. Rauchig und leicht durchsichtig. Die Farbe war ein etwas kränkliches Gelb. Nicht direkt blaß, aber auch nicht intensiv oder leuchtend. Eher ein unangenehmes Gelb. Als ich die Wolke fragte, was sie von meiner Tochter will, verformte sie sich zu einem Wolf, der mich lauernd ansah, und kurz darauf dachte ich daran, auf alle möglichen und unmöglichen Arten Selbstmord zu begehen. Das hörte erst auf, als Shannon das Amulett wieder in die Truhe gelegt und sie verschlossen hatte."
"Wolke", murmelte Noel, als müßte er in einer Datenbank nachsehen. "Kränkliches Gelb. Tötungsabsicht. Wie haben Sie diese Wolke überhaupt entdeckt?"
"Meine Tochter schlief in der Nacht bei mir. Ich wurde wach, weil sie immer wieder den gleichen Satz murmelte. 'Hier stimmt was nicht. Hier stimmt was nicht.' Immer nur diesen einen Satz. Ich versuchte, sie wachzumachen, als sie mich plötzlich anknurrte. Sie meinte, es wäre unverschämt von mir gewesen, sie im Schlaf zu stören, und daß der letzte dafür fünf Tage lang gestorben wäre. Bei mir würden es sechs werden. Das sagte sie voller Haß und Wut, und sie stank aus dem Mund, als hätte sie sich gerade an einer Leiche sattgegessen. Dann schrie sie plötzlich: 'Stirb!', und danach war wieder Ruhe."
"Grond." Noel sah mich an. "Grond ist ein Dämon, der vor über sechshundert Jahren als Strafe für seine Taten in ein Amulett gesperrt wurde. Er ist ein sehr niedriger Dämon, und strohdumm dazu. Kaum ein anderer würde so viel von sich ausplaudern. Er hat bisher fünf Menschen umgebracht, und jeder litt einen Tag länger als der vorherige. Wundert mich, daß er Sie nicht direkt angegriffen hat. Hm... Er hat tatsächlich 'Stirb' gerufen?"
"Geschrien, Noel. Kerstin - meine Tochter - hat das so laut geschrien, daß meine Frau und Becky davon wachgeworden sind."
"Aber Sie leben noch", stellte er korrekt fest. "Und das, obwohl Grond Ihnen befohlen hat, zu sterben. Interessant. Sehr interessant."
"Wieso?" fragte ich, nun doch ziemlich erschüttert. "Meinen Sie etwa -"
"Genau das. Ein Dämon befiehlt Ihnen, zu sterben, und Sie tun das einfach nicht. Das kommt nicht sehr oft vor, Toni. Auch wenn Grond nicht sehr stark ist, hat doch kaum ein normaler Mensch - und das ist absolut nicht abwertend gemeint - eine Chance, diesem Befehl zu widerstehen. Der letzte, dem Grond befohlen hat, zu sterben, hat dies auch ganz brav getan. Fünf Tage lang, wie Grond gesagt hat. Wobei Haut abziehen bei lebendigem Leib und Knochen verdrehen noch die angenehmsten Qualen waren, wenn die alten Aufzeichnungen stimmen." Er musterte Shannon nachdenklich, während ich krampfhaft versuchte, gleichzeitig Auto zu fahren und diesen Schock, unwissentlich einen Dämon überlebt zu haben, zu verdauen.
"Shannon", fragte Noel, "du sagtest, ihr seid jetzt Tonis Pflegekinder?"
"Richtig, Noel. Ian hat in der letzten Stadt schon Standardverträge vom Jugendamt geholt, und die haben er und Toni unterschrieben."
"Noch etwas, was ich nicht verstehe." Er sah nachdenklich auf den Tacho vor mir. "Theoretisch hätte er das gar nicht gekonnt."
"Wie meinen Sie das?" fragte ich erstaunt. Noel lächelte schief.
"Ich werde es beantworten, wenn Sie kurz anhalten."
Ich schaute in die Spiegel, dann fuhr ich rechts ran und schaltete den Motor aus. Im gleichen Moment sah ich fasziniert zu, wie meine rechte Hand ohne mein bewußtes Zutun nach oben ging, sich zur Faust ballte und den Mittelfinger ausstreckte. Shannon prustete vor Lachen. Meine Hand fiel herunter, und Noel lächelte mich entschuldigend an.
"Normalerweise mache ich solche Spielereien nicht, aber das ging schneller als es stundenlang zu erklären. Ian hat von mir eine Sperre mitbekommen, Toni. So wie Sie sich nicht dagegen wehren konnten, daß ich gerade Ihre Hand bewegt habe, hätte Ian niemals einen derartigen Vertrag unterschreiben können." Er überlegte kurz.
"Shannon", fragte er dann, "du hast noch immer Angst vor diesen Wesenheiten?"
"O ja!" kam die schnelle und überzeugte Antwort. "Und wie!"
"Sie auch, Toni?"
"Ja, auch wenn es klingt, als ob ich ein Feigling wäre."
"Das sind Sie nicht." Noels klare, blaue Augen blickten tief in mich. "Jeder Mensch hat seine Aufgabe, Anton, und jeder Mensch bekommt das Werkzeug dafür mit auf die Welt. Es wäre Unsinn, eine hundertjährige Eiche mit einem Taschenmesser fällen zu wollen. Genauso unsinnig wäre es, wenn Sie Dämonen jagen, ohne zu wissen, wie die Gesetze der Dämonenwelt lauten. Das hat überhaupt nichts mit Feigheit zu tun, Toni. Fahren wir bitte weiter? Ich möchte den Rest der Familie kennenlernen."
"Super!" jubelte Shannon von hinten. "Das heißt, er wird dich nicht umbringen, Liebster!"
"Ihn nicht", lachte Noel. "Aber eine gewisse junge Dame spielt gerade mit ihrem Leben."
"Phü!" machte Shannon arrogant. "Spiel dich hier bloß nicht - NOEL!" Shannon kreischte vor Lachen und warf sich auf der Rückbank hin und her, während Noel zufrieden schmunzelte und die Arme vor der Brust verschränkte.
"Das habe ich mit als erstes gelernt", sagte er, als Shannon mal kurz Luft holen mußte. "Kitzeln ohne anfassen. Kam bei bestimmten Festen und Feierlichkeiten damals immer sehr gut an, vor allem, wenn die langen und weiten Röcke der Damen wild durch die Luft flogen."

