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* * *

Vera befreite sich vorsichtig von Mandy, die bereits tief und fest schlief, und rutschte näher zu mir.
"Wie geht es weiter?" fragte sie leise, um weder Mandy noch Birgit, die neben mir lag, zu wecken.
"Morgen will Noel wieder nach Hause fliegen", antwortete ich ebenso leise. "Dann ruft er seinen Bekannten in Norwegen an, und der wird wiederum hier anrufen. Hältst du es zwei Wochen lang mit einem ausgebildeten Magier aus?"
"Wenn er nicht so ist wie Noel, ja", lachte Vera verhalten. "Nein, ich tue ihm unrecht. Er hat uns beiden sehr geholfen, nicht wahr? Ich erkenne jetzt meine Grenzen, Toni. Beruflich, meine ich. Es war auch unverschämt von mir, anzunehmen, daß ich nach weit über zehn Jahren Berufspause wieder an dem Punkt ansetzen könnte, wo ich aufgehört habe. Ich habe diesen Indiana Jones immer etwas belächelt, weil er sich so auf die mysteriösen Relikte gestürzt hat, aber inzwischen denke ich, daß da mehr als nur ein Funke Wahrheit drin steckt. Willst du wirklich ein Magier werden?"
"Natürlich! Du willst doch, daß ich dir ein leckeres Essen zaubere!" Ich drückte sie vorsichtig an mich, um Birgit nicht zu wecken.
"Sagen wir mal so, Vera: ich weiß jetzt, wer ich bin. Daß ich ein gewisses Potential an Magie in mir habe. Und ich spüre, daß das, was Noel gesagt hat, auch mehr als nur einen Funken Wahrheit hat, nämlich daß ich in diesem Zustand eine Gefahr für mich bin. Ich habe im Moment ein übermäßiges Selbstvertrauen, was nur aus dieser Kraft in mir kommt, aber ich weiß überhaupt nicht, was ich mit dieser Kraft anfangen soll. Ich glaube ganz sicher, daß mir dieser Norweger helfen kann. Und danach... Das müssen wir einfach abwarten."
"Hast recht, Toni. Warten wir ab. Schlaf schön."
"Du auch, mein Liebstes." Wir küßten uns zart, dann rutschte Vera wieder zurück. Ich kuschelte mich an Birgit, sah ihren Traum, in dem sie mit Kerstin als Wolf im Wald herumtollte, und schloß lächelnd meine Augen.










Kapitel 19 - Donnerstag, 29.07. bis Mittwoch, 11.08.1999



"Guten Morgen, Liebster!"
"Guten Morgen, mein Liebling!" Ich zog Shannon auf mich. Nachdem wir uns ausgiebig begrüßt hatten, lag sie atemlos auf mir.
"Das war das Dankeschön!" kicherte sie.
"Wofür?"
"Für gestern. Für die Musik und die Kneipe." Sie küßte mich zart. "Toni, das hat bisher kaum einer mit uns gemacht. Die Familie, wo wir in London waren, hat uns öfter mal mit ins Konzert oder Theater genommen, aber seitdem hat das keiner gemacht. Ich fand das total lieb von dir!"
"Na ja, ich war mir etwas unsicher, ob es euch wirklich gefällt oder ob es Heimweh auslöst, aber ich hatte das Gefühl, ihr würdet es mögen."
"Haben wir auch. Eileen kann sehr gut tanzen, aber ihr fehlen die richtig alten Zwischenschritte, die den Tanz noch echter machen. Na ja, sie ist ja erst 29."
"Weißt du schon, was ihr am Sonntag tanzen wollt, Liebling?"
"Ja!" Aufgeregt setzte Shannon sich auf mir zurecht. "Wir wollen den Abschied vor der Hochzeit tanzen. Damit geben die Verwandten ihre Tochter frei. Mandy und Becky sind meine Schwestern, und sie geben eben mich für die Hochzeit mit Liam frei." Sie kicherte hell. "Natürlich nur auf der Bühne, Liebster. Und danach kommt der Hochzeitstanz, mit Becky und Mandy als Brautjungfern. Das wird bestimmt wunderschön!"
"Das glaube ich auch, Shannon. Ich hatte gestern das Gefühl, daß Laura Lee tanzt, und nicht Shannon."
"Stimmt." Sie lächelte wehmütig. "Shannon wurde ich erst, als wir nach New York gingen. Manchmal fehlt sie mir."
"Du kannst beides sein, mein Liebling. Du hast beides in dir."
"Ich weiß." Sie sank wieder auf mich. "Aber Laura Lee ist vorbei. Laura hat gehungert, geschuftet und gezittert vor Angst. Shannon ist stark. Laura hat zu viele schlechte Erinnerungen, Shannon hat eine Zukunft. Lassen wir es so, wie es ist."
"Hast recht, mein Liebling. Wollen wir aufstehen?"
"Nein. Noch mal küssen und so."
"Und so? Was ist: und so?"
"Das!" Gierig drückte sie sich an mich.



Als wir zum Frühstück herunterkamen, waren alle bis auf Noel da.
"Der ist bei Ian drüben", meinte Becky, die wesentlich mehr aufgetaut war, seit sie wußte, daß wir über ihr wahres Alter informiert waren. "Er hat Ian vorhin gesehen, als er nach Hause kam, und ist gleich rüber."
"Hat er gesagt, wir sollen auf ihn warten?"
Mandy grinste breit. "Er sagte, wir sollen ruhig anfangen. Das könnte was dauern."
"Au weh!" lachte Shannon. "Dann werden wohl gleich die Funken sprühen!"
"Meins du?" fragte ich besorgt. Shannon schüttelte sofort den Kopf.
"Nein, Liebster. Noel verbrennt keinen zu Asche oder so was. Er redet nur mit ihnen. Wie mit Vera und dir."
"Au weh!" mußte auch ich lachen. "Dann fangen wir eben an."
Shannon, Kerstin und ich waren gerade beim Spülen, als Noel zurückkam.
"Alles geklärt", lächelte er fröhlich. "Aber als ich hörte, daß er die Mädchen drei Wochen alleine lassen wollte, hatte ich doch ziemliche Mühe, ruhig zu bleiben."
"Wir auch!" seufzte Vera. "Das war ja der Grund, warum wir die drei zu uns genommen haben."
"Und das hat er auch so geplant." Noel sah uns ernst an. "Diese drei Wochen waren nicht gelogen, nur die Sache mit Japan war eine Lüge. Er war in der Schweiz, Urlaub machen. Shannon, wenn du mich das nächste Mal anrufst, weil du und deine Schwestern Probleme mit euren Eltern habt, erwarte ich, daß du mir die ganze Wahrheit erzählst. Du hast mir die drei Wochen verschwiegen; du hast nur gesagt, daß ich Ian beeinflussen soll, damit er euch schnellstens zu Toni läßt. Das war auch nicht gerade ehrlich, junge Dame!"
"Ich weiß", seufzte Shannon. "Aber so ist doch alles gut ausgegangen, oder?"
"Ja." Er legte einen Scheck vor Shannon auf den Tisch. "Euer Urlaubsgeld. Von Ian. Mit freundlichen Grüßen und so weiter."
Shannon warf einen Blick auf den Scheck und verzog das Gesicht. "Da hat er sich keinen bei ausgerissen. Trotzdem danke, Noel. Toni, kannst du das auf unsere Sparbücher packen? Schecks darf ich nicht auf mein Konto einzahlen."
"Sicher, Liebling." Ich nahm den Scheck an und schaute kurz auf die Summe. Sechshundert Mark. Als Urlaubsgeld für drei junge Mädchen. Und das bei Ians Gehalt.
Shannon bemerkte meine Miene und griff nach meiner Hand. "Nicht aufregen, Liebster. Auch das liegt jetzt hinter uns. Noel, wann geht dein Flug?"
"Halb elf. Einchecken halb zehn. Wollt ihr mich loswerden?"
"Nein!" grinste Shannon. "Ich mußte mich nur ablenken. War trotzdem schön, daß du hier warst."
"Das fand ich auch, Shannon. Beim nächsten Mißverständnis reden wir aber gleich darüber, ja? Und lassen nicht erst wieder acht Jahre vergehen."
"Versprochen. Du hast jetzt alles? Adresse, Telefon?"
"Sicher. Alles gut verwahrt. Gibt's noch Kaffee? Nach diesem Feigling gerade brauche ich eine Stärkung."
"Feigling?" fragte ich erstaunt.
"Feigling." Noels Augen bohrten sich in meine. "Toni, daß die zeitweiligen Eltern Angst vor den Mädchen bekommen, weil sie nicht altern, ist inzwischen normal für alle. Ian hat aber nicht nur davor Angst. Er hat Angst, daß du durch einen juristischen Trick von dem Vertrag zurücktrittst und er die Mädchen wieder am Hals hat. Das waren übrigens seine Worte. Er hat Angst davor, daß ich ihm seine geliebte Karriere wieder wegnehme. Er hat Angst, die Mädchen zu besuchen. Er hat Angst vor seinem eigenen Schatten. Du müßtest eigentlich bemerkt haben, wie versessen er darauf war, die Mädchen loszuwerden."
Ich ließ bestimmte Situationen und Gespräche vor meinem geistigen Auge Revue passieren und mußte schließlich zustimmen.
"Stimmt, Noel. Er hat sich wirklich viel Mühe damit gegeben."
"Wie auch immer. Er wird bis an sein berufliches Ende die vereinbarte Summe an die Mädchen zahlen; das ist der Grund, warum ich ihn in Ruhe lasse. Für Vera und dich gelten die ganzen Regeln, die ich sonst aufstelle, nicht; ich sehe, daß ihr euch alle sehr gern habt und daß die drei sehr, sehr lange bei euch bleiben wollen. Ich habe nur eine Bitte an euch alle: wenn ihr in Probleme geratet, die ihr nicht mehr lösen könnt - seien es nun Geister oder fehlendes Geld für das tägliche Brot - ruft an! Ruft um Himmels willen an und sagt es! Shannon und ich haben eine Vereinbarung, genau wie Mandy und ich und Becky und ich. Shannon hat durch ihren Biß mein Leben verlängert, und dafür werde ich mich um sie kümmern, bis sie alt genug aussieht, um volljährig zu sein. Bei Mandy und Becky ist das etwas anders. Die beiden sind die angenommenen Kinder meiner Schwester, und für sie werde ich mein ganzes Leben da sein. Das klingt jetzt vielleicht etwas unfair Shannon gegenüber, aber so war die Abmachung zwischen uns."
"Mit der ich absolut zufrieden bin", lächelte Shannon herzlich. "Ich bin auf Mandy und Becky nicht im geringsten eifersüchtig, Noel. Ganz im Gegenteil. Ich hab's ja auch 100 Jahre ohne dich geschafft."
"Das weiß ich, Shannon. Ich erkläre es nur für Vera und Toni. Wenn du in deiner unermeßlichen Güte mich also ausreden lassen würdest..."
"Laber weiter!" grinste Shannon. "Du brauchst das heute morgen wohl."
"Laß das nächste Päckchen von mir vor dem Öffnen unbedingt von Toni prüfen." Noel zwinkerte ihr zu. "Sonst kann es nämlich passieren, daß dir eine Wolke Asche um die Ohren fliegt. Wo war ich... Ach ja. Ruft bitte immer dann an, wenn ihr in Situationen kommt, die ihr nicht mehr alleine schafft oder die euch merkwürdig vorkommen. Oder wenn euch die Reaktionen von Nachbarn und Schulfreunden der Mädchen zu schaffen machen. Wenn ihr umziehen müßt, ruft bitte drei, vier Wochen vorher an, damit ich die neuen Unterlagen rechtzeitig fertig bekomme. Zieht am besten immer direkt zu Beginn der Sommerferien um, so haben die Mädchen Zeit, sich an die neue Stadt zu gewöhnen. Ihr könnt die Zeit, die ihr in einer Stadt seid, auch bis zu vier Jahre strecken, indem Shannon sich etwas schminkt, was sie allerdings nur äußerst ungern tut, und Mandy und Becky können ihr Aussehen mit Wachstumsstörungen erklären. Das tun sie allerdings auch nicht gerne." Noel sah Vera und mich besorgt an.
"Werdet ihr das schaffen?"
Vera und ich nickten gleichzeitig. "Ja, Noel. Das werden wir", sagte ich ernst.
"Eben weil wir die drei süßen Dinger so lieb haben", lächelte Vera. "Das mit dem Umziehen ist mir zwar noch etwas unangenehm, aber ich sehe die Gründe dafür ein, und in den nächsten zwei Jahren werde ich mich daran gewöhnen. Das liegt ja inzwischen auch in unser aller Interesse."
"Shannon hat Birgit und mich gestern nämlich auch gebissen!" verkündete Kerstin stolz. "Wir haben schon gründlich über alles geredet, Noel."
"Perfekt!" Noel nickte anerkennend. "Ihr seid die allerersten, bei denen ich ein wirklich gutes Gefühl habe, Leute. Toni, du wirst heute nachmittag oder abends einen Anruf bekommen. Es geht um dein Training. Nächste Woche beginnt die Schule wieder, richtig?" Die Mädchen nickten bedrückt. "Du, Toni, wirst morgens trainiert, Kerstin nachmittags, sobald sie ihre Hausaufgaben fertig hat."
"Was?" Kerstin sprang freudestrahlend auf. "Ich soll auch ein Magier werden?"
"Nein. Eine Magierin. Bei bestimmten Dingen muß man auch genau sein."
"Echt?" Kerstin war völlig aus dem Häuschen. Ich hatte so etwas schon fast erwartet nach Noels gestrigem Test mit ihr. Vera gefiel dies nicht ganz so, aber auch das war zu erwarten gewesen. Allerdings hatte sie in den letzten zwei Tage gelernt, daß Noel auf bestimmten Gebieten einfach viel zu sehr recht hatte, um ihm zu widersprechen.
"Ja, echt", sagte Noel mit einem feinen Lächeln. "Es wird zwar etwas hart für dich werden, zur gleichen Zeit zwei Dinge zu lernen, aber es sind ja nur zwei Wochen. Den Rest kann dir dann dein Vater beibringen."
"Ich?" fragte ich entgeistert.
"Nein, du." Noel sah mich amüsiert an. "Toni, dieses - dieser Crashkurs, den mein Bekannter macht, dauert normalerweise sechs bis acht Monate, aber ihr beide verfügt ja über die Selbstheilung."
Ich starrte ihn entsetzt an. "Noel! Meinst du etwa, daß -"
"Das meine ich." Noel schaltete um auf eiskalter Magier. "Wie willst du Feuer beherrschen, Toni, wenn du nicht weißt, was Feuer eigentlich ist? Wie willst du dich verteidigen, wenn du nicht weißt, was auf dich zukommen kann? Mein Bekannter ist sehr hart bei diesem Training, aber danach wirst du - wie auch Kerstin - mit den Kräften in dir umgehen können. Und du wirst verstehen, warum dieses Training so wichtig für dich ist." Er stützte die Arme auf den Tisch und beugte sich zu mir vor, abwechselnd mich und Kerstin ansehend.
"Ihr beide", sagte er eindringlich, "könnt mit einem unkontrollierten Wutausbruch sehr großen Schaden anrichten. Mein Bekannter wird euch an die Grenzen eurer Selbstbeherrschung führen, und noch ein gutes Stück darüber hinaus. Denn es darf nicht sein, daß Kerstin anfängt, Blitze zu schleudern, nur weil sie in der Schule gehänselt wird. Du darfst keine Feuerbälle werfen, nur weil Vera dich bittet, den Abfall nach draußen zu bringen. Durch diese Schule mußten wir alle durch. Shannon, das war der Grund, warum ich in den Jahren, die wir zusammen waren, kaum Zeit für euch hatte. Ich war selbst noch am Lernen. Doch im Gegensatz zu Toni konnte ich mit meinen Kräften nicht instinktiv umgehen." Er lächelte Kerstin und mir beruhigend zu.
"Nach den zwei Wochen wirst du Kerstin weiter lehren können, Toni. Du bekommst ein sehr tiefes Wissen in diesen zwei Wochen. Kerstin wird hauptsächlich Beherrschung lernen, und die Grundlagen der Elemente. Der Test gestern abend hat gezeigt, daß sie zwar instinktiv weiß, wie sie sich zu wehren hat, aber das Holz, was sie zwischen den Pfeil und sich gestellt hat, war Weichholz. Solche Dinge lernt sie eben. Du wirst wissen, was du ihr zu zeigen hast, Toni. Vertrau mir."
"Das tue ich auch", erwiderte ich zweifelnd. "Ich vertraue mir nicht, Noel. Ich kann sie doch nicht lehren, während ich selbst noch lerne!"
"Dann dürfte mein Bekannter dich auch nicht unterrichten", feixte Noel. "Toni, wir alle lernen noch. Jeden Tag aufs Neue. Warte einfach die zwei Wochen ab. Du bist Kerstins Vater, und du bist sehr stark mit ihr verbunden. Wie Vera auch. Du wirst wissen, was du zu tun hast."
"Abwarten", seufzte ich skeptisch. "Eine Frage noch, Noel. Du hast gestern etwas von einem Omegawolf erwähnt..."
"Und das mit voller Absicht, aber als du darauf nicht reagiert hast, war mir schon klar, daß du dieses Wort nicht kennst. Ein Omegawolf ist der letzte Dreck, grob gesagt. Er ist der Sündenbock des ganzen Rudels. Er kriegt permanent eins drüber und muß für alles die Schuld tragen. Jeder trampelt auf ihm herum. Sein Selbstvertrauen ist gleich Null. Er kann dieser Rolle nur entkommen, wenn er das Rudel verläßt und ein neues gründet."
"Und so etwas bin ich?" fragte ich tief verstört.
"So etwas warst du. Übertrieben gesagt. Du wußtest schon, was du nicht kannst, aber du wußtest nicht, was du kannst. Und vor allem wußtest du nicht, was du wolltest. Das dürfte aber jetzt geklärt sein." Noel lächelte herzlich.
"Toni, du hast ein Gespür für Menschen in dir. Im Moment ist es nur so weit entwickelt, daß du Menschen, denen du dich verbunden fühlst, bis in den Grund ihrer Seele sehen kannst. Später, wenn deine Ausbildung in der Basis abgeschlossen ist, wird dieses bei jedem Menschen eintreffen, sofern du es möchtest. Du wirst erkennen, wo jeder Mensch seine Probleme versteckt und du wirst wissen, was zu tun ist, um diesen Menschen als Mensch zu heilen. Kerstin? Was fühle ich gerade?"
Kerstin sah Noel aufmerksam an und "lauschte". Schließlich sagte sie zögernd: "Einsam?"
"Gut!" Noel lächelte herzlich. "Sehr gut sogar. Einsamkeit ist etwas, wogegen ich seit sehr vielen Jahren angehen muß, aber ich habe mich für den Beruf des Magiers entschieden, und das war mir wichtiger als eine Familie. Trotzdem ist dieses Gefühl da. Wirklich nicht schlecht, junge Dame!"
"Danke!" strahlte Kerstin.
"Es war mir ein Vergnügen." Noel zwinkerte ihr zu. "Toni, du siehst aus, als würde dir noch etwas im Kopf herumgehen."
"Ja... Zwei Fragen, um genau zu sein."
"Dann sprich sie aus. Noch bin ich hier."
"Na schön. Du sprichst von deinem Bekannten immer nur genau so, ohne Namen. Hat er keinen?"
"Doch, aber den wird er dir selbst sagen. Nächste?"
"Äh... Ist er ein solches Geheimnis?"
"Nein, aber ihm geht es wie vielen von uns, Toni. Ein neues Leben, ein neuer Name. Ich kenne seine Telefonnummer, aber ich weiß nicht, welchen Namen er derzeit trägt. Ich habe zuletzt - ja, 1988 mit ihm gesprochen."
"Okay, das kann ich verstehen. Zweite Frage: etwas an der Altersangabe bei Becky läßt mich nicht zur Ruhe kommen. Soweit ich das bisher verstanden habe, hängt das Erwachen des Wolfes sehr stark mit der Pubertät zusammen, so daß man sagen kann, daß im Alter von vielleicht 13 Jahren der Wolf bei Birgit und Becky erwachen wird." Noel nickte bestätigend.
"Aber genau das verstehe ich nicht, Noel. Mandy ist 13, und sie ist mit 12 von Shannon versehentlich gebissen worden. Jetzt haben wir einhundert Jahre später, und somit ist Mandy 13, und der Wolf erwachte. Das ist noch klar. Nun zu Becky. Sie ist mit 11 gebissen worden, und sie ist nun 12. Wie kann Shannon da so sicher sein, daß Becky im Lauf des nächsten Jahres geschlechtsreif wird? Wäre es nicht logischer, anzunehmen, daß es noch weitere einhundert Jahre dauert, bis auch sie biologisch 13 ist?"
Noel drehte sich leicht. "Shannon?"
"Das habe ich aus Beckys Verhalten geschlossen. Sie kann einen Orgasmus bekommen, und den auch schon sehr stark. Aus dem Zusammenleben mit uns und dem häufig stattfindenden Geschlechtsverkehr, bei dem sie sehr gerne zusieht - wie auch Birgit übrigens -, habe ich einfach vermutet, daß die Angst, die Becky noch vor dem tatsächlichen sexuellen Kontakt mit dem männlichen Geschlechtsorgan hat, sich im Lauf dieses einen Jahres so mindern wird, daß auch bei ihr der Wunsch nach Paarung und somit auch der Wolf in ihr erwacht. Ich kann mich natürlich auch irren, aber ich denke, daß dieses eine Jahr eine realistische Einschätzung ist."
Es fehlte nur noch der Schlußsatz: "Ich danke Ihnen", und ich wäre mir vorgekommen wie auf einem wissenschaftlichen Vortrag.
"Damit könntest du ohne weiteres recht haben, Shannon", überlegte Noel. "Immerhin haben wir Mandys und Beckys Alter damals nur schätzen können, und die Leukämie hat ihren Körpern ziemlich zugesetzt. Daß sie damals zwei und drei Jahre alt waren, war nur eine Vermutung von uns gewesen. Becky? Was magst du am Sex? Welche Arten?"
"Alles das, was hier so angeboten wird", grinste Becky breit. "Shannon hat recht, Noel. Ich habe wirklich noch Angst, mit Toni oder einem anderen Mann zu schlafen, weil der erigierte Penis so groß und dick aussieht, und soweit ich es mitbekommen habe, vergrößert er sich im Moment der Ejakulation noch etwas mehr. Bei Mandy paßt er, und vielleicht paßt er auch bei mir, aber ich fürchte mich ein wenig, daß es dennoch weh tun könnte, auch wenn diese Stelle bei mir flexibel ist und sich möglicherweise auf diese Größe einstellen würde. Aber dran denken... Doch, das mache ich häufig. Mir vorstellen, wie es wäre."
"Becky!" Vera sah das junge Mädchen erstaunt an. "Du redest wie eine Erwachsene!"
"Das bin ich seit knapp 110 Jahren ja auch", schmunzelte Becky. "Sieht mein Körper auch aus wie der eines Kindes, so wohnt darin doch eine alte Seele und ein Geist, der sich mit Erwachsenen messen kann und sie in Verwirrung stürzen wird..." Becky zwinkerte Vera zu.
"Vera, wir drei hatten über einhundert Jahre Zeit, die Sprache jeder Epoche, die wir erlebt haben, zu lernen. Aber ich finde es toll von dir, daß du mich und Mandy ungeachtet dessen als Kind ansiehst, denn genau das haben wir viele lange Jahre gewollt."
"Die machen mich fertig!" stöhnte Vera lachend. "Toni, kannst du dir unsere Chancen ausrechnen, den dreien etwas weismachen zu wollen?"
"Vergiß es!" grinste Mandy. "Aber genau deswegen wollten wir zu euch, Vera. Weil ihr nicht nur humorvoll, sondern auch ehrlich seid. Wir haben schon beim ersten Spielen mit Kerstin und Birgit gemerkt, wie ihr mit euren Kindern umgeht, und wir waren... Nein, neidisch waren wir nicht direkt. Wir haben es Kerstin und Birgit gegönnt, daß sie ein so glückliches Leben haben; wir haben uns eben nur gewünscht, ein gleichartiges Glück zu erfahren."
"Was wir euch hoffentlich auch geben können", erwiderte Vera gerührt. Mandy nickte bewegt.
"Schön!" rief Noel aus. "Damit Schluß mit den Sentimentalitäten. Vera, dürfte ich einen der Ringe mitnehmen, die den Angriff der Mädchen überlebt haben? Sie bekommen ihn in wenigen Tagen zurück."
"Natürlich, Noel", lächelte Vera. "Wie können wir das, was Sie für uns getan haben, wieder gutmachen?"
"Indem Sie für die Mädchen da sind, Vera. Aber das sind Sie ja schon. Darf ich noch eine Empfehlung aussprechen?"
"Selbstverständlich!"
"Wenn Sie umziehen, denken Sie bitte auch an die Sparbücher der Mädchen, sofern Sie welche angelegt haben oder dies planen. Soweit ich weiß, gibt es in Deutschland eine - eine Kreditauskunft oder etwas dergleichen, die sehr präzise Informationen über alle Bankkunden sammelt, und Angaben über Konten werden zwei Jahre lang aufgehoben. Das könnte unter Umständen ein Fallstrick werden."
"Richtig!" Vera und ich sahen uns erstaunt an. "Da hätten wir nicht dran gedacht, Noel."
"Ich habe ja auch ein paar Jahre mehr Erfahrung damit", lächelte Noel still. "Gut, dann ist alles geklärt. Ich werde meine Tasche packen."
"Wir kommen mit!" Mandy und Becky sprangen auf.



Der Abschied von Noel ging zu meinem Erstaunen sehr schnell und ohne großartiges Getue über die Bühne. Die drei Mädchen wünschten ihm einen guten Flug und "Bis demnächst", dann war es für sie erledigt. Aber das lag vielleicht an dem Wissen, daß sie sich auf jeden Fall wiedersehen würden und daß sie dafür mehr als genug Zeit hatten.
"Haben wir auch", schmunzelte Noel. "Vera? Vielen Dank für die nette und liebevolle Aufnahme in Ihrem Heim, auch wenn der Beginn unter keinem guten Stern stand."
"Was nicht unbedingt an Ihnen lag, Noel." Vera reichte ihm verlegen die Hand. "Machen Sie es gut, und passen Sie auf sich auf."
"Sie auch Vera. Toni? Wir bleiben in Kontakt." Auch wir gaben uns die Hände, dann winkte Noel in die Runde. "Macht's gut, Leute!" Ohne ein weiteres Wort ging er zum Flugschalter.
"Du auch!" rief Shannon ihm hinterher, dann sah sie uns an. "Toni? Eine Runde Eis?"
"Lädst du uns ein?"
"Das wollte ich damit zum Ausdruck bringen." Sie hängte sich bei mir ein. "Und los!"

* * *

Am Nachmittag trudelte ein Fax ein, offenbar von Noels Bekanntem. Es war jedoch vollständig in Norwegisch gehalten. Oder in einer anderen dieser Sprachen da oben im Norden. Außer einer eMail-Adresse konnte ich nichts lesen.
Seufzend ging ich daran, eine Antwort auf Deutsch zu verfassen; Vera war so lieb und übersetzte meine Zeilen dann ins Englische mit der angefügten Bitte, wenn möglich in Deutsch zu schreiben. Dann schickte ich das Ding ab.
Am Abend kam die Antwort. "Eintreffe morgen mit Flug Oslo um 10:20." Mehr nicht. Es war so wenig, daß es schon wieder unhöflich war.
"Reg dich nicht auf", beruhigte Vera mich. "Vielleicht war er in Eile. Er muß ja immerhin noch seine Sachen für zwei Wochen einpacken und -"
"Darum geht es doch nicht, Liebstes. Wie soll ich ihn erkennen? Woher nimmt er an, daß ich mir einfach so zwei Wochen Zeit für ihn nehmen kann?"
"Das hat Noel doch schon gesagt, Toni. Er wird dich vormittags trainieren, und nachmittags schreibst du. Und wie du ihn erkennst... Wenn er so Augen wie Noel hat, wirst du ihn bestimmt erkennen. Ich fahre auch gerne mit, damit du dich auf dem Flughafen nicht in Rage bringst, während du wartest."
Noels Bekannter war tatsächlich auf Anhieb zu erkennen. Als Vera und ich am nächsten Tag am Zollausgang warteten, kam ein etwa fünfzigjähriger Riese auf uns zu. Über zwei Meter groß, und massiv wie ein Haus. An seiner linken Hand baumelte lässig ein Koffer, der ungefähr die Ausmaße unseres Kleiderschrankes hatte. Die Augen dieses Riesen waren das Schrecklichste: sie waren blau und eisig. Nicht wütend auf uns, sondern einfach nur eisig. Dieser Mensch war kalt bis in die tiefsten Abgründe seiner Seele hinein. In Gedanken sah ich das Bild eines erbarmungslos mordenden Wikingers vor mir, der in der Rechten ein Schwert und in der Linken eine Streitaxt trug.
Und genauso hilflos wie sein angenommenes Opfer fühlte ich mich in diesem Moment auch.
Der Berg kam auf uns zu. "Anton?" fragte er knapp. Ich schluckte und nickte. Er streckte seine Hand aus. "Helm."
"Was?" Verwirrt griff ich nach seiner Hand. Er war zumindest so liebenswürdig, mir nicht sämtliche Knochen zu brechen, als er zudrückte.
"Das ist mein Name. Helm." Seine Augen fixierte Vera. "Wer bist du?" Das kam so knapp, daß Veras Wut aufflammte, aber sie hatte offenbar auch den Eindruck, daß man Helm besser nicht reizen sollte.
"Antons Frau. Vera."
"Aha. Können wir gehen?" Er gab Vera nicht einmal die Hand, als er sich in Richtung Ausgang wandte und losmarschierte. Wir hatten Mühe, mit ihm Schritt zu halten.
"Wir beginnen heute", sagte er, als wir so halbwegs neben ihm waren. In seiner Erziehung fehlte ganz offensichtlich das Kapitel über Höflichkeit. "Du und deine Tochter. Bis Montag. Am Dienstag muß sie wieder zur Schule, ab dann werdet ihr getrennt lernen. Gibt es bei euch einen Raum, der schmutzig werden kann?"
"Was für Schmutz?" fragte Vera aufgebracht. Helm würdigte sie keines Blickes, als er antwortete.
"Blut."
"Das reicht!" Vera machte drei schnelle Schritte, dann stand sie vor ihm. Helm kam eine Idee vor ihr zum Stehen und schaute sie ausdruckslos an.
"Was willst du, Frau?"
"Daß Sie sich etwas höflicher aufführen!" fuhr Vera ihn an. "Aber noch mehr will ich, daß Sie weder meinen Mann noch meine Tochter verletzen! Was bilden Sie sich überhaupt ein? Mit welcher -"
"Sei ruhig, Frau." Helm schob sie mit einer leichten Geste zur Seite und sah mich an. "Ist es in deinem Land üblich, daß Frauen für ihre Männer sprechen?" Vera starrte ihn fassungslos an.
"Zum Teil", antwortete ich beherrscht. "Ich kann allerdings auch nicht zulassen, daß unserer Tochter irgend etwas passiert, Helm."
"Deine Tochter", sagte er so langsam, daß jedes Wort wie ein Hieb mit der Keule war, "wird sich selbst viel mehr verletzen, wenn sie nicht lernt. Genau wie du. Wenn ihr eure Kräfte nicht kennenlernt, werdet ihr wie ein angeschossener schwarzer Panther sein: gereizt und tödlich. Für euch wie für eure Umwelt. Außerdem hast du darüber nicht zu entscheiden, Anton. Kerstin hat magische Kräfte, und damit fällt sie nicht mehr unter deine Autorität als Vater. Nicht, solange ich hier bin. Sie hat zu entscheiden, ob sie meinen Unterricht annimmt oder nicht, genau wie du. Es kostet dich nur ein Wort, dann drehe ich mich wieder um und nehme den nächsten Flug nach Hause. Wie entscheidest du dich?"
Mein Stolz, meine Angst um Kerstin und die Sorge um Veras Beherrschung rieten mir, diesen ungehobelten Klotz schnellstens wieder loszuwerden, doch etwas in mir, was erwacht war, sagte leise, daß ich ihn brauchte. Dringend brauchte.
Veras Gefühle für Helm und meine eigenen abwägend, überlegte ich hin und her, bis ich schließlich nickte. "Bleib."
"Toni!" rief Vera aufgebracht aus, während Helm wortlos weiterging. "Toni, das kannst du nicht tun!"
"Ich weiß, Liebes, aber ich muß es tun. Ich brauche seine Hilfe, seine Erfahrung. Kerstin wird ihre Entscheidung selbst treffen, und wie die ausfällt, kann ich mir schon denken."
"Das geht schief!" Vera sah mich voller Angst an. "Toni, er wird euch verletzen!"
"Wird er nicht", brummte Helm, ohne sich umzudrehen. "Sie werden nur verletzt, wenn sie sich zu dämlich anstellen. Was aber ohne weiteres passieren kann, das gebe ich zu."
"Der bringt mich zur Weißglut!" zischte Vera leise. "Toni, ich halte diesen Menschen keine zwei Wochen aus! Nicht einmal zwei Stunden!"
"Dann bleib mir aus den Augen, Frau." Helm blieb stehen und musterte Vera abfällig von oben bis unten. "Du bist nichts, Frau. Kein Talent. Rede nicht über Dinge, die du nicht verstehst."
In mir formte sich undeutlich ein Bild, wie ich Helm langsam in heißen, wilden Flammen röstete. Ich wurde regelrecht wütend auf ihn, doch Helm sprach ungerührt weiter.
"Du, Frau, störst. Wenn du nicht verheiratet wärst, würde ich dich auf den Boden werfen und mit Freuden vögeln. Du siehst aus, als könntest du einem Mann schöne Stunden bereiten. Vielleicht probieren wir das mal, wenn dein Mann erschöpft in der Ecke liegt. Bei meiner Größe wird das für dich eine erfüllende und äußerst befriedigende Erfahrung werden. In drei Stunden ist dein Mann erschöpft, dann komme ich zu dir."
In mir brannte eine Sicherung durch. Ich spürte, was ich zu tun hatte, und tat es. Ein greller Blitz fuhr auf Helm zu, doch bevor er ihn traf, schwenkte er ab und traf stattdessen mich. Meine Wange verkohlte unter unvorstellbaren Schmerzen, und ich sank mit einem Schrei in die Knie. Um uns herum spürte ich das Erschrecken und die Angst vieler Menschen. Ich fand Helms ausgestreckte Hand vor mir.
"Das ist es", sagte er leise. "Das ist die Gefahr, Anton. Fehlende Selbstbeherrschung. Wut. Kräfte, die du nicht kennst und nicht beherrschst, und die dich vernichten können. Steh auf."
Ich nahm seine Hand an. Er zog mich ohne jegliche Anstrengung auf die Füße. Vera zitterte vor Wut, doch Helm ließ sie links liegen.
"Ich habe deinen Blitz nicht umgelenkt", fuhr er leise fort. "Du warst es. Der Magier in dir hat gespürt, daß ein Mord nur wegen beleidigender Worte nicht gerechtfertigt war, doch da der Blitz bereits unterwegs war und keine Unschuldigen treffen durfte, kam er eben auf dich zurück. Du hast dich ganz alleine verletzt, Anton. Gehen wir weiter."
Verwirrt stolperte ich hinter ihm her, von Veras Fragen noch weiter aus dem Konzept gebracht. Helm ging über den Parkplatz zu meinem Auto, wo er stehenblieb.
"Wie oft wirst du angepöbelt?" fragte er nüchtern. "Wie oft beleidigt? Wie oft gedemütigt? Mit den Kräften in dir fühlst du dich anderen Menschen weit überlegen. Das bist du auch, aber nicht so, wie du es im Moment auffaßt. Du hast nichts getan, um diese Kräfte zu bekommen, dennoch gehören sie nicht dir. Sie gehören der ganzen Welt, Anton. Sie gehören jedem Menschen, der sie braucht. Wenn du sie zu persönlichen Zwecken mißbrauchst, werden sie auf dich zurückkommen. Bitte deine Frau in meinem Namen für die Worte um Entschuldigung. Ich beschäftige mich nur ungern mit Menschen, die keine Magie in sich haben; dafür ist meine Zeit zu kostbar."
"Wer zur Hölle glauben Sie, daß Sie sind?" schrie Vera ihn an, ungeachtet der Tatsache, daß wir uns in der Öffentlichkeit befanden. "Der heilige Obermagier, oder was?"
"Wenn du das Wort 'heilig' ausläßt, hast du sogar recht, Frau." Helm sah sie eisig an. "Also sei so gut und behindere mich nicht mehr in meiner Arbeit."
"Obermagier!" höhnte Vera. "In meinen Augen sind Sie -" Ihre Stimme brach ab. Vera riß entsetzt die Augen auf, als sie versuchte, zu sprechen, doch kein Ton erklang.
"Ich hasse das hysterische Gekreische von Frauen", sagte Helm. "Es lenkt zuviel Aufmerksamkeit auf sich. Fahren wir."
Es war kein guter Beginn.



Bei uns angekommen, setzte Helm gleich sein normales Verhalten fort. Er übersah Shannon, Mandy, Becky und Birgit, und kümmerte sich nur um Kerstin, die ihn eingeschüchtert ansah. Aus ihrer Perspektive war er natürlich noch eindrucksvoller.
"Du denkst also, du hast das Zeug zu einem Magier", sagte er herablassend. Kerstin blitzte ihn an.
"Das hat Noel wenigstens gesagt."
"Das hat Noel wenigstens gesagt", äffte er sie nach. Kerstins Gesicht rötete sich vor Wut.
"Ja, das hat er!" fuhr sie ihn an. "Und er war viel netter und höflicher als Sie!"
"Spiel dich nicht so auf, Kind." Helm sah sie arrogant an. "War Grond nett und höflich?" Nun blitzten seine Augen. Kerstin fuhr zurück.
"Höflichkeiten bringen dich nur in der Menschenwelt weiter, Kind. Ein Dämon wird dich bei lebendigem Leib zerfleischen und dabei über deine Schreie lachen, Kleine. Wenn du wirklich der Meinung bist, du könntest mit dem klarkommen, was auf dich wartet, dann schau dir das an!"
Kerstin schrie auf und ging in die Knie. Vor meinem geistigen Auge sah ich, daß Helm ihr einen Mantel aus hellroter Energie umgelegt hatte, der sich enger und enger zusammenzog. Ich wollte ihr helfen, wurde aber durch einen geistigen Stoß zurückgeschleudert.
War dieser Helm stark!
Kerstin wimmerte und fiel zur Seite.
"Na los!" lachte Helm spöttisch. "Wo ist der Magier? Du bist doch nichts als ein dummes kleines Mädchen, das mehr sein möchte als es ist. Willst du mit kleinen Flammen auf den Fingern in der Schule angeben? Dir so Freunde verschaffen? Sogar gegen Dämonen kämpfen? Ist doch lachhaft! Du kannst dich ja nicht mal gegen diesen kleinen Angriff wehren!"
Ich konnte mich zwar nicht bewegen, aber ich spürte Kerstins Kraft. Mit einer gewaltigen Anstrengung riß sie diesen Mantel auseinander, dann blieb sie erschöpft auf dem Boden liegen und atmete schwer.
'Sie ist stark', bekam ich am Rande einen Gedanken von Helm mit. 'Sehr stark und unerfahren. Kein Wunder, daß Grond auf sie ging. Mit ihrer Kraft hätte er viel erreichen können.'
"Steh auf", sagte er dann laut. Mühsam setzte sich Kerstin auf, ihre Augen schossen Blitze auf Helm.
"Möchtest du mehr lernen, Kerstin?" fragte er, nicht direkt freundlich, aber auch nicht mehr so kalt wie vorher. Kerstin nickte matt.
"Ja. Und eines Tages bekommen Sie das von eben zurück. Mit Zinsen."
Ich sah Kerstin schon in einer Stichflamme verglühen, doch Helm lachte arrogant.
"Du gefällst mir, Kleine! Vielleicht nehme ich dich später mit nach Norwegen und benutze dich als Haussklave. Oder als Bettdecke in kalten Nächten."
"Das werden Sie gefälligst lassen!" fauchte Kerstin. Ich sah, wie sie einen dicken Pfeil aus einem blitzenden Metall auf Helm abschoß, doch er fing ihn im Flug auf und schleuderte ihn auf Kerstin zurück. Er war so schnell, daß Kerstin keine Chance hatte, ihn abzuwehren. Ich schaffte es im letzten Moment, den Pfeil zur Seite zu lenken, bevor er in Kerstins Auge fahren konnte. Kerstin sah mich überrascht an, genau wie Helm.
'Ein Team', hörte ich ihn überlegen. 'Das ändert alles.'
"Fangen wir an." Er stand auf. "Wo können wir hingehen?"



In den nächsten 14 Tagen brachte Helm uns um. Und das zum Teil mehrmals am Tag. Er hatte seinen Plan, Kerstin und mich getrennt zu unterrichten, fallen gelassen und lehrte uns statt dessen gemeinsam am Nachmittag und am Abend. Morgens kümmerte er sich um einige Schriften und Bücher, die er mitgebracht hatte. Die Tage, bis die Mädchen wieder zur Schule mußten, lehrte er uns vom frühen Morgen bis in den späten Abend. Auch wenn ich mehrmals kurz davor stand, ihn mit meinen eigenen Händen zu erwürgen, konnte ich nicht leugnen, daß er ein Meister auf seinem Gebiet war. Er zeigte Kerstin und mir unsere Schwachstellen im Charakter auf, die sich ein Dämon zunutze machen konnte, und gab uns einen perfekten Überblick über die Grundlagen der Magie und ihre Anwendung. Neben praktischen Übungen, bei denen wir zum Teil gemeinsam gegen ihn, zum Teil aber auch gegeneinander kämpfen mußten, bestand der Unterricht auch aus viel Theorie, speziell über die vier Elemente Feuer, Wasser, Luft und Erde und das fünfte, das nur in der Magie benötigt wurde. Er brachte uns die Angriffstechniken und Denkweisen der geistigen Wesen bei, und die Wege, wie wir uns am besten verteidigen konnten. Am Ende dieser zwei Wochen fühlten meine Tochter und ich uns um Jahrzehnte gealtert, aber es war unbestreitbar, daß wir nun mit unseren Kräften umgehen konnten. Und ich verstand letztlich auch, warum Helm so kalt war.
"Das ist eine alte Geschichte", sagte er auf meine Frage hin. "Eine sehr alte, Anton. Ein Mensch, der mir sehr viel bedeutet hatte, kam durch einen geistigen Angriff ums Leben. Von einem Magier, den ich ausgebildet hatte, der sich aber auf die andere Seite schlug. Ja, auf die Seite der Dämonen. Er wollte Macht, Anton. Sehr viel mehr Macht, als er schon hatte. Er hat mehrere Dämonen erschaffen und gegen meine Tochter gelenkt. Sie war unschuldige fünf Jahre alt, als sie auf sehr grauenvolle Weise ums Leben kam. Ich war zu der Zeit mit einem Exorzismus beschäftigt und hatte mich so abgeschottet, daß ich ihren Tod nicht einmal gemerkt habe."
"Das tut mir leid!" sagte ich erschüttert. "Aber warum -"
"Wegen mir." Er sah ausdruckslos auf Kerstin, die sich neben ihn gesetzt und tröstend seine große Hand in ihre kleinen genommen hatte. "Ich war der einzige, der ihn besiegen konnte, und er dachte, wenn er mich auf diese Art schwächt, könnte er mich um so leichter von meinem Stuhl verjagen. Er hat nur eins nicht bedacht."
"Und was?" fragte meine Tochter atemlos. Helm sah ihr tief in die Augen.
"Daß ein Magier, der sich beherrschen kann, auch seine Trauer beherrschen kann. Ich habe Ankes Tod beiseite geschoben, die Kontrolle über seine Dämonen übernommen und sie gegen ihn gewandt. Erst als er tot war, konnte ich um sie trauern. Und ich habe mir damals etwas geschworen." Er sah uns mit nun wieder eisigen Augen an. "Nämlich daß ich jedem Magier, der seine Kräfte für etwas anderes als zum Nutzen der Menschen einsetzt, höchstpersönlich die Gedärme aus dem Leib reiße und den Schweinen vorwerfe. Ich habe genügend Menschen kennengelernt, die dachten, daß Magie ein Spielzeug ist, nur zu ihrem eigenen Vergnügen existent. Sie sahen nur eine Seite: Macht! Macht über andere. Daß Disziplin und Selbstkontrolle der erste Schritt auf dem magischen Weg ist, übersahen sie nur zu gerne."
"Deswegen sind Sie immer so eisig?" fragte Kerstin neugierig. "Damit kein anderer Mensch mehr an Sie herankommt?"
"Genau." Zum allerersten Mal in den letzten zwei Wochen verzog sich Helms Gesicht zu etwas, was man mit viel Wohlwollen als leichtes Lächeln bezeichnen konnte. "Es ist zu riskant, Kerstin. Es kann nämlich sein, daß ich einen Menschen mag, und Jahre später muß ich ihn bekämpfen, weil er mit seinen Kräften Unfug anstellt."
"Wir werden das nicht tun", versprach Kerstin ernsthaft.
"Das werden wir sehen. Anton, du wirst Anfang nächster Woche ein schweres Paket von mir bekommen. Darin werden sehr viele alte Bücher und Dokumente sein. Studiere sie mit Kerstin, und wenn ihr damit durch sein, schicke sie mir zurück. Hast du einen Scanner?"
"Äh - nein, wieso?"
"Weil der sehr hilfreich ist. Noel hat nur ein Fax; seine Kopien kommen immer sehr unsauber an, was eben am Fax und an der schlechten Auflösung liegt. Alle anderen außer Noel und noch drei oder vier andere haben eMail, und sie würden saubere GIF- oder JPG-Bilder vorziehen."
Ich starrte Helm sprachlos an, doch der redete ungerührt weiter.
"Du wirst unter Umständen auch eine weitere Festplatte brauchen; viele der Dokumente, die du bekommen wirst, sind sehr sauber gescannt und brauchen viel Speicherplatz. Nun schau nicht so perplex drein! Computer sind ein gutes Mittel, um Informationen zu speichern, und gerade Magier leiden unter permanentem Platzmangel. Ich ziehe zwar auch die Originale vor, aber ein sauberer, guter Scan ist mir lieber als ein schlechtes Fax. Und es kostet weit weniger, als über siebzig Kopien zu machen und sie in die ganze Welt zu verschicken. Laß es dir mal durch den Kopf gehen. Kerstin, hol das Paket von Noel, das letzte Woche ankam."
Kerstin sprang auf. Wenig später kam sie mit dem kleinen Paket zurück, das bestimmt den Ring enthielt, den Noel mitgenommen, aber an Helm zurückgeschickt hatte. Bisher hatte es ungeöffnet im Wohnzimmer gestanden. Helm nahm es wortlos entgegen und legte es auf den Boden zwischen uns drei.
"Prüfe es." Er sah Kerstin auffordernd an. Meine Tochter schickte ihre neuen, trainierten Sinne aus und fuhr erschrocken zurück. Mit weit aufgerissenen Augen sah sie Helm an.
"Da ist was Böses drin!"
"Beschreibe es."
Kerstin sammelte sich und suchte nach Worten. "Da - da ist ein Wesen drin, das schläft, aber wenn wir das Paket aufmachen, wird es wach und will töten."
"Sehr gut. Was kannst du tun?"
Kerstin überlegte kurz. "Ich kann von außen in das Paket gehen und das Wesen umbringen. Ich kann das Paket öffnen und warten, ob es tatsächlich angreift. Ich kann versuchen, das Wesen von außen aufzuwecken und mit ihm zu reden, was es überhaupt will."
"Was wirst du tun?"
"Ein Schutzfeld errichten und das Wesen aufwecken."
"Falsch." Helm sah sie ernst an. "Du sagtest, es will töten. Kennst du seine Stärke?"
"Nicht genau, aber ich weiß, daß ich es aufhalten kann."
"Woher? Das könnte eine Täuschung sein. Das Wesen könnte sich schwächer darstellen, als es ist."
"Aber das ist der Ring, den Noel mitgenommen hat!" verteidigte Kerstin sich. "Und Noel ist nicht so stark wie wir; das hat er selbst gesagt. Also -"
"Kann er euch reinlegen", unterbrach Helm sie gelassen. "Er könnte euch in Sicherheit wiegen und einen anderen Ring zurückschicken, der mit einem so starken Dämon besetzt ist, daß ihr daran sterben könntet."
"Aber warum sollte er das tun?" mischte ich mich ein. "Er hat doch keinen Grund dazu!"
"Keinen, den ihr kennt, Anton. Ich will nicht behaupten, daß Noel ein falsches Spiel mit euch treibt, ich will aber auch nicht behaupten, daß jeder Magier gegen Versuchungen gefeit ist. Solange ich einem Magier nicht gegenüberstehe, traue ich ihm nicht. Was machen wir jetzt mit dem Paket?"
"Ich geh rein und mach es wach!" sagte Kerstin entschlossen. Im nächsten Augenblick waren wir in einem Kampf auf Leben und Tod verstrickt, und das war kein Witz.
Kerstin hatte den Inhalt des Paketes kaum mit ihren Gedanken berührt, als das Paket wie von innen heraus explodierte. Fetzen von Papier und Plastik flogen durch die Gegend, und der Ring, der in dem Paket war, stand ohne jede Hilfe in der Luft und strahlte ein giftig grünes Licht aus. Ein unbeschreibliches Wesen, das nur aus Krallen, Stacheln und Zähnen bestand, stürzte sich mit unglaublicher Geschwindigkeit auf Kerstin und stieß seine langen Zähne tief in ihre Beine. Kerstin schrie auf, doch sie schaffte es immerhin, dem Wesen einen so kräftigen geistigen Stoß zu versetzen, daß es mit voller Wucht gegen die Wand prallte. Im gleichen Moment nagelte ich das Wesen mit geistigen Pfeilen an die Mauer.
"Jetzt langt's!" fauchte Kerstin aufgebracht. Sie hüllte das Wesen in Flammen, die es in wenigen Augenblicken verbrannten. Helm sah ihr ausdruckslos zu.
"Vertrauen", sagte er, als das Wesen verbrannt war. "Vertrauen ist eine Schwäche, die sich ein Magier nicht leisten kann, Kerstin. Es ist traurig, aber es ist so. Der Freund von jetzt kann der Feind von gleich sein." Das konnte ich mir von Noel nicht vorstellen. Auch Kerstin sah Helm erschüttert an.
"Daß Noel so etwas tut... Warum wollte er uns umbringen?"
"Das wollte er nicht. Das Wesen kam von mir." Helm gestattete sich ein zweites Lächeln; ein denkwürdiger Tag für ihn. Kerstin und ich starrten ihn fassungslos an.
"Ich wollte euch nur etwas beweisen", sagte er ernst. "Noel hat das Paket in seinem Heimatort aufgegeben. Von da aus ging es über die nächste größere Stadt nach Dublin, von dort mit dem Flugzeug nach Frankfurt, weiter nach hier und per Postbote zu euch. Es ging durch sehr viele Hände, auch wenn der Transport heute weitgehend automatisiert ist. Irgendwo in dieser Kette könnte jemand gewesen sein, der das Paket für ein paar Minuten in den Fingern hatte, und das reicht schon. Noel wollte euch nichts tun. Ich wollte euch zeigen, daß sich jemand - oder ein Etwas - das Vertrauen, das der Empfänger dem Absender entgegenbringt, zunutze machen kann, zum Schaden des Empfängers. Euer Unterricht ist hiermit beendet. Anton, du bekommst morgen von mir eine Mail, in der die Online-Adressen aller bekannten Magier stehen sowie die postalischen Adressen derjenigen, die nicht online sind. Im Gegenzug versende ich deine Daten an alle anderen. Ab dann kannst du damit rechnen, daß du häufig Post bekommst. Kerstin, für dich gilt das gleiche, auch deine Daten gehen an alle anderen. Dein Vater kann dir einen Ausdruck von allem, was er bekommt, machen, damit ihr beide jederzeit informiert seid. Wenn du eine eigene eMail-Adresse hast, schicke sie bitte über deinen Vater an diese Liste. Überleg dir das mit dem Scanner, Anton, die kosten heute nur noch sehr wenig und helfen allen anderen sehr. Ich wünsche euch alles Gute, und bleibt vor allem sauber." Er drückte Kerstin, die unter seinen kräftigen Armen und Händen fast verschwand, herzlich an sich, dann widerfuhr mir die gleiche Behandlung. Im nächsten Moment sprang er auf und eilte aus dem Keller hinaus.










Kapitel 20 - Donnerstag, 12.08. bis Sonntag, 15.08.1999



"Guten Morgen, großer Magier!"
"Morgen, du Labertasche." Shannon und ich küßten uns ausgiebig, dann schmiegte sie sich an meine linke Seite.
"Bin auch wach!" Kerstin sprang auf mich. "Morgen, Papi!"
"Morgen, Bolzen." Auch wir küßten uns stürmisch, bevor Kerstin sich an meine rechte Seite kuschelte. "Wie geht es dir?"
"Gut. Wirklich gut, Papi. Sicherer. Und sehr viel ruhiger als früher. Ausgeglichener."
"Schön, mein kleiner Bolzen. Mir geht es genauso. Stärker und bewußter als früher."
"Genau." Kerstin strahlte mich an. "Wann gehen wir unseren ersten Dämon erledigen?"
"Erledige du erst mal heute den Test in Geschichte."
"Mann!" Schmollend drückte sich Kerstin an mich, während Shannon sich das Lachen verkniff.
"Nimm's locker, Kerstin, in fünfzig Jahren machst du das mit links. Glaub's mir."
"Ich würd's lieber heute mit links schaffen", seufzte meine Tochter. "Irrsinn ist das! In der zweiten Stunde nach den Ferien schon ein Test. Die Frau muß doch einen weg haben!"
"Morgen!" Vera kam zu uns gerutscht. "Alle schon wach?"
"Zumindest wir vier. Morgen, Liebes." Wir begrüßten Vera stürmisch.
"Was liegt heute an?" fragte sie, als wir vier uns zurechtgelegt hatten.
"Bei Kerstin ein Test in Geschichte, bei den anderen normale Schule, bei mir Heft Neun der neuen Serie plus Kapitel Sechs des ersten Taschenbuches."
"Wie weit ist die alte Serie?"
"Noch zwei Geschichten, dann bin ich damit fertig. Trotz Helm, trotz Noel, trotz allem anderem. Ich werde täglich schneller. Im Moment liege ich bei etwa 240 Anschlägen pro Minute."
"Ist das schön!" freute Vera sich. "Wenn sich die neuen Geschichten nicht verkaufen, kannst du immer noch als Sekretär anfangen."
"Komm sofort her, du Biest!" lachte ich.
"Ja, großer Meister!" Vera warf sich auf mich und zerquetschte Shannon beinahe.
"Uff!" protestierte sie lachend. "Soll das denn?"
"Orgie!" Vera knabberte an meiner Unterlippen, dann sah sie mich an. "Hast du schon die ersten Zahlen?"
"Ja, gestern abend gekommen. Die Auflage war nur halb so groß wie bei der alten Serie, aber die ist komplett ausverkauft. Beim Verlag sind viele Beschwerden deswegen eingegangen, daher wird Heft 1 nachgedruckt und mit Heft 2, das schon eine um 40% höhere Auflage bekommt, erneut ausgeliefert. Mein Verleger jubelt."
"Und dein Konto auch." Sie küßte mich zärtlich. "War sehr klug von dir, bei der neuen Serie höhere Tantiemen zu fordern."
"Unser Konto, Liebstes. Das war es immer, und das wird es immer sein."
"Abwarten. Wenn der nächste Auszug der Kreditkarte kommt, wirst du es garantiert für mich sperren."
"Wieso?" schmunzelte ich. "Was für ein Kleid war es diesmal?"
Vera küßte mich ganz lieb. "Nicht einfach ein Kleid. Ein Traum, Toni! Ein wunderschöner Traum in einem ganz zarten Gelb, mit passendem Hut und passenden Schuhen und sogar der passenden Handtasche. Es war wirklich ein Sonderangebot."
"Wie preiswert?"
"Toni." Veras Streicheln wurde kräftiger. "Nur neunhundert Mark, alles zusammen. Runtergesetzt von über zwölfhundert. Das war aber auch das letzte in diesem Monat. Versprochen!"
"Das glaube ich dir, wenn du es am 31. um Mitternacht sagst", grinste ich. "Shannon, wie sieht es bei euch dreien mit Kleidung aus?"
"Gut. Da wir alle so unglaublich schnell wachsen" - hier lachte sie verschmitzt - "brauchen wir nicht so oft neue Sachen. Wir sind versorgt, Liebster."
"Bestens. Wer ist heute mit Frühstück dran?"
"Du!" Drei Hände zeigten auf mich. Wie sagt man doch: wer fragt, ist selbst schuld.