* * *

Ich fuhr den Wagen vor die Garage und hielt an. "Da wären wir."
Noel sah unbeeindruckt auf das Haus. "Netter Wigwam. Aber bei sieben Personen wohl gerade ausreichend."
"Den Wigwam haben wir von Ian", gab ich zu. "Aus eigenen Mitteln wäre uns das sehr schwer gefallen. Wenn wir es uns überhaupt hätten leisten können. Das Haus da vorne ist unser altes. Ian und ich haben einfach die Häuser getauscht; er sagte, er könne es nicht akzeptieren, daß zwei Mädchen sich bei uns ein Zimmer teilen müssen."
"Dieser Hurensohn!" lachte Noel laut los. "Dieser verdammte Pferdehändler! Ist der gerissen!"
"Verzeihung?" - "Was hast du denn jetzt?" Shannon und ich waren beide ziemlich überrascht von diesem amüsierten Ausbruch. Noel beruhigte sich schnell wieder und drehte sich zu mir.
"Der ist wirklich gerissen", sagte er anerkennend. "Er weiß, daß ich ihm nicht ans Leder gehe, wenn er für die Mädchen eine bessere Unterkunft besorgt, als er sie ihnen bieten kann. Na schön. Lassen wir ihn davonkommen. Und vergessen wir Shelley auch einfach. Shannon? Würdest du bitte schon einmal vorgehen?"
"Sicher, Noel. Bis gleich, Liebster."
"Bis gleich, mein Liebling."
Noel wartete, bis sie im Haus verschwunden war, dann sah er mich an.
"Bevor ich mich Ihrer Familie präsentiere und an die Arbeit gehe, würde ich Ihnen gerne ein paar Fragen stellen, Toni. Sie sind bitte so nett und beantworten sie ganz ehrlich und offen."
"Das ist meine Art", lächelte ich, etwas unsicher darüber, was er nun von mir wollte.
"Gut. Sie lieben Shannon? Ich meine, Sie lieben sie wirklich?"
"Ja, Noel. Ich liebe sie sehr."
"Warum?"
"Dazu muß ich etwas weiter ausholen, wenn Sie gestatten. Ich liebe meine Frau Vera ebenfalls sehr, genau wie sie mich liebt. Sie teilt allerdings mein Interesse für das Übersinnliche nicht, im Gegensatz zu Shannon. Das ist ein Punkt. Der zweite ist, daß Shannon - wie ich - ein Wolf werden kann. Sie hat mich nicht gebissen; ich war schon vorher einer. Allerdings war der Wolf nur, wie Shannon es nennt, latent und zeigte sich bisher auch nur in Form von schnellen Heilungsprozessen. Erst durch Shannon ist er richtig erwacht, und seitdem fühle ich mich viel mehr als eine vollständige Persönlichkeit. Dafür liebe ich sie. Und natürlich auch dafür, weil sie ein so unglaublich toller und fantastischer Mensch ist. Mit Vera verbindet mich meine Vergangenheit, mit Shannon verbindet mich eine Zukunft. Auch wenn es merkwürdig klingt, aber meine Frau liebt Shannon ebenfalls auf diese Art und Weise. Eigentlich ist das bei uns dreien kein Unterschied mehr. Wir drei lieben uns alle gleich stark."
"Kennen Sie Shannons Namen?"
"Welchen?" grinste ich. Noel nickte lächelnd.
"Den richtigen."
"Ja. Laura Lee O'Shaughnessy."
"Sie wissen, daß sie keine Jungfrau mehr ist?"
Ich wollte gerade aufbrausen, aber als ihr "Vater" in den letzten 110 Jahren hatte er das Recht zu dieser Fangfrage.
"Doch, Ian. Sie hatte zwar kein Jungfernhäutchen mehr, als wir miteinander geschlafen haben, aber ich wußte ganz genau, daß sie keinen Mann vor mir gehabt hatte. Außerdem hat sie es mir gesagt, und ich habe gespürt, daß sie nicht lügt."
"Haben Sie Angst vor mir?"
Für diese Antwort mußte ich längere Zeit nachdenken. Schließlich schüttelte ich den Kopf. "Nein, Noel. Es hat mich zwar sehr getroffen, wie kompromißlos Sie Ihre Kräfte einsetzen, aber Angst... Nein."
Noel lächelte herzlich. "Shannon hat tatsächlich keinen Mann vor Ihnen gehabt, Toni. Hat es ihr gefallen?"
"Ich denke schon", antwortete ich verlegen. "Wir waren beide halb Mensch, halb Wolf, und haben uns fast gegenseitig aufgefressen."
"Sehr schön. Den Grund für meine Fragen werden Sie später noch verstehen."
"Das muß ich nicht verstehen, Noel. Sie haben Shannon ein Heim gegeben und jahrzehntelang für sie gesorgt. Und selbst jetzt, aus der Ferne, sind Sie immer noch für sie da, wenn sie Hilfe braucht. Das reicht mir als Grund."
Noel sah mich kopfschüttelnd an. "Ich dachte wirklich, die Ritterlichkeit sei mit dem Abwurf der ersten Atombombe verschwunden. Shannon hat sehr viel Glück. Werden Sie den Rest Ihres Lebens bei ihr bleiben?"
"Das weiß ich nicht!" lachte ich. "Noel, das kann ich Ihnen beim besten Willen nicht beantworten. Shannon und ich lieben uns, und wir geben uns auch alle Mühe, aus unserer gemeinsamen Zeit das beste zu machen, aber ob wir Tausende von Jahren zusammenbleiben werden... Keine Ahnung. Wir werden es natürlich mit allen Kräften versuchen, aber ob es klappt, wird die Zukunft zeigen. Ich möchte auch mit meiner Frau zusammenbleiben, weiß aber auch nicht, ob das klappen wird. Wir können es alle nur versuchen. Auf jeden Fall werde ich für Shannon und ihre Schwestern sorgen, bis die Mädchen alt genug aussehen, um volljährig zu werden. Danach... Das wird sich zeigen. Von mir aus sehr gerne, aber da hat sie auch noch ein Wörtchen mitzureden."
"Was ist mit Amanda und Rebecca?"
"Die beiden sind wahre Goldstücke", schmunzelte ich. "Wir lieben sie beide. Jeder von uns liebt sie. Wenn sie nur nicht so dünn wären! Ich habe Angst, den beiden die Rippen zu brechen, wenn ich sie umarme."
"Immer noch?" seufzte Noel. "Das scheint sehr tief zu sitzen." Er sah mich bedrückt an.
"Das ist wohl meine Schuld", gab er zu. "Meine Schwester hat die beiden Kinder gefunden, als sie schätzungsweise zwei und drei Jahre alt waren. Die Kinder krochen vor unserem Haus herum, husteten sich die kleine Seele aus dem Leib und spuckten Blut. Heute würde man das, was sie damals hatten, Leukämie nennen. Ich war zu der Zeit noch nicht so fit wie heute und konnte sie nur so gerade eben davon abhalten, Charon sein Geld zu geben, aber -"
"Bitte?"
"Entschuldigung!" lachte Noel. "Charon ist in der griechischen Sage der Fährmann, der die Toten über den Fluß Styx zum Hades bringt, dem Wohnort der Toten. Dafür verlangt er eine kleine Summe Geld. Wer nicht bezahlen wollte oder konnte, mußte als verlorene Seele im Nichts herumwandern. Heute würde man sagen, sie waren kurz davor, abzukratzen."
Ich verzog das Gesicht. "Da gefällt mir die erste Formulierung besser."
"Mir auch", grinste Noel. "Jedenfalls konnte ich sie gerade so retten, daß sie überlebten. Nach einer Woche war ich mit meinem Können am Ende, aber die beiden lebten und waren wieder einigermaßen gesund. Meine Schwester hat sie dann aufgepäppelt. Die beiden haben einen enormen Lebenswillen, sonst hätten sie es gar nicht geschafft. Aber gesund sind sie?"
"Ja. Das habe ich merkwürdigerweise gespürt, als wir sie gebadet haben. Ich fand, sie sahen vollkommen unterernährt aus, aber ich spürte, daß sie kerngesund waren. Ihnen kann ich das wohl so sagen. Das mit dem Gespür, meine ich."
"Sicher", schmunzelte er. "Na schön. Das klingt ja alles hervorragend. Dann haben die drei also doch endlich eine perfekte Familie gefunden. Jetzt werden wir uns aber erst einmal um Ihr kleines Geisterproblemchen kümmern."
"Für uns war das ein ganz schön großes Problem", seufzte ich, während wir ausstiegen und seine Tasche aus dem Kofferraum holten. "Hat Shannon von den Fallen an der Truhe erzählt?"
"Hat sie. Auch von den Blättern, die Ihre Frau gefunden hat." Wir schlenderten langsam zum Haus herüber. "Entweder hat Ihre Frau einen furchtbaren Fehler beim Auswerten der Texte gemacht, oder es stand tatsächlich keine Warnung darin, was mich allerdings sehr verwundern würde."
"Darauf sprechen Sie meine Frau am besten persönlich an."
"Werde ich auch tun. Da sind mir viel zu viel Dinge im Spiel, die ich noch nicht verstehe."
Als wir ins Haus kamen, begrüßten Mandy und Becky Noel überschwenglich und mit viel größerer Freude, als sie Ian jemals begrüßt hatten. Sie umarmten ihn, drückten ihm ein Küßchen nach dem anderen auf die Wangen und wollten ihn gar nicht mehr loslassen, bis Shannon schließlich ein Machtwort sprach.
"Schluß jetzt!" rief sie lachend. "Er muß noch drei andere Leute begrüßen!"
Maulend und murrend ließen die beiden Mädchen von Noel ab, der ihnen zärtlich über die Haare strich und sich dann zu Vera wandte.
"Ich bin sehr erfreut, Sie kennenzulernen."
"Ganz meinerseits." Vera streckte ihre Hand aus, Noel ergriff sie und gab Vera einen vollendeten Handkuß, der Vera tatsächlich erröten ließ. Sie kannte dies zwar von vielen Veranstaltungen, aber Noel war der erste Mensch, der einen Handkuß so aussehen ließ, wie er gemeint war: als Anerkennung und Würdigung, nicht als Berührung. Nachdem auch Birgit und Kerstin eine gleichartige Begrüßung erhalten hatten, ersetzte ich den Ausdruck "Charmeur" durch "galant". Genau das war er. Ein Vertreter der alten Schule. Kein Wunder, wenn er von 1840 bis 1880 aufgewachsen war und gelebt hatte.
Natürlich konnte Noel nicht gleich an die Truhe gehen. Mandy und Becky quetschten ihn erst über die letzten Jahre aus, während Shannon und ich versuchten, Vera eine plausible Erklärung zu geben, woher die Mädchen ihn kannten. "Freund der Familie" war schließlich Shannons erlösende Idee.
Allerdings glaubte Vera uns kein Wort.
Schließlich setzte sich Noel durch, auf sehr rabiate Art und Weise. Er klemmte sich Mandy und Becky unter die Arme und trug die lachenden und kreischenden Mädchen quer durch das Haus, dabei rief er immer wieder fordernd: "Truhe! Truhe!" Kichernd gaben die Mädchen nach und stellten sich auf ihre Füße. Derweil holte ich die Truhe und stellte sie auf Noels Wunsch auf die Arbeitsplatte in der Küche. Noel öffnete sie ohne erkennbare Scheu, und im gleichen Moment sah ich um ihn herum einen Kubus aus weißem Licht, mit etwa zwei Meter Kantenlänge, in dem er und die Truhe vollständig eingeschlossen waren. Noel warf mir einen kurzen Blick zu, dann kümmerte er sich wieder um den Inhalt der kleinen Kiste. Er nahm Stück für Stück mit den Fingerspitzen heraus und legte es sorgfältig auf die Platte, bis nur noch das Amulett fehlte.
'Zu dir komme ich gleich', hörte ich seine Stimme, obwohl sein Mund geschlossen war. Und ich spürte ein Aufflammen von Wut und Haß, wie ich es schon einmal erlebt hatte, nur noch viel stärker, als würde dieses Wesen ahnen, was auf es zukam.
Dann geschah etwas, was ich im ersten Moment nicht verstand: ich trat zu Noel in den hell schimmernden Kubus hinein.
"Bleib lieber draußen", sagte er leise. "Du hast es einmal überlebt, Toni. Wer weiß, ob du beim nächsten Mal wieder so glücklich bist."
"Warum duzt du mich plötzlich?" Bei all den Themen, die mir zur Auswahl standen, war das nicht gerade die passendste Frage, aber sie schien mir im Moment die beste zu sein.
"Später." Noels Ausstrahlung veränderte sich. Er war nicht mehr der lockere, freundliche Mann, sondern ein Fels aus Entschlossenheit und Kraft.
"Letzte Chance", sagte er, ohne mich anzusehen. "Ich werde Grond befreien und von dem Amulett lösen. Es kann verdammt wehtun, Toni."
"Fang an", erwiderte ich entschlossen. "Dieses Ding hat meine Tochter angegriffen. Ich will sehen, was du machst."
Sein Gesicht verzog sich zu einem dünnen Lächeln, ohne daß seine Konzentration, die auf das Amulett in der Truhe gerichtet war, nachließ.
"Neugier ist eine schlimme Eigenschaft. Ich leide auch daran."
Übergangslos brach der Kampf aus. Ich sah mit einem zusätzlichen oder besonderen Auge, wie Grond aus dem Amulett ausbrach und sich gedankenschnell um Noel legte. Für den Bruchteil einer Sekunde wunderte ich mich, daß der Dämon ausgerechnet den starken Magier angriff, anstatt mich schwachen Normalsterblichen mit in den Tod zu reißen, als ich Grond auf mich zukommen sah. Instinktiv stellte ich mir einen gigantischen Staubsauger vor, und prompt wich Grond zurück. Dennoch war er nahe genug herangekommen, um mir die linke Wange aufzureißen, über die nun Blut floß. Dabei hatte ich nicht einmal Krallen oder Klauen gesehen!
Zu meinem absoluten Erstaunen tat Noel nichts. Er sah mich nur an, während das Bild des Staubsaugers verblaßte und Grond wieder zum Vorschein kam. Diesmal als Wolf, und jetzt sah ich seine Krallen, die wie lange Messer auf meine Augen zielten. Eine kalte Wut überkam mich. Gedankenschnell sah ich mich als Wolf, der mit einem anderen Wolf kämpfte, und biß ihm die Klaue ab. Ein grelles Kreischen erfüllte die Luft. Und noch immer sah Noel tatenlos zu, aber für ihn hatte ich jetzt keine Zeit. Wahrscheinlich hatte ein anderer Dämon von mir Besitz ergriffen und mich in den Kampf eingreifen lassen, der nun tödlich ausgehen mußte. Für Grond oder für mich. Es konnte hierbei nur einen Sieger geben, das wußte ich mit absoluter Sicherheit. Ich mußte doch verrückt sein!
Grond wollte seine Klaue zurückholen, und in diesem Moment sprang mein geistiges Bild eines Wolfes ihm an die Kehle und biß mit voller Kraft zu. Ein noch lauteres, diesmal eindeutig dämonisches Kreischen zerriß mein rechtes Trommelfell. Das Blut floß warm und dick aus meinem Ohr heraus. Ich öffnete meinen Fang für den Bruchteil einer Sekunde, faßte tief nach und biß Grond den geistigen Kopf ab. Das Wesen fiel reglos auf die Arbeitsplatte. Es war tot.
"Führ es zu Ende", hörte ich Noel sagen. Ich sah ihn verblüfft an.
"Was?"
"Führ es zu Ende. Du kannst es." Seine Augen drückten Sicherheit und Überzeugung aus, ganz im Gegensatz zu dem, was ich fühlte. Unsicher blickte ich auf die Arbeitsplatte, sah die drei Teile von Grond, sah das Amulett, sah die Truhe. Und plötzlich wußte ich, was ich zu tun hatte. Woher ich es wußte, konnte ich nicht benennen, aber ich sah den Weg ganz deutlich vor mir.
Die Klaue verband sich wieder mit dem Körper, genau wie der Kopf. Dann floß das Wesen in das Amulett, gesteuert von meinen Gedanken und Vorstellungen, verband sich auf der Molekularebene mit dem Gold, verwuchs mehr und mehr mit dem Metall, bis ich mir sicher war, daß nichts auf der Welt dieses tote Wesen befreien oder wiederbeleben konnte. Im gleichen Moment hörte ich mich seufzen und knickte in den kraftlos gewordenen Knien ein. Noel fing mich auf, schleppte mich ins Eßzimmer und setzte mich auf einen Stuhl.
"Kann mir mal jemand verraten, was hier los ist?" hörte ich Veras aufgebrachte Stimme.
"Gleich", antwortete Noel ruhig.
"Gleich! Gleich! Ich will jetzt sofort -"
"Gleich!" Noels Stimme wurde schärfer, nur ein bißchen, aber es reichte, um uns alle verstummen zu lassen. "Shannon, hol bitte einen feuchten Waschlappen. Vera, machen Sie Toni bitte einen starken Kaffee, wenn's geht mit Rum. Mandy, hol bitte eine Tafel Schokolade. Becky, sei so lieb und schließ die Truhe, ja?" Der Raum um mich herum geriet in Bewegung, als sich vier Menschen aufmachten, Noels Wünsche - oder waren es Befehle? - zu erfüllen. Noel vergewisserte sich, daß ich alleine sitzen konnte, dann setzte er sich mir gegenüber hin und sah mich nur an, ohne etwas zu sagen. Ich konnte seinen Blick nicht lange erwidern, weil sich in meinem Kopf alles drehte, aber ich hatte das Gefühl, daß er mich so ansah, wie ein Trainer einen Boxer ansehen würde, bei dem er sich unschlüssig war, in welche Klasse er ihn stecken sollte.
Shannon kam mit dem Waschlappen zurück und wusch mir sanft die Wange ab, zeitgleich mit Mandy, die eine Tafel Vollmilchschokolade vor Noel auf den Tisch legte. Er riß das Papier auf, brach ein großes Stück von der Schokolade ab und steckte es mir in den Mund. Gehorsam kaute und schluckte ich, dann ging es mir schon ein ganzes Stück besser.
Während Noel mich Stück für Stück fütterte, sah ich Vera an, die halb wütend, halb verängstigt an der Arbeitsplatte lehnte und mich musterte. Ich lächelte ihr matt zu.
"Stillhalten!" ermahnte Shannon mich. "Bin gleich fertig."
"Danke, mein Liebling", sagte ich gerührt. Shannon lächelte dünn.
"Wahrscheinlich haben wir dir zu danken. Oder, Noel?"
"Sieht so aus. Mach erst mal in Ruhe zu Ende, Shannon. Reden können wir, wenn Toni wieder fit ist. Was macht der Kaffee, Vera?"
"Kocht. Genau wie ich."
"Prima." Noel überging ihre spitze Bemerkung. "Setzt euch doch alle hin; wenn ihr so herumsteht, macht ihr euch nur gegenseitig nervös."
Die Mädchen setzten sich hin. Wenig später kam Vera mit einer Tasse Kaffee an, stellte sie vor mir ab und setzte sich neben mich. Shannon war auch fertig, und ich begann sogar schon wieder, auf dem rechten Ohr etwas zu hören.
"Gut", fing Noel an. "Toni, du redest bitte zuerst. Erzähl alles, woran du dich noch erinnern kannst."
Da ich mich noch an jedes kleinste Detail erinnern konnte, war das nicht schwer. Und so lange hatte es ja wohl auch nicht gedauert.
Noel nickte, als ich fertig war. "Vera? Was haben Sie gesehen?"
"Sehr viel. Und noch mehr, was ich nicht verstehe." Vera war nicht bereit, so schnell zu verzeihen. Jetzt nicht. "Ich sah, wie Toni und Sie vor der Arbeitsplatte standen und in die Truhe starrten. Im nächsten Moment blutet Toni an der Wange und aus dem Ohr, und Sekunden später fällt er bewußtlos um."
"Shannon?"
"Eine merkwürdige Wolke, die sehr böse aussah."
"Mandy?"
"Nur das, was Vera gesehen hat. Mehr nicht."
"Becky?"
"Auch nicht mehr."
"Kerstin?"
"Ich weiß nicht..." Kerstin sah Noel unschlüssig an. Ich erkannte den Blick. Sie wußte etwas, war sich aber nicht sicher, ob Noel ihr glauben würde. Noel lächelte sie aufmunternd an.
"Red einfach drauf los, Kerstin. Niemand wird dich auslachen."
"Okay." Sie lächelte schüchtern zurück. "Da war so ein - ein großer weißer Kasten um Papa und Sie herum. Und in dem Kasten war plötzlich was Gelbes, aber das konnte ich nicht genau erkennen. Da war auch noch ein - nein, das waren zwei Schreie, aber nicht von einem Menschen oder von einem Tier. Dann war plötzlich alles weg. Kasten, das Gelbe, alles. Und Papa ist umgefallen."
"Birgit?"
"Ich hab auch nur gesehen, daß Papa da rumstand und plötzlich umfiel. Und daß er geblutet hat."
"Gut", meinte Noel zufrieden. "Toni, jetzt erzähl mir bitte noch, was du so gedacht hast. Laß dir ruhig Zeit dabei."
"Was ich gedacht habe? Wofür Shannon dich hergeholt hat." Ich lächelte schief. "Ich war wütend. Wütend auf dich, weil du einfach nur starr und stumm dagestanden bist und nichts getan hast, und ich war wütend, weil Grond Kerstin angegriffen hat. Ab da habe ich nicht mehr viel gedacht, sondern eigentlich nur noch reagiert."
"Und du hast vollkommen richtig reagiert, Toni. Fühlst du dich fit genug für einen kleinen Test?"
"Möchten Sie uns nicht erst mal erklären, was da abgelaufen ist?" fragte Vera honigsüß. Das hieß, sie war kurz vor der Explosion. Noel sah sie erstaunt an.
"Ich dachte, das wäre klar! Vera, Ihr Mann hier hat dieses Wesen bekämpft und besiegt."
"Was denn für ein Wesen, verdammt?" Veras Geduld riß.
"Dieses Ding aus meinem Traum, Mami", sagte Kerstin verlegen. "Wo ich die Nacht so geschrien habe."
Vera nickte mit geschlossenen Augen. "Okay. Ich bin ganz ruhig. Bitte von Anfang an, ja? Und möglichst einfach. Ich bin nur eine dumme Hausfrau."
"Liebes", begann ich, "in der Nacht von Sonntag auf Montag hatte Kerstin einen Alptraum. Du erinnerst dich daran, wie sie plötzlich laut geschrien hat? Gut. Shannon und ich haben im Traum nach Kerstin gesehen, und genau da haben wir etwas entdeckt, was diesen Alptraum verursacht hat. Liebes, dieses Amulett, was du vor dem Schlafengehen noch vermessen hast, war der Wohnsitz eines - ja, eines kleinen Dämons in Form eines Werwolfs. Und dadurch, daß das Amulett die ganze Nacht offen auf dem Tisch lag, konnte sich dieses Wesen frei bewegen und hat versucht, Kerstins Seele zu besetzen. Shannon und ich konnten es aber aufhalten. Ich habe es von Kerstin abgelenkt, und Shannon hat schnell das Amulett in die Truhe gelegt und sie wieder geschlossen. Bis dahin ungefähr klar?"
"Nein. Du willst mir weismachen, daß in diesem Amulett ein - ein Dämon steckt?"
"Steckte", verbesserte Noel sie. "Er ist jetzt tot."
Veras Zorn richtete sich gegen Noel. "Wer, bitte, sind Sie überhaupt? Die Mädchen scheinen Sie zu kennen, aber ich kenne Sie nicht, und Sie sind nur ein paar Minuten im Haus, als mein Mann plötzlich aus unerfindlichen Gründen anfängt, zu bluten. Wer sind Sie?"
"Mandy?" hörten wir Shannon sagen. "Würdest du mit Becky, Kerstin und Birgit bitte nach oben gehen?"
"Ist gut!" Mandy sprang auf, und gleichzeitig schüttelte Kerstin den Kopf.
"Ich bleibe hier." Noel und ich sahen uns kurz an, dann nickte ich.
"Du kannst hierbleiben, Bolzen."
Sekunden später waren die drei Mädchen in irgendeinem Zimmer oben verschwunden. Veras Wut flammte wieder auf.
"Jetzt raus mit der Sprache. Wer, ist mir gleich, aber ich will wissen, was hier los ist!"
"Mami!" Kerstin sah ihre Mutter anklagend an. "Gibst du ihnen vielleicht auch mal die Chance, zu reden?"