* * *

Es war kurz nach neun. Die Mädchen waren in der Schule, Vera in der Stadt einkaufen, und ich las konzentriert die eMail von Helm. Er hatte ein Bild eines alten Amuletts beigefügt, und dieses Bild überzeugte mich von der Notwendigkeit eines Scanners. Das Bild zeigte nicht nur Vorder- und Rückseite des Stückes, sondern auch - durch das Scannen - die ungefähre Dicke anhand der Tiefenschärfe. Beeindruckend. Aber auch mit der Größe hatte er recht gehabt: das Bild war etwa 890KB groß.
Die Namensliste rührte mich an. Helm hatte in die bestehende Liste einfach unsere Namen unter Deutschland eingefügt und mit dem Vermerk "Aktualisierung" verschickt. Kerstins Namen unter den vielen anderen zu sehen, bewegte mich sehr. Sie hatte aber auch hart genug dafür gearbeitet. Wenn ich daran dachte, wie oft sie Flammen und elektrischer Energie ausgesetzt war... Immerhin war es zu keinem weiteren Streit zwischen Vera und Helm gekommen, denn Helm hatte sich nur im Keller aufgehalten und es vermieden, Vera zu begegnen.
Nun, das lag hinter uns. Ich hielt uns beide noch immer nicht für ausgebildete Magier, aber zumindest kannten wir nun unsere Stärken und Schwächen, psychisch wie physisch.
Und etwas anderes war dazugekommen, weswegen ich sicher war, daß Kerstin ihren Test nicht in den Sand setzen würde. Unser Erinnerungsvermögen hatte sich durch das Aktivieren bestimmter Gehirnteile immens verbessert. Ich hatte immer gewaltige Hemmungen gehabt, Englisch zu reden, doch nun war dies weg. Die Mundbewegungen waren noch ungewohnt aufgrund der fehlenden Übung, aber Vokabeln, Grammatik, Phrasen, alles war da in meinem Kopf. Auch Dinge und Vorfälle, die ich schon längst vergessen glaubte, tauchten wieder auf.
'Kerstin?' dachte ich in Richtung meiner ältesten Tochter. Prompt kam die erfreute Antwort.
'Papi! Hast du einen?'
'Einen was?'
'Na, einen Dämon, den wir jagen können!'
'Bolzen!' lachte ich in Gedanken. 'Wie war dein Test?'
'Du, der war super! Mir fiel das plötzlich alles wieder ein, Papi. Ich glaube, ich habe das ganz gut hinbekommen. Warum?'
'Das habe ich auch gerade festgestellt, Kerstin. Daß ich mich an alles von früher erinnere.'
'Ist das nicht toll?' jubelte sie. 'Gibt's was Besonderes?'
'Nein. Ich wollte dir nur sagen, daß ich dich sehr liebe, Kerstin.'
'Ich dich auch, Papi', kam die zärtliche Antwort. 'Kommst du heute abend in mein Zimmer?'
'Sehr gerne, Bolzen. Jetzt lern schön.'
'Und du schreib schön!' kicherte Kerstin. 'Bis nachher! Ich liebe dich!'
'Ich dich auch.' Lächelnd startete ich die Textverarbeitung, dann dachte ich an Shannon.
'Ich denke auch an dich, Liebster', sagte sie zärtlich.
'Da warst du einen Satz schneller als ich. Was machst du?'
'Das gleiche wie jeden Tag. Langweilen. Ich könnte sogar schlafen und trotzdem noch richtig antworten, wenn ich gefragt werde. Mandy und Becky haben es da besser; sie schreiben Tagebücher. Also über ihre Vergangenheit. Wenn der Lehrer spricht, sind sie ganz Ohr, und wenn sie von der Tafel abschreiben oder Aufgaben lösen müssen, schreiben sie ihre Tagebücher. Vielleicht fange ich dieses Jahr auch mal damit an. Ist sinnvoller als immer nur nachzudenken. Und was machst du?'
'Meine neuen Kräfte ausprobieren. Helm sagte, daß ich mich gedanklich auch mit Menschen unterhalten kann, die nicht magisch begabt sind. Wir beide konnten das ja schon vorher, und jetzt mache ich einen Rundumschlag, bevor ich mit der Arbeit beginne.'
'Aha? Ist das kein Mißbrauch?'
'Helm sagt nein. Außer daß die Telefongesellschaft geschädigt wird, passiert ja nichts dabei.'
'Dann ruf mal Mandy auf dem Gedankentelefon an. Sie freut sich bestimmt.'
'Steht schon als nächste auf der Liste. Ich liebe dich, Shannon. Ich freue mich, wenn du wieder hier bist.'
'Ich auch!' seufzte sie. 'Ich liebe dich auch, Toni. Bis später!'
'Bis später, mein Liebling.' Kurzes Umschalten, dann: 'Hallo, mein Süßes!'
'Papa!' Mandy überschlug sich vor Freude. 'Kannst du jetzt so mit mir reden?'
'Das sieht so aus. Ich probiere es gerade. Störe ich dich?'
'Nein, überhaupt nicht. Ich kenne das von Noel, das hat er früher, als wir noch bei ihm wohnten, auch öfter so mit uns gemacht. Ist das geil! Können wir auch so miteinander reden! Ich liebe dich so, Papa!' Das Gefühl, das diesen Gedanken begleitete, ließ meine Augen feucht werden.
'Ich liebe dich auch, mein Süßes. Ist es immer noch so schlimm mit den Hänseleien?'
'Ja, aber irgendwie geht das immer mehr an mir vorbei. Bin ich eigentlich auch ganz froh drum, daß ich noch keine Brüste habe. Die Mädchen, die welche haben, sind immer auf der Flucht vor den Jungs.' Sie kicherte in Gedanken.
'Paß bloß auf, was du sagst', ermahnte ich sie besorgt. Mandy wurde ernst.
'Das sowieso, Papa. Schon wegen dem Wolf. Ich rede sowieso nur mit Becky und Shannon in den Pausen, und wenn die Leute zu sehr nerven, reden wir eben auf Gälisch weiter. Dann haben wir Ruhe. Keiner von uns will mit den anderen was zu tun haben, weil wir das, worüber die alle reden, schon seit Jahrzehnten hinter uns haben.'
'Okay, mein Süßes. Ist Becky diese Art Unterhaltung auch gewohnt?'
'Ja. Sie wird sich bestimmt freuen, wenn du dich bei ihr meldest.'
'Dann mache ich das. Bis nachher, mein Süßes.'
'Bis nachher, Papa. Tschüs!'
Becky freute sich tatsächlich sehr.
'Papa!' Ein solch glückliches Gefühl kam bei mir an, daß mir kurz der Atem stockte.
'Hallo, Schätzchen. Was treibst du?'
'Tagebuch schreiben. Also eigentlich kein direktes Tagebuch, sondern mehr eine Chronik für mich. Ich bin schon bei 1979!'
'Super!' lobte ich sie. 'Wann hast du damit angefangen?'
'Um 1955 herum, als ich die gleiche Klasse zum fünften Mal gemacht habe. Da wurde es wirklich langweilig. Pro Schuljahr kriege ich ungefähr zwei, drei echte Jahre zusammen, und im nächsten Schuljahr schreibe ich das dann alles nochmal richtig geordnet auf, allerdings nur in ein Ringbuch, denn meistens fällt mir immer noch eine Kleinigkeit ein.'
'Du bist einmalig, Schätzchen!' lachte ich gerührt. 'Aber ich finde es toll, wie prima ihr euch beschäftigt.'
Sie lächelte geschmeichelt. 'Na ja, wenn ich nur dem Lehrer zuhören würde, würde ich hier glatt wegpennen. Ich könnte Souffleur für den Lehrer spielen.'
'Das kann ich mir lebhaft vorstellen, Becky. Du, ich muß leider noch etwas tun. Bis nachher, Schätzchen. Ich liebe dich.'
'Ich liebe dich auch, Papa. Danke, daß du für uns da bist.'
'Das bin ich sehr, sehr gerne, Becky. Bis nachher.'
'Bis nachher!'
Tat das gut! Mit meinen ganzen Kindern zu reden, obwohl sie nicht im Haus waren. Das versöhnte mich gleich mit dem ganzen Tag. Birgit klammerte ich noch aus; ich war mir nicht sicher, wie sie reagieren würde und wollte es lieber probieren, wenn sie zu Hause war.
Glücklich und zufrieden lud ich die neue Geschichte und las mich ein, dann begann ich mit dem Schreiben. Um kurz vor zehn kam Vera zurück. Ich half ihr eben, die Kästen mit dem Sprudel ins Haus zu tragen, und pünktlich mit dem letzten Kasten klingelte das Telefon.
"Tenhoff", meldete ich mich.
"Anton Tenhoff?" fragte eine kräftige Stimme am anderen Ende.
"Genau der. Mit wem rede ich?"
"Mit mir!" lachte die Stimme. "Ich bin Georg Stephan. Sie finden meinen Namen auf dem Update von heute morgen."
"Update?" Ich mußte einen Moment nachdenken, dann hatte ich es. Mein neues Gedächtnis funktionierte perfekt.
"Ja, natürlich!" lachte ich in den Hörer. "Sie sind in Nürnberg, richtig?"
"Genau." Er wurde ernst. "Anton, warum ich Sie anrufe: ich habe einen Auftrag bekommen, kann ihn aber nicht ausführen. Es geht nicht um Dämonen, sondern um Spionage. Ich hänge gerade in einem Haus herum, in dem mehrere sehr furchtbare Morde passiert sind, und komme damit noch nicht so ganz klar. Meine Bitte, wenn Sie Zeit haben, wäre, daß Sie vielleicht eine bestimmte Nummer anrufen und sich dort als der 'Doktor' melden."
"Doktor?" Ich war etwas überfahren.
"Meine Schuld", entschuldigte sich Georg sofort. "Anton, Sie sind neu, und deswegen habe ich vergessen, ganz von vorne zu beginnen. Äh - Verzeihen Sie bitte, wenn ich das so direkt sage, aber bei Anrufern, die Sie nicht kennen, wäre es von Vorteil, sich gleich auf die Person zu konzentrieren. So bekommen Sie auch das mit, was nicht gesagt wird."
"Werde ich tun. Danke für den Hinweis."
"Kein Problem. Ich war am Anfang auch vollkommen unsicher. Worum geht es genau... Um Spionage, wie gesagt. Aus einem Unternehmen, das für die deutsche Luftwaffe arbeitet, werden seit Monaten streng geheime Informationen nach draußen getragen. Das Militär hat schon alles versucht, kommt dem Spion aber nicht auf die Schliche. Es kommen vier Personen in Frage, doch trotz intensivster Überwachung findet das Militär nichts. Ihr Job wäre sehr einfach. Sie müßten mit jedem der vier reden und seine Aura untersuchen. Können Sie das schon?" Die Frage kam nicht beleidigend, es war nur eine neutrale Frage.
"Ja."
"Perfekt. Wie gesagt, ich sollte es tun, kann es aber zeitlich nicht, und die Zeit drängt. Der Job wird übrigens sehr gut bezahlt, und das Militär sorgt auch dafür, daß das Finanzamt Ihnen nicht auf die Finger schaut. Solche Jobs sind immer sehr begehrt." Ich sah ihn förmlich grinsen.
"Das kann ich mir denken", lachte ich. "Ich denke, das schaffe ich."
"Prima!" seufzte Georg erleichtert. "Der zweite Grund, warum ich Sie angerufen habe, ist die Nähe. Die Firma ist nur knapp fünfzig Kilometer von Ihnen entfernt, also wäre der Job an einem Nachmittag zu schaffen. Ihre Frau Kerstin müßten Sie allerdings zu Hause lassen."
"Meine -" Ich stutzte, dann mußte ich lachen. "Ach so! Nein, Kerstin ist meine Tochter."
"Ihre -" Nun war es an Georg, verblüfft zu sein. "Ihre Tochter? Wie alt sind Sie, wenn ich fragen darf?"
"Das ist kein Geheimnis. Ich bin 38, Kerstin ist 13."
"Dreizehn!" Er stieß den Atem aus. "Und Helm hat Sie beide trainiert?"
"Trainiert? Fast umgebracht hat er uns!"
"Wie mich. Ich habe nach seinem Training vier Monate im Krankenhaus gelegen und meine Verletzungen auskuriert. Egal. Daß Helm ein Kind zum Magier ausbildet, habe ich noch nie gehört. Ihre Kerstin muß ganz schön was auf dem Kasten haben. Haben Sie etwas zu schreiben zur Hand?"
"Ja, legen Sie los." Ich notierte mir Nummer und einen Namen.
"Ich soll also einfach da anrufen und sagen, ich bin der Doktor?" vergewisserte ich mich.
"Genau. Herr Naumann wird Ihnen dann alles weitere mitteilen."
"Gut..." Ich machte eine kurze Notiz. "Georg, bekommen Sie eine Provision oder so etwas? Ich kenne mich da noch nicht so genau aus."
"Um Himmels willen!" lachte er fröhlich. "Nein, natürlich nicht. Wir helfen uns da alle gegenseitig aus. Wichtig ist doch nur, daß Frieden herrscht, oder?"
"Schon richtig. Was wird denn überhaupt ausspioniert?"
Georg seufzte leise. "Waffensysteme für den neuen Eurofighter der Nato. Sie können sich denken, daß dies eine relativ hohe Priorität hat."
"Das kann ich in der Tat", erwiderte ich schockiert. Diese Dinge in den Nachrichten zu hören oder im Fernsehen zu sehen war etwas völlig anderes, als plötzlich mittendrin zu stecken.
"Genauso ging es mir auch", sagte Georg leise. "Ich kenne Ihre politische Überzeugung nicht, Anton, und sie ist mir auch relativ egal, aber ich bin absolut dagegen, daß Länder im Mittleren Osten gedankengesteuerte Laserwaffen in ihre Kampfflugzeuge einbauen."
"Da stimme ich Ihnen uneingeschränkt zu. Mein Gott!" Ich war erschüttert.
"Exakt. Das sind die Momente, wo ich froh bin, dieses Talent zu haben. Anton, geben Sie mir fünf Minuten, ja? Ich rufe Herrn Naumann an und gebe Ihren Namen durch, dann wird er Sie mit offenen Armen empfangen."
"Ist gut, Georg. Tut mir leid, aber das gerade war ein ziemlicher Schock für mich."
"Das höre ich an Ihrer Stimme, und ich spüre es überdeutlich. Wenn Sie auch einmal mehrere Jahre dabei sind, werden Sie ebenfalls wissen, was im Hintergrund so alles abläuft. Das war nicht überheblich gemeint."
"Ich weiß. Soll ich Ihnen hinterher Bescheid geben?"
"Nicht nötig, Anton. Es ist Ihr Job. Viel Glück!"
"Danke, Ihnen auch. Äh... Was genau machen Sie zur Zeit?"
"In einem Haus in meiner Nähe wurden insgesamt sieben Menschen umgebracht. Die Polizei hat nicht den geringsten Anhaltspunkt, wer angefangen hat und wer zuletzt gestorben ist. Genau das versuche ich, herauszufinden."
"Und wie, wenn ich fragen darf?"
"Jede einzelne Leiche anfassen und spüren, was geschehen ist. Und aus diesem ganzen Wust an Terror und Furcht ein logisches Bild zusammensetzen. Das belastet ganz schön, und deswegen kann ich nicht weg. Selbst wenn ich wollte, könnte ich nicht Autofahren, denn ich sehe andauernd Bilder vor mir, die nicht von mir kommen. Sie kennen das Gefühl?"
"Ja, nur zu gut. Noch einmal viel Glück, Georg, und danke."
"Gern geschehen. Machen Sie's gut."
"Sie auch." Erschüttert legte ich auf. Vera war direkt bei mir.
"Was war?"
Ich informierte meine Frau kurz, ohne allzuviel zu verraten. Vera hob beeindruckt die Augenbrauen.
"Nicht schlecht, Toni. Kann das für dich gefährlich werden?"
"Liebes!" Ich umarmte sie gerührt. "Helm hat uns geröstet, mit Blitzen zerteilt, erfroren, erschlagen, erstickt und beinahe ertränkt. Kannst du dir noch etwas Gefährlicheres vorstellen?"
"Ich kann mir eine ganze Menge gefährlicher Dinge vorstellen", seufzte Vera. "Mußt du weg?"
"Das erfahre ich in drei Minuten."
Vera lächelte mich an und schüttelte den Kopf. "Mein Anton bei der Spionageabwehr. Hättest du dir das gedacht?"
"Nein", grinste ich. "Ich hätte auch nie gedacht, eine Frau mit so viel Verständnis zu bekommen."
"Wer sagt, daß ich das alles verstehe." Vera umarmte mich.
"Paß auf dich auf, ja?" sagte sie besorgt. "Ich kenne mich damit überhaupt nicht aus, aber die Kugeln sollen da sehr tief und schnell fliegen."
"Wird schon gutgehen, Liebstes. Ich bin doch schon groß."
"Ich weiß." Sie legte ihre Wange an meine Schulter. "Ich lebe noch viertausend Jahre", sagte sie leise. "Ich möchte sie gerne mit dir verbringen, Anton."
"Wie ich mit dir, Vera. Vertrau mir einfach."
"Ist gut. Soll ich für dich mitkochen?"
"Sage ich dir gleich. Es wird Zeit."
Vera nickte sorgenvoll und ging zurück in die Küche. Dafür, daß sie nicht versuchte, mir die ganze Sache auszureden, liebte ich sie gleich noch mehr. Ich sammelte mich einen Moment, schaltete meine Sinne an und wählte die Nummer. Schon beim ersten Klingeln meldete sich eine energische, befehlsgewohnte Stimme.
"Ja?"
"Herrn Naumann, bitte", antwortete ich.
"Am Apparat. Wer spricht?"
"Der Doktor", sagte ich nur, während ich versuchte, meinen Gesprächspartner zu "sehen". Es gelang. Ich sah ein energisches, fast schon brutales Gesicht mit kühlen grauen Augen vor mir. Ich spürte seine Kraft, seine Entschlossenheit, und seine Hilflosigkeit.
"Gut", antwortete er nur. "Wann können Sie hier sein?"
"Eine Stunde. Ungefähr."
"Ich erwarte Sie." Er legte auf.
Mein Herz schlug laut und stark, als ich den Hörer zurücklegte. Was immer auf mich warten mochte, ich hatte den ersten Schritt darauf zu getan.



Dreiundsechzig Minuten später fuhr ich auf den Parkplatz der Firma. Sofort war eine bewaffnete Wache an meinem Wagen und wartete, bis ich ausgestiegen war.
"Ich bin der Doktor." Ich kam mir bei diesen Worten ziemlich kindisch vor, doch die Wache nickte nur.
"Ihren Ausweis, bitte."
Ich zog sehr langsam meine Brieftasche hervor und gab dem Mann meinen Ausweis. Er sah kurz auf den Namen.
"Bitte gehen Sie vor, zu dem Tor dort." Sehr nervös ging ich vor, doch der Gedanke, daß ich dem Mann weit überlegen war, wenn ich wollte, gab mir wieder Ruhe und Kraft. Und genau das würde ich auch brauchen, also konnte ich auch gleich damit beginnen, ruhig zu werden.
Am Tor bat der Mann mich, zu warten, während er ein sehr kurzes Telefonat führte. Ich nutzte die Zeit, um mich umzusehen. Hinter dem Tor lag ein riesiger Komplex aus Gebäuden, alle miteinander verbunden. Am linken Rand konnte ich Hangare ausmachen, und dahinter sogar ein Rollfeld. Allerdings war kein Flugzeug zu sehen. Außer den Hangaren war kein Gebäude höher als zwei Stockwerke. Vor vielen Türen standen bewaffnete Wachen.
Etwa zwei Minuten später kam ein sympathisch aussehender, leutseliger Mann auf mich zu.
"Herr Tenhoff? Mein Name ist Naumann."
"Nein", lächelte ich mit neu erwachter Sicherheit. "Ich möchte den echten Herrn Naumann sprechen."
"Aber das bin ich!" Verblüfft wies er auf seine Firmenkarte, die er an der Hemdtasche trug.
"Das sind Sie nicht", lächelte ich. "So eine Karte ist in zwei Minuten hergestellt. Der echte Herr Naumann ist etwa 1,85 groß, sehr schlank, und hat ein energisches Gesicht. Außerdem hat er graue Augen."
Der Mann nickte. "Ich führe Sie zu ihm."
Die Wache ließ mich durch das Tor. Mein Begleiter führte mich zu einem Gebäude, das etwas rechts von der Mitte lag. Er schwieg, und ich fühlte mich auch nicht zum Reden aufgelegt. In Gedanken ging ich durch, was ich zu tun hatte.
Die Wache an der Tür ließ uns durch, nachdem mein Begleiter ein paar leise Worte gesagt hatte, und führte mich in einen kleinen Raum mit einem winzigen Tisch und zwei Stühlen. Das Gebäude war voll klimatisiert, die Gänge hell erleuchtet. Nirgendwo waren Fenster. Mein Begleiter bat mich, Platz zu nehmen, dann verschwand er hinter einer Tür. Keine Minute später kam der echte Herr Naumann herein.
"Herr Tenhoff? Naumann. Danke, daß Sie so schnell Zeit gefunden haben."
"Danke, daß ich noch lebe", scherzte ich, doch Herr Nauman war kein Mensch mit Humor. Das konnte er sich in seinem Beruf wahrscheinlich auch nicht leisten. Er überging meinen Scherz und kam gleich zur Sache.
"Wie möchten Sie vorgehen?"
"Wenn Sie keinen besseren Vorschlag haben, würde ich gerne einfach nur dabei sitzen, während jeder der in Frage kommenden Mitarbeiter einem kurzen Interview über berufliche Fragen unterzogen wird. Ich brauche nur etwa eine halbe Minute pro Person."
"Gut, das kann ich arrangieren." Seine Augen durchbohrten mich. "Wie soll ich Sie vorstellen?"
"Sagen Sie den Leuten einfach, ich sei vom Personalbüro und müßte eine Entscheidung wegen einer zukünftigen Beförderung treffen. Die drei falschen werden hinterher froh sein, daß sie noch ihren Job haben, und der nicht kommenden Beförderung keine Träne nachweinen."
"Sehr gut. Folgen Sie mir bitte."
Wir gingen durch sehr viele Gänge, wobei ich nicht ein einziges offenes Büro zu sehen bekam. Schließlich kamen wir an eine einfache Tür, die den Gang abschloß.
"Gehen Sie bitte vor", forderte Herr Naumann mich auf. Ich schickte meine Sinne aus und schüttelte den Kopf.
"Nein. Die Tür ist elektrisch geladen. Nicht tödlich, aber ich habe keine Lust, zuckend auf dem Boden zu liegen."
Herr Naumann drehte sich auf dem Absatz herum. "Folgen Sie mir bitte."
Wieder ging es durch viele Korridore zu einer weiteren Tür am Ende eines Ganges. Dieses Mal öffnete er und hielt mir die Tür auf. Ich betrat einen ebenso kleinen Raum wie den, in dem ich Herrn Naumann getroffen hatte, und blickte auf eine bewaffnete Wache. Offenbar kamen wir nun langsam zum Kern der Dinge.
"Wache?" hörte ich Herrn Naumann sagen. "Erschießen Sie diesen Eindringling."
Helms Training machte sich bezahlt. Noch bevor die Wache die Maschinenpistole in Anschlag gebracht hatte, war die Waffe bereits in grelle Blitze gehüllt. Die Wache schrie vor Schmerzen auf, ließ die Waffe fallen und starrte mit aufgerissenen Augen auf die verbrannten Hände. Wütend drehte ich mich zu Herrn Naumann herum, der der ganzen Szene ohne Regung zugesehen hatte.
"Was soll der Unsinn?" herrschte ich ihn an.
"Herr Tenhoff!" sagte er geduldig. "Wir entwickeln Waffen für das Militär. Glauben Sie im Ernst, hier könnte jeder hereinspazieren und vorgeben, er sei ein Magier? Sagt Ihnen das Wort 'Geheim' etwas?" Er drehte sich um und klopfte kräftig vor eine weitere Tür. Sekunden später kam ein Arzt mit zwei Schwestern in den kleinen Raum und führten den Verletzten nach draußen.
"Zu Ihrer Beruhigung", sagte Herr Naumann, als wir alleine waren. "Der Mann war ein Freiwilliger. Er wußte, was passieren konnte, und hat sich soeben seine Beförderung verdient. Diesmal eine echte."
"Und wenn ich kein Magier gewesen wäre?"
Herr Naumann zog es vor, auf diese Frage nicht zu antworten. "Folgen Sie mir bitte." Das sagte mir alles. Schweigend folgte ich ihm, schon halb bereuend, mich auf diese Sache überhaupt eingelassen zu haben. Der arme Wachmann tat mir leid; zum Glück hatte ich den Blitz nicht direkt auf ihn geschleudert. Er würde wieder gesund werden, auch wenn er ein paar Wochen seine Hände nicht gebrauchen konnte.
Am Ende dieser Runde kamen wir tatsächlich in ein Büro. Herr Naumann wies auf einen Sessel, der schräg zum Schreibtisch stand, und setzte sich hinter den Tisch. Dann griff er nach dem Telefon und befahl den ersten "Verdächtigen" zu sich. Die Zeit, bis er kam, nutzte ich, um den Vorfall mit der Wache zu verdrängen und ruhig zu werden.
Der bestellte Mann trat ein, etwas nervös wie jeder Angestellte, der unvorhergesehen zu seinem Vorgesetzten gebeten wird. Herr Naumann stellte mich so vor, wie wir abgesprochen hatten, dann stellte er dem Mann ein paar Fragen über seine Arbeit, während ich ihn genau studierte. Er hatte Dreck am Stecken, aber nicht das, weswegen ich hier war. Außerdem hatte das mit seiner Arbeit nicht das geringste zu tun.
Am Ende des Gesprächs dankte Herr Naumann ihm und erlaubte ihm, zu gehen. Als die Tür hinter dem Mann ins Schloß fiel, sah Herr Naumann mich an. Ich schüttelte den Kopf.
Der zweite war sauber, der dritte hatte teures Werkzeug gestohlen und privat verkauft. Das war wenigstens etwas, wenn auch nicht das Erhoffte. Der vierte...
Der vierte war nervös, aber er war sauber. Trotzdem war ich mir sicher, daß er etwas damit zu tun hatte, auch wenn nichts zu entdecken war, was auf Verrat hindeutete. Aber da waren ein paar andere Dinge, die mich sehr stutzig machten.
Als Herr Naumann mit seinen Fragen durch war, mischte ich mich ein.
"Ich hätte noch ein paar Fragen, wenn Sie erlauben, Herr Wagner." Der Angestellte nickte schnell.
"Natürlich."
"Nehmen Sie Medikamente? Schlafmittel? Beruhigungstabletten?"
"Nein", antwortete er spontan. Das war sehr merkwürdig. In seiner Aura waren Stellen, die darauf hindeuteten, daß er Schlafmittel nahm, aber er log mich nicht an. Also nahm er Schlafmittel, ohne daß er es wußte.
"Wie fühlen Sie sich morgens, wenn Sie aufstehen?"
Herr Wagner sah mich erstaunt an. "Was hat denn das mit -"
Herr Naumann unterbrach ihn. "Wir müssen natürlich sichergehen", sagte er glatt, ohne zu wissen, worauf ich hinauswollte, "daß unsere Angestellten topfit sind. Die in Frage kommende Position ist sehr anspruchsvoll."
"Ach so... Gelegentlich bin ich morgens noch müde, so als ob mir zwei oder drei Stunden Schlaf fehlen würden, aber das kommt nur am Wochenende vor."
"Verstehe. Sind Sie verheiratet, Herr Wagner?" Ich sah sein Erstaunen und schob schnell nach: "Ich habe Ihre Akte nicht eingesehen, deswegen frage ich." Er nickte beruhigt.
"Nein, aber ich lebe mit einer Frau zusammen. Sie kommt jedoch nur am Wochenende, weil sie beruflich viel unterwegs ist und häufig in Hotels übernachtet."
Jetzt verstand ich die Stellen in seiner Aura, die mir zu denken gegeben hatten. Sehr raffiniert.
"Aha. Beschäftigt sich Ihre Partnerin mit Dingen wie Hypnose? Esoterik?"
"Ja!" antwortete er überrascht. "Damit hat sie mich vom Rauchen befreit. Sie ist ein absolutes As auf dem Gebiet. In der Woche leitet sie verschiedene Kurse in Hotels, deswegen hat sie auch nur am Wochenende Zeit. Sie kommt immer erst am Samstagvormittag, so gegen zehn, elf Uhr."
"Gut. Letzte Frage, Herr Wagner, dann haben Sie es hinter sich. Haben Sie bei sich zu Hause Zeichengeräte?"
"Natürlich!" lachte er. "Gelegentlich arbeite ich auch am Wochenende zu Hause, aber das sind immer nur die ganz allgemeinen Dinge, die nicht der Geheimhaltung unterliegen."
"Prima. Dann danke ich Ihnen."
Herr Wagner verließ das Büro. Herr Naumann sah mich kopfschüttelnd an.
"Sie wollen sagen, daß seine Freundin ihn nachts unter Hypnose setzt und ihn so dazu bringt, die Pläne ein zweites Mal zu zeichnen?"
"Fast", lächelte ich. "Erst gibt sie ihm ein starkes Schlafmittel, ohne daß er es merkt, und am Morgen, wenn er so richtig kaputt ist, kümmert sie sich rührend um ihn und baut ihn wieder auf. Sie setzt ihn unter Hypnose, und da er ihr vollkommen vertraut, zeichnet er die Pläne noch einmal, während sie ihm die Zeit nachträglich mit Aktivitäten füllt, die sie nie zusammen gemacht haben. Die Stunden an Schlaf, die ihm fehlen, kommen nach - ich meine, wenn er und seine Partnerin miteinander geschlafen haben, was jedem von uns passieren könnte, wenn er die Partnerin nur am Wochenende zu sehen bekommt. Aber sie ist der Schlüssel zu dem Ganzen. Ganz sicher."
"Dann wird mir alles klar!" Herr Naumann ließ sich in den Sessel fallen. "Deswegen haben wir auch nie etwas bei ihm gefunden. Er hat die Pläne im Kopf! Und seine Freundin schleppt sie in aller Ruhe nach draußen, wenn er schon längst wieder arbeitet."
"Exakt. Und es ist nicht einmal seine Schuld, Herr Naumann. Er ist genauso ein Opfer wie Sie und Ihr Unternehmen."
"Sehr schön. Dann wird unser Sicherheitsdienst am Sonntag seine Wohnung stürmen. Am besten gleich morgens. Herr Tenhoff, haben Sie vielen Dank. Sie werden von uns hören."
Er führte mich noch bis zum Tor, dann war ich entlassen. Ich war gespannt, was bei der ganzen Sache herauskam.



Gegen ein Uhr war ich wieder zu Hause. Vera steckte mitten in den Vorbereitungen für das Mittagessen und vermißte die Mädchen sehr.
"Ich hab mich so dran gewöhnt, daß sie das Essen machen!" jammerte sie lachend. "Toni, das ist so viel für sieben Personen! Wie war's?"
"Scheint geklappt zu haben, Liebes. Ich werde es wohl am Montag oder Dienstag erfahren."
"Prima! Hauptsache, du bist gesund zurück." Ich beschloß spontan, ihr bestimmte Dinge von diesem Tag niemals zu erzählen.

* * *

Da die Mädchen samstags keine Schule hatten, begann unser Wochenende schon am Freitag mittag, wenn sie nach Hause kamen. Wegen Helms Training war ich der Meinung, daß wir sieben uns einen Kurzurlaub verdient hätten, was vom "Kriegsrat" auch einstimmig unterstützt wurde. Wir entschieden uns für eine kleine Pension an einem See in der Nähe, die auch noch drei Doppelzimmer frei hatte. Becky und Birgit meldeten sich spontan für ein gemeinsames Bett, so daß auch darüber nicht erst groß diskutiert werden mußte.
Wir aßen zu Mittag, dann packten wir ein paar Sachen ein und fuhren gleich los. Nach etwa dreißig Minuten Fahrt waren wir angekommen und verlebten ein wunderschönes und erholsames Wochenende. Vor allem die Mädchen tobten viel in dem See herum, während Vera und ich hauptsächlich am Ufer lagen und die Sonne genossen. Die Ruhe und die frische Luft taten wahre Wunder.
Als wir am späten Sonntagnachmittag zurückfuhren, hielt zeitgleich mit uns eine dunkle Limousine vor unserem Haus, aus der Herr Naumann stieg.
"Nanu?" begrüßte ich ihn. "Was führt Sie denn hierher?"
"Ihre Arbeit." Er gestattete sich ein feines Lächeln. "Ein Volltreffer, Herr Tenhoff." Vera und die Mädchen bauten sich um uns herum auf. Nachdem alle miteinander bekannt gemacht worden waren, griff Herr Naumann in seine Tasche und reichte mir einen Umschlag.
"Für Sie", sagte er trocken. "Und wenn Sie sich über die Summe Gedanken machen, halten Sie sich bitte folgendes vor Augen: die betreffende Dame hat nicht nur alles sofort zugegeben, sondern dieses Spiel auch bei anderen Firmen getrieben. Zur gleichen Zeit, natürlich. Es ist eine Anerkennung aller beteiligten Firmen."
"Danke!" Überwältigt nahm ich den Umschlag entgegen. "Alles gestanden? Ich dachte bisher, daß Spione widerstandsfähiger seien." Herr Naumann schwieg, doch ich sah sofort, wie die Frau zum Reden gebracht worden war. Mir wurde schlagartig sehr übel.
"Herr Tenhoff!" sagte Herr Naumann ernst. "Es ging um die Sicherheit unseres Militärs und unseres Landes. Die Frau wußte, worauf sie sich einließ." Er sah kurz in die Runde. Vera verstand seinen Blick.
"Gehen wir schon mal rein!" sagte sie zu den Mädchen. Schnell waren die Taschen aus den Autos geholt und die Mädchen im Haus. Herr Naumann redete weiter.
"Sie hat Geheimnisse aus der Forschung für Raketensteuerungen weitergegeben. Gefällt Ihnen der Gedanke, daß Saddam Hussein einige Cruise Missiles auf Ihr Haus richtet? Auf Ihre Töchter? Oder wie klingt die Vorstellung, daß die Pläne für eine arbeitende KI bei einem Diktator in Mittelamerika landen?"
"KI?"
"Die Abkürzung für Künstliche Intelligenz. Computer, die das menschliche Denken simulieren. Der Schaltplan für ein funktionsfähiges Gerät bringt auf dem Schwarzmarkt eine zweistellige Millionensumme. Spione leben gefährlich, und sie wissen das auch. Sie, Herr Tenhoff, werden zwar niemals ein Dankschreiben der betreffenden Firmen erhalten, aber Sie haben sich um die Sicherheit unseres Landes verdient gemacht. Und das drückt sich eben in diesen Schecks auf. Bevor Sie die Schecks einreichen, kopieren Sie bitte jeden einzelnen und legen Sie die Kopien zu dem Kontoauszug. Fragen Sie nicht, warum; tun Sie es einfach. Und machen Sie sich wegen der Steuer keine Gedanken. Schönen Sonntag noch, und unseren allerherzlichsten Dank." Mit einer knappen Geste stieg er in die Limousine ein und fuhr davon. Erst als ich die Rücklichter hinter einer Kurve verschwinden sah, fragte ich mich, woher er wußte, wo ich wohnte. Dann fiel mir ein, daß er das Kennzeichen meines Autos hatte, und meinen Namen. Mehr als genug Daten für einen Mann in seiner Position, um etwas so Simples wie eine Adresse herauszufinden. Dennoch hinterließ es kein besonders gutes Gefühl. Andererseits war das ein Grund, ihm die Bemerkung mit der Steuer zu glauben.
Mit einem stummen Seufzer ging ich ins Haus, wo ich schon sehnsüchtig erwartet wurde.
"Und?" fragte Vera bedrückt. "War es tatsächlich so schlimm?"
"Frag nicht, Liebstes." Ich nahm sie in den Arm und drückte sie. "Weißt du, ich kann Dinge sehen, die ich sehen will. Wenn ich neugierig bin, sehe ich auch, allerdings wünsche ich mir dann hinterher, ich hätte es nicht gesehen."
"Ich weiß!" Kerstin sah mich aufmunternd an. "Mir ging das am Freitag so, Papi. Ein Junge aus unserer Schule... Also der hängt in der Pause immer für sich herum, und ich hab den am Freitag einfach mal näher unter die Lupe genommen." Sie zuckte mit den Schultern. "Seine Mutter schlägt ihn manchmal. Ziemlich stark sogar. Das sind wohl die Schattenseiten, wie Helm sagt."
"Wahrscheinlich", seufzte ich. Kerstin klopfte mir tröstend auf die Schulter, dann ging sie zu den wichtigen Dingen über.
"Darf ich den Brief aufmachen?"
"Sicher, Bolzen." Ich gab ihr den Umschlag. Kerstin setzte sich stolz hin, von den anderen Mädchen umringt, und riß den Umschlag vorsichtig auf, nachdem sie ihn einen Moment prüfend in der Hand gehalten hatte. Vorsichtig zog sie mehrere Schecks heraus und reichte sie mir mit leuchtenden Augen.
"Danke, Kerstin." Ich zwinkerte ihr zu, dann sah ich auf die Schecks. Im gleichen Moment erstarrte ich.
"Toni!" hauchte Vera fassungslos. "Siehst du auch, was ich sehe?"
"Ich fürchte, ja." Ungläubig starrte ich auf die Zahl. Aber auch nach mehrmaligem Blinzeln veränderte sie sich nicht. Es blieb dabei: der oberste Scheck lautete auf 250 000 Deutsche Mark.
Erst nach einigen Sekunden, in denen Vera und ich kaum zu atmen wagten, sah ich nach der Unterschrift. Unleserlich.
"Und die anderen?" fragte Vera ganz vorsichtig, als würde ein lautes Geräusch den Scheck zu Staub verfallen lassen. Mit trockenem Mund fächerte ich die Schecks in der Hand auf. Vera seufzte laut. Der zweite war über 180 000 Mark ausgeschrieben, der dritte über 300 000 Mark.
"730 000 Mark!" flüsterte Vera fassungslos, dann schaute sie mich wütend an.
"Konntest du nicht zwanzig Jahre eher Magier werden?"

 

Kapitel 21 – 30

 

Kapitel 21 - Montag, 16.08. bis Sonntag, 03.10.1999



"Ich kann das immer noch nicht glauben!" flüsterte Vera. Es war schon fast ein Uhr morgens, aber schlafen konnten wir beide nicht. "Toni, das ist unser altes Haus! Du warst drei Stunden weg und bekommst so viel Geld, daß wir uns unser altes Haus glatt noch einmal kaufen könnten! Ich raff das nicht!"
"Ich weiß, Liebstes. Ich habe auch ganz schön daran zu schlucken. Shannon?" fragte ich ganz leise.
"Ich bin noch wach. Was denn?"
"Wie verdient Noel sein Geld?"
"Durch Magie. Geister austreiben, Krankheiten heilen... So in der Art. Er hat keine Preisliste, soweit ich weiß; er überläßt es den Leuten, was sie zahlen wollen. Meistens fährt er nicht schlecht dabei."
"Verstehe. Danke, mein Liebling."
"Kein Problem. Machst du dir wirklich Vorwürfe?"
"Ja, Shannon, auch wenn es merkwürdig klingt. Die Frau - diese Spionin - wurde ziemlich übel zugerichtet, bevor sie alles zugegeben hat."
"Ihr Problem", erwiderte Shannon gleichgültig. "Sie hat sich diesen Beruf ausgesucht, Toni. Vorschlag: du hast sie gesehen und weißt jetzt, wie sie aussieht. Konzentriere dich einfach mal auf sie, Liebster; vielleicht kommst du zu ihr durch und kannst so herausbekommen, warum sie das gemacht hat."
"Da hätte ich auch selbst drauf kommen können. Danke, mein Liebling." Ich konzentrierte mich auf das Bild der Frau, die ich in Herrn Naumanns Gedanken gesehen hatte, und war im gleichen Moment bei ihr. Erleichtert stellte ich fest, daß sie noch lebte; ich hatte schon halb befürchtet, daß sie umgebracht worden wäre. Sie lag auf einer Art Liege, an Armen und Beinen gefesselt. Sie hatte ziemlich viele Prellungen, aber insgesamt ging es ihr gut, auch wenn sie vollkommen erschöpft war. Vorsichtig drang ich tiefer und sah es sofort. Geld. Alles bei ihr drehte sich einfach nur um Geld. Sie hatte drei Männern gleichzeitig vorgegaukelt, sie zu lieben, und sie hemmungslos ausgenutzt und betrogen. Gewissensbisse hatte sie nicht; sie machte sich nur Vorwürfe, daß sie sich hatte erwischen lassen. Ich sah ihre Absicht, nach der Haftstrafe, mit der sie schon fest rechnete, sofort wieder in ihrem "Beruf" zu arbeiten. Und sie hatte in ihren acht Berufsjahren weitaus mehr verdient als ich, die gestrigen Schecks eingerechnet. Dabei war sie noch nicht einmal 30 Jahre alt.
In diese eiskalte, berechnende Persönlichkeit einzutauchen war noch schlimmer als die Prügelszene, die ich mitbekommen hatte. Sie war tatsächlich selbst schuld. Und ich sah noch mehr von dem, was sie alles ausspioniert hatte. Danach ging es mir zwar nicht direkt gut, aber mein schlechtes Gewissen war beruhigt.
"Na schön!" flüsterte ich dann in die Runde. "Hat jemand von euch Lust, noch ein paar Runden mit mir zu laufen?"
"Ich nicht", meinte Vera. "Ich überlege hin und her, was wir mit dem Geld anfangen können."
"Ich komme mit, Liebster. Als Mensch oder als Wolf?"
"Als Wolf."
"Dann hoch."
Die Hysterie wegen des Überfalls auf den Bauern hatte nachgelassen; es war wieder sicher, als Wolf durch die Wälder zu streifen. Shannon und ich verwandelten uns auf der Terrasse und schmusten noch einen Moment, dann liefen wir los. Mitten im Wald verwandelten wir uns zurück, küßten und streichelten uns und schliefen dann miteinander, bevor wir langsam wieder als Wölfe nach Hause trabten.
"Toni?" fragte Shannon leise, als wir wieder auf der Terrasse waren. "Ich habe mir etwas überlegt. In diesem Schuljahr mache ich die Mittlere Reife. Die auch noch einhundert Mal zu machen, habe ich absolut keine Lust. Ich würde gerne, wenn du erlaubst, im nächsten Jahr von der Schule abgehen. Vielleicht kannst du mich ja einstellen, als Hilfskraft oder so etwas. Ich möchte nämlich nächstes Jahr ein Baby von dir bekommen, Liebster."
"Ich habe dir nichts zu erlauben, Shannon. Es ist dein Leben, mein Liebling. Du weißt viel besser als ich, was für dich richtig ist. Bist du dir mit dem Baby sicher?"
"Ganz sicher." Sie setzte sich auf meinen Schoß und umarmte mich. "Ich habe Noel deswegen gefragt, und er war sich auch sicher, daß du inzwischen wieder zeugungsfähig sein müßtest, daß deine Chromosomen aber inzwischen die eines Wolfes sind. Also geh bloß nicht zum Arzt und laß dich untersuchen!"
"Keine Sorge", lachte ich leise. "Das hat Helm mir auch schon gesagt. Das mit den Chromosomen. Bei Kerstin ist es genauso. Sie kann auch nur dann ein Kind bekommen, wenn sie als Wolf den Samen eines anderen Wolfes empfängt."
"Gut. Dann wird es bei Mandy wohl genauso sein. Ich möchte wirklich ein Kind von dir, Liebster."
"Das wäre schön", lächelte ich versonnen. "Wieder ein Baby im Haus... Ich hätte auch gern ein Kind mit dir, Shannon. Aber wenn das als Wolf gezeugt wird, wie wird es dann geboren? Als Mensch oder als Wolf?"
"Auch darüber habe ich mit Noel gesprochen. Er ist der Meinung, daß nach der Zeugung, also wenn wir uns wieder zu Menschen verwandeln, der Embryo sich ebenfalls verwandeln müßte. Allerdings ist er sich da nicht sicher. Bisher gab es diesen Fall noch nicht, daß zwei Menschen wie wir ein Kind bekamen."
Ich bekam ihre Sorgen so deutlich mit, als hätte Shannon sie ausgesprochen. "Das heißt, es könnte auch passieren, daß nach der Rückverwandlung der Embryo vom menschlichen Körper abgestoßen wird."
"Ja", hauchte Shannon. "Das wäre möglich. Noel wollte sich noch tiefergehend darüber informieren, aber bisher hat er nichts gefunden. Trotzdem möchte ich es riskieren."
"Gut, mein Liebling. Ich werde Helm nachher eine eMail schreiben und ihn fragen. Dann müßten wir heute abend eine Antwort haben. Ich möchte dich nicht traurig sehen, mein Liebling."
"Ich mich auch nicht", lächelte sie. "Danke, daß du mir so viele Freiheiten läßt."
"Quatsch! Shannon, ich könnte fünf- oder sechsmal dein Sohn sein! Du weißt viel mehr vom Leben als ich. Treff deine Entscheidungen, und fertig. Aber sieh bloß zu, daß wir beide viel zusammen sind!"
"Deswegen will ich ja mit der Schule aufhören." Sie drückte mich stürmisch. "Ich liebe dich, Anton Tenhoff!"
"Ich liebe dich auch, Laura Lee O'Shaughnessy."
Shannon blieb einen Moment still, dann fragte sie leise: "Warum hast du mich jetzt so genannt?"
"Weil ich gerade das Gefühl hatte, mit Laura Lee zu reden."
"Das hast du auch." Sie kuschelte sich an mich. "Shannon wollte nie ein Kind. Shannon wollte unabhängig sein. Frei und stark. Laura Lee wollte immer eine Familie haben; eine, die sie nur so kurz hatte."
"Dann willkommen zurück, Laura Lee."
"Danke!" wisperte sie bewegt. "Langsam fange ich auch an, mich wieder als vollständiger Mensch zu fühlen. Gehen wir rein; ich werde müde."

* * *

Helms Antwort war niederschmetternd. Schweigend las Shannon den Text, den er geschrieben hatte.
"Die Chancen, daß ein als Wolf gezeugtes Kind die Verwandlung zum Menschen im Mutterleib übersteht, stehen etwa eins zu acht. Anders ausgedrückt: eine Verwandlung wird das Kind überleben, bei den übrigen acht wird es sterben. Laßt es; es ist zu riskant."
Schwer enttäuscht legte Shannon mir ihre Hand auf die Schulter, dann ging sie hinaus. Ich gab mich mit der Antwort jedoch nicht zufrieden und begann, zu schreiben.
"Helm, ohne deine Kompetenz in Frage stellen zu wollen, würde mich doch interessieren, auf welcher Grundlage deine Abschätzung zustande kommt. Soweit wir wissen, ist eine Verbindung zwischen zwei Menschen wie uns noch nie vorgekommen. Ich möchte nicht drängen, Shannon und ich möchten nur sichergehen." Ich schickte die Mail ab und bekam gleichzeitig zwei neue; eine von meinem Verleger und eine von jemandem, den ich nicht kannte.
"Liebe Kerstin Tenhoff", fing es an, und sofort hörte ich auf, zu lesen. Ich druckte die Mail aus und brachte die beiden Blätter in Kerstins Zimmer, ohne sie zu lesen. Anschließend ging ich wieder an mein Taschenbuch, das ebenso schnell wuchs wie die kleineren Hefte. Durch meine neuen Erfahrungen bekam das Buch einen Realismus, den ich zum Teil sogar noch einschränken mußte, um nicht vollständig als Spinner zu gelten. Oder meine Rolle als Eingeweihter zu offenbaren.
Helm schien alle 30 Minuten seine elektronische Post abzufragen, denn als ich versuchsweise eine Stunde später nachschaute, war seine Antwort schon da, diesmal wesentlich länger als die erste. Wie üblich begann sie ohne jegliche Anrede.
"Es ist natürlich nicht ausgeschlossen, daß ich mich irre, und du hast recht, wenn du zwischen den Zeilen sagst, daß es keine vergleichbaren Daten darüber gibt. Also beginnen wir noch einmal ganz von vorne. Ich teile dir meine Gedanken mit, und du mir anschließend deine. Vielleicht kommen wir gemeinsam zu einem schlüssigen Ergebnis.
Shannons wie deine Chromosomen (wie auch die der restlichen Familienmitglieder) sind die eines Wolfes. Wäre dem nicht so, wären sowohl deine Frau als auch Shannon inzwischen schwanger geworden. Wenn eine Empfängnis stattfindet, kann dies nur in Wolfsform geschehen. Die befruchtete Eizelle - die eines Wolfes! - nistet sich ein, teilt sich und wächst zu einem kleinen Wolf heran. Soweit ist alles noch ganz normale Biologie.
Nun setzt die Verwandlung zum Menschen ein. Der gesamte Körper, sämtliche Organe, Muskeln, Nerven, Zellen, Sehnen und Gewebe werden die eines Menschen. So auch die befruchtete Eizelle in der Gebärmutter. Und genau da hört dein wie mein Wissen auf. Es wäre natürlich denkbar, daß sich der Embryo genauso umformt wie der Trägerkörper. Andererseits wissen wir aus der Erfahrung, daß der Wolf - also die Fähigkeit, sich zu verwandeln - erst mit der Pubertät einsetzt, also wenn der Körper geschlechtsreif ist, was ein Embryo nun einmal nicht ist. Es könnten mehrere Szenarios denkbar sein.
Erstens: Der Embryo verwandelt sich mit. Das wäre der gewünschte Fall.
Zweitens: Der Embryo stirbt im Mutterleib, weil der menschliche Körper den Embryo des Wolfes nicht versorgen kann.
Eine andere Möglichkeit besteht nicht.
Möglich hingegen wäre, daß auch als Wolf keine Empfängnis stattfindet. Dies wäre ein Hinweis von Mutter Natur, daß ihr eure Fähigkeiten nicht vererben könnt. Das schließt sich allerdings durch die Existenz deine beiden Töchter aus, die ja beide die Fähigkeit zum Wolf von dir geerbt haben. Allerdings fand diese Zeugung auf menschlicher Ebene statt.
Ich bin versucht, zu sagen, daß ihr es einfach ausprobieren sollt, aber das wäre zu riskant. Ich bin mir auch unsicher, wie das Ergebnis einer Schwangerschaft, die von zwei beinahe Unsterblichen eingeleitet wurde, aussehen mag. Vielleicht entsteht eine Art "Überwolf", dessen Fähigkeiten sich, gemessen an euren, noch einmal potenzieren, resultierend in einer noch höheren Lebenserwartung, noch schnellerer Regeneration, was schon beinahe Unverwundbarkeit wäre, und vielleicht sogar, wenn deine magischen Fähigkeiten vererbt werden, noch höherer magischer Kräfte.
Zusammenfassung: ich weiß es nicht."
Nach diesem letzten Satz mußte ich doch etwas lächeln. Allerdings konnte ich seinen Ausführungen auch nicht viel mehr hinzufügen. Ich schrieb ein paar Zeilen, in denen ich Helm für seine Zeit und Anstrengungen dankte, und schickte den Brief ab. Und schon wieder hatte ich zwei neue Mails. Ich legte sie erst einmal ab und las die von meinem Verleger, die bereits vor einer Stunde gekommen war. Er drängte darauf, das Taschenbuch fertigzustellen, und hatte einige Auszüge aus Briefen an die Redaktion beigefügt. Die Akzeptanz der neuen Serie war tatsächlich überwältigend; der Ruf nach "Mehr!" war nicht zu überhören.
Die anderen beiden eMails waren für mich. Beides waren Begrüßungen anderer Magier von Helms Liste, was mir ein kindisches Gefühl von Gruppenzugehörigkeit gab. Ich erstellte einen neuen Ablageplatz und speicherte sie, dann ging ich wieder an meine Arbeit.



"Papa!" Jubelnd kam Kerstin in mein Büro gerannt und knallte die beiden Blätter, die ich ihr ausgedruckt hatte, auf meinen Tisch. "Lies!" Ihre Augen strahlten vor Freude, als sie sich an mich drückte und mir zusah, während ich ihre Mail las.
"Liebe Kerstin Tenhoff,
bitte entschuldige, wenn ich die Du-Form benutze, aber mit 13 wird es für Dich noch ungewohnter sein, mit Sie angeredet zu werden.
Auf Dich bin ich über mehrere Bekannte gekommen, und Du wurdest mir von dem letzten in dieser Kette empfohlen, nämlich von Herrn Georg Stephan. Ich habe zwei Töchter, die ebenfalls 13 sind. Eine von ihnen, Marina, raucht bereits, und nicht nur Zigaretten, sondern auch Marihuana. Zumindest vermute ich das, doch der Geruch in ihrem Zimmer und ihr Verhalten lassen nur diesen einen Schluß zu." Es folgte eine breit angelegte Schilderung von Marinas Leben, ihren Gewohnheiten und ihrem Freundeskreis. Sie wohnte zwar in unserer Stadt, ging aber auf eine andere Schule. Die Mail schloß mit den Worten:
"Wenn es Dir, liebe Kerstin, möglich ist, Marina zu 'durchleuchten', wäre ich Dir sehr dankbar. Ich will sie nicht bestrafen, ich möchte nur wissen, warum sie Marihuana raucht. Was dahinter steckt. Wie schon gesagt, ist es als alleinerziehender Vater nicht immer einfach, aber diese Situation übersteigt einfach meine Fähigkeiten. Marina ist täglich gegen fünf Uhr in der Stadt und trifft sich am Brunnen vor dem Supermarkt mit ihren Freunden, sofern man diese so nennen kann. Es wäre sehr schön, wenn Du sie dort einmal sehen könntest. Wenn mir Deine Talente richtig geschildert wurden, dürftest Du dabei schon sehr viel über sie herausfinden.
Vielen Dank im voraus."
Es kam noch der Name mit Adresse und Telefonnummer, dann war Ende. Ich sah Kerstin, die vor Stolz glühte, anerkennend an.
"Dein erster Auftrag, Bolzen. Gratuliere!"
"Danke!" Sie drückte mich stürmisch. "Fährst du mich nachher in die Stadt?"
"Natürlich, meine kleine Magierin. Bei der eMail war noch ein Bild dabei; wahrscheinlich ein Foto von Marina." Ich rief die Mail auf und lud das beigefügte Bild. Wir sahen auf ein hübsches Mädchen mit kurzen blonden Haaren und blauen Augen, das lächelnd in die Kamera sah.
"Okay", meinte Kerstin nach einigen Augenblicken. "Hab's. Papi? Kann ich auch einen PC bekommen?"
Ich drückte sie zärtlich. "Erledige deinen Auftrag, dann reden wir weiter."
"Super!" Sie gab mir einen dicken Kuß, dann stürmte sie davon, um ihre Hausaufgaben zu machen.



Wir fuhren schon um kurz vor vier in die Stadt. Ich hatte mir Helms Vorschlag zu Herzen genommen und ließ meinen PC mit einer zweiten, sehr viel größeren Festplatte ausrüsten. Bei der Gelegenheit kam auch gleich ein Scanner dazu. Beides war schnell installiert, und um zehn vor fünf saßen wir auf einer Bank in der Nähe des Brunnens und ließen uns ein großes Eis schmecken.
Das Mädchen auf dem Foto kam um kurz vor fünf, gemeinsam mit der Schwester. Obwohl sie Zwillinge waren, unterschieden sie sich sehr. Beide hatten zwar blonde Haare und blaue Augen, doch Marinas Schwester trug die Haare lang und war verschlossener als Marina. Sie stand abseits der Gruppe, zu der sich Marina sofort gesellte, und schaute gelangweilt in die Gegend.
Kerstin 'durchleuchtete' Marina, wie auch ich. Schnell hatten wir herausgefunden, woran es lag. Nur zur Sicherheit nahm ich mir auch noch die Schwester vor, doch da war nichts.
Schließlich sagte Kerstin: "Von mir aus können wir." Das war das Signal. Wenig später waren wir zu Hause. Wir tauschten kurz unsere Ansichten aus, bevor Kerstin ans Telefon ging, um ihren Auftraggeber anzurufen. Sie war selbst 13 und konnte ihm sehr viel besser als jeder andere Mensch klarmachen, daß Marina erstens die Scheidung ihrer Eltern als vollkommen ungerecht empfand, sie zweitens mehr von ihrem Vater haben wollte, sie drittens keine Lust darauf hatte, täglich nur mit ihrer Schwester zusammen zu sein und sie viertens ihr Leben als öde und langweilig empfand. Die Konsequenzen mußten ihm klar sein.
Ich beschäftigte mich mit dem neuen Scanner; sprich: ich spielte herum. Ich probierte hin und her, bis ich mit dem Ding klarkam und saubere Bilder anfertigen konnte, was ich auch gleich mit dem gefundenen Schmuck probierte. Ziemlich stolz auf das erste gelungene Bild speicherte ich es auf der neuen Festplatte, dann machte ich mir Gedanken um Kerstin, ihren eigenen PC und unsere zukünftigen eMail-Adressen. Schließlich entschied ich mich, einen der Dienste in Anspruch zu nehmen, die eine Weiterleitung der eMails an die tatsächliche eMail-Adresse vornahmen. So konnten wir später, wenn wir umzogen, die eMail-Adresse behalten, unabhängig von dem Provider, über den wir die Post abriefen.
Nachdem Kerstin ihr Telefonat beendet hatte, ging ich auch gleich mit ihr daran, für uns beide solche Adressen zu erstellen; wer solche Dienste anbot, stand ja in jeder Fachzeitschrift, von denen ich mir gleich am Freitag noch welche gekauft hatte. Die Anmeldeprozedur war zwar etwas umständlich, aber dafür hatten Kerstin und ich nach einer Viertelstunde auch fast identische Adressen, die sich nur in dem ersten Buchstaben unterschieden. Dann unterhielten wir uns über ihr Telefonat.
"Er hat sowas in der Art schon vermutet", meinte Kerstin. "Aber er war sich nicht sicher, vor allem weil Marina ihm auch immer ausgewichen ist, wenn er sie mal darauf angesprochen hat. Aber nun kann er sie festnageln. Das heißt, gezielt ansprechen und Antworten aus ihr herauslocken. Krieg ich jetzt meinen PC?"
"Du kleines süßes Biest!" grinste ich und drückte sie herzlich an mich. Wir küßten uns stürmisch, dann nickte ich.
"Du sollst ihn haben. Soweit ich weiß, sind oben passende Telefondosen, oder?"
"Ja, glaub schon." Kerstin strahlte. "Ein eigener PC! Kann ich dann auch eigene eMails kriegen?"
"Deswegen tun wir das, Bolzen. Über die Gebühren müssen wir allerdings noch reden. Du brauchst einen eigenen Internetzugang, damit wir beide uns nicht ins Gehege kommen. Der kostet nicht viel; das kann ich übernehmen. Das andere..." Ich sah Kerstin an, die aufmerksam meinen Gedanken folgte.
"Was zahlst du denn, um deine Post abzurufen?" fragte sie.
"Bisher waren das um die zehn Mark im Monat", überlegte ich. "Allerdings wird sich das jetzt sehr schnell erhöhen... Vorschlag: ich übernehme deine Telefongebühren bis dreißig Mark im Monat, den Rest zahlst du vom Taschengeld. Das sollte für alle Mails, die du bekommst, mehr als ausreichend sein."
"Klasse!" jubelte Kerstin. "Danke, Papi! Wann krieg ich den?"
"Langsam!" bremste ich sie. "Zuerst einmal muß ich die Unterlagen über die Anlage durchwühlen, wie ein zweites Telefon eingebunden wird. Dann brauchen wir den PC, ein Modem, deinen Zugang... Ein bis zwei Wochen, denke ich."
Kerstin zog einen Flunsch. "Nicht heute noch?"
"Nein, nicht heute noch. Ich schreibe aber direkt heute meinen Provider an, damit du deinen Zugang bekommst. Wenn der steht, kommt auch der PC."
Kerstin murrte noch etwas, wie es sich gehörte, gab sich aber schließlich damit zufrieden und zog ab. Ich machte eine Mail an meinen Provider fertig und schickte sie ab. Und wieder waren neue Mails angekommen, diesmal sogar neun Stück. Alles Begrüßungen "im Verein", wie sich einer ausdrückte. Gerührt ging ich wieder an mein Taschenbuch.

* * *

Nach zwei Wochen Schule begann unser Leben, eine Routine zu bekommen. Morgens trafen wir uns mindestens zu viert im Bad, wobei manchmal heftig geschmust wurde, dann wurde - in streng geklärter Reihenfolge - Frühstück gemacht. Wenn die Mädchen aus dem Haus waren, fuhr Vera einkaufen; sieben Personen verschlangen eine ganze Menge, und so viel Wild gab es im Umkreis nicht, daß wir uns nur als Wölfe hätten ernähren können. Ich schrieb an meinen Büchern, bis Vera daran ging, das Mittagessen vorzubereiten, wobei ich ihr half. Nach dem Mittagessen machten die Mädchen erst ihre Hausaufgaben, dann den Haushalt, was zu fünft unglaublich schnell über die Bühne ging, trotz des großen Hauses. Anschließend saßen wir im Garten, fuhren in die Stadt oder spielten und redeten. Nach dem Abendessen machten die Mädchen "in Familie"; sprich: sie kuschelten sich bei Vera und mir ein und schmusten sanft, wobei sie sich geordnet abwechselten. Wenn es dunkel wurde, gingen wir als Wölfe auf die Jagd und übernachteten teilweise sogar in unserem eroberten Fuchsbau, aber nicht allzu oft, denn Birgit und Becky waren in diesen Nächten alleine zu Hause.
Es war ein Leben, das uns allen sehr gut gefiel. Selbst Vera hatte sich inzwischen mit allen Schocks abgefunden und konnte es genießen, abends in Ruhe mit zwei Mädchen zu schmusen, ohne die bisher unterschwellig vorhandene Angst, die Kinder in einigen Jahren zu verlieren, weil sie auszogen. Sie begann, nur noch die Vorteile zu sehen, und außer dem regelmäßigen Umziehen gab es auch keinen direkten Nachteil.
Shannon hatte sich mit Helms Auskunft vorerst abgefunden; sie war der Meinung, es nächstes Jahr darauf ankommen zu lassen. Sie wollte ein Baby. Vera hatte sich auch an den Gedanken gewöhnt, wieder ein Baby im Haus zu haben, und konnte es kaum mehr erwarten.
Birgit und Becky klebten immer mehr aneinander; man sah die eine nie ohne die andere. Beide Mädchen standen in permanentem Körperkontakt, und sogar beim Essen lag eine Hand immer auf einem Bein der anderen. Das heißt, wenn sie lag; meistens bewegte sich die Hand gleichmäßig hin und her. Am süßesten waren die Szenen, wenn eine etwas aß und die andere etwas davon abhaben wollte. Sobald sich die Lippen berührten, war das Essen vergessen, und es ging zur Sache. Die beiden waren verrückt nach einander.
So wie Mandy und ich. Wenn Mandy bei mir war, setzte sie sich wortlos auf meinen Schoß, nahm mich auf und blieb dort reglos sitzen. Ich zog sie dann immer etwas auf, ob sie mit ihren 130 Jahren schon zu faul sei, um sich zu bewegen. Manchmal bewegte sie sich dann, aber meistens blieb sie einfach nur sitzen, um mich so viel wie möglich zu spüren. Und so intensiv wie möglich.
Shannon baute die Nähe durch Details aus. Sie erzählte mir - und oft auch Vera - täglich von ihrer Vergangenheit, vor allem viele kleine Einzelheiten aus dem Leben mit ihren "Gastfamilien", wo sie untergekommen war. Es war, als würde sie nach und nach Laura Lee wieder zum Leben erwecken. Doch das Reden tat auch ihr gut. Sie wurde langsam von innen heraus selbstsicher, allein durch die Akzeptanz, die sie und ihre Schwestern in unserer Familie fanden.
So vergingen die Wochen, unterbrochen von den ganz alltäglichen Problemen wie eine geplatzte Jeans kurz vor Verlassen des Hauses, zuwenig Milch im Kühlschrank, eine verpatzte Klassenarbeit bei Birgit und eine bei Kerstin, und einige neue "Aufträge" für Kerstin oder mich, die jedoch nur darin bestanden, Kleinigkeiten herauszufinden.
Der September verging, und unvermeidlich kam der Oktober. Es wurde langsam kälter draußen; ein hervorragender Grund für uns, morgens ein paar Minuten länger im Bett zu bleiben und zu kuscheln. Pläne, die Vera und ich für die Herbstferien gemacht hatten, wurden im Kriegsrat abgeschmettert; die Mädchen wollten daheim bleiben. Kerstin hatte ein paar Bücher von Helm bekommen, über denen sie hing, Birgit mußte etwas Mathematik nachlernen, und Becky, Mandy und Shannon wollten einfach nur bei uns sein, egal wo.
Das Abendessen am Samstag, dem 2. Oktober, war ein Wendepunkt im Leben von zwei Menschen, und damit von allen anderen auch. Obwohl keiner von uns es wußte, liefen im Hintergrund Dinge ab, deren Auswirkungen es unmöglich machten, so weiter zu leben wie bisher.
An diesem besagten Abend führte ich gerade einen Toast mit Erdbeerkonfitüre zum Mund, als ein so lauter Gedanke durch meinen Kopf fegte, daß ich das Gefühl hatte, jemand hätte mit voller Lautstärke in mein Ohr gebrüllt. Der Toast fiel zum Glück auf den Teller anstatt auf den Teppich. Neben mir schrie Kerstin erschrocken auf und fuhr zusammen; offenbar hatte sie das gleiche gehört wie ich. Helms drängende Stimme.
'Haltet euch bereit!'
Tochter und Vater starrten sich verblüfft an, die aufgeregten Stimmen und Fragen um uns herum drangen nicht einmal zu uns durch. Plötzlich war Helm wieder da.
'Freunde', begann er mit einer Stimme, die große Sorge ausdrückte, 'euer Beistand ist vonnöten. Einige von uns haben ein Dämonennest entdeckt, dessen Beseitigung unser aller Kräfte bedarf. Es liegt mitten in den schottischen Highlands und hat offenbar Jahrtausende Zeit gehabt, sich zu entwickeln. Weitere Informationen liegen nicht vor. Ruft bitte in einer Stunde eure eMails ab; wer von euch vor Ort benötigt wird, findet einen Brief mit der Reiseroute vor. Die anderen bekommen ein Fax mit entsprechenden Instruktionen.'
Seine Stimme wurde eindringlich. 'Kommt, wenn nur irgend möglich! Drei von uns sind bereits tot, weil sie einen Einzelangriff gewagt haben. Diese Bedrohung können wir nur gemeinsam aus der Welt schaffen! Wer von euch gesund zurückkommen wird, weiß ich nicht. Trotzdem zähle ich auf euch. In manchen Ländern sind derzeit Ferien; wenn gebuchte Reisen ins Wasser fallen, können wir das bestimmt klären. Aber jetzt werdet ihr gebraucht.' Ein grausamer Schmerz raste durch meinen Kopf; auch Kerstin stöhnte.
'Der vierte', hörten wir Helm sagen. 'Das war gerade der vierte. Er hat es lebend zurück geschafft, aber seine Verletzungen waren am Ende zu stark. Bitte kommt.' Die Stimme entließ mich aus ihrem Bann. Ich atmete tief durch.
"Toni! Was ist?" Erst jetzt bemerkte ich Vera, die neben mir stand und ihre Hände auf meine Schultern gelegt hatte. "Was ist mit euch?"
"Nachricht von Helm", sagte Kerstin atemlos. "Irgendwas ist passiert. Er braucht uns." Shannon, ihre Schwestern und Birgit sahen uns erschrocken an.
"O nein!" Vera schüttelte ihren Kopf. "Ihr werdet nirgendwo hingehen. Auf gar keinen Fall!"
"Wir werden sehen, Liebes." Ich hatte mich wieder gesammelt. "In einer Stunde sollen weitere Informationen kommen; jetzt gerade hat Helm nur eine Art Rundruf losgelassen."
"Ihr bleibt hier!" Vera sah uns eindringlich an. "Ich werde auf keinen Fall zulassen, daß ihr euch irgendeiner Gefahr aussetzt."
"Liebstes", begann ich, wurde aber sofort von meiner ältesten Tochter unterbrochen.
"Das ist nicht mehr deine Entscheidung", sagte sie so ruhig, als wäre sie über alle Dinge erhaben. "In dem Moment, wo wir uns entschlossen hatten, Magier zu werden, haben wir unsere Kräfte der gesamten Menschheit vermacht. Nein, sei still!" fauchte sie, als ihre Mutter ihr den Mund verbieten wollte. Vera wich erschrocken zurück.
"Ich habe die Nase voll davon, verlorene Schlüssel aufzuspüren!" sagte Kerstin wütend. "Dafür wurde ich nicht geboren! Du kannst über den ganz normalen Kram bei mir entscheiden, aber wenn es um die Magie geht, hältst du dich raus!"
"Ist gut, Kerstin", sagte ich beruhigend. "Kein Grund, ausfallend oder erregt zu werden. Vera, laß uns diese Diskussion bitte noch um eine Stunde verschieben. Es ist ja noch nicht gesagt, daß Kerstin und ich wirklich fahren müssen. Vielleicht reicht Unterstützung aus der Ferne auch schon aus."
"Bei einem Dämonennest?" lachte Kerstin bitter. "Das glaubst du doch selbst nicht!"
"Ein Dämonennest", wiederholte Vera mit hohler Stimme. "Ein ganzes Nest voller Dämonen. Und ihr mittendrin. Nein. Das kommt überhaupt nicht in Frage."
"Liebstes", sagte ich leise. "Warum gestehst du mir nicht das Recht auf mein eigenes Leben zu?"
"Weil dieses Recht nicht einschließt, daß du Dämonennester ausräucherst!" schrie sie unbeherrscht. "Verflucht noch mal, du kannst den Kindern nicht den Vater nehmen!"
"Wenn wir dieses Nest nicht ausräuchern", schrie Kerstin zurück, "dann wird es bald keine Kinder und Eltern mehr geben!"
"Was?" Ich sah Kerstin überrascht an. "Woher weißt du das denn?"
"Weil ich es gesehen habe." Kerstin atmete tief durch. "Papi, das war vor zwei Stunden. Da hab ich auf meinem Bett gelegen und vor mich hin geträumt. Plötzlich war ich in einer ganz dunklen Höhle und hab nur noch merkwürdige Schatten gesehen. So grausam und böse, daß mir ganz schlecht geworden ist. Das war das Nest. Ganz sicher. Ich hab nämlich auch drei Leute gesehen, die ganz schön zerfetzt am Boden lagen, und ein vierter schaffte es gerade noch, aus der Höhle zu fliehen."
"Na bitte!" rief Vera überzeugt aus. "Drei Tote. Und ihr wollt da rein? Nein!"
"Doch!" Kerstin hielt dem Blick ihrer Mutter stand. "Wenn Helm uns braucht, gehen wir da rein. Das haben wir ihm versprochen."
Vera sah mich erschüttert an. "Was sagt sie?"
"Die Wahrheit, Liebes." Ich sammelte viel Kraft. "Wir haben Helm versprochen, daß wir da sind, wenn er uns braucht. Aber" - ich hob schnell die Hand - "es steht ja noch nicht fest, daß er uns braucht." Mein Blick wurde intensiv, ich spürte die Kraft in mir erwachen. "Und deswegen bitte ich ein letztes Mal darum, daß wir die Diskussion darüber verschieben. Noch ist überhaupt nichts gesagt. Kerstin, du ißt bitte weiter. Vera, du auch. Seid beide so lieb und haltet euch zurück. In einer Stunde wissen wir mehr."
Kerstin kniff wütend die Lippen zusammen und griff nach ihrem Brot. Vera starrte mich an, als sähe sie mich zum ersten Mal.
"Du würdest tatsächlich gehen?" fragte sie ungläubig.
"Vera, bitte!" Mir saß noch der Tod des Magiers, den ich gespürt hatte, in den Knochen. "Ich will jetzt nicht darüber reden."
"Gut." Vera ging zu ihrem Platz, von den anderen Kindern besorgt bis bestürzt beobachtet. "Ich hoffe sehr, du triffst die richtige Entscheidung."
Shannon öffnete den Mund, doch auf meinen bittenden Blick hin schloß sie ihn wieder und aß still weiter.