"Es ist gut, Kerstin", sagte ich schnell, als Vera tief Luft holte. "Vera, ich kann nicht erwarten, daß du das glaubst oder verstehst. Weder das, was gerade passiert ist, noch das, was du gleich erfahren wirst. Du hast dich nie für das Übersinnliche interessiert. Deswegen mache ich dir auch keinen Vorwurf, Liebes, aber reagiere bitte nicht mit Wut oder Zorn, wenn Dinge aus diesem Bereich sich plötzlich dicht vor unserer Nase abspielen. In dem Amulett steckte tatsächlich ein Dämon. Warum war die Truhe sonst so abgesichert, Liebes? Wer zeichnet einen Lageplan von einem Schatz, wenn der Schatz den Finder umbringen soll? Laut deinen Blättern sollte Etwas befreit werden, wenn das Podest bzw. die Klappe darunter geöffnet wurde, und genau das ist passiert. Durch das Öffnen der Truhe wurde der Dämon in diesem Amulett aktiv."
"Aha." Vera sah mich ausdruckslos an. "Und du erwartest, daß ich diesen Unsinn glaube?"
"Nein." Ich wurde zornig. Ich hatte gerade mein Leben riskiert, um einen Dämon aus längst vergessenen Zeiten zu besiegen, und konnte mich entweder über Veras Reaktion aufregen oder ihr mit Gleichgültigkeit begegnen. Im Moment war mir nach Zorn.
"Nein, das erwarte ich nicht. Was ich aber von dir erwarte, ist etwas mehr Vertrauen in mich. Wenn du etwas nicht sehen kannst, liegt das an dir, Vera. Nicht an mir. Kerstin hat auch etwas gesehen, was du nicht sehen konntest. Noel hat - Ach, vergiß es." Müde ließ ich mich in meinen Stuhl sinken. Die Gleichgültigkeit gewann; für Zorn war ich zu müde.
"Es ist tatsächlich schwer zu glauben, wenn man es nicht gesehen hat", sagte Noel leise, ohne aufzusehen. In der nächsten Sekunde schrie Vera in Todesangst auf und fiel mitsamt Stuhl nach hinten. Sofort waren wir bei ihr und halfen ihr auf, doch Vera wollte gar nicht aufstehen. Ihre Augen waren weit aufgerissen und starrten auf eine Stelle über Noels Kopf. Wir sahen dort aber nichts.
"Was hast du, Liebes?" fragte ich besorgt. Vera schüttelte den Kopf, blinzelte mehrmals und sah mich an.
"Da war ein Drache!" flüsterte sie. "Toni, da war ein Drache! Der hat mich angefaucht und beinahe verbrannt! Ich hab die Hitze richtig gespürt!"
"Da war nichts, Mami!" sagte Kerstin ängstlich. "Wirklich nicht!"
"Ich habe auch nichts gesehen, Liebes. Komm hoch."
Zitternd stand Vera auf und setzte sich zögernd wieder auf den Stuhl. "Ihr habt den nicht gesehen? Der war aber ganz deutlich da!"
"Da war nichts." Noel sah Vera ernst an. "Vera, ein feuerspeiender Drache gleich hinter mir... Das müßte ich doch gemerkt haben."
"Ich weiß doch, was ich gesehen habe!" Veras Wut kehrte zurück, als Noel sie hintergründig anlächelte.
"Das ist aber dumm", meinte er aalglatt. "Nur Sie haben den Drachen gesehen, Vera. Sonst niemand. Wer würde Ihnen die Geschichte schon abkaufen?"
Trotz Veras aufgewühltem Zustand verstand sie. "Wer sind Sie?" flüsterte sie.
"Gleich. Zuerst einmal zurück zu dem Amulett. Vera, Sie hören mich jetzt sprechen, weil meine Stimme in dem Bereich erklingt, den Ihre Ohren aufnehmen können. Wäre ich eine Fledermaus, könnten Sie mich nicht verstehen."
"Das ist ja wohl allgemein bekannt", fauchte Vera.
"Gut. Die Welt, die Sie sehen, mit all ihren Pflanzen und Menschen und Tieren, strahlt ebenfalls Schwingungen aus, die Sie als Formen, Farben, Töne und Gerüche aufnehmen. Ihre Ohren nehmen jedoch nur einen bestimmten Bereich all dieser Schwingungen wahr, genau wie Ihre Augen."
"Das weiß ich doch alles", erwiderte Vera unwirsch. Zumindest war ihre Wut schon einmal weg. "Worauf wollen Sie hinaus?"
"Ich wollte nur altes Schulwissen auffrischen", lächelte Noel. "Können Sie die Schwingungen sehen oder hören, auf denen das Fernsehprogramm ausgestrahlt wird? Mit Ihren Augen und Ohren?"
"Natürlich nicht."
"Aber trotzdem existieren diese Schwingungen, oder?"
"Ja, sonst gäbe es ja kein Bild im Fernseher."
"Sehr gut, Vera. Was ist ein Fernseher? Nichts anderes als ein Gerät, das auf bestimmte Schwingungen - nämlich die verschiedenen Sender - eingestellt wird und diese in Bild und Ton transformiert, die unsere Sinne wahrnehmen können."
"Noel!" Veras Geduld erschöpfte sich rapide. "Was hat das mit dem zu tun, was gerade hier passiert sein soll?"
"Das werde ich Ihnen sofort erklären, Vera. Sie haben einen Drachen gesehen, wie Sie sagen. Niemand außer Ihnen hat diesen Drachen gesehen. Nur Sie und ich. Ich, weil ich diesen Drachen soeben erschaffen habe, und Sie, weil ich diesen Drachen auf Sie projiziert habe. Und nur auf Sie."
"Iiih! Eine Ratte!" Kerstin sprang auf den Stuhl.
"Eine Vogelspinne!" Shannon schüttelte sich vor Ekel und rutschte mitsamt Stuhl zurück. Vera sah sich verwirrt um und fand weder Ratte noch Spinne.
"Sehen Sie?" grinste Noel. "Die Mädchen haben etwas gesehen, was für sie absolute Realität ist. Aber nur für sie. Für niemand anderen."
Im nächsten Moment sprangen vier Menschen in Panik auf, weil sich auf dem Tisch eine riesige Giftschlange breit machte, dann war sie auch schon wieder weg.
"Eine Kobra", lächelte Noel, der als einziger sitzen geblieben war. "Eine giftgrüne Kobra, bereit zum Zustoßen. Und Sie alle haben sie gesehen. Es ist allerdings komisch, daß es nur eine einzige Schlange war, aber trotzdem jeder glaubte, die Schlange würde genau ihn oder sie ansehen. Nicht wahr?" Wir nickten überwältigt.
"Das wollte ich Ihnen beweisen, Vera. Setzen Sie doch bitte wieder." Er wartete, bis wir alle wieder saßen. Mit vielen mißtrauischen Blicken auf den Tisch, natürlich.
"Es geht um verschiedene Schwingungen", führte er seine Erklärungen fort. "Vera, Ihre Sinne nehmen nur einen bestimmten Bereich von allen möglichen Schwingungen wahr. Sie können weder Rundfunk- noch Fernsehprogramme ohne Hilfsmittel empfangen. Sie können weder Ultraschall hören noch Röntgenstrahlen sehen. Trotzdem gibt es all diese Dinge. Vor einhundert Jahren war Fernsehen noch eine Utopie. Wenn ein Mensch des 19. Jahrhunderts plötzlich vor einem Fernseher säße, wie würde der reagieren?"
Shannon grinste versteckt; offenbar erinnerte sie sich an ihre erste Begegnung mit einem Fernsehapparat. Vera entging dies zum Glück, sie hatte andere Dinge im Kopf.
"Ich ahne, worauf Sie hinauswollen", antwortete Vera leise. "Fahren Sie fort."
"In weiteren hundert Jahren wird es vielleicht möglich sein, mehr Farben zu erkennen, weil unsere Augen leistungsfähiger geworden sind. Vielleicht sehen wir dann auch im Infrarot- und Ultraviolettbereich. Vielleicht hören unsere Ohren höhere und tiefere Frequenzen als bisher." Er beugte sich vor.
"Und vielleicht", sagte er leise, aber mit tiefem Ernst, "werden völlig neue Schwingungen entdeckt, die auf eine Welt parallel zu dieser hinweisen. In der wir Formen und Wesen sehen, die uns jetzt nur in billigen Filmen begegnen. Verstehen Sie, Vera?"
Meine Frau nickte leicht.
"Gut. Damit soll Schluß sein. Ich möchte nur noch eins sagen, Vera. Es gab, es gibt und es wird Menschen geben, die bereits heute mehr sehen als die meisten anderen Menschen. Ihr Mann gehört dazu, Ihre Tochter gehört dazu, ich gehöre dazu. Shannon gehört dazu. All diese Menschen sehen mehr als andere. Weil sich bei ihnen ein weiterer Sinn entwickelt hat. Denken Sie bitte an den Unterschied zwischen Ihren menschlichen Augen und denen des Wolfes. Der Wolf sieht anders als der Mensch."
"Ich verstehe", meinte Vera nachdenklich. "Der Drache war für mich Realität, weil der auf einer Frequenz war, die nur ich empfangen konnte, aber sonst niemand."
"Genau, Vera. Für Sie war der Drache absolut wirklich. Für Ihren Mann, Ihre Tochter und Shannon kam Ihr Umkippen völlig überraschend, weil niemand wußte, was los war. Für Sie, Vera, kam das Blut bei Toni völlig überraschend, weil Sie weder gesehen haben, wie dieses Wesen seine Wange zerfetzte, noch weil Sie den Todesschrei gehört haben, der Tonis Trommelfell zerriß. Für mich, für Toni und für Kerstin war dieser Kampf jedoch Realität. Kerstin hat weniger gesehen, weil ich ein Schutzfeld um uns gelegt habe, aber sie hat es gesehen."
"Stimmt!" lachte Kerstin erleichtert. "Von dem Kampf wollte ich nichts sagen, weil ich dachte, ihr würdet mich für übergeschnappt halten!"
"Deswegen hat dein Vater mit dem Erzählen begonnen", lächelte Noel nachsichtig. "Aber ich verstehe dich, Kerstin. Du konntest deinen Augen nicht so recht trauen, weil das Feld und dieses Wesen halb durchsichtig waren, nicht wahr?"
"Genau!" strahlte Kerstin. "Das gibt's doch eigentlich gar nicht!"
"Richtig", schmunzelte Noel. "Eine Ratte auf deinem Schoß gibt es auch nicht."
"Doch!" protestierte Kerstin. "Die war da!"
"Auszeit!" Vera formte mit ihren Händen ein T. "Noch einmal für die ganz Blinden unter uns. In diesem Amulett steckte ein Dämon. Was für einer?"
"Ein Werwolfdämon mit dem Namen Grond. Er wurde Mitte des 14. Jahrhunderts von einer Gruppe Magier in dieses Amulett gebannt, weil er innerhalb von zwei Monaten fünf Menschen getötet hatte. Diese Magier verschlossen die Truhe und sicherten sie. Wenn Toni und Shannon nicht die Selbstheilung in sich hätten, wären sie nun tot."
"Warum haben diese Magier ihn nicht umgebracht?"
"Das weiß ich nicht, Vera. Es wäre möglich, daß Grond seine Verbannung akzeptiert hat in der Hoffnung, irgendwann einmal wieder freizukommen. Das erscheint mir eigentlich die wahrscheinlichste Möglichkeit, denn ein Dämon sammelt aus der Einsamkeit und der Verbannung sehr viel Haß, den er dann später um so vernichtender einsetzen kann."
"Und warum Kerstin? Warum nicht Mandy oder Shannon oder ich oder Toni?"
"Weil Kerstin offenbar sehr viel mehr von ihrem Vater geerbt hat. Weil sie ein Kind ist. Du weißt, daß ich das nicht böse meine, Kerstin. Kinder haben weniger instinktive Abwehrkräfte auf geistigem Gebiet, weil sie noch vollkommen offen und empfänglich für alle möglichen Dinge sind. Deswegen fiel es Grond leichter, bei ihr einzudringen."
"Schön." Vera schüttelte den Kopf. "Ich will nicht sagen, daß ich alles perfekt verstanden habe, aber der Vergleich mit den Schwingungen und der Drache waren eindeutig. Warum mußte Toni gegen dieses - dieses Ding kämpfen? Warum nicht Sie? Deswegen sind Sie doch hergekommen, oder?"
"Laß mich antworten", fiel ich Noel ins Wort. Er nickte lächelnd.
"Vera, weil ich es wollte. Ich wollte zusehen, wie Noel dieses - diesen Dämon bekämpfte, doch er fiel mich an, und ich mußte mich wehren. Mitten im Kampf kam mir der Gedanke, daß ich total verrückt sein muß, gegen einen Dämon zu kämpfen, aber ich dachte mehr daran, wie er Kerstin angegriffen hat, und da..." Ich zuckte mit den Schultern. "Da ging's auch schon los."
"Und du hast ganz offensichtlich gewonnen." Vera musterte mich forschend. "Wie? Woher wußtest du, was du machen mußtest?"
"Das weiß ich auch nicht, Liebes", gestand ich unsicher. "Ich habe einfach reagiert."
"Du weißt es", fiel Noel ein. "Du weißt es, Toni." Seine klaren blauen Augen drangen tief in meine Seele ein und öffneten Tür über Tür, wie damals bei meiner ersten Verwandlung zum Wolf. Überwältigt, und mit einer unterschwellig vorhandenen Panik, verfolgte ich, wie sich das Mosaik aus verdrängten Bildern und Gefühlen zu einem völlig neuen und verwirrenden Bild formte, das mir eine Gänsehaut nach der anderen über Nacken und Arme jagte, jedoch am Ende nur einen Schluß zuließ. Fassungslos und ungläubig sah ich Noel an, dessen Kopf langsam und zustimmend nickte.
"Ja, Anton", sagte er leise. "Das bist du."
"Was ist er?" unterbrach Vera gereizt. Ich konnte sie jetzt nur zu gut verstehen; für mich wurde das auch langsam alles zu viel.
"Ein Magier", erwiderte Noel gelassen. "Vera, Ihr Mann ist ein Magier. Geboren mit diesem Talent, jedoch eingeschränkt von den Eltern. Er hat das Wissen über seine Fähigkeiten verdrängt, aber da war es immer. Nur so konnte er Grond beim ersten Mal in Schach halten. Er war wohl bereit, sein Leben einzusetzen, um seine Tochter zu retten, und Grond hat das gespürt."
"Das wolltest du?" fragte Kerstin überwältigt. "Du wolltest dein Leben für mich riskieren, Papi?"
Ich nickte mit feuchten Augen. "Ja, Bolzen. In dieser Nacht wußte ich nicht, daß ich es wollte, aber es war so."
"Papa!" Kerstin sprang auf, flog auf meinen Schoß und drückte mich mit der ganzen Kraft ihrer dreizehn Jahre.
"Ist doch schon gut, Kerstin", flüsterte ich, als sie leise zu weinen begann. "Er ist ja weg."
"Deswegen weine ich nicht", erwiderte sie trotzig. "Du kapierst aber auch gar nichts!"
"Doch, doch", schmunzelte ich. "Du bist traurig, weil ich noch lebe."
"Papa!" Kerstins Wut ließ keinen Platz mehr für Tränen. Dann sah sie das Schimmern in meinen Augen und mußte auch lachen.
"Bist du doof!" Sie drückte mich noch einmal, dann drehte sie sich auf meinem Schoß und blieb mit dem Rücken zu mir sitzen. Noel und Shannon lächelten, Vera verdaute noch immer Noels Antwort, daß ich ein Magier sei. Wie ich. Ich hielt Kerstin fest und klammerte mich an den Halt ihrer Gegenwart.
"Ein Magier." Sie sah Noel an. "So einer mit langem Stab und hoher Mütze?"
"Diese Mode war im Mittelalter aktuell", grinste Noel amüsiert. "Heutzutage sehen Magier so aus wie ich, Vera. Das war auch gleichzeitig die Antwort auf die Frage, was ich bin. Und wer ich bin... Shannon, was weiß Vera?"
"Daß wir alle Wölfe sind."
"Gut. Vera, wir -"
"Nein!" Vera hob abwehrend die Hände. "Noel, nehmen Sie es mir bitte nicht übel, aber ich möchte - nein, ich kann im Moment nichts mehr hören. Mein Mann ist ein Magier, sagen Sie?"
"Das sage ich nicht, das ist er." Noels Augen zeigten viel Mitgefühl. "Vera, ich kann mir denken, was Sie jetzt empfinden, aber deswegen ist Ihr Mann trotzdem kein anderer Mensch als vorher."
"Natürlich nicht!" lachte Vera sarkastisch. "Nur daß er jetzt eben Dämonen jagen und umbringen kann. Herrlich! Genau das, was sich eine Frau vom Ehemann erhofft. Shannon, hilfst du mir beim Essen machen? Wenn ich noch ein Wort davon höre, kriege ich einen Anfall!" Ihr Lachen verschwand, zurück blieben nur Wut und Unverständnis.
"Und wenn ich einen Anfall kriege, braucht es mehr als einen Geisterjäger, um mich zu bremsen!"
"Liebstes!" Ich ließ Kerstin schnell aufstehen, drehte mich zu Vera und nahm sie in die Arme. Sie klammerte sich an mich und war nur noch ängstlich.
"Warum wir, Toni?" fragte sie verzweifelt. "Warum können wir nicht einfach glücklich und zufrieden leben?"
"Das kommt alles in Ordnung, Liebstes", erwiderte ich sanft. "Vera, erinnerst du dich an deine Reaktion, als ich sagte, ich wollte in Zukunft freiberuflich diese Gruselromane schreiben? Da hattest du auch Angst, daß sich unser Leben zum Schlechten verändert. Und was ist draus geworden?"
"Das sehen wir ja jetzt", antwortete sie mürrisch. "Du wirst von unsichtbaren Wesen zerfetzt, und Kerstin wird von ihnen angegriffen."
"Dann mußt du mir auch Schuld geben", sagte Shannon ernst. "Ich habe immerhin die Klappe zu dem Schacht entdeckt."
"Ich gebe keinem die Schuld, Shannon." Veras Augen füllten sich mit Tränen. "Es ist nur viel zu viel passiert in den letzten Wochen! Erst diese Sache mit deinem Vater, die ganzen Sorgen um euch drei, dann das Ding, daß wir plötzlich Wölfe sind, daß wir nicht sterben können, jetzt auch noch tödliche Fallen, Geister und Magier... Verdammt, ich kann doch auch nicht alles einfach so wegstecken! Irgendwann muß doch mal Schluß sein! Ich habe langsam keine Kraft mehr dafür!" Sie drehte ihren Kopf schnell vom Tisch weg, preßte ihre Wange an meine Brust und weinte leise. Ich strich ihr sanft über den Kopf, bis sie sich wieder etwas gefangen hatte.
"Wir hatten bisher 22 wundervolle Jahre, Liebes", sagte ich leise. "Mit nur ganz wenigen Problemen, und selbst die haben wir immer in den Griff bekommen. Wir werden das jetzt auch schaffen, Vera. Weißt du, warum? Weil wir beide zusammen sind. Weil wir uns lieben."
Vera drückte mich stärker und nickte leicht.
"Und so wird das auch in Zukunft sein, Liebstes. Wir beide gehören zusammen, und wir bleiben zusammen. Du hast während unserer Ehe viele neue Dinge entdeckt, die dir Freude machen, und genau das gleiche ist mir passiert. Das professionelle Schreiben. Das Schwimmen. Weißt du noch, daß du mich mit 16, 17 ins Freibad zerren mußtest?"
"Ja", lachte Vera leise. "Warum hast du dich zerren lassen?"
"Weil ich dich gerne im Badeanzug gesehen habe."
"Lustmolch!"
"So wie du aussiehst, würde jeder Mann bei dir zum Lustmolch werden, Liebstes. Und heute schwimme ich gerne. Zugegeben, ich habe meine Hobbys ziemlich vernachlässigt, aber das Schreiben macht mir eben sehr viel Spaß. So wie dir der Garten. Du hast deinen Beruf aufgegeben, weil dir die Kinder viel wichtiger waren als deine Arbeit. So verändert sich eben alles, Vera."
"Findest du das denn gut, was hier passiert ist?" Sie sah mich mit nassen Augen an, aber das Weinen hatte aufgehört. Ich wischte ihre Tränen mit den Daumen fort.
"Das weiß ich noch nicht, Liebes. Im Moment stehe ich noch ziemlich unter Schock und kann nicht klar denken. Wahrscheinlich kommt die Reaktion darauf erst heute abend, wenn ich im Bett liege. Aber Noel hat in gewisser Weise schon recht, Liebstes. Was, wenn ich plötzlich gerne kegeln gehen würde? Mich einem Kegelclub anschließe und mit dem am Wochenende auf Touren gehe? Das wäre nur ein neues Hobby. Ein neues Interesse. Wenn ich wirklich ein Magier bin - was ich im Moment allerdings noch gar nicht glaube - dann ist das etwas in mir, was sich langsam und Stück für Stück entwickelt. So wie bei dir der Garten. Anfangs hast du nur Unkraut gezupft, dann kamen Bücher über die verschiedenen Pflanzen dazu, und heute ist der Garten ein kleines Kunstwerk."
Vera zog undamenhaft die Nase hoch und lächelte schief. "Kannst du uns dann denn auch ein schönes Mittagessen zaubern?"
"Dafür habe ich schon seit Jahren die kleine Zauberkarte aus Plastik." Ich küßte sie zärtlich. "Wollen wir sie heute mal benutzen?"
"Das ist das erste vernünftige Wort des Tages", lächelte Vera. "Ich liebe dich, Toni."
"Ich liebe dich auch, Vera."
"Danke, mein Schatz. Ich gehe mich eben frischmachen und dann umziehen. Noel, es tut mir leid, daß ich so ruppig war."
"Schon verziehen", sagte und meinte Noel. "Es ist für keinen Ehegatten leicht, eine Veränderung dieser Art hinzunehmen. Schon gar nicht, wenn es sich um Dinge handelt, die nur einer von beiden sehen kann."
"Das hätte ich nicht besser ausdrücken können." Vera stand auf. "Bis später."
Wir warteten, bis sie nach oben gegangen war, dann wandte ich mich zu Noel.
"Ich bin ein Magier?"
"Ja. Und ganz offen gesagt, beneide ich dich, Toni. Shannon hat dir von mir erzählt?"
"Das hat sie."
"Gut. Ich habe mit relativ geringen Kenntnissen angefangen und bin mittlerweile auf meinem Höchststand angekommen. Seit etwa -" Er unterbrach sich und warf einen schnellen Seitenblick auf Kerstin, die sehr interessiert lauschte.
"Sie weiß Bescheid", sagte ich gelassen. "Noch nicht jedes Detail, aber schon sehr viel."
"Aha. Gut. Seit etwa vierzig Jahren komme ich einfach nicht weiter. Die Stärke, die ich in dir spüre, ist um einiges höher als meine jetzige. Und dabei ist dein Talent noch völlig roh. Unausgebildet. Toni, ich würde gerne, wenn es euch nichts ausmacht, ein paar Tage hierbleiben und dir die Anfänge zeigen. Zuviel will ich dir nicht beibringen, denn ich weiß nicht, wie stark du bist, und es könnte sein, daß ich dich durch einen zu intensiven Unterricht mehr blockiere als fördere. Ich würde dir, wenn du einverstanden bist, ein sehr breites und tiefes Basiswissen beibringen, der Rest liegt bei dir."
"Ich weiß nicht", erwiderte ich zögernd. "Noel, ich finde es furchtbar nett von dir, daß du dir soviel Mühe geben willst, aber im Moment weiß ich nicht einmal, wer ich eigentlich noch bin." Meine Selbstsicherheit, die schon den ganzen Tag über gebröckelt hatte, brach vollständig zusammen. Es war so wie vor knapp einem Monat, als Shannon mich dazu gebracht hatte, den Wolf in mir zu akzeptieren: ich weinte. Hemmungslos.
Ich spürte Kerstin an der einen und Shannon an der anderen Seite, klammerte mich an beide und ließ die Angst der letzten Minuten und den Streß der letzten Tage einfach nach draußen strömen. Es war wie bei Vera: die Menge, die ich verdauen konnte, war mit den Erlebnissen des heutigen Tages bei weitem überschritten worden. Wie Vera wollte ich die Uhr um ein paar Wochen zurückdrehen zu einer Zeit, als alles noch in Ordnung und geregelt war. Ich spürte zwar, daß es auch ohne Shannon irgendwann dazu gekommen wäre, daß ich sowohl den Wolf als auch den Magier in mir entdeckt hätte, aber einen Sündenbock zu haben tat im Moment einfach gut, auch wenn es vollkommen ungerechtfertigt war.
"Ist schon in Ordnung", sagte Shannon leise. "Ich verstehe dich nur zu gut, mein Liebling. Ich mache mir auch schon Vorwürfe."
Anstatt zu antworten drückte ich sie stärker an mich.