Eine Stunde später rief ich meine eMail ab. Ich fand eine Nachricht von Helm vor. Ein Blick auf den Kopf der Mail zeigte mir, daß die gleiche Nachricht auch an Kerstin gegangen war. Seufzend begann ich zu lesen.
"Anton, Kerstin,
hier die Route: fliegt mit der Maschine morgen 09:15 nach Aberdeen, und von dort weiter nach Inverness." Es folgten Angaben über Straße und dem Treffpunkt, einem Hotel. Kerstins Jubel drang leise an mein Ohr; offenbar las sie auch gerade ihre Post. "Reservierte Tickets liegen bereit, ihr müßtet sie nur noch bezahlen. Seid um 18:00 Ortszeit in dem Versammlungsraum des Hotels, dort werde ich zu euch stoßen und alles weitere erklären. Wenn ihr aus familiären Gründen nicht kommen könnt, habe ich dafür Verständnis, aber wenn möglich, kommt!"
Ich seufzte ein weiteres Mal tief, dann druckte ich den Brief aus und ging zu Vera.
Es folgte eine erbitterte und lange Diskussion, deren Details ich mir an dieser Stelle erspare, und in deren Verlauf Vera mehrmals damit drohte, mich wegen Entführung anzuzeigen, sollte ich Kerstin mitnehmen. Es war der erste richtige Krach in unserer gesamten gemeinsamen Zeit. Um so schwerer war es, diese Diskussion zu führen, denn jeder von uns hatte mit seinen Argumenten recht. Vera nahm völlig korrekt an, daß es überaus gefährlich, wenn nicht sogar tödlich war, was wir vorhatten, während Kerstin und ich aus Helms wenigen Zeilen die Dringlichkeit und Gefahr gespürt hatten.
Irgendwann stand Vera verbittert auf. "Solltest du tatsächlich fahren, werde ich nicht mehr da sein, wenn und falls du zurück kommst. Das kann ich dir schwören!"
Das war der Punkt, wo Mandy platzte. Ja, Mandy.
"Bist du eigentlich immer so kindisch?" herrschte sie Vera an, die das junge Mädchen fassungslos anstarrte. "Ein einziges Mal geht es nicht nach deinem Kopf, und schon spielst du die Beleidigte und wirfst mit kindischen Drohungen um dich. Machst du dir überhaupt Gedanken um Tonis Einstellung dazu? Du weißt doch ganz genau, daß er nicht sterben kann! Genau wie Kerstin. Wenn das tatsächlich ein Meeting aller Magier der Welt ist, dann werden sie es auch schaffen. Vera, du bist alt genug, um deine Gefühle bei einer Diskussion beiseite zu lassen. Also benimm dich auch entsprechend und versetz dich in Kerstins oder Tonis Lage! Die beiden folgen einfach nur dem Ruf, den sie in sich spüren, und das ist etwas, was du nur dann verstehen kannst, wenn du auch so etwas in dir hättest. Ich habe selbst oft genug auf Noel geschimpft, wenn er urplötzlich und ohne Vorwarnung abgehauen ist, aber er ist immer zurückgekommen. Er hat eben nur bestimmte Pflichten, die er ernster nimmt als andere. In genau der gleichen Situation sind Toni und Kerstin jetzt. Sie spüren, daß sie gebraucht werden, und sie haben genug Anstand und Pflichtgefühl, diesem Ruf zu folgen. Wenn du allerdings der Meinung bist, daß Liebe bedeutet, deinen Partner mit Drohungen von etwas fernzuhalten, was ihm viel bedeutet, dann hast du noch sehr viel zu lernen. Und ich wage zu bezweifeln, daß eintausend Jahre dafür ausreichen." Wütend warf Mandy sich in die Couch und schüttelte ob Veras Uneinsichtigkeit den Kopf.
"Und da ist noch etwas." Becky sah Vera ernst an. "Wenn du Toni wirklich lieben würdest, Vera, dann würdest du ihn unterstützen. Es mag gefährlich sein, was er vorhat, aber genau aus dem Grund bräuchte er deine Liebe jetzt mehr denn je. Möchtest du tatsächlich, daß ihr im Streit auseinander geht und daß Tonis Gedanken mehr bei dir als bei dem Kampf sind? Ist deine Liebe zu ihm vielleicht nur Egoismus? Bist du sauer, weil er etwas gefunden hat, was ihm sehr viel bedeutet?"
"Du mit deinen 12 Jahren weißt natürlich genau über Liebe Bescheid!" höhnte Vera.
"Nein. Aber ich mit meinen 130 Jahren weiß einiges über Menschen, Vera. Und du benimmst dich momentan wie ein kleines Kind, das sauer ist, weil sein Freund ein neues Spielzeug bekommen hat und sich nur noch damit beschäftigt." Becky ließ sich an die Lehne sinken.
Bestürzt sah Vera über die abweisenden Gesichter. Sie bemerkte, daß die Meinungen der Kinder sehr von ihrer eigenen abwichen, und das gab ihr zu denken.
"Shannon?" fragte sie schließlich. "Was denkst du darüber? Du hast bisher noch gar nichts gesagt."
"Weil es Tonis Entscheidung ist", antwortete Shannon leise. "Wenn er glaubt, er muß gehen, dann soll er gehen. Meine Gebete begleiten ihn."
"Ihr seid doch alle nicht mehr normal!" Wütend drehte Vera sich um und ging nach oben.
"Und nun?" seufzte Kerstin.
"Gute Frage, Bolzen. Was möchtest du tun?"
Sie sah mich an. "Ich will Mami keinen Ärger machen", sagte sie nachdenklich. "Ich weiß aber auch, daß Helm uns braucht, und daß es sehr wichtig ist, daß wir kommen. Deswegen möchte ich fahren."
"Dann fahren wir morgen. Shannon, wärt ihr so nett und würdet morgen noch einmal mit Vera reden? Vielleicht kommt ihr ja doch zu ihr durch."
"Sie wird sich schon wieder fangen", lächelte Shannon aufmunternd. Aber das bezweifelte ich, und ich hatte auch leider recht, denn als wir ins Bett gingen, war Veras Bett leer und unbenutzt. Sie schlief im Gästezimmer und hatte die Tür abgeschlossen. Zum ersten Mal seit 20 Jahren Ehe schliefen wir getrennt.
Am nächsten Morgen packten Kerstin und ich schnell zwei Reisetaschen, auf Shannons Anraten hin mit robusten und warmen Sachen. Wir frühstückten eine Kleinigkeit, und die ganze Zeit über ließ Vera sich nicht sehen. Entsprechend bedrückt war die Atmosphäre, als wir um kurz vor sieben fertig zur Abreise waren. Warten hatte keinen Sinn, das wußte ich, trotzdem hoffte ich, daß sie es sich noch anders überlegen würde.
"Papi, wir müssen!" drängte Kerstin schließlich. "Ich find's auch nicht gut, aber wir müssen los!"
"Ich weiß, Bolzen", seufzte ich. "Dann auf. Macht's gut, Kinder." Wir verabschiedeten uns von Birgit, Becky, Mandy und Shannon, und gerade als wir aus der Tür heraus waren, hörten wir sie.
"Wartet!"
Vera kam im Bademantel hinter uns her, mit verweinten Augen.
"Vera!" Ich umarmte sie mit aller Kraft, während sie sich an mich preßte.
"Kommt gesund zurück, ja?" bat sie mich mit zitternder Stimme. "Und paß bloß auf Kerstin auf, sonst nützt dir auch die Selbstheilung nichts mehr!"
"Versprochen, Liebstes." Ich atmete ihren Geruch ein, als würde ich mich auf Jahre von ihr trennen. Kerstin umarmte uns beide gleichzeitig.
Endlich lösten wir uns voneinander. Vera sah uns noch kurz mit nassen Augen an, als müßte sie sich unser Aussehen einprägen, dann drehte sie sich abrupt um und verschwand wieder im Haus.

* * *

Der Wagen war geparkt, die Tickets bezahlt, nun konnten wir nur noch warten. Wir saßen in dem Warteraum unseres Fluges und unterhielten uns gedämpft, bis wir ins Flugzeug gehen konnten. Vom Flug selbst bekamen wir nicht viel mit; ab dem Ärmelkanal sahen wir nur noch Nordsee und Land aus großer Höhe, und das war nicht sehr abwechslungsreich, so daß wir die leichte Angst, die wir mit jedem Kilometer deutlicher spürten, durch lockere Gespräche im Griff zu halten suchten.
Von Aberdeen sahen wir außer dem Flughafengelände und einem völlig überteuerten Restaurant ebenfalls nicht viel; der Anschlußflug nach Inverness ging zwar erst drei Stunden nach unserer Ankunft in Aberdeen ab, aber in der Stadt herumzulaufen und uns womöglich noch zu verirren war uns zu riskant.
Um halb fünf Ortszeit trafen wir im Hotel ein. Wir hatten gerade eingecheckt, als ein Mann von etwa fünfzig Jahren auf uns zukam. Er hatte eine Halbglatze, trug eine Brille und sah aus wie ein Buchhalter auf Urlaub.
"Familie Tenhoff?" sagte er mit einem herzlichen Lächeln und auf Deutsch. Seine Stimme kam mir bekannt vor, ich konnte sie jedoch nicht einordnen.
"Georg Stephan", half er mir aus. Es klickte laut.
"Natürlich! Schön, Sie kennenzulernen. Kerstin, das ist Herr Georg Stephan. Georg, meine Tochter Kerstin."
"Angenehm." Wir tauschten Händedrücke aus, dann führte Georg uns zur Bar.
"Die Taschen können Sie nachher auf das Zimmer bringen. Wie war der Flug?"
"Langweilig!" gähnte Kerstin. "Entschuldigung. Bin was müde. Papi, krieg ich eine Cola?"
"Es ist dein Geld", lächelte ich. "Hol dir, was du möchtest."
"Auch ein Bier?" strahlte Kerstin.
"Und was du nach den Gesetzen hier trinken darfst", schmunzelte ich. Kerstin schmollte einen Moment, dann zwinkerte sie mir zu und winkte den Barkeeper zu uns.
"Herrlich", lachte Georg leise. "Sie ist tatsächlich eine Magierin?"
"Mir fällt es auch schwer, das zu glauben, aber Sie können sich gerne zum Test mit ihr streiten."
"Nein, danke." Georg wurde ernst. "Das ist wohl das, was wir uns zur Zeit nicht leisten können."
"Denke ich auch. Wissen Sie vielleicht etwas mehr?"
"Nein, leider nicht. Ich habe auch nur eine kurze Mail mit Angabe der Route und Abflugzeiten bekommen. Mit Ihnen beiden sind wir jetzt 36."
"Also die Hälfte", überschlug ich schnell. Georg nickte.
"Ja, in etwa. Helm hat noch nie den Ausdruck 'Nest' gebraucht. Ich bin wirklich sehr neugierig auf das, was er zu erzählen hat. Na ja, wir werden es gleich wissen. Ah, da kommt Myra! Ich kenne sie aus L.A." Ich entdeckte eine zierliche Frau Anfang Vierzig, offenbar indianischer Abstammung, mit langen schwarzen Haaren, die mich sofort an Shannon erinnerten, doch ich sah auch den intensiven Blick in ihren Augen, den wir alle gemeinsam hatten. Georg machte uns miteinander bekannt. Ich war froh, daß Vera und ich in den letzten Wochen viel auf Englisch miteinander geredet hatten; so konnte ich mich an der Unterhaltung beteiligen.
Nach und nach trudelten immer mehr ein, und um fünf vor sechs - Kerstin und ich hatten inzwischen unsere Taschen auf das Zimmer gebracht - betraten wir den Versammlungsraum. Eine kurze Zählung ergab 51 Magierinnen und Magier.
Punkt sechs kam Helm herein, in der Hand eine schmale Mappe. Er nickte nur kurz in die Runde und legte gleich los, ohne uns zu begrüßen. Aber das kannten wir ja bereits.
"Danke, daß ihr so zahlreich gekommen seid", sagte er auf Englisch. "Ich hoffe, es reicht aus. Etwa 130 Kilometer von hier liegt das Nest. Wir werden morgen früh mit Leihwagen dort hin fahren." Er öffnete seine Mappe und holte einen Stapel Papier heraus, den er teilte und den Leuten rechts und links von sich gab. "Durchreichen."
In diesem Moment ging die Tür zu dem kleinen Saal auf, und Noel trat ein.
"Man sollte wirklich meinen", grummelte er so laut, daß es bis in die letzte Ecke drang, "daß Taxifahrer sich in ihrer Heimatstadt auskennen sollten." Er winkte Kerstin und mir kurz zu und suchte sich einen freien Platz. Helm nickte ihm nur knapp zu.
"Das ist das, was wir wissen", sagte Helm, als jeder ein Blatt vor sich hatte. "Eingang in einer Hügelkette. Eine verlassene Mine. Breiter Hauptgang, eine Höhle mit drei Gängen."
"Vier."
Alle Augen richteten sich erstaunt auf Kerstin, die prompt etwas rot anlief.
"Was, vier?" fragte Helm.
"Ich sag's mal auf Deutsch", meinte sie verlegen. "Von dieser Höhle gehen vier Gänge ab, Helm. Die drei, die hier eingezeichnet sind, und noch einer nach ganz rechts, genau in der Mitte der rechten Wand."
"Sicher?" vergewisserte Helm sich. Kerstin nickte. "Okay. Danke, Kerstin." Er übersetzte schnell, dann machte er weiter.
"Also vier Gänge, was die Sache noch schwieriger macht. Wo die Brut nistet, weiß keiner; unsere drei Freunde sind in dieser ersten Höhle umgekommen. Der vierte konnte sich noch nach draußen schleppen und mich informieren, nachdem er seine Bewußtlosigkeit überwunden hatte. Kurz darauf war auch er tot. Ob diese vier Gänge sich noch teilen, ist unsicher, ich würde aber davon ausgehen. Deswegen werden wir die Dämonen nicht suchen, sondern uns finden lassen. Wir werden unser Lager in der ersten Höhle aufschlagen und abwarten. Sie werden garantiert kommen. Wir brauchen drei Abteilungen. Angriff, Verteidigung, Sicherung. Der Angriff besteht aus den Leuten mit Selbstheilung, weil deren Angstschwelle höher liegt und sie nicht so leicht in die Flucht zu jagen sind." Er sah meine Tochter an.
"Kerstin, du gehst in die Verteidigung."
"Nein!" Mein Töchterlein sah ihn entschlossen an. "Du weißt, daß ich besser angreifen als verteidigen kann. Ich gehe nach vorne."
"Du widersprichst mir?"
"Ja."
Mein süßer, kleiner Bolzen. Ich wollte sie eben darauf hinweisen, daß Helm vollkommen recht hatte, als sein Blick etwas unmerklich Weiches bekam. Er nickte.
"Einverstanden. Und anschließend unterhalten wir beide uns über Disziplin und Gehorsam." Kerstin nickte eingeschüchtert. Für einen Moment glaubte ich Helm lächeln zu sehen, aber das war unmöglich.
"Also 14 Leute im Angriff." Helm schrieb auf sein Blatt. "30 Verteidiger, die auch angreifen können, aber hauptsächlich den Ansturm der Dämonen aufhalten, so daß der Angriff sich auf jeden einzelnen Dämon konzentrieren kann. Die anderen sichern die Gänge und warnen vor neuen Angriffen. Das werden die mit der höchsten Sensitivität. Sollte sich herausstellen, daß die Dämonen zu stark sind, gehen alle auf Verteidigung und flüchten, so schnell es geht. Dann müssen wir uns draußen etwas anderes überlegen."
Es folgte die namentliche Aufteilung. Zu meinem großen Erstaunen wurde Noel bei der Sicherungsgruppe eingesetzt, aber er schien damit mehr als zufrieden zu sein. Schließlich waren die Formalitäten beendet.
"Woher stammt dieses Nest?" fragte ein Mann aus Spanien.
"Das müssen wir herausfinden." Helm stemmte die geschlossenen Fäuste auf den Tisch. "Ich weiß es nicht, Ramon. Was ich weiß, ist nur, daß diese Dämonen uralt sind. Und verflucht gefährlich."
"Von wieviel Dämonen reden wir?" fragte Myra.
"Auch das weiß ich nicht."
"Wer ist bei dem ersten Angriff alles umgekommen?" Das war ein Mann, der asiatische Züge hatte.
"Später." Helm sah ihn ausdruckslos an. "Das zu wissen hilft im Moment keinem von uns, Cheng."
"Warum brechen die Dämonen nicht einfach aus?" wollte eine füllige Frau aus Brasilien wissen.
"Auch das müssen wir herausfinden, Sabina. Bis gestern wußte ich nicht einmal von diesem Nest, und das gibt mir sehr zu denken." Er stellte sich aufrecht hin und verschränkte die Hände im Rücken.
"Das Nest wurde durch puren Zufall entdeckt, wie mir gesagt wurde. Einer der vier Freunde hatte sich beim Wandern etwas von den anderen drei abgesetzt und die Ausstrahlung des Eingangs bemerkt. Er ging offenbar hinein, ohne die anderen zu informieren. Erst im Moment seines Todes wurden sie auf ihn aufmerksam und suchten ihn. Sie fanden allerdings nur den Tod. Ich weiß, wie frustrierend es ist, keine präzisen Informationen zu haben, aber ich habe wirklich nicht mehr als die, die ich euch soeben gegeben habe. Alles übrige liegt in der Mine verborgen."
"Wann wurde diese Mine stillgelegt?"
"Gegen 1930. Und um die nächste Frage gleich vorweg zu nehmen: ich weiß nicht, warum die Dämonen fast 40 Jahre Abbau hingenommen haben, ohne einen einzigen Menschen zu töten. In dieser Mine sind zwar um die vierzig Menschen gestorben, aber das waren alles eindeutig belegte Arbeitsunfälle oder Vergiftungen durch Kohlenmonoxid. Kein einziger unnatürlicher Tod. Also sind die Dämonen entweder nach 1930 in die Mine gezogen, weil es da so schön kuschelig ist, oder sie haben Pläne, von denen wir nichts wissen. Noch nicht."
Langsam verstand ich, warum Helm der Obermagier war. In weniger als einem Tag hatte er unglaublich viele Informationen gesammelt, analysiert und aufbereitet, eine Jagdtruppe zusammengestellt und die Jagd auf die Dämonen organisiert. Von den reservierten Tickets ganz zu schweigen. Um das zu schaffen, mußte man wirklich zaubern können.
"Wenn keine weiteren Fragen mehr sind", sagte Helm in die Runde, als niemand mehr etwas sagte, "gehen wir an die Bar. Kein Alkohol, wie üblich, nur zwei Glas Bier im Höchstfall." Wieder sah er Kerstin an. "Oder einmal dran nippen, in deinem Fall."
"Nichts darf man!" quengelte Kerstin, mußte aber wie viele andere lachen. Offenbar sprachen mehr Leute Deutsch, als ich angenommen hatte.
Der Barkeeper war einiges gewohnt, aber die Themen, über die wir an der Bar redeten, verursachten sogar bei ihm ein häufiges Heben der Augenbrauen. Er hielt sich in Rufweite, vermied aber jeglichen Kontakt mit uns, was uns ganz lieb war. Kerstin war beeindruckt von dem leckeren Dunkelbier und wollte gleich ein ganzes Glas, aber ein Blick von Helm richtete mehr aus als hundert Worte von mir: Kerstin blieb bei Cola.
"Warum gehst du in die Verteidigung?" fragte ich Helm, als wir einmal nebeneinander standen. Er sah mich nur kurz an.
"Weil der Dämon, der durch meine Verteidigung kommt, erst noch geboren werden muß. Absicherung war mir immer wichtiger als Vernichtung. Du paßt auf Kerstin auf, ja?"
"Natürlich, Helm. Wenn du dir Sorgen um sie machst, warum hast sie aufgefordert, zu kommen?"
Ein sehr kurzes belustigtes Schimmern zog durch sein Auge. "Hättest du ihr erklären wollen, daß sie nicht mit darf?"
"Ein Punkt für dich", lachte ich.
"Aber davon abgesehen können wir sie wirklich gebrauchen, Anton. Dringend sogar. Trotz ihrer Jugend ist sie sehr stark. Noch etwas unbeherrscht und ungeduldig, aber sehr talentiert. In zehn Jahren möchte ich nicht in ihrer Angriffslinie stehen. Myra? Just a sec!" Er ging zu der Magierin aus L.A., während ich über seine Antwort nachdachte. Aber dazu bekam ich nicht viel Gelegenheit. Eine Hand knallte auf meine Schulter.
"Was machen meine drei Engel?"
"Uns das Leben schwer, wie üblich. Hallo, Noel. Schön, daß du auch dabei bist."
"Mir war langweilig zu Hause. Und meine Verlobte ist ja auch da. Alles frisch, Kerstin?"
"Bei mir ja, nur die Cola könnte mehr Kohlensäure haben." Kerstin drückte Noel gründlich. "Warum bist du bei den Spürhunden?"
"Weil ich das am besten kann. Ich rieche die Biester auf hundert Meilen, aber gegen starke Dämonen bin ich ziemlich hilflos. Und ich habe das ganz sichere Gefühl, daß wir es mit sehr starken Dämonen zu tun bekommen. Eine frühe Warnung hilft mehr als ein nutzloser Angriff."
"Da hast du wohl recht." Ein Knoten formte sich in meinem Magen und wuchs.
"Das Gefühl haben alle", sagte Noel leise. "Und wer sagt, er hat keine Angst, lügt." Er grinste plötzlich breit. "Deswegen macht Helm ja immer so knappe Termine, damit keiner lange überlegt und den Schwanz einzieht. Kerstin? Kannst du tanzen?"
"Was?" Kerstin wurde feuerrot. "Tanzen?"
"Genau." Noel zog Kerstin auf die Tanzfläche, die von redenden Magiern belegt war, und wirbelte sie im Rhythmus der leisen Musik herum. Schnell wurde Platz gemacht, und andere folgten seinem Beispiel.
Man konnte über Noel sagen, was man wollte, aber er verstand es, eine bedrückte Stimmung zu vertreiben.

* * *

"Papi? Kann ich zu dir?"
"Komm her." Ich hielt das Oberbett hoch. Kerstin sprang aus ihrem Bett und kam in meins.
"Nur kuscheln, ja?" fragte sie, während sie sich zurechtlegte.
"Für mehr hätte ich auch keine Nerven." Ich nahm sie in meine Arme, zog sie zärtlich an mich und wiegte sie sanft.
"Das ist schön", murmelte sie. "Ich hab auch etwas Angst vor morgen."
"Ich auch, Bolzen. Du mußt nicht mitgehen."
"Ich möchte aber. Nicht nur, weil ich mit will, sondern weil ich helfen kann. Helms Buch über Heilung kam genau richtig, oder?"
"Hm-m. Wie weit bist du damit?"
"Bis auf die Kapitel mit den Kräutern hab ich alles durch." Sie schmiegte sich an mich. Ich schob meine Hand in ihren Pyjama und streichelte ihren Po. Sie schmiegte sich enger an mich und blieb still liegen. Wenige Minuten später war sie eingeschlafen. Ich hauchte ihr einen Kuß auf die Stirn, dann legte ich meine Lippen an ihren Kopf und schloß die Augen. In Gedanken versuchte ich mir vorzustellen, was uns morgen in der Mine erwarten könnte, aber eine leise Stimme riet mir, besser nicht daran zu denken, sondern Ruhe zu sammeln.
Ich drückte meine schlafende Tochter an mich und wunderte mich, wie sie so einfach schlafen konnte. Woher nahm sie mit ihren 13 Jahren diese Kraft? Oder kam das einfach nur aus der Unwissenheit heraus, auf wie viele Arten ein Mensch sterben kann?
Ich verbannte diese Gedanken aus meinem Kopf und hielt Kerstin im Arm in der Hoffnung, sie morgen abend auf die gleiche Art halten zu können.

 

Kapitel 22 - Montag, 04.10.1999



Wir wachten im selben Moment auf; meine Uhr zeigte 05:17.
"Morgen, Papi", flüsterte Kerstin.
"Morgen, Kerstin. Wie hast du geschlafen?"
"Gut. Und du?"
"Mit dir im Arm? Einfach perfekt."
Kerstin lächelte still und kuschelte sich bei mir ein. Ich streichelte ihren Oberkörper, bis sie sich zu mir herumdrehte.
"Helm sagt, daß sich Magie und Sex ausschließen?"
"Richtig, Bolzen. Weil bestimmte Kanäle, die für die Magie benötigt werden, auch für den Sexualtrieb sind. Das heißt, wer jetzt Sex hat, kann nachher nicht richtig zaubern."
"Ist das doof!" seufzte sie. "Dann mußt du jetzt leider deine Hand da wegnehmen."
"Verzeihung." Ich zwinkerte ihr zu, während ich meine Hand aus ihrer Pyjamahose nahm.
"Mir tut's ja auch leid. Ab wann gibt's hier Frühstück?"
"Erst ab sechs. Aber dafür ein sehr reichhaltiges. Nach dem Essen gehen wir beide noch schnell duschen, damit wir alles Fremde von uns abwaschen."
"Ich weiß. Wann fahren wir?"
"Gegen neun. Helm wollte in der Stadt noch ein paar Dinge einkaufen. Verbandszeug und so."
"Das kommt mir vor wie ein Krieg. Werden wir gewinnen?"
"Ich hoffe es, Bolzen. Was sagt dein Gefühl?"
"Gar nichts." Sie sah mich ratlos an. "Da ist überhaupt nichts, wenn ich daran denke. Ich weiß nur eins, Papi. Das werden keine Geister sein, gegen die wir kämpfen müssen. Da sind richtige Wesen drin, mit Körper, und sehr stark."
"Das spüre ich auch. Kerstin, du sagtest, du hast vorgestern diese Höhle gesehen?"
"Hab ich. Und auch ein paar von den Wesen, aber die waren undeutlich. Ich habe eigentlich nur gespürt, daß die sehr, sehr grausam sind."
"Haben die dich bemerkt?"
Kerstin sah mich an und dachte lange nach. Schließlich schüttelte sie zögernd den Kopf.
"Nein, ich glaube nicht. Ich denke, ich weiß, worauf du hinauswillst, Papi. Warum haben die die Magier in der Höhle angegriffen, aber nicht mich?"
"Genau, Kerstin. Das überlege ich auch. Und warum diese Wesen nicht einfach die Mine verlassen."
"Das werden wir herausfinden." Kerstin schlüpfte schnell aus ihrem Pyjama. "Nur etwas streicheln."
Wir schmusten, bis es Zeit wurde, aufzustehen. Wir wuschen uns flüchtig und gingen dann hinunter in den Eßsaal. Er war schon gut gefüllt. Nachdem wir unsere Teller an dem reichhaltigen Frühstücksbüffet gefüllt hatten, setzten wir uns zu einer Japanerin, die sich als Surayama Akiko vorstellte. Sie war zierlich und sehr still, strahlte aber ein starkes Selbstvertrauen aus, das uns mehr half als viele Worte.
Nach dem Frühstück duschten wir gründlich und zogen uns an, dann gingen wir an die Bar, die einen guten Platz bot, um die letzten Vorbereitungen zu treffen. Eine leichte Spannung machte sich breit, gepaart mit Angst.
Um zwanzig nach acht wählte Helm zehn Leute aus, mit denen er in Taxis wegfuhr. Eine halbe Stunde später kamen sie zurück, mit elf Leihwagen. Um neun Uhr fuhren wir ab.
Für die landschaftlichen Schönheiten, für die die hügeligen Highlands berühmt sind, hatten wir kein Auge. Anstelle der Angst machte sich nun eine Kampfstimmung breit; eine entschlossene Stimmung, mit dem aufzuräumen, was immer dort sein mochte.
Nach fast zweieinhalb Stunden hielt unser Konvoi an. Den Rest der Strecke mußten wir zu Fuß zurücklegen. Jeder hatte eine vorbereitete, schwere Reisetasche mitgenommen, in der sich neben dem Verbandszeug auch Lebensmittel, Getränke und Gürtel mit eingebauten Lampen befanden.
Es war fast zwölf, als wir den Eingang der Mine endlich sahen.
"Rast." Helm stellte seine Tasche auf den Boden und setzte sich. Viele von uns schickten vorsichtig ihre Sinne aus, doch der Eingang der Mine war nicht magisch abgesichert. Es war für uns vollkommen unverständlich, warum die Dämonen nicht einfach die Mine verließen und ihren blutigen Siegeszug starteten.
Wir besprachen ein letztes Mal unsere Taktik und die Aufstellung, dann nahmen wir eine kleine Stärkung zu uns. Schließlich kam der Moment. Helm stand auf.
"Gehen wir an die Arbeit."
Schweigend folgten wir ihm zum Eingang, der relativ breit war. Drei Menschen paßten nebeneinander in den Stollen. Helm ging vor, wir anderen folgten wie abgesprochen.
Die Luft in dem Stollen war abgestanden und roch ganz leicht metallisch. Die Lampen an unseren Gürteln gaben ein mattes Licht ab, das jedoch ausreichte, die Spuren des Abbaus an den Wänden zu erkennen. Trotz höchster Anspannung unserer Sinne konnten wir kein Anzeichen von Feindlichkeit erkennen, was uns mehr zu denken gab als alles andere.
Wir folgten den schmalen Schienen, auf denen vor mehr als siebzig Jahren noch die Loren rollten, bei jedem Schritt einen Angriff vermutend, doch es blieb alles ruhig. Dies erhöhte unsere Nervosität anstatt uns zu beruhigen. Schließlich standen wir in der ersten Höhle und entdeckten auch sofort die Leichen der drei Magier.
Niemand sagte ein Wort; alle nahmen das schreckliche Bild der drei zerfetzten Leiber auf. Nach einigen Augenblicken nahm die Sicherungsgruppe Aufstellung und gab nach etwa einer Minute Entwarnung.
"Alles ruhig."
"Helft mir mal." Helm ging zu den drei toten Magiern. Einige andere folgten ihm. Schnell waren die Körper vorsichtig zur Seite gebracht, die entstellten Gesichter verhüllt. Kerstin war ziemlich blaß, hielt sich aber tapfer.
"Ich hab das ja vorgestern schon gesehen", flüsterte sie. "Geht schon, Papa." Ich nahm sie kurz in den Arm und drückte sie anerkennend.
"Aufstellung." Helms Stimme war ausdruckslos. Wir nahmen unsere Positionen ein. Diejenigen, die angreifen sollten, stellten sich in einem engen Halbkreis auf, um alle vier Gänge der Höhle abzudecken. Dahinter kamen die Verteidiger und zum Schluß die Spürhunde, die ihre suchenden Sinne weit in die Gänge schickten und schließlich die Köpfe schüttelten.
"Nichts."
Das war eine Auskunft, die wir befürchtet hatte. Welcher der vier Gänge zu der Brutstätte der Dämonen führte, war nicht zu ermitteln, solange sie nicht angriffen. Helm nickte, als hätte er dies schon erwartet.
"Kerstin? Du hast diese Höhle schon einmal gesehen?"
"Ja, aber nur wie - wie ein Foto." Sie sah Helm hilflos an. "Ich sah die drei Magier und ein paar Kreaturen, aber nichts bewegte sich."
"Du hast auch nicht gesehen, wie diese Wesen standen? Wo ihre Vorder- und wo ihre Rückseite war?"
Kerstin dachte angestrengt nach und schüttelte schließlich den Kopf. "Leider nein. Die hätten aus allen Gängen kommen können, so wie die standen."
"Akiko?"
Die Japanerin trat schweigend vor und sah Helm fragend an.
"Wir beginnen mit dem rechten Gang."
Wortlos drehte sich Akiko nach rechts und verschwand. Verblüfft sah ich auf die Stelle, wo sie soeben noch gestanden hatte, doch sie war weg. Helm jedoch schlenderte in aller Ruhe auf den ganz rechten Gang zu.
"Sie kann sich unsichtbar machen", hörte ich Noels leise Stimme neben mir. "Und sie spürt Gefahr wie kein anderer von uns. Sie wird vorgehen und den Gang erkunden. Helm bleibt ein Stück hinter ihr, für alle Fälle." Er lächelte dünn. "Fast wie in deinen Geschichten, was?"
"Fast. Nur daß in meinen Geschichten alles aufhört, wenn ich das Heft zuklappe."
"Willkommen in der Wirklichkeit." Er gab mir einen leichten Klaps auf die Schulter. "Und los."
Wir Verteidiger folgten Helm und der unsichtbaren Akiko. Jeder einzelne Schritt war ein Schritt in die Unsicherheit. Jederzeit konnte der Stollen eine Horde Dämonen ausspucken, und niemand von uns wußte, mit welcher Angriffsstärke wir zu rechnen hatten. In der Höhle hatten wir nicht die geringste Spur von dämonischen Überresten gefunden, was darauf schließen ließ, daß die drei Magier einfach zu schwach gewesen waren, um Schaden zu bewirken.
Das war kein gutes Gefühl.
Helm blieb an einer Abzweigung stehen und sprach leise mit der noch immer unsichtbaren Akiko. Mittlerweile hielt ich das, was wir hier trieben, für Unfug, und diese Einstellung kam nicht aus der Angst.
"Helm!" rief ich leise. Er sah auf und zu mir herüber. "Das bringt nichts!"
"Warum?"
"Wenn wir jetzt nach rechts gehen, können die Dämonen, die sich möglicherweise links verstecken, herauskommen und einen der anderen Gänge besetzen. Die Mine ist zu groß, als daß wir sie in der Gruppe erforschen können."
"Trennen kommt nicht in Frage!" sagte er entschieden.
"Das möchte ich auch nicht vorschlagen. Ich denke, die Lösung liegt in der Frage, warum die vier Magier angegriffen wurden, aber wir nicht."
Helm sah mich nachdenklich an.
"Gut", sagte er schließlich. "Kehren wir um und reden."
Einige Minuten später standen wir wieder in der ersten Höhle.
"Fang an."
"Was unterscheidet uns von den vier Freunden?" fragte ich. "Ganz offensichtlich die Menge. Wir sind 53 Magierinnen und Magier. Andererseits haben die Kreaturen vor drei Magiern keine Angst gehabt und sie ganz offenbar ohne jede Anstrengung umgebracht. Von daher dürften sie auch vor der zwanzigfachen Menge eigentlich keine Angst haben."
Helm nickte.
"Was hat der Überlebende dir mitteilen können, Helm?"
"Daß sie auf ein Nest gestoßen sind", antwortete er. "Daß sie sich einer erdrückenden Übermacht gegenüber sahen. Daß sie keine Chance hatten." Seine Augen weiteten sich unmerklich. "Daß sie Angst hatten, als sie den ersten toten Freund gesehen haben. Unbeschreibliche Angst, als die Wesen sich einen Spaß daraus gemacht hatten, sie in ihrer Hilflosigkeit grausam zu quälen."
"Angst." Ich sah ihm offen in die Angst. "Die haben wir auch, aber wir haben sie im Griff."
"Alles klar. Du möchtest, daß jemand in Panik gerät und so die Dämonen anlockt."
"Es wäre einen Versuch wert." Ich deutete auf die vier Stollen. "Wenn sie sich vor uns verstecken, können sie das bis zum Jüngsten Tag tun, solange wir zusammen bleiben. Und wenn wir uns trennen, sind wir Fischfutter."
"Exakt." Helm sah sich um. "Wer hat die meiste Angst? Wer stellt sich als Lockvogel zur Verfügung?"
Ein schlanker Mann aus Amerika, der zu den Spürhunden gehörte, trat vor.
"Danke, Brian. Wir sind hinter dir."
"Mir wäre lieber, ihr wärt vor mir", lächelte er dünn. "Auf geht's."
Wir spürten, wie er seine Beherrschung fallen ließ. Wir gingen in Position.
Keine Sekunde zu spät. Aus dem linken der beiden Gänge vor uns drang ein dämonisches Kreischen, und im gleichen Moment waren sie über Brian. Viel zu schnell, als daß wir unsere Verteidigung hätten koordinieren können, von einem sauberen, durchdachten und geplanten Angriff gar nicht zu reden.
Brian verschwand unter einer Wand aus gräßlichen Leibern. Ohne zu zögern tauchte Helm in die Menge ein und schleuderte einen Dämon nach dem anderen zur Seite. Dies war der Moment für seine Bärenkräfte. Wir anderen schossen sämtliche Energien auf die Dämonen über Brian, die aussahen wie Wesen aus den schlimmsten Alpträumen sämtlicher Menschen. Ein Dämon nach dem anderen blitzte auf und verschwand oder verbrannte in einer magischen Flamme.
Schließlich kam Brian zum Vorschein; ziemlich angegriffen, aber guter Dinge.
"Die Biester stinken erbärmlich!" beschwerte er sich.
"Kannst ihnen ja Hygieneartikel verkaufen, wenn du mal wieder in der Gegend bist." Helm kniete sich neben ihn und untersuchte ihn, dann winkte er zwei Leute zu sich, die sich um Brian kümmerten und seine Wunden versorgten. Helm kam zu uns.
"Das waren neun. Wie viele mögen noch da sein? Jedenfalls kennen wir jetzt die Richtung."
"Wie geht es Brian?"
"Nur ein paar Fleischwunden. Er ist gleich wieder auf dem Damm. Anton, du hattest recht. Offenbar hängt die Menge der angreifenden Dämonen mit der Angst eines einzelnen Menschen zusammen. Brian begann gerade erst, Angst zu bekommen, und hatte schon neun Wesen an sich kleben. Wir müssen verdammt vorsichtig sein; die Viecher sind verflucht schnell."
Eine Viertelstunde später war Brian in der Lage, aufzustehen und zu gehen. Helm wollte ihn zum Auto bringen lassen, doch Brian lehnte kategorisch ab.
"Ihr werdet den Stollen wohl kaum mit Kampfgebrüll und im Laufschritt stürmen. Langsam kann ich ja gehen."
"Und der nächste Widerspruch", seufzte Helm. "Es wird Zeit, daß wir uns alle einmal gründlich unterhalten. Gut. Ich gehe voran, sieben Angreifer folgen, dann die Hälfte der Verteidiger. Anschließend wieder Angreifer, dahinter Verteidiger, und zum Schluß die Spürhunde. Auf geht's."
Vorsichtig tasteten wir uns in den Stollen, aus dem die neun Dämonen gekommen waren. Jetzt, da der Kampf losging, war die Angst restlos verschwunden. Wir alle spürten eine Erregung ob der zu erwartenden Auseinandersetzung in uns, und eine Sicherheit, die vor dem Angriff der neun Wesen noch nicht dagewesen war. Sie waren zu besiegen.
Kerstin war in der zweiten Angriffswelle, was ihr nicht so recht schmeckte, doch so war sie zumindest hinter mir, und ich konnte etwas auf sie aufpassen. Bei dem ersten Kampf hatte sie sich gut gehalten, fand ich. Sie war zwar sehr erschrocken, als diese Dämonen plötzlich auftauchten, aber dann hatte sie sich gefangen und den Angriff gut unterstützt. Da dies mein erster Kampf war, hatte Helm mich zu den Verteidigern gesteckt, es allerdings mir überlassen, jederzeit zum Angriff zu wechseln. So konnte er sicher sein, daß ich mindestens ein Auge auf Kerstin haben würde.
Nach vielleicht einhundert Metern kamen wir an eine Abzweigung. Helm, der nicht einmal wußte, wie Angst buchstabiert wurde, blieb stehen und sah sich um. Brian, der am Ende ging, ließ seine Angst aufsteigen.
Diesmal waren wir vorgewarnt.
Aus dem rechten Stollen ertönte das kreischende Angriffsgebrüll. Sofort flammte eine helle Wand auf, getragen von Helms Vorstellung, gegen die selbst ein wütender Elefant erfolglos angerannt wäre. Es war wie eine stabile, unüberwindliche Mauer. Nun verstand ich, warum Helm Verteidiger war.
Die ersten Dämonen prallten gegen die Mauer und stürzten. Für einen Moment bildete sich ein wirres Knäuel aus wütend kreischenden Leibern. Helms Wand verschwand, die Angreifer traten in Aktion. Pfeile, Blitze, Flammen und sogar eine Wolke aus Säure schossen auf den Haufen zu, der schon nach wenigen Sekunden nur noch ein übelriechender, schmutziger Fleck auf dem Boden war.
Helm sah angespannt in den rechten Stollen, doch es blieb ruhig.
"Wer macht den Plan?" fragte er, ohne sich umzusehen.
"Elisa."
"Gut. Weiter."
Wir eroberten Stollen auf Stollen, immer nach dem gleichen Schema. Bei jeder Abzweigung durfte Brian ängstlich sein und einen Haufen Dämonen anlocken, der jedesmal von Helms Wand aufgehalten und von den Angreifern vernichtet wurde. Anschließend folgten wir dem Stollen, aus dem die Dämonen gekommen waren.
Es war fast schon zu einfach.
Schließlich standen wir vor einem Stollen, in dem der Gestank der Dämonen übermächtig war.
"Das dürfte es sein", sagte Helm gelassen. "Alle Angreifer hinter mich, dann die Verteidiger. Spürhunde, ihr unterstützt, wo ihr nur könnt. Vermeidet Einzelkämpfe, und bleibt um Himmels willen zusammen. Wenn ein Dämon flüchtet, laßt ihn ziehen und helft denen, die ersticken. Um versprengte Dämonen kümmern wir uns am Schluß." Er sah jeden einzelnen von uns an. Wirre und dramatische Gedanken von Entscheidungsschlacht und Abschied zuckten durch meinen Kopf, doch ich zwang mich zur Ruhe. Wenn ich jemals einen klaren Kopf gebraucht hatte, dann jetzt.
Helms Verteidigungswand flammte auf, als er den Stollen betrat. Die vierzehn Angreifer folgten ihm; Kerstin bildete ihr Schlußlicht. Wir restlichen folgten ihnen auf dem Fuß.
Schlimmer als der Gedanke an den bevorstehenden Kampf war der Gestank. Es stank nach Verwesung, Verfaultem, und Ausscheidungen. Hinter mir hörte ich, wie jemand ein Würgen unterdrückte, und das hätte beinahe eine Kettenreaktion in Gang gesetzt.
"Ruhig", hörten wir Helms besänftigende Stimme. "Wir sind gleich da."
Bewunderung für Helm durchfuhr mich. Er ging in vorderster Front, war der erste, der dem Angriff ausgesetzt sein würde, und hatte noch die Kraft, uns zu beruhigen.
Dieser Stollen war ziemlich verwinkelt und eng. Mit kleinen Schritten tastete sich Helm vorwärts. Vor einer Ecke blieb er stehen und drehte den Kopf, als ob er lauschen würde. Dann sah er uns an und nickte leicht. Ich mußte schlucken. Es war soweit.
Helm äugte vorsichtig um die Ecke und rannte los, um so vielen Magiern wie möglich hinter ihm Platz zum Angriff zu geben. Wir folgten ihm augenblicklich und fanden uns nach wenigen Schritten in einer gigantischen Höhle wieder, deren Decke und Wände im Dunkel verschwanden. Dafür blickten wir auf Horden von Dämonen, die sich mit grellem Kreischen auf uns stürzten. Helm ließ eine sehr breite Mauer entstehen, die viele der schwächeren Dämonen aufhielt, doch die starken überwanden sie locker.
Wände aus Feuer und Blitzen loderten auf, in denen viele der Dämonen verschwanden, doch die stärksten von ihnen kamen fast unversehrt vor uns zum Vorschein. Drei, vier Magier mußten sich mit ihren stärksten Energien auf einen einzigen Dämon konzentrieren, um ihn wenigstens solange aufzuhalten, bis andere zur Unterstützung kommen konnten. Viele Schreie ertönten, als der Angriff der Dämonen sein Ziel fand und Lücken in unsere Reihen schlug.
Da verzichtete Helm auf seine schützende Energiewand, die die Hauptmasse der Dämonen zurückhielt, und ging zum Angriff über. Das Feuer, das seinen Händen entströmte, verbrannte auch die stärksten Dämonen zu Asche, doch es hielt leider nicht lange vor und erschien auch nur in größeren Abständen. Immerhin hatte er uns eine kurze Atempause gegeben und den Weg gezeigt. Auch wir Verteidiger stürzten uns als Angreifer in den Kampf, alles gebend, was wir hatten. Grelle Blitze und heiße Flammen zuckten auf, schlugen tiefe Löcher in die dämonischen Körper, rissen klaffende Wunden und verkohlten das stinkende Fleisch, doch jeder Dämon gab erst dann auf, wenn er tot war, und bis dahin griff er an. Niemand von uns hatte Zeit, sich um die Verletzten zu kümmern; es hieß angreifen bis zum Ende oder sterben.
Ein kleiner, aber unglaublich flinker und starker Dämon sprang Kerstin an. Ihr dicker Energiepfeil schlug glatt durch ihn hindurch und ließ seine Eingeweide nach draußen fliegen, doch er biß sich dennoch in ihrer Seite fest. Kerstin schrie gequält auf, als er sie zerfleischte. Von fünf Seiten flogen Blitze und Flammen auf den Dämon zu, der noch in der letzten Sekunde seines Todeskampfes Kerstin eine weitere große Wunde zufügte. Dann war er nur noch ein Haufen totes Fleisch. Anderen erging es ähnlich; ein Dämon stürzte sich ohne Rücksicht auf Verluste auf sie und ließ erst dann ab, wenn er tot war. Das Kreischen der Dämonen, das Prasseln der Flammen, das Knistern der Blitze, die entsetzten oder schmerzvollen Schreie der Magier, all das vereinigte sich zu einem Lärm, der schlimmer und fast noch grauenvoller war als der Anblick der Dämonen.
Doch irgendwie hielten wir durch, auch wenn unsere Angriffe nicht mehr so stark waren wie zu Beginn. Dafür waren auch die Dämonen schon sehr dezimiert und demoralisiert. Eine kleinere Gruppe flüchtete vor uns; Helms Feuer bereitete ihnen ein schnelles Ende. Versprengte Dämonen sammelten sich und liefen in die letzten verzweifelten Blitze, geboren aus reinem Willen denn aus Kraft. Noch ein paar Mal zuckten Blitze und Flammenpfeile auf, dann war Stille.
Abgesehen von den Schreien und dem Stöhnen der Verletzten.
"Kümmert euch um sie!" befahl Helm, der konzentriert in die Höhle blickte. Über seine Wangen floß Blut, auch über Arme und Beine. Ich flog zu Kerstin, die sich zur Wand gerettet hatte und schweratmend und im Sitzen daran lehnte.
"Bolzen!" Ich nahm sie vorsichtig in die Arme. Sie erwiderte meinen Druck kraftlos.
"Geht gleich wieder", wisperte sie. "Tut nur verdammt weh. Hast du auch was abgekriegt? Ich hab zum Schluß nicht mehr viel gesehen."
"Geht so. Bleib still liegen, mein Kleines." Kerstin nickte matt. Ich sah an mir herunter. Das zerfetzte Fleisch meiner Oberschenkel schloß sich langsam wieder, wie auch die tiefen Wunden an den Armen und am Oberkörper.
"Dieses blöde Vieh!" meinte Kerstin erschöpft. "Das war mein Lieblingshemd!"
"Ach, Bolzen!" Ich küßte sie im ganzen Gesicht und weinte vor Erleichterung. Auch Kerstin schluchzte, doch sie hatte ihren Humor nicht verloren.
"Hoffentlich verlangt unser Deutschlehrer keinen Aufsatz über das, was wir in den Herbstferien getrieben haben."

* * *

"Es scheint zu wirken." Noel blickte nachdenklich auf eine kleine Flasche, in der eine klare Flüssigkeit war.
"Was?" Helm sah ihn fragend an.
"Ich habe von Antons Kindern etwas Blut genommen, bevor sie unsterblich wurden, und es gründlich untersucht, Helm. Dabei ist es mir gelungen, den Virus, den sie haben, zu modifizieren und daraus eine Heilflüssigkeit herzustellen. Alle Verletzten kommen langsam wieder zu sich, die Wunden schließen sich."
"Und die Toten?"
Noel schüttelte traurig den Kopf. "Hat keinen Zweck. Der Virus braucht eine Stunde, bis er sich eingenistet hat, und in der Zeit ist das Gehirn schon zu sehr geschädigt. Die Modifikation hat außerdem bewirkt, daß der Heilungsprozeß nicht so schnell abläuft wie bei Antons Familie, aber immerhin werden sie bis heute abend wieder in Ordnung sein. Und, was für sie noch wichtiger sein wird, sie werden nicht zum Wolf."
"Sieben Verluste." Helm schüttelte frustriert den Kopf. "Elf insgesamt. Und ich finde nicht den geringsten Hinweis, woher dieses verdammte Nest kommt!" Wütend stapfte er davon.
"Noel", fragte ich etwas aufgebracht, "warum hast du den Leuten diese Flüssigkeit nicht vor dem Kampf injiziert?"
"Weil ich mir nicht sicher war, Toni." Er sah mich offen an. "Ich habe bis gestern mittag daran gearbeitet, und sogar noch auf dem Flug hierher. Ich habe es vorhin zuerst bei den Schwerverletzten ausprobiert, und dann, als ich sah, daß die Wunden sich langsam zurückbildeten, bei den anderen. Es war mir zu riskant. Außerdem", wehrte er meinen heftigen Einspruch ab, "gibt dieses Mittel nicht die Unsterblichkeit, junger Mann. Es ist nur ein Heilmittel. Ein sehr effektives, aber kein allmächtiges. Irgendwo mußte ich die Grenze setzen."
"Oder du wolltest deine elitäre Position nicht mit noch mehr teilen!" fuhr ich ihn wütend an. Noel blieb unbeeindruckt.
"Das kannst du gerne annehmen, wenn du möchtest. Oder du kannst dich fragen, wie es dir gefallen würde, ohne dein Wissen und ohne deine Zustimmung plötzlich deine gesamte Familie und Freunde zu überleben, weil du nicht mehr alterst." Er wandte sich ab und kümmerte sich um die Schwerverletzten, die nach und nach wieder zu Bewußtsein kamen.
"Er hat recht." Akiko tauchte wie aus dem Nichts neben mir auf; ihr Gesicht zeigte noch deutliche Spuren des Dämonenangriffs, doch auch hier wirkte Noels Mittel schon. "Ich möchte nicht meine Kinder beerdigen." Sie lächelte mir schüchtern zu und drehte sich weg.
"Kerstin, Noel!" rief Helm plötzlich drängend. "Kommt her! Ihr anderen auch!"
Wir liefen zu Helm, der angestrengt in eine Ecke der Höhle starrte. Etwas begann sich dort zu formen.
Ein neuer Dämon.
"Das glaube ich einfach nicht!" Verblüfft ging Noel näher heran. Noch war das winzige Wesen vollkommen undeutlich, aber was es werden würde, konnte jeder von uns spüren. "Wo um alles in der Welt kommt das denn jetzt her?"
"Das werden wir jetzt herausfinden. Taucht ein. Zuerst nur Kerstin und Noel, weil sie die stärksten Antennen haben, dann auch alle anderen. Ihr müßt unbedingt herausfinden, wo es herkommt!"
Kerstin und Noel schickten ihre Sinne aus, wir anderen hielten uns zurück. Zu viele Gedanken konnten hier nur schaden. Wir spürten, wie die beiden sich tiefer und tiefer in das Wesen begaben, bis sie plötzlich aufschreckten und sich ansahen.
"Was ist?" fragte Helm ungeduldig. Noel sah ihn perplex an.
"Das kommt von einem ganz normalen Menschen, Helm. Von einem, der schläft und träumt. Kein Magier, kein Hexer, nur ein ganz normaler Angestellter ohne jeglichen Hang zur Magie, aber mit einem sehr lebhaften Alptraum."
"Bei dem er viel Angst hat", fügte Kerstin hinzu.
"Aha?" Helm schaute auf das Wesen, das im Moment nur eine wabernde Wolke war. "Geht wieder rein und wartet. Achtet auf alles, was passiert. Und laßt euch Zeit."
Gehorsam tauchten die beiden wieder ein. Minute um Minute verging. Schließlich kamen sie wieder zurück, mit Gesichtern, die vor Entsetzen bleich waren.
"Das entsteht aus Träumen!" flüsterte Noel fassungslos. "Jeder Alptraum eines Menschen nährt dieses Wesen!"
"Oder läßt ein neues entstehen." Kerstin deutete auf eine zweite Wolke, die sich in diesem Moment bildete.
"Sehr gut erkannt!"
Wir fuhren alarmiert herum, als wir diese Worte hinter uns hörten, und erstarrten. Vor uns stand ein athletischer Mann Anfang Dreißig, in einem Maßanzug und blank polierten Schuhen. Sein Gesicht war asketisch geschnitten und hätte beinahe die Bezeichnung schön verdient, wenn da nicht eine Aura des Grausamen um ihn gewesen wäre.
"Du!" flüsterte Helm entsetzt. "Du steckst dahinter?"
"Es ist immer wieder ein Vergnügen, deinen scharfen Verstand bei der Arbeit zu beobachten." Der Mann lächelte überheblich, doch seine Augen strahlten eine so tödliche Kälte und Bosheit aus, wie ich sie niemals zu erleben gehofft hatte. Ich wußte, wer das war! Ich wußte es! Instinktiv riß ich meine Tochter auf die Füße und hielt sie in meinem Rücken fest, während ich bis ins Knochenmark schlotterte. Bis auf Helm wichen alle einige Schritte vor diesem Mann zurück.
"Möchtest du mich nicht vorstellen?" fragte der Mann mit einem Lächeln, das freundlich zu sein schien, aber unter der Oberfläche unvorstellbar grausam und böse war.
"Ich denke", antwortete Helm, "daß es um so besser ist, je weniger Worte man über dich verliert. Was für eine Bosheit hast du dir jetzt wieder ausgedacht?"
"Du mußt zugeben, daß es eine sehr interessante Bosheit ist", lächelte der Mann, während er sich umsah. "Was für eine wundervolle Schweinerei. Ah, sieben Tote. Herrlich! Aber kaum Verletzte. Ich verstehe." Er sah Noel an. "Dein Verdienst?"
Noel zitterte. Vor Angst und Entsetzen. Wie alle anderen auch.
"Gar nicht mal schlecht", sagte der Mann. "Gefällt mir. Ein Mittel, das die Verwundeten in wenigen Stunden wieder einsatzbereit macht, damit sie in den nächsten Kampf ziehen können, um mich zu ehren. Gute Arbeit, Noel. Ich hoffe doch sehr, daß die Armeen dieser Welt das Mittel schnellstens bekommen." Er wandte sich wieder an Helm, der seine Fassung zurückgewonnen hatte. "Eigentlich müßte ich jetzt sehr böse auf dich sein, mein guter Helm, aber ich fühle mich heute großmütig und werde dir verzeihen. Bestimmt interessiert es dich, was das hier soll."
"Das kann ich mir schon denken", erwiderte Helm gelassen. "Eine neue Spielwiese deiner teuflischen Ideen."
"Von dir klingt das wie ein Kompliment, und da eine Erklärung dich noch mehr in Hilflosigkeit stürzen wird, ist es mir ein wahres Vergnügen, dich aufzuklären." Er schnippte mit den Fingern. Hinter ihm tauchte ein mächtiger Thron auf, mit dämonischen Fratzen verziert. Der Mann ließ sich geschmeidig in den Sitz fallen, verschränkte die Beine wie auf einer gemütlichen Party und begann, zu reden.
"Für die neuen Mitglieder deiner kleinen Bande werde ich es besonders einfach machen. Immerhin nennt ihr euch alle Magier und habt ein geringes Grundwissen, so daß ich wenigstens nicht ganz am Anfang beginnen muß.
Ihr alle wißt, daß eure Gedanken Energien sind, die ihr manifestieren könnt. Ihr zieht es vor, sie in Flammen und Blitze zu fassen und damit meine armen, kleinen Geschöpfe zu quälen, was mir, unter uns gesagt, jedesmal sehr viel Freude bereitet, doch es gibt noch viele andere Menschen, die sich dieser Tatsache nicht bewußt sind. Und genau da komme ich ins Spiel, wie gerufen.
Eurer Zeitrechnung nach war es vor etwa zwei Jahren, als mir die wirklich hervorragende Idee kam, die Ängste der Menschen noch intensiver zu nutzen als bisher. Ich leitete die Gefühle, die ihr bedauernswerten Menschlein im Schlaf habt, an Orte und Plätze wie diesen hier. O ja, mein guter Helm. Es gibt noch Hunderte von Orten wie diesen auf der Welt. Ach, was sage ich! Tausende! Verlassene Minen, alte Verließe, verfallene Häuser... Du wirst bestimmt Verständnis dafür haben, daß ich mich über präzisere Beschreibungen nicht weiter auslassen möchte.
In all diesen Orten werden die Ängste der Menschen, die sie in ihren Träumen haben, gebündelt und fokussiert. Und wie ihr schon durch eure wirklich gute Arbeit herausgefunden habt, entstehen auf diese Weise meine kleinen Geschöpfe wie jene dort." Er wies auf die beiden kleinen Wolken.
"Natürlich geht das nicht von heute auf morgen, aber ich habe ja unendlich viel Zeit!" Er lachte; ein so hartes, grausames Lachen, daß mir fast das Herz stehenblieb. "So viel Zeit, Helm, und so viele schreckliche Träume. Du kannst dir selbst ausmalen, wie es in zwanzig Jahren auf der Welt aussehen wird. Dann werden meine kleinen Lieblinge ein ängstliches Gefühl auf hundert Kilometer riechen und hungrig losstürmen. Ist das nicht eine überwältigende Vorstellung?" Seine Augen glühten in einem dämonischen Rot.
"Tausende Orte wie dieser", wiederholte Helm tonlos.
"Ungefähr. Einen habt ihr ja so erfolgreich gesäubert, aber nicht auf Dauer, wie ihr schon festgestellt habt. Und dabei sieben Leute verloren, was mir wirklich sehr leid tut. Ich hätte es zu gerne erlebt, daß auch sie dieses Entsetzen spüren, was bei euch noch kommen wird, wenn ihr euch der Tragweite dessen, was ich euch soeben verraten habe, bewußt werdet." Er verschwand mitsamt Thron in einem kurzen Aufblitzen, zurück blieb nur noch ein Lachen, das uns in die Knie zwang.



Es war ein ziemlich deprimierter Haufen, der am frühen Abend im Hotel eintraf. Wir besorgten uns Getränke und diskutierten über den Tag, doch wir kamen zu keinem Ergebnis.
Wie denn auch? Die Fakten ließen sich nicht leugnen:
Jedes Gefühl von Angst oder Schrecken, das ein Mensch im Traum verspürte, erschuf oder nährte einen Dämon.
Dies geschah nicht nur an einem, sondern an unzähligen, über die gesamte Welt verstreuten Orten.
Irgendwann würden die Dämonen so mächtig sein, daß sie auf ein Gefühl der Angst ansprangen und den Menschen, der dieses Gefühl verspürte, angriffen, selbst über große Entfernungen hinweg.
Und hinter diesem Terror steckte der Meister der Angst höchstpersönlich: Luzifer.
 