* * *

Das reichhaltige und sehr leckere Mittagessen in einem jugoslawischen Restaurant half uns allen wieder auf die Füße, genau wie der anschließende Kaffee bei uns zu Hause. Danach ging Noel an den zweiten Teil seiner Arbeit: er untersuchte jedes einzelne Schmuckstück gründlich und sehr lange. Er hielt es in der Hand, mit geschlossenen Augen, und blieb still stehen. Vera hatte auf seine Bitte hin ein kleines Diktiergerät geholt, das ich immer dann benutzte, wenn mir neue Ideen kamen, und von Zeit zu Zeit sprach Noel hinein. Meistens waren es nur Bruchstücke von Bildern, von den ehemaligen Trägern des Schmucks, aber gelegentlich kam ein halber Roman dabei heraus, wie bei dem Ring mit dem einen großen und vier kleinen Diamanten.
"Während des Schleifens Einfluß von Magie", murmelte er. "Starker Einfluß. Die Fassungen von einem merkwürdigen Wesen gehämmert. Unbekanntes Werkzeug. Magisch? Ja. Vollendet von einem Goldschmied, der anschließend getötet wurde. Getragen von der Konkubine eines Grafen, viele Jahre lang. Versteckt? Ja. Sie trug ihn während wichtiger Gespräche und verriet ihrem Grafen dann... Interessant. Hochinteressant. Vererbt auf die uneheliche Tochter, die ihn verkaufte, um leben zu können. Gekauft von einem Händler, der bei einem Raub auf der Straße ums Leben kam. Gelandet bei einer Diebesbande. Später getragen von einer Hure, die wegen des Rings umgebracht wurde. Verkauft an einen Hehler, verkauft an einen Edelmann, der ihn seiner Frau schenkte. Sie wurde wahnsinnig. Ring kam zu einem Priester, um den Fluch zu entfernen. Was können Menschen dumm sein! Priester ließ eine Fälschung anfertigen und gab die Fälschung zurück, der echte Ring landete in der Schatzkammer." Noel ließ die Hand sinken und öffnete die Augen.
"Nicht schlecht", grinste er. "Becky? Kommst du mal bitte?"
"Klar!" Becky kam angehüpft und strahlte Noel an, der ihr den Ring ansteckte, dann deutete er auf Vera. "Was denkt Vera gerade?"
Beckys Blick wurde unklar, ihre Stimme tonlos. "Was ist das bloß für ein merkwürdiger Mann. Ich bin froh, wenn der wieder aus dem Haus ist."
"Danke, Becky", grinste Noel und nahm ihr den Ring wieder ab. Vera bekam einen hochroten Kopf.
"Noel, ich -" stammelte sie, doch Noel hob lachend die Hand.
"Ich kann Ihnen das besser nachfühlen, als Sie vielleicht ahnen, Vera. Aber jetzt verstehen Sie vielleicht, warum der Ring eine so bewegte Geschichte hat. Sein Träger kann Gedanken lesen. Das vertragen viele Leute nicht. Haben Sie den Schmuck schätzen lassen?"
"Gestern vormittag." Vera wagte nicht, ihm in die Augen zu sehen, deswegen griff sie nach ihrer Liste und studierte sie gründlich. "Der Juwelier schätzte den Ring auf etwa 20.000,-, sagte aber auch, daß alle Preise nur vorsichtige Schätzungen wären. Er hat jedes einzelne Stück nur kurz auf Echtheit geprüft, aber nicht gründlich untersucht. Die tatsächlichen Preise dürften noch höher liegen."
Kerstin mischte sich ein. "Becky und ich wollen uns diesen Ring teilen, weil der uns beiden so gut gefällt."
"So, so", schmunzelte Noel. "Du weißt also schon, was ich will?"
Kerstin nickte ernst. "Ja. Aber wir wollen den behalten."
"Okay." Gelassen steckte Noel ihr den Ring an. "Trag ihn bitte eine Stunde. Und weiter zum nächsten Teil."
Während Noel weitermachte, sah ich immer wieder nach Kerstin. Etwa fünf Minuten, nachdem sie den Ring angesteckt bekommen hatte, begann sie, das Gesicht wie unter dem Einfluß von Kopfschmerzen zu verziehen. Immer wieder fuhr ihre linke Hand zur rechten, als wollte sie den Ring abnehmen, aber ich spürte sofort ein Aufflammen von Widerstand, gegen den Kerstin nicht ankam. Weitere fünf Minuten später begann sie zu schwitzen und sah aus, als hätte sie Fieber, und noch ein paar Minuten später liefen ihr Tränen aus den Augen.
Ich wollte gerade eingreifen und ihr den Ring abnehmen, als Noel mir zuvorkam. Er entfernte den Ring sanft und lächelte Kerstin mitfühlend an.
"War's schlimm?" fragte er zärtlich. Kerstin nickte gequält.
"Ja. In meinem Kopf war alles durcheinander, und das tat nur noch weh."
"Wir sind nur sechs, Kerstin", sagte er leise. "Du hast die Gedanken von nur sechs Leuten empfangen. Wie viele Schüler sind in deiner Klasse?"
"Achtundzwanzig", hauchte Kerstin. Sie nickte bedrückt. "Okay. Nehmen Sie ihn mit. Oder, Becky?"
Becky schüttelte den Kopf. "Nein, Kerstin. Ich hab's gespürt, daß es dir dreckig ging. Kam das wirklich vom Ring?"
"Ja, leider."
"Schade!"
Noel schaute die beiden Mädchen an, die bekümmert auf den Ring sahen. Ein ganz kurzes Lächeln zog über sein Gesicht, dann gab er mir den Ring. "Toni? Kann man da was machen?"
"Woher soll denn ich das wissen?" lachte ich überrascht.
"Dann mach dich schlau." Er zwinkerte mir zu. "Versuch's einfach, Toni. Du wirst den Weg finden."
"Weg? Welchen Weg?" Unschlüssig sah ich auf den Ring in meiner Hand, bemerkte die zarten Formen der Fassungen, die Kraft der Diamanten und -
- und sah plötzlich, was Noel meinte. Die Kraft steckte in dem Ring, in dem großen Diamanten, in den Fassungen. Ich sah die Spuren des magischen Einflusses so deutlich wie Fußspuren im frisch gefallenen Schnee. Es war eine unpersönliche Magie, ganz im Gegensatz zu Grond; diese Magie wirkte nicht aus eigener Kraft, sondern brauchte einen menschlichen Träger und ein Ziel, bevor sie wirken konnte.
"Ja", hörte ich mich sagen. "Man könnte den Einfluß entweder brechen oder ihn mit etwas anderem überlagern. Ich würde ihn aber eher brechen, denn die Kraft ist sehr stark. Eine Überlagerung könnte der Ring nicht verkraften; er würde zerspringen. Er ist jetzt schon randvoll."
"Kannst du sie brechen?"
"Was kann passieren?"
"Spürst du Fallen? Hindernisse?"
"Nein. Die Kraft wurde in den Ring gebracht und sich selbst überlassen. Keine Tricks, keine Fallen. Ich wüßte nur nicht, wo ich ansetzen könnte."
"Geh tiefer. Du wirst es sehen."
"Tiefer?" Stirnrunzelnd sah ich auf den Ring und versuchte, noch mehr einzutauchen, und da sah ich es plötzlich.
"Da ist es!" murmelte ich staunend. "Noel, das - das sieht aus wie ein Stöpsel. Nein, eher wie ein - ein Korken. Ein dicker Knoten aus Kraft, wie ein Korken!"
"Dann tu es."
Ich stellte mir vor, wie ein Korkenzieher aus Energie in diesen Korken eindrang, tiefer und tiefer, denn der Korken saß sehr fest und war kräftig verankert. Dann zog ich in meiner Vorstellung daran. Im gleichen Moment hörte ich einen trockenen Knall, wie ein Schuß, nur wesentlich tiefer. Ja, wie ein Schuß aus einer alten Kanone, jedoch ohne jeglichen Nachhall. Ich fuhr erschrocken zusammen, während um mich herum einige Stimmen entsetzt aufschrien.
"Und das war's!" lachte Noel. "Perfekt! Becky?"
Mein Blick klärte sich wieder, als Noel mir den Ring aus der Hand nahm und Becky ansteckte. Wieder deutete er auf Vera. "Was denkt sie?"
Beckys Gesicht verzog sich unschlüssig. Schließlich zuckte sie mit den Schultern. "Weiß nicht. Kommt nichts." Vera atmete erleichtert aus, was Noel grinsen ließ.
"Kerstin?"
Meine Tochter steckte sich den Ring mit einem skeptischen Gesicht auf den Finger und behielt ihn an, während Noel an die nächsten Teile ging. Als er damit fertig war, ging es Kerstin noch immer blendend.
"Wie schaut's aus, Bolzen?" fragte ich, als Noel das letzte Teil auf die Arbeitsplatte gelegt hatte.
"Bestens!" strahlte Kerstin. "Nichts tut weh!"
"Prima." Noel strich ihr kurz über die Haare. "Dann könnt ihr den Ring jetzt ohne Sorgen tragen."
"Geil!" Jubelnd umarmten sich Kerstin und Becky. Kerstin zog sich den Ring vom Finger und steckte ihn Becky an, die sofort strahlte wie die Sonne. Kerstin flog in meine Arme und drückte mich stürmisch.
"Danke, Papi!"
"Schon gut, Bolzen." Ich drückte sie gerührt. "Bedank dich auch bei Noel, er hat mir die Tips gegeben. Ohne ihn hätte ich das nicht gekonnt."
"Danke, Noel!" Kerstin riß sich von mir los und sprang Noel an, der Kerstin lächelnd drückte.
"Schon gut, Kerstin. Bedank dich bei deinem Vater, er hat es schließlich gemacht."
"Ach, ihr!" lachte Kerstin gerührt. "Ihr wollt wohl beide nicht gedrückt werden, was?"
"Sprech mich in fünf Jahren noch einmal darauf an", lächelte Noel verschmitzt. "Dann lasse ich dich nämlich nicht mehr so schnell los. Außerdem sind wir beide jetzt verlobt, weil ich dir den Ring angesteckt habe."
Kerstin wurde feuerrot und kam verlegen in meinen Arm, um Schutz zu suchen, doch ihr Gesicht leuchtete geschmeichelt. Noel schaute sie noch einen Moment an, als würde er eine Entscheidung treffen, dann wandte er sich an Vera.
"Dürfte ich einmal die Blätter sehen, die Sie in diesem Vorraum gefunden haben?"
"Aber sicher."
Keine Minute später saß Noel mit gesenktem Kopf über den Blättern, während die Mädchen sich aufgeregt den Schmuck heraussuchten, den sie behalten wollten. Zum Schluß steckte ungefähr die Hälfte an den Fingern, Hälsen, Kleidung und in den Taschen der Mädchen, die andere Hälfte, einschließlich des Amuletts, lag noch auf der Platte. Ich fragte mich kurz, ob das Amulett jetzt harmlos war.
"In einem halben Jahr", antwortete Noel, als hätte ich die Frage laut ausgesprochen. "Dann ist auch der letzte Rest von Grond verschwunden. Bis dahin sollte es noch unter Verschluß bleiben, denn es könnte sein, daß andere Wesenheiten sich die Form des Amuletts nutzbar machen und dort hineinkriechen. Aber das glaube ich eigentlich weniger. Allein die Tatsache, daß ein totes Wesen in dem Amulett ist, wird andere davon abhalten. Möglich wäre es jedoch, denn immerhin wurde das Amulett für einen magischen Zweck erschaffen." Er vertiefte sich wieder in die Blätter. Wir beschlossen, ihn am besten in Ruhe zu lassen, und gingen ins Wohnzimmer.
"Was für Sommerferien!" seufzte Vera und ließ sich an meine Seite sinken.
"Ich find's spannend!" strahlte Kerstin. "Papa? Können wir auch magische Amulette machen?"
"Was für eins möchtest du denn machen?" schmunzelte ich. Kerstin zog ihre Stirn kraus.
"Weiß nicht... Vielleicht eins, womit man in der Schule bessere Noten bekommt?"
"Da gibt's ein viel besseres Mittel für", warf Shannon ein. "Das nennt sich Lernen."
"Ist aber langweilig!" murrte Kerstin. "Papa? Wie werden denn so Amulette und Ringe gemacht?"
"Keine Ahnung, Bolzen", gab ich zu.
"Doch! Du weißt das bestimmt! Denk doch mal nach!"
"Später, Kerstin. Jetzt müssen wir erst einmal deine Mutter aufbauen."
"Ach, die verträgt was." Trotzdem hüpfte sie an Veras andere Seite und schmiegte sich an sie.
"Das kriegen wir schon wieder hin, Mami", sagte sie leise. "Ganz bestimmt."
"Sicher", seufzte Vera. "Du hast das vorhin wirklich gesehen, Kerstin?"
Kerstin nickte ernst. "Ja, Mami. Ganz ehrlich."
"Und woher wußtest du, daß das keine Einbildung war?"
"Weil das alles so falsch war. Wenn ich mir was vorstelle, dann hat das - na ja, eben bestimmte Farben und so, aber das vorhin, das hatte ganz andere Farben. Das waren nicht meine Farben."
"Danke, Kerstin", stöhnte Vera. "Noch etwas, was ich nicht verstehe."
"Das verstehst du", lächelte ich. "Liebes, wie sah der Drache aus? Ich meine, im Gegensatz zu einem Drachen, den du dir vorstellen würdest?"
 

"Vollkommen echt", erwiderte Vera spontan. "Der sah so echt aus, daß ich den hätte anfassen können." Sie riß die Augen auf.
"Natürlich! Ich hätte mir einen Drachen niemals so intensiv vorstellen können! Meiner wäre viel blasser und farbloser gewesen, und auf keinen Fall so deutlich und realistisch!"
"Siehst du?" grinste Kerstin zufrieden. "Andere Farben. Das meine ich."
"Habe ich verstanden." Vera sah mich ratlos an. "Aber eigentlich will ich das gar nicht verstehen."
"Wo ist denn bloß die tapfere, mutige, selbstsichere Frau geblieben, die ich geheiratet habe?"
"Keine Ahnung. Muß wohl abgehauen sein, als Noel reinkam." Vera lächelte mich schief an. "Ich weiß, daß ich ungerecht zu ihm bin, aber ich habe Angst vor ihm. Er hat doch nur Unruhe gebracht!"
"Nein." Shannon sah Vera ernst an. "Die Unruhe kam durch das Amulett, Vera. Noel hat uns nur helfen wollen, den Dämon loszuwerden."
"Ich weiß, ich weiß, ich weiß. Aber -"
"Scht!" machte ich grinsend. "Kuschel dich ein und sei still."
"Hm!" knurrte Vera, schmiegte sich aber an mich und blieb still liegen. Eine Viertelstunde später kam es zu einem lautstarken Streit zwischen Vera und Noel. Und um es vorwegzunehmen: niemand von uns mischte sich ein; das war uns allen zu gefährlich.
Es begann damit, daß Noel wortlos ins Wohnzimmer kam, Veras Blätter und Notizen in der Hand. Seine Augen blickten kalt. Eisig kalt. Und zwar genau auf Vera.
"Sie haben das hier ausgewertet?" fragte er mit einer genauso kalten Stimme, wie seine Augen blickten. Das war exakt der Ton, auf den Vera gut konnte.
"Ja!" fauchte sie zurück. "Was dagegen?"
"Nein." Er setzte sich, ohne Vera aus den Augen zu lassen. "Ich habe auch nichts dagegen, wenn Sie durch inkompetente Arbeit und schlampiges Vorgehen Ihre gesamte Familie umbringen, aber wenn Sie Shannon, Mandy oder Becky gefährden, dann habe ich sehr wohl etwas dagegen, junge Frau!"
Vera explodierte.
"Was unterstehen Sie sich!" donnerte sie ihn mit der ganzen Erfahrung ihrer kultivierten Erziehung an. "Sie kommen in unser Haus, lassen es zu, daß mein Mann -"
"Setzen Sie sich hin!" Noels Stimme war wie eine mit voller Wucht geschlagene Peitsche. "Und halten Sie bloß Ihre vorlaute Klappe! Sie haben Shannons Leben aufs Spiel gesetzt, das von Mandy und Becky ebenfalls, sowie das Ihrer gesamten Familie!" Die Kälte in Augen und Stimme war verschwunden, aber wir alle hätten sie der Wut, die jetzt spürbar um Noel herum war, liebend gerne vorgezogen. Mit einer unbeherrschten Geste schleuderte er Vera die Papiere ins Gesicht.
"Hier, Sie sogenannte Studierte der Archäologie!" herrschte er Vera an. "Blatt Eins: Inhaltsangabe. Nicht weiter wichtig.' Ist das alles, was Blatt Eins Ihnen sagt? Dann lassen Sie mich etwas mehr dazu sagen! Blatt Eins ist nur zum Teil eine Inhaltsangabe, gute Frau. Blatt Eins enthält vielmehr eine kurze Beschreibung, warum die Truhe so abgesichert war. Sie, Frau Tenhoff, haben in Ihrer unendlichen Einfalt nicht mal ein Tausendstel von dem verstanden, was dort steht! Wenn Sie etwas mehr mit den Gebieten vertraut wären, vor denen Sie so gekonnt Ihre Augen verschließen, hätten Sie sofort gemerkt, daß die Sprache symbolisch ist. Aber nein, Sie gehen her und interpretieren das alles gerade so, wie es Ihnen in den Kram paßt." Vera wurde blaß. Aber Noel fing gerade erst an.
"Dann schreiben Sie hier: 'Blatt Zwei: muß noch übersetzt werden.' Haben Sie es übersetzt? Nein, natürlich nicht. Wieso auch? Wer übersetzt schon ein lateinisches Dokument? Vor allem, wenn Schätze beschrieben werden? Hätten Sie sich auf ihren faulen Hintern gesetzt und das Ding ins Deutsche gebracht, hätten Sie sehr schnell gemerkt, daß dort Grond, seine Taten und seine Fähigkeiten beschrieben werden. Na los, schauen Sie nach! In der Mitte des Blattes finden Sie seinen Namen!" Vera und ich sahen auf das Blatt und fanden tatsächlich den Namen des Dämons. Daemonus Grond. So stand es da. Vera kniff die Lippen zusammen und senkte den Kopf. Ich legte tröstend meinen Arm um sie. Ich konnte sehr gut verstehen, wie sie sich jetzt fühlte.
"Scheiße, was?" zischte Noel. "Blatt Drei und Vier bezeichnen Sie als 'Beschreibung, wie sich ein Wolf in einen Menschen und zurück verwandeln kann'. Gratuliere! Sehr gut! Aber haben Sie sich auch die Mühe gemacht, den Mist, den Sie hier loslassen, zu verstehen? Nein, haben Sie nicht! Wenn Sie es getan hätten, hätten Sie nämlich gemerkt, daß sich diese Zeilen auf den Dämonen Grond beziehen. Wie er einen Menschen besetzen und in seine Aura - Verzeihung, seine Seele eindringen kann. Ich mache es extra ganz leicht für Sie. Den Begriff Seele kennen Sie ja wohl. Hier steht ganz deutlich, daß Grond in 'unachtsame oder schlafende Menschen' eindringt, und daß das Amulett 'auf keinen Fall offen liegen' darf. Denn wenn es offen herumliegt, kann Grond sich aus seinem Gefängnis befreien und einen Menschen übernehmen, der dann - und das haben Sie ausnahmsweise mal richtig interpretiert - zu einem Werwolf wird. Und damit kommen wir zum Höhepunkt, liebe Frau Tenhoff. Von einer Rückverwandlung steht hier nichts. Rein gar nichts! Es wird hier gesagt, daß Grond erst dann den Menschen verläßt, wenn dieser Mensch tot ist. Das Wort Rückverwandlung, was Sie hier benutzen, ist reine Erfindung. Wunschdenken. Unfähigkeit Ihrerseits. Was auch immer.
Aber selbst diese Dummheit reichte Ihnen noch nicht. Nein, Sie schaffen es, sogar diese riesengroße Ignoranz noch zu übertreffen. Blatt Acht. Wenn Sie nur etwas Erfahrung auf dem Gebiet hätten, was Sie Ihren Angaben nach studiert haben, wäre Ihnen der Name des Entdeckers des Höhlensystems ein Begriff. Gideon Rautius war nicht nur ein wesentlich fähigerer Archäologe als Sie, sondern auch ein Meister der Magie. Aber dieses Gebiet paßt ja nicht in Ihr Weltbild, und deswegen wird es ganz einfach ignoriert. Rautius gehörte zu den Magiern, die Grond vor sechshundert Jahren in das Amulett gebannt haben. Daß Toni und Shannon die Höhlen überlebt haben, kann ich noch gar nicht so recht glauben. Rautius sorgte bei seinen Fallen nämlich mit hundertprozentiger Präzision dafür, daß nicht einmal ein Magier, der diese Falle auslöst, sie überlebt. Toni, was hast du gemacht? Bist du nicht der Karte gefolgt?"
"Doch", erklärte ich ziemlich eingeschüchtert. "Ich habe nur jeweils einen Schritt gemacht, aber den nach Gefühl. Shannon ist in meinen Fußspuren gefolgt. Auf dem Rückweg haben wir es genauso gemacht. Es erschien mir sicherer."
"Gott sei Dank!" seufzte Noel. "Wenigstens einer mit Verstand." Er sah wieder zu Vera, die mucksmäuschenstill an meiner Seite saß.
"Wenn Becky, Mandy oder Shannon etwas passiert wäre", sagte er so kalt, daß selbst ein auf Höchststufe laufender Backofen ein Kleid aus Frost angelegt hätte, "dann hätte ich Sie höchstpersönlich zur Verantwortung gezogen, Frau Tenhoff. Ein so eklatantes Beispiel von Inkompetenz und Arroganz ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht vorgekommen, und ich habe schon viel erlebt, das können Sie mir glauben." Zornig ließ er sich in den Sessel fallen, seine Augen fixierten Vera. Erst nach mehreren Sekunden wagte Shannon, den Mund aufzumachen.
"Noel? Was war denn in der Höhle?"
"Fallen, Shannon. Tödliche Fallen, die ihr niemals überlebt hättet. Sie hätten euch zerrissen. Buchstäblich. Rautius wußte schon, was er tat. Ganz im Gegensatz zu bestimmten anderen Personen."
"Sie hat's doch kapiert", sagte Shannon leise.
"Das hat sie eben nicht!" Noel drehte sich zu Shannon. "Weißt du eigentlich, was mich bei der ganzen Sache so aufregt? Daß Frau Tenhoff überhaupt keine Vorstellung davon hat, mit welchen Kräften sie hier so sorglos herumspielt. Verflucht noch mal, wenn Grond es wirklich geschafft hätte, in Kerstins Aura einzudringen, hätte Kerstin nicht nur sämtliche Bewohner dieses Hauses nach und nach zerfleischt, sondern auch noch viele andere Menschen. Das regt mich so auf, Shannon! Frau Tenhoff lehnt Magie und Dämonen und alles andere ab, ohne nur den Hauch einer Ahnung zu haben, daß es diese Dinge tatsächlich gibt! Gelobt sei das 20. Jahrhundert mit all seinen Segnungen. Wenn diese Tendenz anhält, wird es Ende des 21. Jahrhunderts kaum noch Menschen geben, die Dämonen wie Grond - und er war ein harmloses Kleinkind im Vergleich zu vielen, vielen anderen! - bekämpfen oder besiegen können. Denn auch wenn die Menschheit dem Gott Technik zu Füßen liegt und ihm blind huldigt, wird es diese Dämonen immer geben, genau wie magische Amulette oder anderen Schmuck, in denen bestimmte Wesenheiten festgehalten werden, zum Schutz der gesamten Menschheit. Und ob das jetzt arrogant klingt oder nicht, ist mir völlig gleichgültig. Es ist so. Aber für aufgeklärte Menschen dieses Jahrhunderts ist das natürlich alles völliger Blödsinn und Humbug. Unnatürliche Todesfälle werden totgeschwiegen, weil keiner auch nur die leiseste Vorstellung davon hat, was passiert sein könnte."
Shannon griff nach seiner Hand und drückte sie leicht, dabei lächelte sie ihn ganz lieb an. "Jetzt hast du alles gesagt?"
"Nein." Das kam schon wesentlich ruhiger. Noel sah wieder zu Vera. "Vera, ich entschuldige mich für meinen Ausbruch und die beleidigenden Worte, aber nicht für den Inhalt dessen, was ich gesagt habe. Sie haben sich an Dinge gewagt, von denen Sie keine Ahnung haben, und dadurch das Leben von Menschen aufs Spiel gesetzt, die sowohl Ihnen wie mir sehr viel bedeuten. Daß Shannon und Toni und Sie und die Kinder noch leben, haben Sie einzig und allein Tonis Instinkten zu verdanken, die Sie ebenfalls so voreilig ablehnen." Er nickte Vera auffordernd zu. "Machen Sie sich darüber mal Gedanken. Toni, Shannon, können wir mal in diese Höhlen gehen?"
"Ich komme mit." Vera hatte etwas von ihrer Sicherheit zurückgewonnen. "Wenn dort tatsächlich Fallen sind, werde ich mich bei Ihnen entschuldigen. Sind dort keine, hoffe ich, daß Sie den Anstand haben, umgehend wieder zu verschwinden."
"Das Angebot nehme ich an." Noels Blick war kühl, aber nicht mehr kalt. "Gehen wir."



Zehn Minuten später standen wir in dem kleinen Raum mit dem Podest, das noch immer neben dem Schacht stand. Mandy und Kerstin waren mitgekommen, Becky und Birgit hatten beide Angst gehabt, über die Leiter und den Schacht zu klettern, und waren in der ersten Höhle nach der Holztür stehengeblieben. Noel sah auf die Skizze der Höhle, dann schaute er das Podest abschätzend an.
"Tretet alle mal ein paar Schritte zurück", befahl er schließlich. Gehorsam wichen wir etwa fünf Meter zurück. Noel streckte beide Hände nach vorne, zu dem Podest, und warf es um. Mit der Steinplatte, die den Schacht unterhalb des Podests abdeckte, schlug er so lange auf das Podest ein, bis es in der Mitte zerbrach. Dann winkte er uns heran.
"Rautius arbeitete hauptsächlich mit Gewicht", erklärte er uns, als wir bei ihm waren. "Deswegen brauche ich etwas, was ungefähr so schwer wie ein kleiner Mensch ist. Wenn ich mich recht erinnere, lösen Rautius' Fallen schon bei 10 Kilogramm aus, aber ich will sichergehen." Er deutete auf das zerbrochene Podest, dessen oberes Ende nun eine runde Steinsäule war, ohne die Platte am Fuß. Noel und ich schafften es unter großen Anstrengungen, diesen massiven Klotz die steile Treppe hinunter zu hieven, und rollten es die paar Schritte zum Beginn des Höhlensystems.
"Shannon, halt das mal bitte fest", sagte Noel und ging sehr vorsichtig in den Fußstapfen, die Shannon und ich hinterlassen hatten, vorwärts, während Shannon die Säule festhielt, damit sie nicht wegrollte. Schon nach wenigen Schritten blieb er stehen, ging noch vorsichtiger einen Schritt zurück und hockte sich hin. Er starrte angestrengt auf den Boden, wobei er die Taschenlampe langsam hin und her bewegte. Schließlich nickte er und stand auf.
"Gratulation, Toni", sagte er ohne jede Ironie. "Exakt zwei Zentimeter hinter der Falle aufgesetzt. Gar nicht mal schlecht für den Anfang." Er kam wesentlich lockerer zurück.
"Wie sieht die Falle denn aus?" fragte Shannon neugierig.
"Wie alle anderen auch, vermute ich. Ein Stein in der Farbe des Fels, nahtlos eingepaßt und durch Staub versteckt. Sobald jemand drauftritt, wird sie ausgelöst."
"Und was passiert dann?" fragte ich. Noel zuckte mit den Schultern.
"Keine Ahnung. Rautius war ein Magier aller vier Elemente. Ich habe keine Ahnung, was er hier eingebaut hat. Es kann ein Steinregen kommen, der euch erschlägt und begräbt, es kann ein Blitz sein, eine Flamme, oder ein Eisstrahl, der euch bis in die letzte Zelle erfrieren läßt. Wenn er einen guten Tag gehabt hatte, auch eine Kombination aus zwei oder mehreren Dingen. Er war auf allen Gebieten ein Meister und ging gerne auf Nummer Sicher. Die Kinder bitte nach hinten. Shannon, du und Vera auch; ihr schützt die beiden. Toni, wir beide rollen die Säule und decken dann die Frauen." Er sah mich an. "Es kann ziemlich weh tun. Bereit?"
"Nachdem ich verbrannt, erschossen, vergiftet und erschlagen wurde?" grinste ich.
"Das ist ein Argument", lächelte er. "Dann wirst du das, was immer auch passiert, garantiert einstecken. Kauert euch zusammen."
Shannon und Vera hockten sich vor Mandy und Kerstin und deckten sie mit ihren Körpern. Noel und ich gaben der Säule einen kräftigen Stoß und hockten uns ebenfalls hin. Sekunden später ertönte eine ohrenbetäubende Explosion, und ein Regen aus Steinen, die vormals die Säule bildeten, knallte mit großer Wucht auf uns herab und verursachte viele kleine, aber tiefe Wunden. Die Mädchen und Vera schrien vor Schmerzen und Schrecken auf, während Noel und ich tapfer versuchten, den Schmerz zu ignorieren, um den Frauen den größtmöglichen Schutz zu geben. Nach etwa fünf Sekunden war es vorbei.
"Noel?" sagte Vera mit zittriger Stimme, noch bevor sie aufstand. "Ich entschuldige mich bei Ihnen. Und bei euch anderen auch. Ganz ernst und tief."
"Schon okay", meinte Noel versöhnlich. "Schauen wir uns das mal an."
Knapp drei Meter von unserem Standort war ein großes Loch im Boden. Von der Säule war nichts mehr zu sehen außer kleinen Steinen. Vera wurde blaß.
"Toni, das - diese Falle hätte euch zerrissen!"
"Richtig", stimmte Noel gelassen zu. "Und zwar so gründlich, daß auch die Selbstheilung keine Chance mehr gehabt hätte. Verstehen Sie jetzt, warum ich so wütend war?"
Vera nickte schnell.
"Fein", meinte Noel trocken. "Ein Tip von mir, Vera: besorgen Sie sich Literatur über Gideon Rautius. Meines Wissens nach müßte ein Verlag in Hamburg oder Berlin noch einiges von ihm haben, entweder als Taschenbuch oder im Sammelband mit anderen Archäologen seiner Zeit. Wenn Sie das gelesen haben, werden Sie Ihre Meinung bestimmt ändern."
"Das werde ich tun. Danke. Wie viele Fallen hat er wohl eingebaut?"
"Bei der Größe der Höhle, und bei diesem Dämon... Zehn oder zwölf, würde ich schätzen." Noel lächelte. "Rautius war auch bei niederen Dämonen immer sehr gründlich." Er sah mich an. "Lust?"
"Worauf?"
"Fallen entschärfen?"
Ich mußte grinsen. "Die Podeste sind uns gerade ausgegangen."
"Die brauchen wir auch nicht mehr, Toni. Das gerade war nur der Beweis für euch alle, daß ich keinen Unsinn erzähle. Die nächsten werden wir beide entschärfen. Gibt es hier irgendwo ein Brecheisen oder einen Meißel?"
Kerstin lachte auf. "Ich hol schon! Das kenn ich ja inzwischen." Sie zog sich schnell aus; Noel drehte sich ebenso schnell von ihr weg. Es war nicht nur Höflichkeit uns gegenüber, er war so, trotz seiner Neckereien über Shannons hübsche Beine. Sekunden später hörten wir Kerstin auf Pfoten weglaufen. Noel fuhr herum.
"So schnell?" fragte er überrascht. Shannon nickte munter.
"Ja. Sie und Toni schaffen das in acht Sekunden, und bis auf einen kleinen Schmerz nichts. Mandy ist fast genauso schnell, und ich schaffe das nur ganz wenig hinter Mandy. Vera ist so schnell wie Toni und Kerstin."
"Neid!" Staunend sah er ihr hinterher. "Nicht schlecht. Gar nicht schlecht." Er wandte sich wieder zu mir.
"Wir beide gehen jetzt ganz langsam die Strecke noch einmal ab, Toni. Du läßt die Augen zu und versuchst, trotzdem etwas zu sehen."
"Und was?" schmunzelte ich. "Etwa rote Sterne, wenn ich gegen die Wand laufe?"
"Das wirst du nicht", erwiderte Noel gelassen. "Vertraue auf die Kraft in dir. Und vertraue darauf, daß ich dich bremse, wenn du wirklich nichts sehen solltest. Aber das glaube ich nicht."
"Dein Wort in Gottes Ohr", seufzte ich und schloß die Augen. "Drehst du mich in die richtige Richtung?"
"Nein. Versuche es selbst. Und vor allem, entspann dich."
"Okay." Ich atmete mehrmals tief durch, bis ich Ruhe in mir spürte. Dann drehte ich meinen Kopf mit geschlossenen Augen langsam hin und her, bis ich das Gefühl hatte, daß ich richtig stand. Vorsichtig ging ich los, mit sehr kleinen, tastenden Schritten.
"Langsam!" sagte Noel leise hinter mir. "Laß dir Zeit."
"Ich sehe etwas", murmelte ich. "Da vorne. Es schimmert blauweiß. Direkt über dem Boden."
"Wo?"
"Da vorne. Noch fünf Meter entfernt."
"Okay. Geh langsam näher ran und bleib etwa einen halben Meter davor stehen."
Ich tastete mich näher und blieb stehen. Dann öffnete ich die Augen. Noel sah mich konzentriert an.
"Blauweiß?" vergewisserte er sich. Ich nickte.
"Ja. Genau hier vorne." Ich deutete nach unten und ging auf die Knie. Noel reichte mir die Taschenlampe. Ich suchte den Boden gründlich ab, und das mehrmals, fand aber keinen noch so feinen Schlitz, der auf eine Platte hindeuten würde. Auch nicht, nachdem ich den Staub fortgewischt hatte. Der Boden war massiver Fels, ohne jede Beeinträchtigung oder Platte. Demnach auch keine Falle. Enttäuscht und beschämt sah ich Noel an.
"Soviel zum Thema Magier."
Noel sagte nichts; er sah mich nur an. Sein Blick ließ nicht erkennen, was er dachte.
"Paß auf", meinte er schließlich. "Leg deine Hand auf den Boden, genau in den Mittelpunkt dieses Schimmerns. Dann drück darauf, und erhöhe den Druck immer mehr."
"Da ist nichts, Noel", erwiderte ich. "Ich weiß nicht, was ich gesehen habe, aber da ist nichts. Ich habe mich getäuscht."
"Tu es. Bitte."
"Warum? Soll ich meine Schlappe noch vergrößern?"
"Toni, tu es bitte."
Seufzend schloß ich meine Augen. Sofort sah ich das Schimmern wieder, intensiver als vorher. Es war ein schmales Rechteck von vielleicht zwanzig Zentimetern Tiefe und so breit wie der Gang. Ich legte meine Hand auf den Boden und schob sie zu der Stelle, die ich als Mittelpunkt einschätzte. Dann drückte ich nach und nach immer stärker darauf.
Plötzlich spürte ich ganz massive Gefahr. Ich riß meine Hand zurück, war aber noch zu langsam. Genau vor mir ertönte ein ohrenbetäubendes elektrisches Krachen, und ich sah nur noch Blitze, die über die gesamte Breite des Ganges aus der Decke fuhren und in den Boden einschlugen. Zwei Blitze trafen meine Finger und rissen tiefe, verkohlte Brandwunden. Dann war es vorbei. Hinter uns hörte ich Vera schreien.
"Toni!"
"Er ist okay!" rief Noel zurück. "Er war weit genug weg."
"Ach ja?" quetschte ich hervor. Mein Herz hämmerte wie wild, und mir floß der Schweiß in Strömen von der Stirn und den Schläfen. Der irrsinnige Schmerz in meinen Fingern ließ nach, als die Selbstheilung einsetzte. Entsetzt starrte ich auf die zwei tiefen, schwarzen Löcher in Zeige- und Mittelfinger.
"Das hätte mich zu Asche verbrannt!" flüsterte ich tief bestürzt.
"Das hätte es." Noel hockte sich neben mich, legte mir seine Hand auf die Schulter und sah mich ernst an. "Toni, nur du hast diese Falle gesehen. Ich nicht. Ich habe sie nicht einmal gespürt. Ich ziehe mein Angebot von vorhin zurück, Anton. Ich bin völlig ungeeignet, dir etwas beizubringen. Darf ich einen Bekannten in Norwegen anrufen, der für ein oder zwei Wochen zu euch kommt? Er ist sehr viel besser als ich, und er wird viel geeigneter für dich sein." Er hob die Hand, als ich etwas sagen wollte.
"Nein, Toni. Lehne das bitte nicht ab. Wenn du nicht trainiert wirst, bist du eine Gefahr für dich selbst. Nur zwei Wochen, Toni, dann kannst du dich einschätzen und mit deinen Kräften umgehen. Bitte."
Sein Blick drückte Angst aus. Angst um mich. Und genau das machte mir erst richtig Angst.
"Bin ich so gefährlich?" flüsterte ich erschüttert. Noel lächelte schief.
"Nein. Nach den zwei Wochen nicht mehr, Toni. Im Moment... Auch nicht. Ich habe etwas übertrieben, aber ich sehe es nicht gern, wenn ein Mensch mit einem so großen Potential untrainiert durch die Weltgeschichte läuft. Schon gar nicht, wenn er mehrere tausend Jahre Zeit hat, um Unsinn anzustellen." Er lächelte verschmitzt, aber ich spürte, was er damit ausdrücken wollte. Etwas in mir ließ meinen Kopf auf und ab fahren.
"Einverstanden, Noel. Ruf ihn an."
"Prima. Was macht deine Hand?"
"Schmerz ist weg." Ich sah auf meine Finger, deren Wunden sich schon schlossen. Noch zehn Minuten, dann würden die Wunden verheilt sein.
"Gut. Dann machen wir weiter. Schließ die Augen."



Es dauerte geschlagene sieben Stunden, bis alle Fallen in der Höhle entschärft waren, und ich war am Ende dieser Zeit nur noch ein nervliches Wrack, von den vielen kleinen und großen Wunden, die Noel und ich uns beim Entschärfen geholt hatten, gar nicht zu reden. Eine Stunde in der Wanne verhalf mir wieder zur Ruhe. Ohne mich von irgendeinem zu verabschieden, taumelte ich todmüde ins Bett und schlief auf der Stelle ein. Irgendwann spürte ich Vera, die sich zu mir ins Bett legte und mich in die Arme schloß, aber ich wachte nicht auf.