Kapitel 23 - Dienstag, 05.10. bis Freitag, 08.10.1999



Nach einer ziemlich unruhigen Nacht und einem mehr als lustlosen Frühstück trafen wir uns am nächsten Morgen wieder in dem Saal, in dem wir uns am Sonntag getroffen hatten. Waren wir vorgestern jedoch noch unsicher über das, was auf uns wartete, so waren wir nun am Boden zerstört, weil wir wußten, was auf uns wartete.
"Vorschläge." Helm sah in die Runde. "Ich weigere mich, das einfach so hinzunehmen. Es gibt Lösungen. Es muß Lösungen geben!"
"Patrouillen in der geistigen Welt", schlug jemand vor. "Die Schläfer beobachten und ihren Ängsten folgen, um die Orte herauszubekommen."
Helm notierte sich diesen Vorschlag. "Weiter."
"Den Energiefluß unterbrechen."
"Damit würden wir Luzifer direkt angreifen, und wie er auf solche Dinge reagiert, wißt ihr."
"Gegenkräfte aufbauen."
"Gegen Luzifer? Da brauchen wir mindestens einen Erzengel in unseren Reihen."
"Warum bauen wir uns dann nicht einen?"
"Was?" Helm sah, wie alle anderen auch, vollkommen perplex auf Kerstin, die prompt feuerrot wurde.
"Na ja", stotterte Kerstin verlegen. "Luzifer lenkt die Angst um. Warum können wir das dann nicht auch tun? Mit schönen Gefühlen, natürlich."
Helm starrte meine Tochter an, als hätte sie sich soeben als Dämon entpuppt. Im Saal herrschte atemlose Stille.
"Warum eigentlich nicht?" sagte schließlich ein Mann aus Mexiko, dessen Namen ich vergessen hatte. "Es klingt zwar vollkommen fantastisch und unmöglich, aber es wäre ein Weg."
Helm nickte zögernd, als er diesen Vorschlag auseinandernahm und analysierte. "Theoretisch ist das denkbar. Wir vergessen leider nur eins: selbst mit unseren vereinten Kräften würden wir nicht einmal Luzifers Fingernagel einritzen. Nach den Verlusten vom Wochenende sind wir nur noch 62 Magierinnen und Magier. Wir können nicht Tausende von Gegenkräften aufbauen."
Kerstin richtete sich auf, und in diesem Moment überkam jeden von uns eine massive Gänsehaut, denn meine Tochter erstrahlte in einem überirdisch hellen Licht. "Ihr müßt die Stellen herausfinden, an denen Luzifer seine Brut versteckt", sagte sie mit einer Stimme, die viele tausend Jahre alt war. "Ihr müßt Kirchen, Kloster oder Gebetsstätten in der Nähe finden." Das Licht verschwand. Kerstin sah sich verwirrt um und fand alle Augen auf sich gerichtet.
"Hab ich was Dummes gesagt?" fragte sie ängstlich, mit ihrer normalen Stimme. "Ich hab wohl einen Moment nicht aufgepaßt. Tut mir leid."
"Hast du nicht", sagte Helm, der einen etwas verwirrten Eindruck machte. "Es ist alles in Ordnung, Kerstin. Wir wollten sowieso gerade eine kleine Pause machen. Ich habe Durst."
Als wir alle mit Getränken versehen waren und wieder im Saal saßen, wandte sich Helm an Kerstin. "Wie stellst du dir das vor, Kerstin?"
"War nur eine Idee", begann Kerstin zögernd. "Wenn wir wissen, wo so ein Nest ist, können wir uns vielleicht eine Kirche oder sowas in der Nähe suchen und die Energien von schönen Träumen dahin lenken. Über Beschwörungen und die Erschaffung von Wesen weiß ich noch nichts, aber ich denke mir einfach, daß das gehen müßte."
"Tut es auch", sagte der Mexikaner. "Noch einmal von vorne. Wir müssen in der nächsten Zeit die Brutstätten der Dämonen herausfinden. Das dauert Zeit, wird aber funktionieren, wenn die Patrouillen sorgfältig arbeiten. Dabei können auch diejenigen mitmachen, die vorgestern nicht kommen konnten. Dann gehen wir her und suchen uns heilige Stätten in der Nähe. Als drittes errichten wir in der geistigen Welt Energiepfeiler, die nur auf angenehme Träume reagieren, wobei wir natürlich wesentlich mehr Energie zur Verfügung haben. Luzifer will nur Angst und Panik; so seichte Gefühle wie Unruhe und Besorgnis interessieren ihn nicht. Wir dagegen können uns jedes kleinste schöne Gefühl zunutze machen und über die Energiepfeiler zu der ausgewählten heiligen Stätte lenken." Er warf einen kurzen Seitenblick auf Kerstin, die ihm gebannt zuhörte. "Und den Rest müssen wir einfach dem himmlischen Beistand überlassen, auf den wir wohl zählen können."
"Und somit", führte Helm die Gedanken fort, "würden wir positive Wesenheiten erschaffen, die gegebenenfalls den negativen Einhalt gebieten würden."
"Exakt."
"Perfekt!" Helm war weit davon entfernt, begeistert in die Hände zu klatschen, aber seine Züge zeigten deutliche Befriedigung. "Kerstin, wenn du volljährig bist, melde dich bei mir, dann werde ich dich heiraten."
"Ich hab mich zuerst bei ihr angemeldet!" protestierte Noel, der mir meinen Ausbruch in der Höhle längst verziehen hatte. "Wir sind schon verlobt!" Kerstin wurde unter dem lauten Lachen feuerrot.
"Da müßt ihr aber erst bei meinem Vater um meine Hand anhalten!" verteidigte sie sich. Besagter Vater grinste.
"Ich erwarte eure Angebote. Mindestgebot sind zehn Kühe und ein Stier."
Das dröhnende Lachen verschluckte Kerstins wütende Antwort, aber als sie mich mit ihren kleinen Fäusten schlug, konnte sich jeder denken, was sie gesagt hatte. Schließlich kehrte wieder Ruhe ein. Ich nahm meinen Arm von Kerstin, den ich in Notwehr um sie gelegt hatte. Sie blitzte mich wütend an, doch neben der Wut war viel Stolz in ihren Augen. Ich zwinkerte ihr zu, dann kümmerten wir uns wieder um die Arbeit.
"Den Weg haben wir", sagte Helm. "Nun kommen die Schritte. Jeder von euch bekommt spätestens morgen ein Gebiet zugeteilt, das sie oder er zu beobachten hat. Wer von euch kann nicht Astralwandern?" Mehrere Hände, darunter auch die von Kerstin und mir, hoben sich. "Wir werden uns nach diesem Gespräch zusammensetzen und es lernen. Es ist nur eine Sache der Einstellung. Sobald eine Brutstätte entdeckt ist, teilt mir den Ort sofort mit. Ich werde mich um Kirchen und Klöster kümmern; eine fast vollständige Auflistung müßte ich noch irgendwo haben. Gebetsstätten sind schon etwas schwieriger, da müßtet ihr in eurem eigenen Land Nachforschungen anstellen. Vergeßt nicht die kleinen Kirchen an den Autobahnen und Landstraßen, die werden auch eine unschätzbare Hilfe sein. Anton, Kerstin, ihr beide bleibt noch ein paar Minuten. Die zukünftigen Astralwanderer warten an der Bar. Allen anderen möchte ich für die Hilfe danken. Bis zum nächsten Mal, Freunde. Behaltet unsere toten Freunde in Erinnerung."
Es wurde laut, als Stühle gerückt wurden und die Magierinnen und Magier aufstanden und sich auf den Weg zu ihren Zimmern machten, um zu packen. Helm setzte sich zu uns und kam gleich auf den Punkt.
"Anton, ich möchte Kerstin bis zum Wochenende mit mir nehmen. Zu euch kann ich leider nicht kommen; du hast ja gesehen, wieviel Arbeit auf mich wartet."
"Bringst du mich dann wieder um?" fragte Kerstin besorgt.
"Und warum möchtest du sie mitnehmen?" fragte ich gleichzeitig.
"Wegen Training. Ich möchte ihr zeigen, wie sie magische Gegenstände herstellen kann. Wir werden sie brauchen. Wenn sie wieder bei dir ist, kann sie es dir beibringen. Es ist nicht schwer, man muß nur wissen, wie und wo man anfängt und wie man es beendet. Und nein, ich werde dich nicht umbringen, Kerstin. Macht mir keinen Spaß mehr; du stehst ja immer wieder auf." Kerstin verzog das Gesicht; Helm die Zunge herauszustrecken wagte sie nicht. Er sah mich an. "Einverstanden?"
"Ich weiß nicht..." Ich schaute zu meiner Tochter. "Ihre Mutter war schon ziemlich verärgert, daß Kerstin mit mir gekommen ist. Wenn ich jetzt ohne sie zurückkomme, denkt sie bestimmt, ich würde ihr etwas verheimlichen. Daß sie schwerverletzt im Krankenhaus liegt oder etwas in dieser Art."
"Ich könnte Mami ja anrufen und es ihr erklären", schlug Kerstin vor.
"Also möchtest du mit Helm fahren?" schmunzelte ich.
Kerstin nickte schüchtern. "Würde ich gerne, Papi. Böse?"
"Natürlich nicht." Ich drückte sie herzlich. Sie schlang ihre Arme um mich und gab mir einen leichten Kuß, dann legte sie ihre Wange an meine.
"Sie wird Samstag nachmittag zurückkommen", sagte Helm. "Ich könnte euch auch Unterlagen schicken, aber auf diese Art geht es schneller und vor allem gründlicher. Wenn möglich, möchte ich das mit euch beiden öfter machen, Anton. Daß entweder ich zu euch komme - wenn diese Krise hier vorbei ist - oder daß ihr kommt. Für mich ist wichtig, daß ich in der Nähe eines internationalen Flughafens bin. Warum, habt ihr ja jetzt gesehen." Er fuhr sich mit einer Geste durch die Haare, die plötzlich seine innere Müdigkeit ausdrückte, doch er fing sich sehr rasch wieder.
"Gut. Kerstin, du rufst eben deine Mutter an. Mach es aber kurz; die Hotels sind sündhaft teuer, wenn du vom Zimmer aus ins Ausland anrufst."
"Oh." Kerstin wurde - welch Vergnügen - wieder rot. "Ich hab gestern abend schon eine Viertelstunde mit ihr geredet."
"Na toll!" stöhnte ich. "Dann muß ich das nächste halbe Jahr hierbleiben und Teller spülen."
"Was?" Kerstin erschrak sichtlich. "Ist das ehrlich so teuer?"
"Nein." Ich drückte sie zärtlich. "Es ist teuer, aber nicht so teuer. Mach es trotzdem kurz, Bolzen."
"Okay." Sie lächelte mich verliebt an. "Ich lieb dich so, Papa!"
"Ich dich auch, Tochter. Nun lauf."
Kerstin gab mir noch einen Kuß und lief hinaus. Ich sah ihr seufzend nach, dann wandte ich mich zu Helm.
"Verstehe meine Frage bitte nicht falsch, aber du zeigst ein sehr großes Interesse an Kerstin."
"Das tue ich tatsächlich." Er lächelte bedrückt. "Ich verstehe die Frage nicht falsch. Aber die zehn Kühe und den Stier bekommst du trotzdem nicht." Er wurde ernst.
"Kerstin hat ein unglaubliches Potential, Anton. Eines, das meines bei weitem übersteigt. Doch!" bekräftigte er, als ich ihn ungläubig anstarrte. "Ich bin der Obermagier, aber das ist nur ein Titel, Anton. Es bedeutet nicht, daß ich euch alle in die Tasche stecken kann. Ich kann analysieren, planen, organisieren und entscheiden, aber meine Magie beschränkt sich auf eine sehr starke Verteidigung und zwar kraftvolle, aber auch furchtbar kräftezehrende Angriffe. Ich wurde nicht gewählt und habe mir diese Position auch nicht in einem Zauberduell erkämpft, sondern ich bin hineingewachsen. Wie, ist an dieser Stelle egal; meine Lebensgeschichte werde ich dir ein andermal erzählen. Auf jeden Fall hat Kerstin das Zeug dazu, meine Nachfolgerin zu werden."
Mein Unterkiefer fiel nach unten.
"Mund zu!" grinste Helm. "Auch bei uns gilt die Gleichberechtigung, Anton. Bei dem Kampf gestern hat sie trotz ihrer starken Verletzungen weiteren vier Dämonen den Garaus gemacht. Nicht alleine, aber tatkräftig dabei mitgeholfen. Sie gibt nicht auf. Sie ist zwar noch etwas impulsiv, aber sie ist ja schließlich auch erst 13. Sie arbeitet sehr intuitiv und folgt den Fäden, die sie findet. Ihre Verteidigung ist nicht sehr stark, aber das weiß sie, und daran arbeitet sie auch. Ihr Charakter ist ausgeprägt, sie ist absolut ehrlich, und sie denkt logisch. Sie hat sich, sobald sie sich wieder einigermaßen bewegen konnte, um die anderen Verletzten gekümmert. Sie zeigt alle Attribute einer Führungskraft, wie es so schön heißt. Deswegen interessiere ich mich für sie. Als zukünftige Obermagierin. Daß sie erst 13 ist, ist dabei nur nebensächlich, aber daß ihr Vater absolut hinter ihr steht und sie unterstützt, ist wiederum sehr viel wert." Sein Gesicht verzog sich. Für einen Augenblick sah ich hinter die Fassade und spürte seine inneren Kämpfe, die er durchstehen mußte, um seine magische Begabung ausleben zu können. Mehr, als ich es in meiner Jugend getan hatte. Weit mehr. Ich kam mir plötzlich sehr schäbig vor, meinen damaligen Problemen durch Flucht ausgewichen zu sein.
"Gehen wir es an." Helm stand auf. "Kerstin kommt in 30 Sekunden zurück, und ich muß euch noch das Astralwandern zeigen. Auf geht's."

* * *

Kerstin und ich hatten uns in Aberdeen voneinander verabschiedet. Mein Rückflug nach Deutschland und die Fahrt nach Hause ohne sie waren äußerst merkwürdig. Es war das erste Mal - von Klassenfahrten einmal abgesehen - daß Kerstin alleine war, und dazu noch im Ausland bei einem Mann, den wir streng genommen kaum kannten, doch sowohl sie als auch ich vertrauten Helm. Wir hatten ihm bei dem Kampf gegen die Dämonen unser Leben anvertraut. Viel mehr Vertrauen gab es nicht, und ich war mir sicher, daß sie es gut haben würde.
Dennoch vermißte ich sie schrecklich.
Etwas bedrückt fuhr ich den Wagen vor die Garage und schaltete den Motor aus. Ich war noch nicht ganz ausgestiegen, als der Rest der Familie mich umzingelte und umarmte.
"Hey!" lachte ich, als Birgit, Becky und Mandy gleichzeitig an mir hingen und Shannon und Vera sich auch noch eine Ecke sichern wollten. "Ich war doch nur zwei Tage weg!"
"Das waren zwei Tage zuviel!" seufzte Vera. "Alles gut ausgegangen?"
"Sonst wäre ich nicht hier, Liebes", grinste ich. "Ja. Alles gut ausgegangen."
"Und Kerstin?" Sie sah mich besorgt an.
"Ist bis Samstag bei Helm; er wollte ihr noch ein paar Tricks beibringen." Ich löste mich von den drei Kletten und umarmte Vera.
"Es geht ihr wirklich gut, Liebstes. Und sie wollte ja auch mit ihm fliegen."
"Ich weiß", seufzte Vera. "Sie hat es mir ja gesagt. Aber trotzdem! Sie ist erst 13, Toni, und völlig aufgeschmissen, wenn Helm sie raussetzt. Sie kann doch nicht mal Norwegisch!"
"Aber Englisch", meinte Shannon. "Damit kommt sie in ganz Skandinavien durch."
Vera warf Shannon einen wütenden Blick zu, den Shannon gleichgültig erwiderte. Etwas war vorgefallen zwischen den beiden.
"Gehen wir rein", ließ sich Birgit vernehmen. Auch ihr Blick gefiel mir nicht. Ich sah Mandy und Becky an. Beide wirkten nun, nachdem die erste Freude abgeflaut war, etwas bedrückt.
"Gehen wir rein", stimmte ich Birgit zu. "Ich glaube, wir haben über viele Dinge zu reden."
"Das sollten wir tatsächlich." Shannon sah mich ausdruckslos an. "Wir sind noch nicht ganz fertig mit Aufräumen, also erschreck dich bitte nicht."
Ich mußte kurz an die Höhle mit den toten Dämonen denken, an die zerfetzten Kadaver, an das Blut. "Nein, ich werde bestimmt nicht erschrecken."
Doch ich erschrak. Heftig sogar. Im Wohnzimmer war es ziemlich durcheinander, so als ob jemand einen Wutausbruch gehabt hatte. Ich stellte meine Tasche ab und wappnete mich innerlich.
"Was war los?"
"Komm mit." Shannon nahm meine Hand und führte mich zur Couch. "Setz dich, Liebster. Wir haben dich vermißt." Ihre Augen wurden plötzlich feucht, doch nicht vor Glück, mich zu sehen, sondern weil ich wieder da war, um ihr beizustehen. Ich verstand nicht, was hier los war.
"Setz dich." Shannon drückte mich auf die Couch. Die drei jüngeren Mädchen setzten sich sofort neben mich, als wäre ich eine Mauer, die sie vor Schaden bewahrt. Langsam wurde es seltsam.
"Was ist passiert?" fragte ich Shannon. Sie setzte sich vor mich auf den Boden, Vera nahm gegenüber Platz.
"Es ging um Kerstin und um das, was sie heute morgen bei ihrem Anruf gesagt hat." Shannon sah zu Vera. "Den Rest solltest du sagen."
"Ich?" fuhr Vera auf. "Wer hat mich denn beleidigt?"
"Ich habe dich nicht beleidigt", erwiderte Shannon angespannt. Becky und Birgit rutschten näher an mich heran. "Ich sagte nur, daß Kerstin ihren Weg hat und du deinen."
"Das sagtest du!" fauchte Vera. "Und ich weiß ganz genau, daß du gemeint hast, ich solle mich aus ihrem Leben heraushalten. Aber sie ist meine Tochter, und noch bin ich für sie verantwortlich."
"Nicht, was ihr Leben als Magierin angeht", erwiderte Shannon verärgert. "Und deine Antwort darauf war ein Tobsuchtsanfall."
Vera kniff die Lippen zusammen und sah hinaus.
"Na schön!" seufzte ich. "Ist vielleicht irgend jemand in der Lage, ganz am Anfang zu beginnen? Extra für die ganz Dummen wie mich?"
"Papa!" Mandy warf sich auf meinen Schoß und weinte leise. "Es war schlimm!"
"Was war schlimm, mein Süßes?"
"Vera. Sie hat so getobt und geschrien."
"Wegen Shannon?" fragte ich dümmlich.
"Nein!" fauchte Vera. "Wegen Kerstin! Ich will, daß meine Tochter wieder hier ist!"
"Sie ist in guten Händen, Liebes", versuchte ich sie zu beruhigen. "Sie kommt doch in vier Tagen wieder."
"Bedeutet sie dir denn gar nichts mehr?" fragte meine Frau anklagend.
"Aber natürlich bedeutet sie mir etwas!" erwiderte ich erbost. "Deswegen ist sie ja bei Helm."
"Du hast eine ganz besondere Art von Logik", warf sie mir vor. "Aber das verstehen bestimmt nur so große Magier wie du." Langsam ahnte ich, worum es hier im Grunde ging. Ich zwang mich zur Ruhe.
"Okay. Kerstin ist bei Helm, weil er ihr noch bestimmte magische Prozeduren zeigen wollte, die er ihr nicht per Brief erklären kann. Sie war begeistert, das zu lernen, und wollte überaus gerne mit ihm fahren. Deswegen ist sie bei ihm. Und gerade weil Kerstin mir viel bedeutet und ich will, daß sie glücklich ist, habe ich es ihr erlaubt. Jetzt bist du dran. Was ist los mit dir, Liebes?"
Vera atmete tief ein und kam wieder zur Vernunft. "Ich will, daß es wieder so ist wie früher, Toni. Daß du den ganzen Tag zu Hause bist und schreibst, und daß Kerstin ihre ganz normalen Hobbys hat. Daß wir alle für die Kinder da sind. Ich will nicht, daß plötzlich ein Anruf kommt und ihr für Tage oder Wochen unterwegs seid. Ich weiß nicht einmal genau, weswegen ihr gefahren seid. Konnte Helm das nicht alleine erledigen?"
"Nein, Liebes", erwiderte ich sanft. "Wir waren 53 Leute, alles Magier, und jeder einzelne davon wurde dringend gebraucht." Mehr brauchte Vera im Moment nicht zu wissen.
"Das ist genau das, was ich meine, Toni." Vera beugte sich vor. "Du verschweigst mir etwas. Das spüre ich."
"Richtig, Liebes. Es wäre für dich bestimmt nicht interessant zu erfahren, wie wir gegen diese Dämonen gekämpft haben." Das sollte genügen. Vera lehnte sich tatsächlich wieder beruhigt zurück. Die vier Mädchen beobachteten uns angespannt.
"Da hast du wohl recht. Warum kannst du nicht bei den Jobs bleiben, die Geld bringen? Was hat Helm dir überhaupt dafür gezahlt?"
"Nichts, Liebes. Und das wird er auch nicht tun." Eine plötzliche Einsamkeit überkam mich, als ich erkannte, wie isoliert ich durch meine neuen Kräfte war. Konnte ich Vera sagen, was auf die Menschen wartete? Nämlich daß der Antichrist einen Großangriff eingeleitet hatte, der in wenigen Jahrzehnten die Menschheit ausrotten würde?
Nein, das konnte ich nicht. Das konnte ich überhaupt keinem Menschen erzählen.
Ging es den anderen genauso? Spürten auch sie diese Einsamkeit, geboren aus einem Wissen, das sie mit niemandem teilen konnten?
"Dann bleib wenigstens bei den Jobs wie dem einen!" flehte Vera regelrecht. "Wo du drei Stunden weg warst und eine dreiviertel Million bekommen hast!"
"Würde ich gerne", lächelte ich dünn. "Dummerweise stehen diese Jobs nicht in der Zeitung. Sag doch bitte ganz genau, was dich bewegt, Liebes. Ganz klar und deutlich, damit wir etwas haben, wo wir ansetzen können."
"Ich möchte, daß du nur noch deine alten Jobs hast", sagte Vera leise. "Ehemann, Vater, und Autor. Mehr nicht. Und daß unsere Kinder bei uns sind und nicht alleine in der Weltgeschichte herumgondeln. Und schon gar nicht, daß sie tagelang bei Menschen sind, die ich extrem unsympathisch finde."
"Helm?"
"Ja, Helm. Er ist in meinen Augen ein arroganter, impertinenter Großkotz. Und meine 13jährige Tochter ist vier Tage bei ihm. Übernachtet sogar bei ihm. Woher wissen wir, daß sie gesund und unverletzt zurück kommt?"
Wieder etwas, was ich Vera nicht erzählen konnte. Wenn ich ihr sagte, daß Kerstin die nächste Obermagierin werden sollte, würde Vera ausflippen. Und plötzlich erkannte ich, daß durch die Magie ein dicker Keil zwischen Vera und mir entstanden war. Ein Keil aus Wissen, das ich nicht mit ihr teilen konnte. Bestimmte Aspekte meiner Tätigkeit als Magier waren zu intim oder zu mysteriös, als daß ich sie ihr mitteilen konnte.
"Woher wir das wissen? Weil Kerstin und ich ihm vertrauen, Liebstes. Bei dem Kampf gegen diese Dämonen hat er sich so gegeben, wie er ist, nämlich um seine Schützlinge besorgt. Er wird ihr nichts tun, Liebstes. Ganz im Gegenteil." Ich beschloß, an Veras Mitleid zu appellieren, und verschob alle Gedanken an eine Spaltung zwischen uns auf später.
"Helm hatte auch eine Tochter", sagte ich leise. "Sie war fünf Jahre alt, als sie ums Leben kam. Durch einen sehr bösen Unfall. Sicher, er will Kerstin etwas lehren, aber ich denke, sie erinnert ihn an sein eigenes Kind. Er wird ihr bestimmt nichts tun."
"Fünf Jahre?" fragte Vera erschrocken.
"Ja, Liebes. Sie war fünf Jahre alt, als sie starb. Deswegen bin ich absolut sicher, daß er Kerstin sehr behutsam und sanft behandeln wird. Außerdem wird sie jeden Abend kurz anrufen, darauf hat Helm bestanden. Ich habe seine Adresse dabei."
"Na schön", seufzte Vera. Ich atmete auf; die Krise war überstanden. "Ich find's zwar immer noch nicht gut, aber es sind ja Ferien. Vielleicht gefällt es ihr ja sogar. Möchtest du einen Kaffee?"
"Da freue ich mich schon seit dem Spülwasser im Flugzeug drauf", schmunzelte ich. "Wir räumen unterdessen hier auf. Kinder, helft ihr mir?"
"Ja!" jubelten die Mädchen, ebenfalls froh, daß wieder Ruhe im Wolfsbau war.
Nur, wie lange noch? Eine unbestimmte Ahnung, daß es nie wieder so wie früher sein würde, drängte sich mir auf. Gemeinsam mit dem Wissen, daß die Krise zwischen uns noch lange nicht vorbei war.

* * *

"Toni, denkst du, daß ich mich zwischen euch drängen möchte?" fragte Shannon, als ich mit ihr die "große Runde" machte; ein Spaziergang von gut einer Stunde Dauer.
"Natürlich glaube ich das nicht, mein Liebling. Warum fragst du?"
"Wegen Vera. Und weil ich dir ein paar Dinge sagen muß."
"Dann leg los." Was kam jetzt?
"Sie wollte mein Konto auf eures übertragen", sagte Shannon sachlich. Ich spürte, daß sie die Wahrheit sagte; und genau deshalb war es ein Schock.
"Und warum?"
"Weil sie meinte, da wäre viel zu viel Geld drauf, und ich würde leichtsinnig werden und es verjubeln." Shannon sah mich traurig an. "Ich habe es natürlich nicht getan, und seitdem ist sie wütend auf mich. Egal, was ich sage, sie ist wütend auf mich."
"Was noch?"
"Noch mehr Geld." Shannon schmiegte sich während des Gehens an mich. "Seit du weg warst, jammerte sie nur darüber, daß du mehr Geld mit einfachen Jobs verdienen solltest. So wie den damals. Toni, bedeutet ihr Geld so viel?"
Blitzartig zuckten Bilder in mir auf. "Ja, mein Liebling. Vera entstammt einer reichen Familie. Wirklich reich. Ihre Mutter hat uns unser altes Haus geschenkt, als ihr Mann - also Veras Vater - gestorben ist. Sie hat sich in der Innenstadt eine große Wohnung gekauft. Vera braucht immer ein paar hundert Mark in der Tasche, sonst fühlt sie sich unwohl."
"Und sie gibt es mit vollen Händen aus." Shannons Augen wurden feucht. "Toni, ich will weiß Gott nicht petzen, aber ich habe Angst. Gestern hat Vera sich aus Frust ein so teures Kleid gekauft, daß mir fast schlecht geworden ist!"
"Wieviel?" fragte ich schmunzelnd. Was immer man über Vera sagen konnte, ihre Grenze beim Einkaufen waren eintausend Mark, und das auch nur einmal im Monat. So hatten wir es schon vor langer Zeit vereinbart, und daran hielt sie sich auch streng.
"Dreitausend Mark", flüsterte Shannon. Ich blieb wie vom Hammer getroffen stehen.
"Wieviel?"
"Dreitausend." Shannon sah mich verzweifelt an. "Toni, ich habe ihr gesagt, daß das Wahnsinn ist, aber sie meinte nur, sie würde das jetzt brauchen."
"Das hat sie gesagt?" fragte ich fassungslos. Shannon nickte und senkte den Kopf.
"Ja."
Ich tat etwas, wofür ich mich im ersten Augenblick schämte, doch hinterher war ich froh, daß ich es getan hatte. Ich tauchte in Shannon ein und überprüfte sie. Sofort sah ich die Szene.
'Dreitausend Mark! Vera, das ist doch blanker Wahnsinn!'
'Ist ja auch ein wahnsinnig schönes Modellkleid. Außerdem brauche ich das jetzt.'
'Vera!' flehte Shannon. 'Das ist zu teuer! Da bleibt uns ja kaum was für die Lebensmittel! Wir haben doch gerade mal Anfang Oktober!'
'Und?' entgegnete Vera schnippisch. 'Wenn mein Mann glaubt, er kann sich amüsieren, dann kann ich das auch.'
'Vera, bitte! Du -'
'Schluß!' fauchte Vera. 'Du solltest immer ganz genau daran denken, in welcher Position du und deine Schwestern seid. Ein Wort von uns, und ihr seid im Heim!' Daraufhin schwieg Shannon.
Ich tauchte wieder auf und sah sie bestürzt an. "Shannon, war das so, wie ich es gesehen habe?"
"Ja." Die Tränen flossen ihr über die Wangen. "Toni, wir brauchen doch im Monat fast zweitausend Mark an Lebensmittel! Wir können auch für weniger einkaufen, aber dann gibt es nur noch wenig frisches Gemüse und Obst, und Süßigkeiten schon mal gar nicht. Sieben Personen kosten eben. Allein für die Milch morgens zahlen wir doch schon 165,- im Monat. Aufschnitt und Käse -"
"Das Geld ist jetzt nicht so wichtig, mein Liebling", sagte ich unwillig. "Hat sie dir wirklich mit dem Heim gedroht?"
Shannon senkte den Kopf und schwieg. Ich zog sie zu mir.
"Was war sonst noch, Shannon?" fragte ich leise. "War sonst noch was?"
"Nur Kleinigkeiten", flüsterte sie. "Nichts Wichtiges." Kurze, aber intensive Bilder von lautstarken Auseinandersetzungen zwischen Vera und Shannon, Vera und Mandy, und Vera und Becky zogen durch meinen Kopf. Was um Himmels willen war hier los?
"Habt ihr euch gezankt?" flüsterte ich.
"Rund um die Uhr." Shannon begann, leise zu weinen. "Toni, das war so furchtbar! Wir haben alle versucht, in Ruhe mit ihr zu reden, aber sie wollte einfach streiten! Sie meinte, daß wir uns jetzt nicht mehr hinter dir verstecken können, daß sie das Sagen hätte, daß sie bestimmt, wer wann was tut, sie gab mir die Schuld, daß du jetzt ein Magier bist, und Mandy hätte Kerstin verdreht, daß sie auch Magie lernen soll, und Becky soll ihre verd- ich meine, Becky soll ihre Finger von Birgit lassen..." Shannon schüttelte den Kopf, um die Tränen zu vertreiben, und sah mich verzweifelt an.
"Sie ist total durchgedreht, Toni. Nicht verrückt oder so, aber sie rastet aus, wenn wir vom Wolf oder von Magie reden. Ich glaube, sie hat das einfach alles nicht verkraftet. Ist ja auch irgendwo klar, oder? Du und Kerstin seid Magier, aber was hat Vera bekommen? Doch nur Dinge, mit denen sie bis heute nicht klargekommen ist, auch wenn sie so tut. Dafür gibt sie uns drei die Schuld, und Birgit hängt total zwischen den Seilen und weiß nicht, wem sie glauben soll."
Ich drückte Shannon erschöpft an mich. "Laß uns bitte morgen darüber reden, mein Liebling. Wir haben gestern bei dem Kampf sieben Magier verloren. Ich kannte sie zwar nicht, aber es war trotzdem schrecklich, sie sterben zu sehen. Ich bin noch etwas müde."
"Tut mir leid, Liebster." Shannon lächelte entschuldigend. "Und da überfallen wir dich mit unseren Sorgen, kaum daß du zur Tür herein bist."
"Es war schon gut, daß du mir das gesagt hast, mein Liebling. Ich werde morgen mit Vera reden."
"Danke, Liebster. Bist du trotzdem so lieb und kümmerst dich um die Mädchen? Sie sind ziemlich daneben und haben dich sehr vermißt."
"Ich sie ja auch", lächelte ich. "Laß uns weitergehen."