 

Kapitel 18 - Mittwoch, 28.07.1999



Ich öffnete meine Augen und sah in die von Vera.
"Guten Morgen, Toni."
"Vera!" Ich nahm sie in meine Arme und drückte sie herzlich. "Guten Morgen, Liebes."
"Wie geht es dir?"
"Sehr viel besser. Ausgeschlafen und wieder fit. Alles verheilt."
"Prima." Sie gab mir einen sanften Kuß. "Bist du mir böse, weil ich mich so tölpelhaft angestellt habe?"
"Bei den alten Dokumenten? Natürlich nicht, Liebes. Du bist ja bereit, etwas dazuzulernen, und das ist die Hauptsache."
"Ist es nicht." Sie kuschelte sich an mich. "Die Hauptsache ist, daß du und Shannon bei jeder einzelnen Falle unwiderruflich tot gewesen wärt. Ich habe deswegen kein Auge zugetan." Sie wischte eine Träne auf dem Kopfkissen ab. "Toni, ich mache mir solche Vorwürfe! Nach dem, was ich gestern alles gesehen habe, ist Noel meiner Meinung nach noch viel zu nett mit mir ins Gericht gegangen."
"Ist doch alles gutgegangen, Liebstes. Mach dir bitte keine Gedanken mehr. Waren wir heute nacht alleine?"
"Nein, aber die anderen sind schon seit fünf Uhr wach. Wie üblich."
"Habe ich verschlafen?"
"Etwas. Es ist gleich acht Uhr."
"Acht Uhr!" Ich fuhr auf. "So lange habe ich nicht mehr geschlafen seit - ja, seit unserer Hochzeitsreise."
"Du hast es aber auch gebraucht." Vera schmiegte sich an mich und drückte mich kräftig. "Was ist dir gestern alles passiert? Explosionen, Blitze, Pfeile, Geschosse aus spitzen Steinen, Felsbrocken, angespitzte Baumstämme, Fallgruben, tosende Flammenwände, Vereisung... Habe ich etwas vergessen?"
"Ja, die zwei Platten mit den Nägeln, wie bei der eisernen Jungfrau." Ich drückte sie lachend an mich. "Vergiß es, Liebes, mein Bein ist ja noch dran. Laß uns aufstehen, ja?"
"Nein." Verschüchtert wie ein Schulmädchen versteckte sie ihren Kopf an meinem Bauch. "Ich schäme mich so, Toni. Ich kann Noel nie wieder in die Augen sehen."
"Unsinn, Liebstes! Du hast einen Fehler gemacht, er hat dich dafür zusammengestaucht, und damit ist es erledigt. Für ihn wie für dich. Ich habe ja auch einen Fehler gemacht, Vera. Ich hätte dir gestern mehr beistehen sollen. Er hätte wirklich nicht so mit dir reden dürfen."
"Doch." Vera setzte sich auf und sah mich eindringlich an. "Toni, er hatte ja vollkommen recht. Ich habe etwas von diesem Dämon gelesen, es aber nicht geglaubt. Das kam mir vollkommen unwahrscheinlich vor, daß diese Blätter sich mit Dämonen beschäftigen. Deswegen habe ich es auch nicht übersetzt, sondern nur überflogen und es als Schwachsinn abgetan." Sie schauderte. "Und alles andere, was mit diesem Dämon zu tun hatte, habe ich erst recht nicht geglaubt. War da wirklich einer in dem Amulett? Und du hast ihn besiegt?"
"Ja, Vera. Beides. Ich wünschte, es wäre anders, aber es war tatsächlich so."
Vera schauderte erneut und preßte sich enger an mich. "Unheimlich ist das. Da lebst du friedlich vor dich hin, und plötzlich reißt dir irgend etwas, was du nicht sehen kannst, alles mögliche auf und will dich umbringen."
"So ist das zum Glück nicht, Liebstes." Ich wiegte uns sanft hin und her. "Diese Wesen leben eigentlich für sich. Erst wenn du ihnen in feindlicher Absicht entgegentrittst, gehen auch sie zum Angriff über. Dämonen sind eine Ausnahme, das gebe ich zu, aber andererseits... Normalerweise wird vor Dämonen gewarnt, wie auf den Blättern. Wenn sich trotzdem jemand darauf einläßt, war er oder sie eben vorgewarnt und muß die Konsequenzen tragen."
"Wie die arme Kerstin. War er wirklich auf sie aus?"
"Ja. Aber wie gesagt, es ist ja alles gutgegangen. Und ich glaube nicht, daß dieses Haus noch mehr Überraschungen oder Geheimgänge bereithält."
"Dafür bete ich! Machst du Frühstück und bringst es hoch? Dann können wir gemütlich im Bett essen."
"Möchtest du das?" lächelte ich. Vera nickte. "Oder möchtest du eher Noel aus dem Weg gehen?"
"Toni!" quengelte Vera. "Ich schäme mich wirklich!"
"Unfug. Hoch mit dem alten Heck."
Maulend ließ sich Vera aus dem Bett ziehen. Als wir eine Viertelstunde später ins Erdgeschoß kamen, fanden wir Noel, Shannon, Mandy und Becky in einer angeregten Unterhaltung in ihrer Muttersprache. Kerstin und Birgit tobten, wie das Lachen uns sagte, im Garten herum.
Vera und ich begrüßten alle, wobei sich herausstellte, daß Noels Verstimmung gegenüber Vera nicht mehr vorhanden war, und frühstückten dann erst einmal gründlich. Die Wanne, der lange, tiefe Schlaf und das Essen hatten meinen Seelenfrieden wieder völlig hergestellt, auch wenn ich noch etwas unsicher war, was meine Zukunft als "Magier" anging. So ganz konnte ich das immer noch nicht glauben. Gut, ich sah manchmal mehr als andere Menschen, und den Tag gestern konnte ich auch nicht so einfach übergehen, aber deswegen war ich doch noch lange kein Magier! Magier waren für mich weise, reife Menschen, die jederzeit wußten, ob und wie sie ihre Kräfte einsetzen konnten, während ich noch nicht einmal wußte, was ich überhaupt für Kräfte hatte. Und ob ich welche hätte. Das zusätzliche Sehen, was ich manchmal konnte, war für mich keine magische Kraft, sondern nur eine Erweiterung meiner Sinne.
Aber das lag alles noch in der Zukunft. Für heute war - auf Noels Bitte hin - ein Besuch bei einem Copyshop geplant, damit Noel sich ordentliche Kopien der gefundenen alten Dokumente machen konnte, anschließend ließen wir ihn mit den drei Mädchen alleine. Die vier setzen sich in den Garten, schalteten um auf Gälisch und unterhielten sich äußerst angeregt und fröhlich. Ich nutzte die Ruhe, um zuerst etwas herauszufinden, womit ich den drei Mädchen und Noel vielleicht eine Freude machen konnte, dann ging ich an meine Geschichten. Kerstin und Birgit kümmerten sich um ihre Mutter, die noch immer unter großen Schuldgefühlen litt, und brachten sie so häufig zum Lachen, daß Vera gegen Mittag wieder halbwegs sie selbst war.
Nach dem Essen fuhren wir mit zwei Wagen und acht Personen in die Innenstadt und zeigten Noel einige der Sehenswürdigkeiten, doch er kannte sich in der Geschichte besser aus und erklärte am Schluß uns, wann und wie bestimmte Gebäude entstanden waren. Shannon amüsierte sich königlich.
Wir verbrachten den gesamten Nachmittag in der Stadt, zum Teil mit kleinen Einkäufen, zum großen Teil jedoch nur mit Laufen und Schauen. Zum Abendessen lotste ich die ganze Bande in eine Kneipe, in der ich am Morgen einen Tisch reserviert hatte. Glücklicherweise waren die irischen Mädchen so vertieft in ihre Unterhaltung mit Noel, daß sie das Schild am Eingang übersahen.
Wir bestellten zwei große Grillplatten für je vier Personen und schlugen uns erst einmal den Bauch voll. Um viertel vor acht war unser Tisch wieder abgeräumt, und um kurz vor acht wurde es sehr unruhig. Vier Männer und eine Frau, die alle sehr wild und urwüchsig aussahen, kamen aus einem Nebenraum und bauten sich auf der kleinen Bühne im hinteren Teil der Kneipe auf, wo wir saßen.
"Live-Musik?" fragte Vera mit glänzenden Augen. Ich nickte lächelnd und legte den Finger an die Lippen. Becky, Mandy und Shannon schauten gebannt zu, wie drei der Musiker ihre Instrumente aus den Koffern holten. Ich entdeckte zwei Gitarren und eine Violine. Der vierte Mann setzte sich hinter das Schlagzeug, das bis dahin hinter einem Vorhang verdeckt gewesen war, die Frau zog eine kleine, silbern schimmernde Flöte aus ihrer Tasche. Dann begannen sie, ihre Instrumente zu stimmen. Shannon fuhr zu mir herum, mit leuchtenden Augen.
"Eine Tin Whistle!" rief sie völlig aus dem Häuschen. "Toni, spielen die irische Musik?"
"Keine Ahnung", lächelte ich. "Warte ab." Shannon nickte begeistert und sah wieder nach vorne.
Nach ziemlich kurzer Zeit waren die Instrumente sauber gestimmt. Die Band, deren Namen ich leider wieder vergessen habe, stellte sich kurz vor, gab bekannt, daß sie aus Killarney, einer Stadt im Südwesten von Irland stammten, und begannen direkt mit dem ersten Lied. Die Gesichter der drei Mädchen leuchteten vor Glück, als sie die Klänge und Rhythmen ihrer alten Heimat vernahmen.
Wie bei irischer und schottischer Musik üblich, handelten die Lieder, soweit ich den schweren Akzent verstehen konnte, von Politik, der irischen Unabhängigkeit, Arbeitslosigkeit und Zukunftsperspektiven, aber von Zeit zu Zeit spielten sie auch alte Volkslieder, bei denen die drei Mädchen sich in ihre Zeit zurückversetzt fühlten. Bei diesen Liedern sah Shannon mich gelegentlich an, mit einem Blick, der unaussprechliche Liebe ausdrückte, und ich sah sie förmlich wieder in ihrer Zeit, in der sie aufgewachsen war. Bei einem Lied, das von einem jungen Mann handelte, der seine Heimat wegen Geld und Liebe verlassen mußte, weinte Becky sogar, und erst da wurde mir klar, daß die drei Mädchen seit gut 110 Jahren keine richtige Heimat mehr hatten. Sie lebten dort, wohin das Schicksal sie verschlug, und mußten sehen, daß sie zurecht kamen.
Um neun machte die Band eine Pause, und um viertel nach neun verkündete die Frau, daß der Rest des Abends - also bis etwas zehn Uhr - ganz unter dem Zeichen der Folklore und alten irischen Tänze stände.
"Nein!" sagte Shannon überwältigt. "Toni, machen die etwa auch Tapdance?"
Bevor ich antworten konnte, daß ich nicht einmal wußte, was dieses Tapdance sei, brach ein Gewitter los. Zumindest klang das, was der Schlagzeuger da produzierte so. Die Frau trug nun, nach der Pause, ein weites Kleid und begann, im Rhythmus der Trommeln komplizierte Schrittmuster auszuführen. Sie tanzte dabei hauptsächlich auf den Fußballen, anstatt mit dem ganzen Fuß aufzutreten. Die Frau fegte regelrecht von der Bühne herunter, durch den ganzen Raum und um die einzelnen Tische herum, der weite Rock ihres Kleides stellte sich auf, und ihre langen Haare flogen wie ein Fächer durch die Luft. Shannon hatte die Hände zu Fäusten geballt und preßte sie vor ihre Brust, während ihre leuchtenden Augen nicht von der Frau wichen.
Die Musik wurde aufpeitschender und lauter, der Tanz der Frau immer schneller und mitreißender, bis plötzlich, von einer Sekunde auf die andere, alles still war. Die Frau stand bewegungslos vor der Bühne, das rechte Bein eingeknickt, das linke weit nach hinten gestreckt, die Hände auf dem Rücken verschränkt, der Kopf gesenkt. Ihre Brust hob und senkte sich gleichmäßig, als hätte sie sich überhaupt nicht angestrengt.
Lauter Applaus und Jubel brandete auf. Die Frau stand auf, verneigte sich lächelnd und war mit zwei schnellen Schritten wieder bei ihren Partnern auf der Bühne. Mandy beugte sich zu Shannon.
"Das war die Kindheit, oder?"
"Ja", erwiderte Shannon. "Jetzt müßte das Aufwachsen kommen."
Die Musik setzte wieder ein, genauso mitreißend wie das erste Stück, doch nun waren die Bewegungen der Frau ausgeprägter, deutlicher, reifer. Nach und nach verstand ich. Offenbar zeigten diese Tänze Sequenzen aus dem Leben und beschrieben sie mit entsprechenden Bewegungen.
Auch dieses zweite Stück bekam lauten und begeisterten Beifall. Es war aber auch aufwühlend. Als das dritte Stück begann, stöhnte Shannon auf.
"Nicht das! Bitte nicht das!"
"Was denn?" fragte ich besorgt. Auch Vera beugte sich zu Shannon vor. Mandy, deren Augen auf der tanzenden Frau klebten, war völlig von der Musik gefangen und antwortete deshalb wahrscheinlich äußerst unbedacht.
"Bei dem Tanz hat Shannon 1881, kurz bevor wir nach New York fuhren, die städtische Meisterschaft in Carrick gewonnen."
"Was?" fragte Vera entgeistert. "1881? New York? Shannon, wovon -"
Doch ihre Frage war an einen leeren Stuhl gerichtet. Shannon hatte es nicht mehr auf ihrem Platz gehalten. Sie war aufgesprungen und lief zu der Frau, die gerade mit einem der Gitarristen eine Art Liebesreigen oder Werben tanzte. Die beiden waren zu professionell, um sich aus dem Schritt bringen zu lassen, als Shannon plötzlich mit ihnen tanzte, doch schon nach Shannons ersten Bewegungen erkannten sie, daß Shannon ein Profi war.
Und das war sie in der Tat. Die Vorstellung, die Shannon hier lieferte, war einfach unglaublich. Sie konkurrierte im Tanz mit der Frau, trat mit ihr in Wettstreit um die Gunst des Mannes, lockte ihn an, wies ihn zurück, tanzte in der einen Sekunde unschuldig wie ein junges Mädchen, in der nächsten sinnlich und ausdrucksvoll wie eine reife Frau. Sie tanzte ihre Partnerin, die wahrhaftig nicht untalentiert war, glatt an die Wand. Selbst Vera, die an Mandys Antwort heftig zu schlucken hatte, ließ sich von Shannon bezaubern.
Der Tanz wurde intensiver, das Werben trat in die entscheidende Phase. Shannon tanzte ganz dicht vor dem Mann, der perfekt mitspielte und sich zwischen den beiden Frauen nicht entscheiden konnte, machte so unglaublich schnelle Schrittfolgen, daß ihre Füße verschwammen, drehte sich vor ihm, fegte ihm ihre langen Haare durch das Gesicht, tanzte von ihm weg, wobei sie ihm kecke Blicke über die Schulter zuwarf, und tanzte sich geschickt vor die Frau, die Shannons Distanz ausnutzen wollte. Schließlich folgte der Mann wieder seinem Drehbuch und entschied sich für die Frau. Shannon tanzte fort, perfekt die enttäuschte, zurückgewiesene junge Frau spielend, blieb in einiger Entfernung stehen und sah den beiden, die nun gemeinsam und synchron tanzten, rhythmisch auf der Stelle wippend zu, wie ein Mauerblümchen, das gerne zum Tanz aufgefordert werden möchte, bis die Musik mit einem kurzen Crescendo endete und abbrach.
Das Publikum raste. Anders konnte man es nicht mehr nennen. Die Menschen in der Kneipe trampelten mit den Füßen, applaudierten wie besessen, johlten und pfiffen. Die Frau und der Mann holten Shannon zu sich, nahmen sie in ihre Mitte und verbeugten sich zu dritt mehrmals, dann hüpfte Shannon aufgeregt wieder zu unserem Tisch.
"Beinahe hätte ich ihn gehabt!" verkündete sie strahlend und etwas außer Atem. "Beinahe!" Stolz und glücklich ließ sie sich auf ihren Stuhl fallen und klatschte wie alle anderen. Die fünf auf der Bühne berieten sich kurz, dann machten sie mit ihrem Programm weiter. Vera bekam keine Chance, die Frage zu stellen, die ihr brennend auf der Zunge lag; die Vorstellung der irischen Gruppe war einfach zu fesselnd.
Der nächste Tanz stellte die Ehe dar. Mann und Frau tanzten vollkommen synchron, wie ein lange miteinander verheiratetes Ehepaar. Auch dieser bekam sehr starken Applaus, wie auch der letzte, der sehr schwermütig war und den Tod beider Ehepartner symbolisierte. Nach dem letzten Ton tobte das Publikum wieder und wollte gar nicht mehr aufhören, zu applaudieren. Irgendwie hatte Shannons kurzer Auftritt mehr Feuer in die Vorstellung gebracht.
Als endlich wieder so etwas wie Ruhe eingekehrt war, trat die Frau ans Mikrofon und begann, auf Irisch zu reden, jedoch so langsam und sauber, daß jeder, der einigermaßen Englisch sprach, es verstehen konnte.
"Seit fünf Jahren sind wir regelmäßig auf Tournee und folgen, wie jede Gruppe oder Band, einem bestimmten Programm. Nach den Partnertänzen, die Sie, liebes Publikum, gerade gesehen haben, kämen nun einige keltische Gesänge, doch zuvor möchte ich Sie gerne fragen, ob Sie noch etwas mehr von der bezaubernden, unbekannten jungen Dame, die sich so hervorragend in den Tanz eingefügt hat, sehen möchten."
Shannon wurde feuerrot, als ein eindeutig zustimmender, lauter Applaus ausbrach. Die Frau winkte Shannon zu sich. Shannon sprang auf und lief zu ihr. Für ein paar Sekunden unterhielt Shannon sich mit der Frau und ihrem Tanzpartner, dann blieb sie mit leuchtenden Augen neben ihr stehen.
"Wir würden gerne", sagte die Frau dann in das Mikrofon, "wenn Sie nichts dagegen haben, einen Tanz der Jahreszeiten einfügen. Die junge Dame, deren Name Shannon McDonaghue ist, wird den Frühling tanzen und somit beginnen. Sie ist erst 15, also seien Sie bitte nicht zu streng mit ihr."
Shannon zog sich ihre Schuhe aus, ließ sich unter dem lauten Beifall auf den Boden sinken, kniete sich hin, brachte die Stirn auf den Fußboden und legte die Arme an den Körper. Aufmerksame, gespannte Stille kehrte ein.
Der Mann mit der Violine begann. Er spielte sehr leise, zarte, vorsichtige Töne, als würde eine Pflanze behutsam nachschauen, ob es schon Zeit sei, zu erwachen. Shannon folgte der Musik, indem sie langsam ihre Arme und Hände nach vorne und dann nach oben bewegte. Die Violine wurde lauter, fließender, zusammenhängender, und Shannon drückte die Knie durch und richtete sich auf. Mit unmerklichen, sehr anmutigen Bewegungen kam sie auf die Füße und blieb mit geschlossenen Beinen stehen, sich wie eine junge Pflanze im Wind wiegend. Dann brach der Frühling mit voller Macht aus, genau wie Shannon, die ausgelassen über die Bühne wirbelte, auf den Fußballen tanzte, sich wie ein Derwisch auf der Stelle drehte und eine mitreißende, unbeschreiblich symbolische Vorstellung bot. Es war, als würden wir einer Fee beim Morgentanz zusehen; bezaubernd, aufwühlend, voller Sehnsucht und Verlangen nach dem Leben.
Was wir hier sahen, war Laura Lee, das knapp 13jährige Mädchen, das von ihren Geschwistern verstoßen worden war und leben wollte. Nicht nur meine Augen waren feucht, auch die von Mandy und Becky, und sogar die von Noel, der Shannon besser kannte als jeder von uns. Wenn einer ihren Tanz wirklich verstand, dann er.
Die Musik legte ein letztes Mal an Tempo und Lautstärke zu, genau wie Shannon, die tanzte, als gälte die Schwerkraft für sie nicht mehr. Ihre Füße jagten über den Boden, wirbelten ihren Körper erst in die eine, dann in die andere Richtung, drehten sich im Kreis, bis schlagartig alles endete und Shannon schwer atmend auf der Stelle stand, Beine weit gespreizt, Füße fest auf dem Boden, Hände und Gesicht nach oben gestreckt, als wollte sie die Sonne fangen.
Das Publikum tobte. Es raste nicht mehr, es tobte. Buchstäblich. Die Kneipe erbebte unter dem lauten Getrampel und Klatschen. Shannon wurde erneut rot, doch ihr Gesicht glühte vor Freude. Mitten in dem ganzen Lärm redete sie noch mit der Frau, wobei sie auf ihre beiden Schwestern deutete, dann verbeugte sie sich ein letztes Mal, drehte sich mit ausgestreckter Hand zu der Band und lächelte jeden einzelnen Musiker an, bevor sie sich ihre Schuhe griff und wieder an unseren Tisch kam. Erst als sie saß, verebbte der Applaus nach und nach.
"Das war unglaublich!" bewunderte Vera sie. "Tanzen alle irischen Mädchen in deinem Alter so perfekt?"
Ein belustigter Schimmer flog über Shannons Gesicht. "In meinem Alter? Ja, doch. Die meisten jedenfalls." Mandy und Becky kicherten, Noel und ich meisterten ein neutrales Gesicht. Vera nickte.
"Mandy, was war das gerade mit 1881 und New York?"
"Pst!" machte ich schnell und deutete auf die Bühne. "Es geht weiter."
Vera funkelte mich an, blieb jedoch ruhig.
Fasziniert sahen wir dem Sommer, dem Herbst und dem Winter zu, von der Frau perfekt interpretiert und in Tanz umgesetzt. Auch sie bekam am Ende einen donnernden Applaus, genau wie die Band. Die Vorführung endete mit mehreren keltischen Gesängen, zum Teil auf Englisch, zum Teil auf Gälisch. Auch wenn außer den drei Mädchen und Noel wohl kaum einer im Raum diese Sprache verstand, drückten Musik und Bewegungen genug aus, um den Sinn der Lieder einigermaßen zu verstehen.
Nach dem letzten Lied stand jeder einzelne in der Kneipe auf und applaudierte der Band lange und nachhaltig. Shannon wurde sogar noch einmal auf die Bühne gebeten, wofür sie einen weiteren, donnernden Applaus erhielt, dann war dieser wunderschöne und bewegende Abend vorbei.
Die Band packte ihre Instrumente wieder ein und verließen die Bühne durch die kleine Tür zum Nebenraum, der Vorhang verdeckte das Schlagzeug, und keine zwei Minuten später saßen die Frau und ihr Tanzpartner mit bei uns am Tisch. Sie hieß Eileen und er Liam; die Nachnamen konnte ich mir beim besten Willen nicht merken.
Die Unterhaltung wurde natürlich auf Englisch geführt, was meine Töchter und mich ausschloß, denn auch wenn wir Englisch verstanden, hatten wir mit dem Reden doch unsere Probleme. Dafür war Vera in Englisch fit und beteiligte sich angeregt an dem Gespräch, was sich hauptsächlich um Shannons Tanzen drehte. Liam erwähnte, daß sie noch bis einschließlich Sonntag hier spielen würden, und daß Shannon mit ihren Schwestern gerne am Sonntag bei einigen Stücken teilnehmen könnte, was die drei Mädchen strahlen ließ. Natürlich sagten sie zu, und als Shannon ernst versicherte, daß Mandy und Becky ebensogut tanzen konnten wie sie, war alles perfekt. Und genauso natürlich erhielten wir für diesen Abend freien Eintritt.
Eileen und Liam blieben noch ein paar Minuten bei uns, dann verabschiedeten sie sich. Jetzt, nachdem das Adrenalin des Auftretens nachgelassen hatte, war ihnen die Müdigkeit von knapp zwei Stunden Musik und Tanz anzusehen. Shannon gab ihnen für alle Fälle noch ihre Telefonnummer, dann machten wir uns auch auf den Heimweg.
"So!" sagte Vera entschlossen, als wir vor unseren Autos standen. "Mandy, was war das vorhin mit 1881, mit New York und städtischer Meisterschaft?"
Mandy blickte betreten zu Boden, während Shannon einen kurzen Anflug von Angst zeigte. Doch Noel rettete die Mädchen.
"Vera?" sagte er ruhig. "Kann ich bei Ihnen mitfahren? Es gibt da einen Aspekt über das Leben als Wolf, den Sie noch erfahren müssen."
"Hat das mit 1881 und so weiter zu tun?" fragte Vera angespannt. Noel nickte.
"Das hat es. Und mit Ihnen und Ihrer Familie."
Vera seufzte laut. "Steigen Sie ein."
Shannon und Mandy fuhren mit ihr, somit blieben für mich Birgit, Becky und Kerstin. Vera fuhr vor, ich folgte ihr.
"Worüber reden die jetzt?" fragte Becky furchtsam.
"Über das Altern, Schätzchen." Ich sah sie im Rückspiegel an. "Ich weiß Bescheid, Becky. Kerstin auch."
"Okay." Beruhigt lächelte sie mich an. Dafür kam Birgit nach vorne.
"Was meinst du, Papi?"
"Birgit, Shannon und Mandy und Becky haben einen etwas anderen Wolfsvirus als wir. Sie leben viel länger als wir und altern auch nicht so schnell." Besser die Wahrheit in einer großen Portion servieren als in vielen kleinen, dachte ich. "Shannon ist über 200 Jahre alt."
"Mandy und ich sind etwa 130 Jahre alt", erklärte Becky. "Genau wissen wir das nicht, weil wir unseren Geburtstag nicht kennen."
"Aha." Birgit sah Becky an und entschied sich offenbar für die Fragen, deren Antworten sie verstehen würde. "Warum kennt ihr euren Geburtstag nicht?"
"Weil wir ausgesetzt wurden", bekannte Becky offen. "Wir waren ziemlich krank, und da haben uns unsere Eltern rausgeschmissen. Noels Schwester hat uns gefunden und mit Noel zusammen wieder gesund gemacht, sonst wären wir gestorben."
"Wow!" hauchte Birgit beeindruckt. "Ihr seid wirklich hundert Jahre alt?"
"Ja", lächelte Becky. "So um den Dreh."
Urplötzlich fing Birgit an, zu weinen.
"Krümel!" rief ich erschrocken. "Was hast du?"
"Wenn", schluchzte Birgit, "wenn Becky - nicht älter wird, dann - dann können wir - können wir doch keine - keine Freundinnen mehr sein!"
"Wieso das denn nicht?" fragte ich erstaunt.
"Weil sie - weil sie nicht älter wird, aber ich! Irgendwann - irgendwann bin ich doch - bin ich doch zu alt!"
"Du Dummes!" lachte Becky und drückte Birgit an sich. "Wenn ich Wolf werde, beiße ich dich ganz vorsichtig, und dann wirst du auch nicht mehr älter!"
Gut, dachte ich. Laß die Mädels das untereinander klären.
"Das machst du?" schniefte Birgit.
"Natürlich!" strahlte Becky. "Weil ich doch auch will, daß wir immer Freundinnen bleiben!"
"Du bist toll!" schluchzte Birgit. Kerstin drehte sich auf dem Beifahrersitz nach hinten.
"Dann kannst du mich auch beißen, Becky", sagte sie ernst. "Oder wir beide, Birgit, lassen uns von Shannon oder Mandy beißen, dann bleiben wir immer so alt, wie wir jetzt sind."
"Dann machen wir das!" rief Birgit glücklich aus. "Dann sind Becky und ich immer zwölf Jahre alt und können immer die besten Freundinnen sein! Papi? Darf Shannon oder Mandy uns heute abend noch beißen?"
"Wir reden nachher, wenn wir zu Hause sind, noch einmal mit Noel darüber, einverstanden? Er weiß sehr viel mehr darüber, und er wird uns mehr helfen können. Dann sehen wir weiter."
Kerstin schaute mich an, und ich sah es nicht nur in ihren Augen und dem Gesicht, sondern spürte es auch, daß sie noch heute abend gebissen werden wollte. Sie war dazu fest entschlossen. Ich nickte leicht.
"Ist gut, Bolzen", sagte ich leise, damit die Mädchen es hinten nicht verstehen konnten. "Aber erst nach dem Gespräch."

* * *

"Fassen wir zusammen", sagte Vera müde. Ihr fiel es von uns allen am schwersten, mit diesen Dingen umzugehen. Verständlich; sie hatte sich bisher nie für diese Welt interessiert.
"Wir können uns in Wölfe verwandeln, wann immer wir wollen. Wir können nur dann sterben, wenn wir entweder in kleine Stücke gehackt oder verbrannt oder in Säure aufgelöst werden. Oder wenn uns der Kopf abgehackt wird. Das gibt mir auf der einen Seite zwar Sicherheit, macht mir auf der anderen Seite aber sehr viel Angst. Selbst schwerste Verletzungen sind spätestens nach sechzig Minuten vollständig verheilt. Und wir leben ewig. Besser gesagt, mehrere tausend Jahre. Ist das so ungefähr richtig?"
"So ist das sogar vollkommen richtig", sagte Noel. Er griff nach seinem Glas Mineralwasser und trank einen kleinen Schluck.
"Vera, Sie dürfen aber eins nicht vergessen. Als normaler Mensch - das ist nicht abfällig gemeint, sondern nur eine verbale Trennung - leben Sie um die achtzig Jahre. Mal mehr, mal weniger, aber so etwa. Bleiben wir mal bei dieser Zahl. Von diesen achtzig Jahren vergehen etwa 20 oder 25 Jahre, bis Sie so selbständig sind, daß Sie für sich selbst sorgen können. Am Ende sind noch einmal 10 oder 20 Jahre, je nach körperlicher Verfassung, in denen Sie nicht mehr so aktiv sein können wir vorher. Das macht im günstigsten Fall etwa 50 Jahre, die sie vollkommen bewußt und aktiv erleben."
Vera nickte. "Weiter."
"Schauen wir uns Shannon an. Sie ist 230 Jahre alt, doch ihr Körper ist 15. Wir unterscheiden zwischen dem kalenderarischen und dem biologischen Alter. Laut Kalender ist sie 231, biologisch 15. Sie redet sehr erwachsen und ist auch sehr reif, aber das liegt nur daran, daß sie eben schon sehr früh für sich alleine sorgen mußte. Überleben mußte. Sie hat sich im biologischen Alter von 13 Jahren einhundert Jahre lang mit allen möglichen Arbeiten durchgeschlagen und demzufolge auch viel gelernt. Wenn Sie Shannon fragen, wie alt sie sich fühlt, wird sie immer und ganz spontan mit '15' antworten. Weil das eben das Alter ist, das ihrem biologischen Alter entspricht.
Ich persönlich bin 1838 geboren worden. Dem Kalender nach bin ich 161 Jahre alt, biologisch bin ich jedoch im Alter von 43 Jahren stehengeblieben. Genau das ist das Alter, das ich fühle, Vera. Ich fühle mich wie 43. Damit kommen wir zu dem Punkt, der Ihnen wahrscheinlich am meisten zu denken gibt.
Ihr gesamter Körper, Vera, ist auf diese Situation eingestellt. Eventuelle Krankheiten und Schwächen an Muskulatur oder Knochen oder Gewebe werden sofort von diesem Hormon - oder wie immer man das nennen will - geheilt. Ihr Gehirn ist wesentlich leistungsfähiger. Toni hat es erlebt; er schreibt schneller als vorher, und wesentlich konzentrierter. Er schafft seine Arbeit nun in der Hälfte der Zeit. Das Erinnerungsvermögen - ein großes Problem bei den Menschen, die normal altern - ist ausgeprägter. Ich kann Ihnen fast auf den Tag genau benennen, was ich in den letzten 100 Jahren so getrieben habe. Ich wette, das können Sie nicht für das letzte Jahr."
Vera mußte lächeln. "Wette gewonnen."
"Sehen Sie. Alles in Ihrem Körper ist auf dieses langsamere Altern eingestellt. Shannon hat seit - ach, seit mehr als 20 Jahren nicht mehr getanzt, soweit ich weiß."
"Seit mehr als 110", verbesserte Shannon ihn. "Mein letzter Tanz war der Wettbewerb in Carrick, Noel. Der war 1881; drei Monate vor unserer Abreise nach New York."
"Okay. Was ich damit sagen will: für Shannon sind diese 110 Jahre so wie für Sie ein Jahr, Vera. Für alle in dem Restaurant war Shannons Tanz einfach perfekt. Was denkst du, Shannon?"
"Bin aus der Übung!" lachte sie. "Sonst hätte ich den Typ doch rumgekriegt!"
"Shannon hat früher leidenschaftlich gern getanzt", lächelte Noel. "Daher hat sie so gut wie nichts vergessen, Vera. Nur winzige Feinheiten, die sich eben verlieren, wenn man ein Jahr nicht tanzt."
"Stop!" rief Vera. "Ein Jahr - hundert Jahre... Was denn nun?"
"Das ist es eben", grinste Noel. "Das macht keinen Unterschied, Vera. Für Shannons Körper und Geist war es nur ein einziges Jahr; für den Rest der Welt waren es einhundert Jahre."
"Sekunde!" Veras Stirn legte sich in Falten. "Ist das die Relativität der Zeit?"
"Exakt, Vera. Shannon ist in diesen einhundert Jahren nur ein einziges Jahr gealtert, und so empfindet sie das auch. Für sie war es ein Jahr, auch wenn in diesem subjektivem Jahr zwei Weltkriege stattfanden. Für Shannon, für Mandy und Becky wie auch für mich ist jeder Tag so lang wie für Sie, aber im Nachhinein ist ein Jahrhundert wie ein einziges Jahr. Und dieses eine Jahr, Vera, wird auch noch viel bewußter in Erinnerung behalten als bei normal alternden Menschen. Das ist also ein Punkt, wo Sie sich keine Gedanken drüber machen müssen. Ihr Gehirn wird nicht überlaufen, und Sie bekommen das Leben auch nicht satt. Ich kenne einen Mann, der bereits über 500 Jahre alt ist. Wenn Sie mit ihm reden, werden Sie denken, daß er ein geistig hochstehender, aktiver Mittfünfziger ist. Er erinnert sich an diese 500 Jahre weitaus deutlicher als Sie oder Toni an die letzten fünf Jahre. Das ist ungefähr die Relation."
"Kapiert." Vera sah mich müde an. "Toni? War es das, oder kommt noch mehr, was ich verdauen muß?"
"Das war alles, Liebes", lächelte ich. "Willst du mal lachen? Ich warte noch immer auf den Schock bei mir. Bisher habe ich das alles erst einmal so hingenommen, aber ich erwarte meinen Zusammenbruch eigentlich jeden Moment."
"Sag Bescheid, wenn er kommt, dann mache ich mit." Vera schüttelte den Kopf.
"Das liegt auch an dem Hormon, Vera", erklärte Noel. "Shannon, wie war das bei dir? Du mußtest ja vollkommen alleine mit allem klarkommen."
"Wie war das... Als ich von meinen Geschwistern rausgeworfen wurde, hatte ich überhaupt keine Zeit, über etwas anderes als das Überleben nachzudenken. Und dann bei Rodney... Sicher habe ich mir Gedanken gemacht, als ich mit 16 oder 17 immer noch wie ein Kind ausgesehen habe, aber ich wußte auch irgendwie, daß das alles völlig normal war. Für mich jedenfalls. Ich wußte irgendwoher, daß ich nicht so schnell älter werde, und das war nichts, worüber ich mir Sorgen machen mußte."
Sie lächelte schief. "Erst als Rodney mich sitzengelassen hat, wurde mir klar, daß ich anderen damit Angst machen könnte, daß das für andere nicht so normal war wie für mich. Deswegen war ich ja immer nur ein halbes Jahr bei jedem und bin dann weitergezogen."
"Das könnte es erklären", sagte ich nachdenklich. "Liebling, genau das spüre ich auch irgendwo in mir. Ich kann es nicht greifen, aber es ist da. Deswegen denke ich kaum darüber nach." Ich sah Noel an.
"Und deswegen kommt auch der Schock nicht?"
"Das denke ich mir", erwiderte Noel. "Weil alles in dir schon umgestellt ist, Toni. Und bei Ihnen, Vera, wird das auch sehr schnell kommen. Sie sind ein Mensch, der mit dem Kopf denkt, und deswegen müssen Sie alles verstehen und analysieren. Wir, also Shannon, Mandy, Becky, Toni und ich, sind da etwas anders. Wir handeln alle mehr aus dem Gefühl heraus und übergeben es erst dann an den Kopf, damit der seinen Senf dazugeben kann."
"Das war das erste Mal", lachte Vera herzlich, "daß ich einen Satz von Ihnen nicht als persönlichen Angriff aufgefaßt habe. Nein, Noel, Sie liegen vollkommen richtig damit. Deswegen interessiert mich das Übersinnliche auch nicht, weil mein Kopf das weder anfassen noch sehen noch verstehen kann. Für meinen Kopf gibt es das nicht."
"Das lernst du schon noch, Mami", sagte Kerstin ernsthaft. "Das ist gar nicht so schwer. Der Wolf hilft dabei."
"Wenn ich dich nicht hätte!" lächelte Vera. Sie drückte Kerstin herzlich. "Na gut, packen wir diesen Schock zu den anderen. Dann lohnt sich der Nervenzusammenbruch wenigstens."
"Gut", grinste Noel. "Vera, Sie sind im übrigen stärker, als Sie immer tun."
"Wie kommen Sie denn darauf? Weil ich 22 Jahre mit Toni überlebt habe?"
"Nein, weil Sie eineinhalb Tage mit mir überlebt haben." Er zwinkerte Vera zu, die zu meinem Erstaunen geschmeichelt zurücklächelte.
"Damit lassen wir dieses Thema erst einmal fallen. Kerstin, kommst du mal bitte zu mir?"
"Äh - ja." Unsicher ging Kerstin zu Noel, der sie auf seinen Schoß zog.
"Paß auf, Kleines", sagte er leise. "Ich denke an etwas, und du versuchst, mich daran zu hindern."
"Was soll ich?" Kerstin sah ihn verstört an. Noel lächelte beruhigend.
"Was siehst du jetzt, Kleines?"
"Einen dicken Pfeil mit ganz spitzer Spitze", antwortete Kerstin spontan. "Der zeigt genau auf mich."
"Sehr gut. Und jetzt?"
"Jetzt kommt er auf mich zu." Kerstin rutschte nervös auf Noels Schoß hin und her.
"Bleib ganz ruhig, Kleines", flüsterte Noel. "Wie würdest du den Pfeil aufhalten?"
"Ach so!" Kerstin lachte erleichtert. "Eine ganz dicke Holzplatte zwischen den Pfeil und mich stellen!"
"Dann tu es."
Kerstin nickte. "Steht!"
"Prima." Noel strich ihr kurz durch die Haare, dann ließ er sie aufstehen. Kerstin kam auf die Füße und sah ihn fragend an.
"Was sollte das jetzt?"
"Nur ein Test, Kleines. Warum möchtest du so lange leben wie Shannon?"
"Damit ich lange bei meinen Eltern bleiben kann", antwortete sie wie aus der Pistole geschossen.
"Und warum willst du das? Möchtest du nicht später mal heiraten, einen Beruf oder Kinder haben und selbständig leben?"
"Nein." Kerstin sah ihn ernst an. "Auf mich wartet etwas anderes, Noel."
"Und was?"
"Das sehe ich noch nicht", flüsterte Kerstin. "Aber ich weiß es."
Noel tätschelte ihre Schulter. "Ist gut, Kerstin. Ich verstehe dich. Mandy? Wärst du so lieb, aus meiner Reisetasche das schmale braune Etui zu holen?"
"Ja-a!" Mandy sprang auf und lief nach oben. Wenig später kam sie zurück und drückte Noel das Etui in die Hand. Noel dankte ihr mit einem Lächeln und holte mehrere schmale Streifen aus dem Etui.
"Shannon?"
Shannon kannte dies offenbar, denn sie stand direkt auf, ging zu Noel und öffnete den Mund.
"Was machst du?" fragte ich verwundert.
"Den Test, wer von euch welches Hormon in sich hat", antwortete Noel. "Bevor hier irgend jemand irgend jemanden beißt, möchte ich etwas Klarheit haben. Kerstin, Birgit, von euch beiden hätte ich gerne etwas Blut. Nur ein paar Tropfen."
Fünf Minuten später waren die Streifen ausgewertet, und zwei kleine Kanülen mit Blut steckten in Noels Etui. Es zeigte sich, daß Shannons Virus sich tatsächlich von meinem unterschied. Worin genau, würde Noel uns noch mitteilen.
"Gehört das alles zu den Aufgaben eines Magiers?" schmunzelte ich.
"Nein, Toni. Shannon hat dir ja schon gesagt, daß ich nicht nur wegen des Dämons gekommen bin, sondern auch wegen eurer Fähigkeit, euch zu verwandeln. Wenn ihr vier jetzt dazugehört, sind wir weltweit genau 23 Menschen mit dieser Fähigkeit. Es interessiert mich, weil ich auch ein solcher Mensch bin. Es interessiert mich zusätzlich, weil ich als Magier die Verpflichtung spüre, ein Auge auf gewisse Dinge zu haben. Versteh mich bitte richtig! Ich sehe mich weder als Erzengel noch als eine Art Polizei, sondern einfach nur als Menschen, der weiß, was für Schäden entstehen können, wenn die Fähigkeit der Verwandlung bei leichtsinnigen oder unverantwortlichen Menschen landet." Er sah mir tief in die Augen, und ich hörte seine Stimme in meinem Kopf sagen: 'Denn es gibt eine Möglichkeit, dem Menschen diese Fähigkeit wieder abzunehmen.'
'Ich verstehe', dachte ich betroffen.
'Nein', dachte Noel. 'Mit der Möglichkeit sind es zwei, aber die schließe ich aus. Ich bringe niemanden nur deswegen um.'
"Deshalb", sagte er wieder laut, "schaue ich mir die Menschen gerne persönlich an."
"Erzähl von der Gruppe!" forderte Shannon ihn auf. Noel lächelte.
"Die absolut geheime, niemandem bekannte Gruppe?"
"Genau!" grinste Shannon. "Mach!"
"Na gut." Noel sah belustigt zu mir. "Wir Magier bilden eine Gruppe, die aber weder eine Sekte noch ein Verein ist. Es hilft einfach nur, bestimmte Dinge schnell auszutauschen. Wie diese Sache mit Grond. Ich werde von zu Hause aus die Kopien an alle Bekannten faxen, mit einem kurzen Bericht, wie es dazu kam, so daß wir alle jederzeit wissen, warum es Störungen gab."
"Störungen?" fragte ich verwirrt.
"Tötungen wie die von Grond hinterlassen Spuren in der geistigen Welt, Toni. Aufgewühlte Störungen. Viele Magier spüren sie, aber nur sehr wenige sind so fit, daß sie sie auf Anhieb einordnen können. Diese 'Gruppe' ist also weder eine Gruppe noch eine paramilitärische Organisation, sondern einfach nur ein Verbund zum Austausch von Informationen. Hast du oft Träume, die du nicht einordnen kannst?"
"Häufig", lächelte ich schief. "Meistens lasse ich sie in meine Geschichten einfließen."
"Das sind Träume, die durch einen Einfluß aus der geistigen Welt entstehen. Magier sind dafür sehr empfänglich. Wirken deine Hefte deshalb so realistisch und ausgefeilt?"
"Keine Ahnung, Noel. Kennst du sie?"
"Viele. Ich bin auf ein Heft gestoßen, das mich sehr fasziniert hat. Wie hieß es noch... Die Rache des Uhus oder so. Ich fand deine Vorstellungen von Gestaltwandlern äußerst faszinierend, und das soll nicht heißen, daß sie versponnen waren. Im Gegenteil. Ich hatte fast das Gefühl, daß der Autor dazugehören könnte, aber einige Details sprachen wiederum dagegen. Erst als du gestern sagtest, daß du Gruselromane schreibst, fiel es mir wieder ein, wo ich deinen Namen schon einmal gehört habe. Du hast ein Fax?"
"Sicher. Gleiche Telefonnummer."
"Gut. Wundere dich nicht, wenn du in Zukunft unerwartete und merkwürdige Dokumente zugeschickt bekommst. Wirklich wichtige Unterlagen kommen jedoch per Post, und extrem wichtige per Kurier. Wie sieht es bei dir mit dem Einkommen aus?"
"Gut. Durch die Lizenzverträge und neuen Geschichten bekomme ich im Monat um die vier- bis fünftausend netto."
"Nicht schlecht. Dafür muß ich viele Liebestränke mixen." Er zwinkerte mir grinsend zu.