* * *

Trotz meiner inneren Müdigkeit führte ich einen gründlichen Check meiner Familie durch. Bei allen vier Mädchen spürte ich das gleiche: Angst vor Vera. Keine große Angst, eher eine besorgte Unsicherheit, was denn genau mit ihr los war, aber eben eine leichte Angst. Birgit hatte es am schlimmsten getroffen. Warum ihr plötzlich verboten wurde, mit Becky zu schmusen, ging vollkommen über ihr Verständnis. Über meines allerdings auch. Nicht, daß ich Shannon der Lüge bezichtigen wollte; ich wollte eben nur sichergehen.
Die Lösung schien bei Vera zu legen. Zum ersten Mal seit Erwachen meiner Kräfte tat ich so, als wäre meine Frau ein völlig fremder Mensch, den ich analysieren mußte, und war erschüttert über das, was ich in ihr fand.
Veras Denken kreiste an der Oberfläche um Geld. Es wurmte sie, daß die Zahlungen von Ian direkt auf Shannons Konto gingen, von wo aus die 15jährige die nötigen Dinge wie Kleidung und Schulbedarf für sich und ihre Schwestern bezahlte. Ein kleiner Teil floß noch auf unser gemeinsames Konto, als Essenzuschuß, der Rest kam Ende des Monats zu gleichen Teilen auf die Sparbücher der drei Mädchen. Exakt so, wie Vera und ich es anfangs abgesprochen hatten.
Und trotzdem wurmte es sie nun.
Dann stieß ich auf den Gedanken, daß Vera sich ein neues Auto kaufen wollte. Kein kleines wie das, was sie jetzt hatte; ein Cabrio schwebte ihr vor. Von Mercedes natürlich; darunter wollte sie es erst gar nicht tun. Der Gedanke war noch nicht ausgegoren, kreiste aber mit auffälliger Häufigkeit in ihrem Kopf herum. Das Geld dazu war dank meines Eingreifens bei der Rüstungsfirma auf dem Konto, wo es für einen späteren Hauskauf in zwei, drei Jahren auch bleiben sollte. Denn wenn wir umziehen wollten oder mußten, brauchten wir zuerst eine neue Bleibe, bevor die alte verkauft werden konnte. Das Geld war ein Polster. Auch das war so abgesprochen.
Ein weiterer Punkt, der mir ziemlich sauer aufstieß, war ihre Einstellung zu Becky, Mandy und Shannon. Praktisch über Nacht waren die drei Mädchen zu Störenfrieden geworden. Vera, die sich anfangs so stark für die Mädchen engagiert hatte, wollte sie aus dem Haus haben. Auch dieser Gedanke war noch nicht spruchreif, aber deutlich. Er stand etwas in Konflikt mit dem Wunsch nach Ians Geld, weswegen Vera sich noch kein deutliches Bild gemacht hatte.
Schließlich kam ich auf den Kern des Problems: Eifersucht. Pure, unverfälschte Eifersucht. Wie Becky vor unserem Abflug schon richtig vermutet hatte, war Vera schlicht und ergreifend eifersüchtig auf mein neues Spielzeug, die Magie. Sie war fuchsteufelswild, weil die Magie mich von ihr fernhielt, und sie war fest entschlossen, mir diese "Flausen", wie sie es in Gedanken nannte, auszutreiben.
Stark verbunden mit diesem Gedanken war der an Kerstin. Ich erschrak beinahe, als ich in Veras Gedanken las, daß sie am Sonntag tatsächlich ernsthaft mit dem Gedanken gespielt hatte, mich wegen Entführung meiner eigenen Tochter anzuzeigen. Nur das gute Zureden von Shannon hatte dies verhindert. Nunmehr war in Vera der feste Entschluß, Kerstins PC zu beschlagnahmen und ihr die Beschäftigung mit der Magie zu verbieten.
Damit kamen wir zu Shannon. Die liebe Shannon, die laut Vera ruhig und problemlos bei uns im Bett schlafen konnte, war nun eine Bedrohung. Nicht wegen mir, sondern für Vera. Meine Frau fürchtete um ihren Status als Hausherrin.
Ich verließ den Gedanken an Shannon und konzentrierte mich auf die über Magie. Das schien mir der beste Ansatz zu sein. Ich hielt mich an den Gedanken der Eifersucht und grub tiefer. Da hatte ich es. Vera hatte Angst. Die selbstsichere Vera, die in jeder normalen Lage den Kopf behielt und klare Entscheidungen treffen konnte, war abhängig von Statussymbolen. Sie fühlte sich äußerst unwohl ohne Scheck- und Kreditkarten, wollte schon in früher Jugend ein eigenes Haus haben, und hätte alles dafür getan, um dies zu bekommen. Weiterhin wollte sie einen Mann und eine Familie, aber einzig und allein aus dem Grund, weil das in den Kreisen, denen sie entstammte, so üblich war. Wer dieser Mann war, war Vera vollkommen gleichgültig. Für sie zählte nur, daß sie sagen konnte, sie war verheiratet.
Diese Erkenntnis traf mich wie ein Schock.
Unsere gesamte Ehe war plötzlich in Frage gestellt, als ich die Wahrheit erkannte. Vera liebte mich, aber sie liebte mich so, wie sie jeden Menschen an meiner Stelle geliebt hätte, nämlich als ihren Mann. Vera liebte nicht Anton "Toni" Tenhoff, Vera liebte ihren Gemahl. Daß der zufällig Anton "Toni" Tenhoff war, spielte keine Rolle. Er hätte auch Xaver Gustl Hinterfurz sein können; wäre er Veras Ehemann gewesen, hätte sie ihn genauso geliebt wie mich, ohne Ansehen der Persönlichkeit und des Charakters.
Diese Erkenntnis traf mich tiefer und heftiger als der wuchtige Schlag eines Dämons. Ich war austauschbar! Jeder x-beliebige Mann hätte hier an meiner Stelle sitzen können, und Vera hätte ihn genauso geliebt wie mich!
Ich spürte kaum Shannons Hand, die mich tröstete. Ich verdaute mit großen Schwierigkeiten. Ich starrte Vera ungläubig an, die seelenruhig auf den Fernseher sah und nicht bemerkte, daß ich ihr "Innenleben" auseinander nahm.
Und gleich kam der nächste Schock. Unsere Kinder. Birgit und Kerstin. Vera liebte auch sie, doch das Motiv ihrer Liebe war Vernunft. Ein glückliches Ehepaar hatte Kinder zu haben, also hatten wir welche. Und da wir Kinder hatten, mußten wir uns also demzufolge auch lieben. Das war für Vera eine ganz eindeutige Schlußfolgerung, und zwar genau so. Daß die Kinder Birgit und Kerstin waren, war ein ganz unbedeutender Zufall. Jedes andere Kind hätte es auch getan. Hauptsache, es war überhaupt ein Kind da. Zwei waren natürlich noch besser, weil zwei Kinder auf noch mehr Liebe und Gemeinschaft hinwiesen.
Es war unfaßbar! Unsere gesamte Ehe, unser gesamtes Glück basierte auf absolut versponnenen und hirnrissigen Motiven! Liebe war für Vera etwas, was dem Partner entgegengebracht werden mußte, um ihn zu halten. Liebe war Vernunft. Und falls keine Liebe da war, mußte sie eben möglichst realistisch simuliert werden. Denn schließlich mußte die Ehe halten. Nicht wegen der Ehe an sich, und auch nicht wegen der Kinder. Nein, die Ehe mußte halten, weil eine unglückliche Ehe ein Zeichen für eine unfähige Frau war, und das war Vera nun einmal nicht. Vera konnte ihren Ehemann halten, Vera konnte einen Haushalt führen, Vera konnte Kinder bekommen und großziehen. Alle Bedingungen für eine glückliche, lang anhaltende Ehe waren vorhanden und wurden der Welt anhand der Symbole Auto, Haus und Kinder gezeigt. Die Liebe war nicht so wichtig, die kam schon mit der Zeit. Und wenn nicht, war es auch egal. Die Fassade stimmte jedenfalls.
Vollkommen geschockt und fast schon unfähig, noch mehr Informationen zu verarbeiten, folgte ich einer weiteren Linie, den Sexspielen. Vera hatte sie akzeptiert, aus dem Wissen heraus, daß Kerstin und ich uns wirklich liebten, auch wenn das Wissen, daß diese Spiele zwischen uns falsch waren, damit kollidierte. Doch Vera hatte sie akzeptiert, hatte sie sogar mitgemacht, um das Bild der perfekten Ehe, in der die Frau das tat, was dem Mann gefiel, nicht zu gefährden. Doch kaum war ich aus dem Haus, fühlte Vera sich in dieser Rolle nicht mehr wohl und unterband diese Spiele. Daher auch die Verwirrung bei Birgit und Becky. Beide Mädchen konnten mit dieser "Heute Hü, morgen Hott!" Einstellung nicht umgehen. Daher auch Veras Wutausbruch, als sie merkte, daß Kerstin und ihr Vater urplötzlich begannen, eigene Leben zu führen, in denen Vera keine Rolle mehr spielte. Die Sache entglitt ihrer Kontrolle, gefährdete das Bild der perfekten Ehe, und da niemand da war, an den sich Vera ihrer Rolle gemäß anpassen konnte, reagierte sie mit Hilflosigkeit und Wut.
Und noch ein Faden. Shannon hatte wieder einmal recht gehabt: Vera hatte die Schocks, daß sie ein Wolf war, daß ihre Verletzungen in Rekordzeit heilten, und daß sie unsterblich war, noch lange nicht verarbeitet. Sie hatte diese Dinge erst einmal hübsch verdrängt und nur uns gegenüber so getan, als wäre sie damit schon längst im Reinen. Aber dem war beileibe nicht so. Vera stand kurz vor einem inneren Aufruhr, auch wenn sie nach außen hin die Ruhe selbst war.
Meine Welt brach zusammen, und das war keine Floskel. Ich hatte 20 Jahre mit einer Frau gelebt, die nicht sie selbst war, sondern die nur ein vorgefertigtes Bild eines glücklichen Lebens lebte. Ihr Leben war genauso eine Fälschung oder Täuschung wie unsere Ehe. Ich wollte schreien, wollte toben, wollte weinen, doch alles, was ich konnte, war still sitzenzubleiben und die Erkenntnis zu verarbeiten, daß ich mit einer Lüge zusammenlebte.
Einer Lüge mit dem Namen Vera.
Wie ein Schnellzug zogen die letzten 22 Jahre an mir vorbei. Der Tag, an dem Vera mit 16 in meine Klasse kam. Wie sie mich fragte, ob ich ihr helfen könnte, den Anschluß zu finden, weil sie in vielen Fächern etwas hinterher hinkte. Wie sie das Haus meiner Eltern gemustert hatte, und die Einrichtung in meinem Zimmer. Wie sie in den nächsten Tagen andere Jungen aus meiner Klasse angesprochen hatte und in der zweiten Woche wieder zu mir kam, um tägliche Treffen zu vereinbaren. Der erste Kuß an diesem Tag in meinem Zimmer. Der kokette Widerstand, als ich ihren Busen streicheln wollte, und das huldvolle Nachgeben. Ihre scheinbare Vernunft, als es um Sex ging, den wir mehr und mehr hinausschoben, bis ich schon fast die Nase voll hatte von ihrem Widerstand. Das plötzliche Nachgeben in Form ihrer Initiative und unser erstes Mal. Ihre Vorsicht, nicht ungeschützt Sex zu haben. Dann, kurz vor unserem 18. Geburtstag, ihr Vorschlag, ob wir nicht heiraten sollten. Ihre Entscheidung, zuerst zu studieren und dann Kinder zu bekommen.
Jetzt, im Nachhinein, paßte alles zusammen. Ich war damals, mit 16, gewogen und für gut befunden worden, das weitere Leben an der Seite von Vera Kerkens zu führen. Ich war damals in hohem Maße unsicher und steuerbar gewesen, eben wegen der unterdrückten Magie in mir und dem vermiedenen Streit mit meinen Eltern. Ich war das perfekte Opfer für Vera gewesen: pflegeleicht und kontrollierbar. Und das 22 Jahre lang.
Doch nun war ein unkontrollierbares Element in Veras Leben getreten: ich war selbstsicher geworden. Ich hatte etwas gefunden, was mir sehr viel bedeutete. Ich war eine Gefahr für Veras Leben geworden, nämlich dem Leben, dem sie nachträumte.
Groschen auf Groschen fiel. Ihr Hang zur Archäologie. Dort hatte sie es mit toten Dingen zu tun; mit Dingen, die sich nicht mehr veränderten. Die sanfte, unmerkliche Art, mit der sie alles an sich zog, was zu kontrollieren war. Unsere Diskussionen, bei denen sie immer dann einlenkte, wenn sie merkte, daß ich nicht von meiner Meinung abging. Ihre traurigen, verletzten Blicke, die mich letztlich dazu brachten, meine Meinung doch wieder fallen zu lassen und mich ihrer anzuschließen.
Nach außen hin war alles so friedlich und offenherzig, nach innen war es nur der Wunsch nach Kontrolle, nach Planung.
Konnte man sich tatsächlich so in einem Menschen täuschen? Konnte man tatsächlich so blind, so dumm sein, wie ich es 22 Jahre lang gewesen war? Konnte man tatsächlich 22 Jahre lang übersehen, daß der Mensch an der eigenen Seite sein Mäntelchen so perfekt nach dem Wind hing, daß es schien, als würde sich der Wind nach dem Mäntelchen richten?
Ich spürte etwas Kaltes in meiner Hand und trank automatisch einen Schluck davon. Shannon hatte mir etwas gebracht; was, schmeckte ich nicht. Unmerklich hatte ich mich von Vera zurückgezogen und statt dessen eine Untersuchung meines eigenen Ichs gestartet, mit der Konsequenz, daß Vera und ich zwei völlig fremde Menschen waren, mit diametral entgegengesetzten Ansichten über die Liebe und das Leben in einer Ehe.
Und das nach 22 Jahren, die wir uns kannten.
Ich stand auf, völlig in mich zurückgezogen, und ging wortlos nach oben. Zu Veras Kleiderschrank. Ich sah es auf den ersten Blick. Das Preisschild hing sogar noch am Saum. Shannon hatte noch um zweihundert Mark untertrieben.
Minutenlang stand ich vor dem Kleiderschrank und sah auf das Kleid, ohne es zu sehen. Ein Entschluß reifte heran und kam zur Blüte. Kalt wie vor dem Angriff auf die Haupthöhle der Dämonen ging ich wieder hinunter und an meinen PC, den ich einschaltete. Als er bereit war, startete ich das Bankprogramm und rief meinen Kontostand ab. Nach wenigen Sekunden wurden die letzten Umsätze übertragen, dann endete die Verbindung automatisch. In der obersten Zeile stand es: Name des Modegeschäftes, Nummer des Kassenbons, und die Summe. Dreitausendzweihundert Mark für ein einziges Kleid. Das waren über 70% meines monatlichen Einkommens, und damit war die Grenze, die Vera und ich für ihre monatlichen privaten Einkäufe festgelegt hatten, um das Dreifache überschritten. In mir war kalte Wut. Alles verband sich zu Wut: die Enttäuschung, der Schock, der Unglaube. Zu einer kalten, entschlossenen Wut.
"Vera?" rief ich überlaut. "Hierher!"
Sekunden später stand Vera in der Tür, mit fragendem Blick. Ich zog sie ziemlich grob vor den Monitor und deutete wortlos auf den obersten Eintrag. Sie las ihn und schaute mich an, in ihrem Blick lag Besorgnis gepaart mit Trotz.
"Und?" fragte ich leise. Aus den Augenwinkeln sah ich die Kinder vorsichtig näherkommen. "Was hast du mir dazu zu sagen."
"Nichts." Sie warf den Kopf zurück. "Wenn du dir einen Wochenendurlaub in Schottland gönnst, werde ich mir wohl auch etwas leisten dürfen."
"Etwas? Du nennst diese Summe 'etwas'?"
"Es ist unser Geld", erwiderte sie heftig, doch diesmal spürte ich die Angst in ihrer Stimme. "Das sagst du jedenfalls immer."
"Und das meine ich auch so, Vera. Allerdings hatten wir nicht abgesprochen, daß du fast drei Viertel meines Einkommens in einem Modehaus verpulverst!"
"Das war eine sinnvolle Investition."
Dieser Satz verschlug mir glatt die Sprache. Ich spürte, daß ich kurz davor stand, aus der Haut zu fahren, also beherrschte ich mich, fuhr den PC herunter und schaltete ihn aus. Wortlos ging ich ins Wohnzimmer, nahm auf dem Weg Birgit auf den Arm und setzte mich mit ihr auf dem Schoß hin. Mandy und Becky kamen dicht neben mich, Shannon setzte sich, wie vorhin, auf den Boden vor mich. Vera sah etwas unsicher auf mich, doch ich blickte sehr starr auf den Fernseher.
"Nicht so fest, Papa!" beschwerte Birgit sich leise. Sofort lockerte ich meinen Griff.
"Entschuldige, Krümel. Ich bin nicht böse auf euch."
"Das wissen wir." Mandy lächelte mich schüchtern an. "Du schreist aber jetzt nicht rum, oder?"
"Ich versuche, es nicht zu tun." Ich zitterte innerlich. Vor Enttäuschung, vor Selbstanklage, vor Wut.
"Was wird denn jetzt?" fragte Vera nervös.
"Was soll werden?" gab ich zurück, ohne sie anzusehen. "Du hast eine sinnvolle Investition getätigt. Diese Aussage muß ich so stehenlassen."
"Na ja", lenkte sie ein, während sie zögernd näherkam. "Vielleicht keine Investition in diesem Sinne. Es war mehr ein -"
"Es ist gut!" Ich blitzte sie an, mit der absoluten Überzeugung, daß sie mich in Ruhe lassen würde. Schweigend setzte Vera sich in ihren Sessel und schaute auf den Fernseher, doch ihr Blick war in sich gerichtet.
'Was bist du bloß für ein Mensch?' dachte ich voller Kummer. 'Vera, was bist du bloß für ein Mensch?'



Am nächsten Morgen fuhr ich für längere Zeit in die Stadt, dann begab ich mich an meine Geschichten. Die Mädchen blieben oben in ihren Zimmern, als röchen sie den Ärger, der sich mit Riesenschritten anbahnte. Gegen halb zehn kamen sie dennoch herunter und gingen an die Hausarbeit, aber es war ihnen anzusehen, daß sie sehr bedrückt waren.
Um kurz vor zehn gab ich das Schreiben auf; ich brachte keinen anständigen Satz zustande. Daher schnappte ich mir Shannon, um mit ihr zu reden.
"Ich habe mir etwas überlegt, Shannon", begann ich. "Du siehst ziemlich reif aus, und du bist fast ausgewachsen. Was hältst du davon, wenn du die Schule in einem Rutsch zu Ende machst, bis zum Abi? Dann hast du wenigstens deinen Abschluß in der Tasche, kannst vielleicht etwas studieren, wenn du magst, und in drei Jahren können wir dich ganz legal volljährig machen."
"Und dann?" fragte sie nachdenklich. "Was ist in zehn Jahren? Da glaubt mir doch keiner, daß ich 25 bin."
"Richtig, aber alle werden glauben, daß du 18 bist. Du hättest deinen Führerschein und könntest wesentlich freier sein als jetzt."
"Verstehe. Du willst mich bei 18 einfrieren statt bei 15?"
"Genau so, mein Liebling. Mandy und Becky kriegen wir leider nicht so hin. Außer, wir spielen das Spiel mit ihren Wachstumsstörungen konsequent durch. Dann könnten wir es auch bei ihnen schaffen. Vom Wissen und vom Auftreten wird es jederzeit klappen. Es ist eben nur das Aussehen, und das könnte man auf die Krankheit schieben."
"Klingt nicht schlecht. Hast du besondere Gründe, daß du so handeln möchtest?"
"Ja, mein Liebling." Ich schwieg, und Shannon verstand. Sie lächelte vertrauensvoll.
"Du weißt, was du tust, Liebster. Ich stehe zu dir."
Ich tauchte tief in sie ein und fand nichts als Ehrlichkeit.
"Ich weiß, Shannon. Auch deswegen liebe ich dich. Wir beide müssen heute nachmittag zur Bank."
Shannon war so klug, nichts mehr zu sagen. Sie gab mir einen Kuß und ging zurück an ihre Hausarbeit, während ich auf den großen Knall wartete.
Doch er blieb aus. Heute war Mittwoch, und das war ein Tag, der hauptsächlich im Haus verbracht wurde. So fuhr ich nach dem Mittagessen mit Shannon in die Stadt, führte die Schritte vom Morgen zu Ende und setzte mich, als wir wieder zu Hause waren, vor meinen PC. Vera ging mir aus dem Weg, doch ich spürte ihre Einstellung, daß ich mich schon wieder beruhigen würde. Selbst jetzt suchte sie die Gründe für unsere Schwierigkeiten in den Personen um sie herum. Andererseits - und das hatte ich gestern gemerkt, als ich sie examiniert hatte - war sie nie in der Lage gewesen, offen und ehrlich mit sich umzugehen. Ihre Selbstkritik kam immer nur aus der Vermutung heraus, was der andere wohl von ihr hören wollte.
Es gab also keinen Ärger an diesem Tag. Die jüngeren Mädchen wurden wieder ruhiger und lockerer. Ich setzte mich gedanklich mit Noel in Verbindung, um bestimmte Dinge mit ihm zu klären. Er war weitaus weniger überrascht, als ich angenommen hatte.
'Wenn du das schon wußtest', fragte ich ihn aufgebracht, 'warum hast du mir nie etwas gesagt?'
'Toni, warum soll ich mich in eine Beziehung mischen, die beiden das Glück gibt, was sie suchen? Warum soll ich einem Blinden die Augen öffnen und riskieren, daß die Sonne ihn gleich wieder blendet? Es tut mir leid, daß du Veras Charakter so urplötzlich kennengelernt hast, aber früher oder später hättest du es herausgefunden. Noch hast du dir nicht angewöhnt, die Menschen, mit denen du zu tun hast, gründlich zu überprüfen, aber das wäre auch früher oder später gekommen.'
'Du bist ein wahrer Heiliger', dachte ich verbittert. Noel war nicht eingeschnappt, er blieb mitfühlend und tröstend.
'Das bin ich nicht, Toni. Bei weitem nicht. Ich habe ein paar Motive und Einstellungen, die einem Heiligen gut zu Gesicht stünden, aber auch genug Macken und Probleme, daß der Papst mich geflissentlich übersieht. Willst du ein paar wissen? Ich nehme viele Dinge zu locker. Wie die drei Mädchen, als sie noch bei mir waren. Ich habe überhaupt nicht daran gedacht, daß die Wesenheiten, die ich gerufen habe, den Kindern Angst machen. Nicht wie ein Buhmann, sondern wie eine reelle Bedrohung. Weiterhin kümmere ich mich kaum um andere Menschen. Ich helfe, wenn ich sehe, daß Hilfe gebraucht wird, aber das tue ich mehr aus dem Grund heraus, um meine Ruhe zu haben. Ich bin ein Egoist. Erst komme ich, dann alle anderen. Wenn Helm mich braucht, komme ich, aber mir wäre lieber, er würde mich nicht brauchen. Reicht?'
'Reicht', erwiderte ich schwach. 'Entschuldige bitte, Noel.'
'Du mußt dich nicht entschuldigen', dachte Noel herzlich. 'Menschen sind im Grunde Tiere, und da schließe ich uns beide nicht aus. Du hast bestimmt auch bei dir schon jede Menge Dinge festgestellt, die noch etwas Feinarbeit bedürfen. Aber so etwas über einen Menschen herauszufinden, mit dem man fast sein ganzes bewußtes Leben verbracht hat, ist ein gewaltiger Schock.'
'Was rätst du mir?' fragte ich hilflos.
'Du mußt dir darüber klarwerden, was du vom Leben willst, Anton. Anschließend kommt die Entscheidung, welche Menschen du um dich haben möchtest. Ist ziemlich kraß ausgedrückt, aber so ist es. Schönfärberei nützt gerade in Krisenzeiten niemandem.' Er machte eine kurze Pause. 'Und du solltest mich das fragen, weswegen du mich kontaktiert hast.'
'Du hast recht', seufzte ich. 'Also...'
Nachdem dies geklärt war, schrieb ich eine sehr lange eMail an Kerstin, in der ich ihr von den Veränderungen in unserem Heim berichtete. Ich schloß mit der Bitte, daß sie einen gleichartigen Check bei ihrer Mutter machen solle, auch wenn es höchstwahrscheinlich sehr schmerzen würde. Am späten Abend hatte ich die Antwort.
"Lieber Papi,
sei bitte nicht böse, aber nach deiner Mail habe ich Helm gebeten, mitzuhelfen. Wir haben gemeinsam die Dinge entdeckt, die du mir geschrieben hast, und noch einige mehr, die mit Biggi und mir zu tun haben. Da war es gut, daß Helm dabei war, denn ich habe tierisch geheult. Du wahrscheinlich auch, als du es herausgefunden hast.
Weißt du noch, als Noel bei uns war und mich gefragt hat, ob ich später mal heiraten und Kinder haben will? Da habe ich ihm doch geantwortet, daß auf mich etwas anderes wartet. Ich kann auch jetzt nicht sagen, was das ist, Papa, aber es ist da. Und schon damals habe ich geahnt, daß Mama nichts damit zu tun haben wird. Jetzt ist es eine Sicherheit, aber es tut mehr weh als die Ahnung damals.
Du bist erwachsen, und du bist mein Vater. Das sind zwei Gründe, warum ich dir keine Vorschriften machen darf. Aber ich bitte dich, irgendwelche Entscheidungen zu verschieben, bis ich wieder da bin. Machst du das? Wartest du bis Samstag? Bitte! Ich möchte nicht nach Hause kommen und nur noch die halbe Familie vorfinden." Bei diesen Worten spürte ich ihre Trauer, als stünde sie neben mir.
"Ich habe mit Helm gesprochen, Papi. Er hat mir sehr geholfen, damit klarzukommen. Nach dem Gespräch war mir klar, daß ich mich entscheiden muß, aber das kann ich im Moment einfach noch nicht. Ich weiß nur, daß ich Magierin sein möchte. Alles andere muß ich erst noch überdenken.
Ich liebe dich, Papi. Halt mich auf dem Laufenden, ja?
Deine Kerstin."
Ich sah den Brief an, als wäre er Kerstin, und flüsterte erstickt: "Was haben wir da bloß angeleiert, Bolzen?"

* * *

Wenn bestimmte Dinge erst einmal ins Rollen kommen, neigen sie dazu, eine Lawine auszulösen. An diesem Donnerstagmorgen mußte ich meine Kräfte gegen Vera richten, sonst hätte sie uns alle mit ins Verderben gerissen.
Wie ich erwartet hatte, kam sie nach dem Einkaufen aufgewühlt in mein Büro.
"Meine Scheckkarte ist ungültig!" rief sie aus. "Das Konto ist aufgelöst, Toni!"
"Ich weiß", erwiderte ich nach außen hin gelassen; nach innen hämmerte mein Herz wie ein Motor unter Vollgas. Vera erstarrte.
"Du - weißt?" flüsterte sie fassungslos.
"Ja. Setz dich bitte."
Sie ließ sich verwirrt auf die Kante meines Schreibtisches sinken.
"Hör bitte zu, Vera", begann ich ruhig. "Du weißt, daß im Moment nur das Einkommen der neuen Serie da ist, weil ich die alte abgegeben habe. Das Taschenbuch kommt erst kurz vor Weihnachten heraus. Derzeit liegt mein Einkommen nur minimal höher als früher. Das wird sich in Zukunft vielleicht ändern, aber vorerst müssen wir von dem jetzigen ausgehen und damit rechnen." Ich holte tief Luft. Vera verspannte sich, als sie merkte, worauf es hinauslief.
"Wir brauchen im Monat fast zweitausend Mark für Lebensmittel", erklärte ich. "Die beiden Autos kosten Geld. Benzin, Steuer, Versicherung, Reparaturen, und Rücklagen für ein neues. Das Haus kostet Geld. Versicherung, Anliegerkosten, Heizöl, Pflanzen für den Garten. Wir waren uns damals einig, daß Ians Geld aufgeteilt wird. Shannon überweist uns monatlich neunhundert Mark für das Essen für sie und ihre Schwestern. Kleidung und alles andere bezahlt sie von dem Konto, das sie hat, der Rest kommt auf die drei Sparbücher. Alles in allem sind wir nicht schwerreich, aber wir kommen gut über die Runden." Vera nickte vorsichtig.
"Deshalb", sagte ich weiter, "haben wir beide, du und ich, uns auch darauf geeinigt, daß dein Kleidergeld, wie wir es genannt haben, unverändert weiterläuft. Du kannst dir im Monat für eintausend Mark Kleidung und modische Artikel kaufen. Was wir aber nicht vereinbart haben, war ein Überschreiten dieser Grenze um die Summe, wie du für das Kleid ausgegeben hast."
"Und das heißt?" fragte sie bang.
"Das heißt, daß ich unser gemeinsames Konto gestern aufgelöst habe. Es ist gelöscht. Ich habe zwei neue Konten beantragt. Eins unter meinem Namen, eins unter deinem. Es ist alles vorbereitet; du mußt nur zur Bank fahren und unterschreiben. Die Scheckkarten werden in zwei Wochen kommen, bis dahin muß das Bargeld am Schalter abgehoben werden. Trotz dieses Wahnsinnskaufs habe ich dir zweitausend Mark überwiesen; exakt die Summe, die du monatlich für die Lebensmittel ausgibst. Ich denke, daß du diesen Monat kein weiteres Kleid oder Kostüm brauchen wirst."
"Was ist mit der dreiviertel Million?" fragte sie hart. Die Maske bekam Risse. Jetzt kamen wir voran.
"Die ist festgelegt. Du erinnerst dich, daß wir dieses Geld für ein neues Haus in zwei, drei Jahren vorgesehen haben. Deswegen wird auch niemand dieses Geld anrühren."
Vera wurde laut "Als deine Frau habe ich ein Anrecht auf die Hälfte -"
"Nein!" unterbrach ich sie. "Als meine Frau hast du ein Anrecht auf ein Taschengeld in Höhe von 10% meines Einkommens. Die eintausend Mark, die du bekommst, sind jedoch über 20%. Diese Regelung haben wir beide schon seit Jahren, bevor eine gesetzliche Regelung darüber überhaupt in Erwägung gezogen wurde."
Vera wurde kalt. Eiskalt und berechnend. Diese Veränderung war noch erschreckender als die bisherigen Erkenntnisse, weil sie nun ganz offensichtlich ihre Maske fallengelassen hatte.
"Damit kommst du nicht durch", sagte sie in bester Mafiamanier. "Ich habe einen Anspruch auf die Hälfte deines Vermögens. Ich werde dich fertigmachen, Anton. Wenn wir beide vor Gericht miteinander fertig sind, wirst du froh sein, wenn du noch Geld für ein Taschentuch hast! Daß du wegen Inzest und Unzucht mit Minderjährigen in den Knast kommen wirst, dürfte dir auch klar sein. Und daß du deine älteste Tochter für vier Tage zu einem völlig Fremden ins Ausland geschickt hast, wird dir das Genick brechen. Kein Sorgerecht, kein Besuchsrecht. Nichts." Sie stand auf.
"Du hast eine Stunde Zeit, wieder zur Vernunft zu kommen und mir die Hälfte von der dreiviertel Million zu überweisen. Wenn nicht, bin ich beim Anwalt. Und du wirst eine Stunde später in Untersuchungshaft sitzen. Von dir kleinem Proleten lasse ich mir nicht mein Leben kaputtmachen." Bleich vor Wut sah sie mich an.
"Wenn du denkst, ich lasse mich mit ein paar Mark abspeisen, wo ich ein Anrecht auf die Hälfte deines Vermögens habe, hast du dich gewaltig geschnitten, mein Lieber. Du wirst es noch bereuen, daß du dich mit mir angelegt hast. Du bist am Ende, Anton Tenhoff. Ganz tief unten. Du wirst nie wieder aufstehen, das schwöre ich dir."
Das war der Moment, wo ich nur noch handelte, ohne zu überlegen. Ich griff tief in Veras Gehirn, löste den Knoten, den Noel mir gezeigt hatte, und zerriß alle Verbindungen, die von diesem Knoten ausgingen. Dann verschmorte der Virus in ihrem Gehirn. Vera schrie auf vor Schmerz, als in ihrem Körper diejenigen Veränderungen, deren Zustandekommen mehrere Stunden gebraucht hatten, in Sekunden rückgängig gemacht wurden.
Als ich fertig war, lag sie zitternd auf dem Boden. Ich schickte eine kurze Warnung an die Kinder heraus, daß sie sich von meinem Büro fernhalten sollten, bevor ich mich um Vera kümmerte, die mich panisch anschaute.
"Du bist ab sofort kein Wolf mehr", sagte ich voller Zorn. "Vera, wir hätten das alles bestens und sauber unter uns regeln können. Ich möchte dir auch etwas schwören, meine Liebe: sobald du bei einem Anwalt sitzt und auch nur eine einzige Silbe gegen eines der Mädchen sagst, wirst du zum Idioten. Ich werde dein Gehirn so in die Mangel nehmen, daß du brabbelst wie eine Schwachsinnige. Du wirst diejenige sein, die Probleme bekommt. Also überleg dir verdammt gut, was du wem sagst. Ich werde immer in deiner Nähe sein, auch wenn du mich nicht siehst. Ich kann dir nur dringend empfehlen, die Mädchen aus deinem Spiel herauszulassen. Jede einzelne von ihnen ist glücklich, und du wirst das nicht zerstören. Was das Geld angeht, werden wir uns einigen, aber wenn du gegen ein einziges Mädchen vorgehst, bist du diejenige, die ganz unten sein wird. Du warst von Anfang damit einverstanden, was zwischen den Mädchen und uns abgeht, und du hast tatkräftig mitgemacht. Wenn du etwas darüber verlauten läßt, können wir uns die Zelle teilen. Und jetzt tu mir einen Gefallen und geh! Ich habe 20 Jahre meines Lebens unter völlig falschen Voraussetzungen mit dir zusammengelebt, Vera. Du mußt über den Schock mit dem Geld hinwegkommen, ich muß über den Schock mit dir hinwegkommen. Ich bin nicht mehr bereit, deinem Ideal einer Ehe nachzueifern. Ich habe meine Interessen, und denen werde ich folgen. Mehr habe ich dir nicht zu sagen." Ich wollte ihr auf die Füße helfen, doch Vera schlug meine Hand beiseite. Sie schleppte sich hinaus, stützte sich an der Schrankwand ab und kam hoch. Ihr Blick, den sie mir zuwarf, war voller Haß.
"Du kannst mir nicht drohen", sagte sie wutentbrannt. "Ich gehe zum Anwalt, mein Lieber, und dann bist du fällig. Sag dieser Hure Shannon schon mal auf Wiedersehen."
Eine Sicherung in meinem Kopf brannte durch, als sich die weitere Zukunft vor mir zeigte: Birgit und Kerstin ohne Vater, dafür mit einer Mutter, die nicht lieben konnte, und Shannon, Mandy und Becky wieder auf der Straße.
Nein. Das konnte ich nicht zulassen. Was aus mir wurde, war mir egal, aber die Kinder durften das nicht mitmachen. Auf keinen Fall.
Ich wollte gerade in Veras Geist eintauchen, als ich Kerstin vor mir sah, mit wütend blitzenden Augen.
'Laß mich das machen!' fauchte sie. Im gleichen Moment stöhnte Vera gequält auf und sank zu Boden. Ich schickte meine Sinne aus und fand Kerstin, die bestimmte Zentren bei Vera veränderte. Schließlich stand Kerstin geistig vor mir.
'Erledigt', sagte sie zu Tode betrübt. 'Papa, sie wollte Shannon, Mandy und Becky ins Heim stecken! Ich hab euch zugehört, und als ich das mitbekam, mußte ich was tun.'
'Was hast du mit ihr gemacht, Bolzen?' fragte ich erschöpft.
'Das siehst du gleich, Papi. Ich liebe dich.' Sie verschwand. Ich sank vor Vera auf die Knie und weinte um sie und um die letzten 20 Jahre.

 

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