"Ich fragte aus folgendem Grund", meinte er dann. "Im Grunde muß jeder Magier selbst für sein Leben sorgen. Wir haben keinen Hilfsfond für arbeitslose Hexer, keine Rentenversicherung, und natürlich auch keine Krankenversicherung. Es kann allerdings vorkommen, daß sich ein Dämon oder ein anderes Wesen blicken läßt, das für einen, zwei oder sogar mehrere Magier zu stark ist. Dann ist eine schnelle Zusammenkunft angesagt, notfalls sogar per Chartermaschine. Derjenige von uns, der den Dämon oder das Wesen aufgestört hat, sorgt dann dafür, daß die anderen für ihre Zeit und den Aufwand entschädigt werden. Aber das kommt so selten vor, daß man es praktisch vernachlässigen kann. Es ist nur gut zu wissen, daß ein neuer Magier etwas Geld im Rücken hat, um notfalls schnell zu der Stelle zu kommen, wo er gebraucht wird."
"Verstehe", schmunzelte ich. "Das heißt, ich bekomme jetzt die Rechnung für Grond?"
"Natürlich", grinste Noel. "Der Flug, die Übernachtungen hier, ich mußte Strom haben, um mein Hemd zu bügeln... Quatsch! Ich wollte euch kennenlernen, Toni. Weil Shannon von dir und deiner Familie geschwärmt hat. Und weil ihr Wölfe seid. Was Grond angeht... Dafür hast du die Rechnung schon während des Kampfes bekommen. Wieso ist er eigentlich auf dich losgegangen? Ich habe ihn doch genug provoziert, daß er mich angreift."
"Ulkig, daß du das fragst!" lachte ich. "Denn genau die gleiche Frage habe ich mir während des Kampfes gestellt. Ich fragte mich, warum Grond den starken Magier angreift anstatt mich schwachen Normalsterblichen mit in den Tod zu reißen, und im gleichen Moment kam er auf mich zu."
"Verstehe." Noel sah mich ernst an. "Toni, das hätte bei einem stärkeren Dämon ein tödlicher Fehler werden können. Beim ersten Mal, als er Kerstin angegriffen hat, warst du bereit, dein Leben einzusetzen. Das hat Grond gespürt, und deswegen hat er dir diese Selbstmordbilder geschickt. Du solltest die Arbeit selbst machen. Beim zweiten Mal hast du ein mangelndes Selbstbewußtsein offen gezeigt. Du hast eine Schwäche zugegeben, und genau darauf hat Grond sich gestürzt. Wie jedes Wesen aus jener Welt es getan hätte. Deswegen solltest du dich nie Hals über Kopf in eine solche Auseinandersetzung stürzen, sondern vorher Kraft, Ruhe und Konzentration sammeln, sonst endest du wie Grond. Nur daß deine Reste nicht so schnell verschwinden wie seine. Warum denkst du, daß du unsicher bist?"
"Das denke ich nicht!" lachte ich. "Ich weiß, daß ich nicht so selbstsicher wie Vera bin, aber unsicher in dem Sinne bin ich nicht."
"Da hast du auch völlig recht, Toni. Trotzdem bist du unsicher. Du hörst noch heute auf deine Eltern, daß es keine merkwürdigen Schatten in deinem Zimmer gibt. Du glaubst ihnen noch heute, daß Geisterseher verrückte Menschen sind. Du glaubst ihnen noch heute, daß Feuer nur aus einem Streichholz entstehen kann." Er beugte sich zu mir vor.
"Du, Toni, blockierst dich seit mehr als 20 Jahren selbst. Du läßt dein Leben noch immer von deinen Eltern bestimmen, junger Mann!" Die Kälte, die er gestern gegen Vera gerichtet hatte, schoß nun gegen mich. Ich war gelähmt vor Schreck über seine Kraft, und gleichzeitig wußte der magische Teil in mir, daß Noel mir nur half. Er deckte etwas auf, was mich blockierte, was mich daran hinderte, endlich erwachsen zu werden.
War es das, was Vera gestern verspürt hatte, weswegen sie sich schämte, Noel wieder zu begegnen? Weil sie erkannt hatte, daß er so tief in sie gesehen hatte wie nie ein Mensch zuvor? Wie noch nicht einmal sie selbst?
"Du hättest schon im Alter von 20 Jahren ein Magier sein können!" herrschte er mich plötzlich an. "Wenn du nur den Mut gehabt hättest, deinen Eltern zu trotzen. Du bist verheiratet, beruflich erfolgreich, hast zwei entzückende Kinder und eine wundervolle Frau, aber du versteckst dich immer noch hinter Lügen! Du weißt, daß es Lügen sind, aber du bist schlicht und einfach zu feige, dich ihnen zu stellen. Was bist du, Toni? Ein Mann oder ein Waschlappen?" Ich spürte, wie Vera tröstend ihren Arm um mich legte, so wie ich es gestern bei ihr getan hatte. Noel indessen machte munter weiter.
"Versteckst du dich immer noch unter dem Rock deiner Mutter?" fuhr er mich an. "Damit keiner sieht, wie beschämt du bist, weil du etwas gesehen hast, was sonst keiner sehen konnte? Wem vertraust du eigentlich? Deinen eigenen Sinnen oder den Lügen, die dir eingetrichtert werden? Verdammt noch mal, du verschleuderst die besten Jahre deines Lebens! Der Wolf hätte schon mit 15 Jahren aktiv werden können! Der Magier mit 20! Jetzt bist du 38! Zwanzig volle Jahre verschenkt, Herr Tenhoff! Zwanzig volle Jahre das Klo runtergespült!"
"Ich weiß es doch selbst!" Voller Wut sprang ich auf und schrie Noel an. "Ich weiß es, zur Hölle noch mal! Red du doch mal mit Eltern, die deine ganze Welt, die du siehst, in Frage stellen und leugnen! Setz dich mit 12 oder 13 Jahren gegen deine Eltern zur Wehr! Mich würde brennend interessieren, wie du das anstellen willst!" Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, daß Vera und die Kinder sich überhastet zurückzogen, aber ich hatte jetzt keine Zeit für sie. Auch Noel sprang auf.
"Das verlange ich gar nicht!" sagte er tödlich leise. "Kein Kind kann das. Aber ein Erwachsener kann es, Toni! Du wußtest schon mit 13, daß du mehr siehst als andere. Und was hast du daraus gemacht? Nichts! Hast du dich gewehrt? Nein. Selbst nicht in der Pubertät, wo sich eigentlich deine Persönlichkeit entwickeln sollte. Du hast es vorgezogen, den Schwanz wie ein Omegawolf einzuziehen und Toter Mann im See zu spielen. Du bist ein Feigling vor dir, der Welt und dem Herrn im Himmel! Du bist es überhaupt nicht wert, ein Leben zu haben! Andere rackern sich ab, arbeiten rund um die Uhr, um gerade zu überleben, und du sitzt mit deinem faulen Hintern vor deinem Computer und verträumst dein Leben, anstatt deine Träume zu leben! Das nenne ich feige!"
"Du!" höhnte ich. "Ohne Shannon wärst du doch schon lange tot und begraben! Mit welchem Recht bildest du dir ein, mir Ratschläge für mein Leben zu geben?"
"Mit dem Recht desjenigen, der sein Leben im Griff hat, mein Bester! Ja, ohne Shannon wäre ich inzwischen tot. Aber ich habe mein Leben auch schon lange vor Shannon in den Griff bekommen. Weißt du, wie? Französische Eltern, die meine Schwester und mich nach Irland verschleppt haben, wo sie kurze Zeit später umgekommen sind. Genau wie Shannon mußten wir uns durchschlagen. Ich war elf, meine Schwester ein Jahr jünger. Zwei Jahre später hatten wir eine winzige Stube. Nur ein Bett, ein Tisch und zwei klapprige Stühle, aber ein Dach und aus eigener Kraft erarbeitet." Seine Augen sprühten Blitze.
"Wenn du das schaffst, nehme ich alles zurück, was ich gesagt habe. Aber du würdest es nicht schaffen. Ich weiß das, und du weißt das auch. Schau in dich, du Waschlappen! Da, wo richtige Männer ihre Stärke und das Vertrauen in sich haben, hast du nur eine weiche, schwammige Stelle!" Die letzten Worte waren von einem Aufblitzen seiner Kraft begleitet. Was seine vielen Worte nicht erreicht hatten, schaffte seine Magie: meine Mauern brachen ein und offenbarten all die Täuschungen und Lügen, die ich mir mein ganzes Leben lang selbst eingetrichtert hatte. Als wäre es gestern gewesen, stand ich wieder im Schlafanzug vor meinen Eltern und erzählte ihnen aufgeregt von all den Wesen, die ich kurz vor dem Einschlafen gesehen hatte, und erntete nur Ablehnung und Unverständnis. Die langen Gespräche mit einem Psychologen, zu dem meine Eltern mich schließlich geschleift hatten, und das Akzeptieren der Lüge, daß ich mir das alles nur eingebildet hatte. Ich wußte, daß es nicht so war, aber anders entkam ich dem Teufelskreis nicht mehr, in dem ich gefangen war.
Diese Angst, ein nicht mehr normaler Mensch zu sein, war von da an omnipräsent, bei allem, was ich tat. Ich verschwieg von diesem Tag an, was ich sah, und mit der Zeit wurde ich ein geschätztes Mitglied der Familie, auch wenn meine Leidenschaft für das Schreiben von Gruselgeschichten immer etwas belächelt wurde.
Aber zumindest hatte ich von da an meine Ruhe.
Noel hatte vollkommen recht: ich war ein Feigling. Ich hätte zu mir, zu meinen Talenten und zu dem, was ich gesehen hatte, stehen sollen, auch wenn dies bedeutet hätte, mich mit meinen Eltern auf ewig zu zerstreiten. Aber das war sowieso geschehen; ihr mangelndes Vertrauen in mich hatte dazu geführt, daß ich mich frühzeitig von ihnen abgenabelt hatte.
Diese weiche, schwammige Stelle in mir wurde noch weicher und verflüchtigte sich. Statt dessen kam ein Gefühl von Vertrauen in das Leben hinein. Kerstin sah, was ich sah. Noel sah, was ich sah. Shannon sah, was ich sah. Das, was ich sah, war wahr. Es war so echt und real wie die Dornen an den Rosen in unserem Garten. Wie das Haus, in dem wir wohnten. Es war eine weitere Welt, eine andere, zu der ich Zugang hatte, aber nichtsdestoweniger eine reale Welt. Für mich und alle anderen, die sie auch sehen konnten.
Ich stieß heftig den Atem aus, als eine Welle von Selbstvertrauen, das ich so lange unterdrückt oder beiseite geschoben hatte, durch mich schoß. Ich spürte die Kraft des Wolfes, die zwar schon erwacht, aber noch nicht zu voller Leistung gekommen war. Ich spürte, wie sich mein Kiefer kurz verformte, dann war ich wieder normal.
Eine weitere, noch viel stärkere Welle Energie kam und riß mich fast von den Beinen. Dann knickte ich ein. Was die Energie nicht geschafft hatte, schaffte der Schmerz, als Veränderungen, die in den letzten 20 Jahren in aller Ruhe hätten stattfinden sollen, nun in wenigen Sekunden vor sich gingen. Völlig neue Farben und Töne erschienen und verschwanden, ich sah Dinge, die ich erst nicht einordnen konnte und dann doch. Mein Gehirn fing an, zu kochen, als neue Bereiche aktiv wurden, mit voller Wucht und sehr, sehr schmerzhaft.
Ich hörte mich selbst stöhnen und auf den Boden fallen, mit einem dumpfen Geräusch, spürte Noels abwehrende Geste, mit der er Vera und die Kinder zurückhielt, sah durch seinen Körper hindurch, in seinen Körper hinein, tiefer und tiefer, sah seine Kraft, die der meinen tatsächlich unterlegen, doch sehr präzise kanalisiert und ausgebildet war, sah Kerstin und warum sie unsterblich werden wollte und liebte sie dafür noch viel mehr, sah Vera und ihre Probleme, die sie verdrängt hatte, sah meine kleine Birgit, die vor Angst, weil sie nicht verstand, was mit mir war, beinahe durchdrehte und spürte die Ruhe, als ich sie mit der neuen Kraft in mir instinktiv tröstete, sah die unglaubliche Stärke von Becky, Mandy und Shannon, die sie unendlich lange ohne Eltern, ohne Heim, ohne Liebe überleben ließ, sah ihre Liebe zueinander und zu uns, und die ganze Zeit setzten sich die Veränderungen fort, ließen mich nicht zur Ruhe kommen, und die Schmerzen in meinen Kopf wurden immer stärker und stärker, bis sie ihren Höhepunkt erreicht hatten und langsam verebbten.
Laut hechelnd lag ich auf dem Boden, schnappte nach Luft, spürte den kalten Schweiß an meinem ganzen Körper trocknen und sah Noel, der gelassen neben mir saß, auf den Knien.
"Wie geht's?" fragte er neutral. Ich nickte matt.
"Ich danke dir!" krächzte ich. Noel lächelte verstehend.
"Du warst ein ganz schön harter Brocken, junger Mann."
"Hab auch lange dafür trainiert." Ächzend wollte ich mich aufsetzen, aber Noel hielt mich zurück.
"Noch nicht, Toni. Du hast wirklich lange dafür trainiert. Dummerweise für die falsche Sportart. Noch Schmerzen?"
"Nein, nur total schlapp und einen trockenen Mund."
"Dann tu das, was jeder selbstsichere und starke Mann an deiner Stelle tun würde."
"Einen trinken gehen und den Helden spielen?"
"Nein, den Mund halten und dich erholen." Noel klopfte mir lächelnd auf die Schulter. "Ich bringe dir etwas. Bleib liegen." Er stand auf und ging in Richtung Küche. Während ich noch tief Luft holte, kamen Vera und die Mädchen an.
"Hallo, Liebster!" lächelte Vera. Ich nahm ihre angebotene Hand und drückte sie sanft.
"Hallo, Liebstes. Hast du dich gestern abend auch so beschissen gefühlt? Entschuldigt den Ausdruck, Kinder." Die Mädchen kicherten oder lachten unsicher, Vera nickte lächelnd.
"Ja, Toni. Nicht nur beschissen, sondern am Boden zerstört. Nackt ausgezogen und das Innerste nach Außen gekehrt. Total umgekrempelt, von oben nach unten. Wie ein -"
"Reicht!" lachte ich schlapp. "Erzähl mir bitte nicht noch mehr davon, wie ich mich fühle."
Vera lächelte schief. "Entschuldige bitte. Du hast gefragt, ich habe geantwortet."
"Du baust mich doch jedesmal wieder auf, mein Liebes." Diesmal schaffte ich es, mich aufzusetzen. Um mich herum sah ich besorgte Gesichter.
"Ich bin wieder in Ordnung, Kinder. Tut mir leid, daß ihr Angst hattet."
"Was ist denn passiert?" Kerstin und Birgit warfen sich an mich. Ich drückte meine Töchter herzlich an mich.
"Zwanzig Jahre Probleme in einer Minute verarbeitet", grinste ich schief. "Ich tu's auch nie wieder."
"Du bist stärker geworden." Kerstins Augen sahen tief in mich hinein. "Viel stärker."
"Du auch bald, Bolzen." Auch ich sah tief in Kerstin hinein. "Bald bist du kein Bolzen mehr, sondern eine Granate."
Kerstin lächelte schüchtern. Ich zog sie an mich, als Noel mit einem Glas Mineralwasser kam. Nach ein paar Schlucken ging es mir schon um einiges besser.
"Kerstin hat recht", sagte Shannon, als ich das Glas absetzte. "Deine Augen strahlen jetzt so wie Noels. Holst du uns jetzt auch alle möglichen Geister ins Haus?"
Ich sah erst Becky, dann Mandy, und schließlich wieder Shannon an. "Nein, mein Liebling. Mit euch drei habe ich schon genug Terror ins Haus geholt."
Wieder warf mich eine Welle um, doch diesmal war es eine Welle aus drei wütenden Mädchen, die mich gnadenlos kitzelten.

* * *

 

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