|
* * *
Um zehn Uhr saßen wir in den Autos, um halb elf waren wir tief im Wald. Es war die erste volle Ferienwoche, und der Wald war herrlich leer. Wir gingen kreuz und quer über schmale und breite Wege, lachten und redeten, spielten Fangen und Verstecken, und die vier jüngeren Mädchen hatten einen Heidenspaß. Plötzlich war Shannon verschwunden. "Muß vielleicht mal Pipi", meine ich schulterzuckend. "Warten wir auf sie." "Ist gut." Vera schaute sich gelassen um und erstarrte. Ihre Hand krallte sich in meinen Arm. "Toni!" Ich folgte ihrem Blick und fand einen mächtigen schwarzen Wolf mit dunklen grauen Augen, der langsam aus dem Wald heraus auf uns zukam. Die vier Mädchen atmeten aufgeregt ein. "Ganz ruhig bleiben!" sagte ich leise. "Und nicht bewegen! Er wird euch nur jagen, wenn ihr weglauft." Die Mädchen drückten sich an uns, doch Angst hatten die vier nicht, ganz im Gegensatz zu meiner Frau. "Ich habe Angst!" Vera sah mich nicht an, aber ich konnte ihren Schweiß und ihre Angst riechen. Ein Jagdtrieb durchfuhr mich. Ich spürte, wie die Verwandlung beginnen wollte, und kämpfte sie nieder. Der Wolf kam näher. Sein Schwanz hing locker und entspannt herunter, seine Schnauze stand offen, die Zunge hing heraus. Veras Griff wurde immer härter, je näher der Wolf kam. Wir hörten sein schnelles Atmen. Seine Augen fixierten uns. Er blieb ganz dicht vor uns stehen. "Toni!" flüsterte Vera voller Panik. Sie zitterte am ganzen Leib. "Bleib ganz ruhig stehen, Liebes", ermahnte ich sie leise. "Er tut uns nichts. Seine Ohren stehen locker, sein Schwanz ist gesenkt, der Kopf auch etwas, und die Lefzen sind nicht zurückgezogen. Er hat wahrscheinlich schon gefressen und will uns nur beschnuppern." "Er wird uns fressen!" "Wird er nicht." Der Wolf kam auf mich zu. Veras Atem ging wie eine Dampfmaschine, als das Tier seine Schnauze zwischen meine Beine stieß und schnupperte. 'Ich liebe dich, Shannon!' dachte ich gerührt. Meine Hand ging zum Nacken des großen Tieres und kraulte ihn. Vera zog erschrocken die Luft ein, als der Wolf seine Schnauze an meinem Unterarm rieb und die Augen schloß. Sekunden später machte er sich frei und sah Mandy an, die ohne zu zögern in die Knie ging und das Tier umarmte. Becky kam sofort dazu und streichelte es. Der Wolf sah Kerstin an, die zögernd ihre Hand ausstreckte. Der Wolf roch daran, leckte darüber und stieß dann sanft dagegen. Kerstin strahlte uns an. Mandy stand auf, Kerstin nahm ihren Platz ein und strich dem Tier sanft über die Schnauze. "Toni!" Veras Stimme zitterte vor Panik. "Er tut nichts, Liebes", sagte ich leise. "Schau es dir doch an, Vera. Er tut nichts." "Kerstin - und Mandy - und Becky... Er wird sie töten, Toni! Das geht nicht gut!" "Doch, Liebes. Es geht gut." Kerstin umarmte den Wolf behutsam, der seine Schnauze kurz auf ihre Schulter legte. Birgit kam zögernd näher und legte ihre Hand auf seinen Rücken, dann kraulte sie ihn vorsichtig. Ihre Augen leuchteten wie die von Kerstin. Der Wolf hob den Kopf und sah Vera an, die noch steifer wurde. Er befreite sich von den Mädchen und stellte sich vor Vera hin, die Augen auf ihre gerichtet. Ein leises Knurren entfuhr ihm, fast wie eine Frage oder Aufforderung. Unbewußt streckte Vera ihre Hand aus. Der Wolf leckte darüber, schloß vorsichtig seine Zähne um ihren Unterarm und führte Veras Hand zu seinem Fell am Rücken. Vera zitterte vor Angst, als sie das Tier streichelte. Ich sah zwei leichte Kratzer auf ihrem Arm. 'Shannon!' dachte ich gerührt. 'Du bist einmalig!' Der Wolf machte eine Bewegung und richtete sich auf; seine Vorderläufe legten sich auf Veras Schultern. Sie wurde kreidebleich vor Angst, als sie die wahren Ausmaße des Tieres erkannte. Sein Kopf zuckte vor und seine Zunge fuhr über Veras Gesicht, dann ließ das Tier sich fallen und jagte zurück in den Wald. Vera brach ohnmächtig zusammen; ich konnte sie im letzten Moment noch auffangen.
"Ich glaub das immer noch nicht." Vera saß auf einer Bank, zu der ich sie getragen hatte, und war vollkommen aufgelöst. Ich drückte sie noch fester an mich. Die vier Mädchen vor uns plapperten durcheinander und hüpften aufgeregt herum. "Glaub es ruhig, Liebes. Du hast einen wilden Wolf gestreichelt." "Ja." Sie sah auf ihren Arm. "Und er hat mich gebissen." "Gebissen!" Ich küßte Vera auf die Wange. "Liebes, wenn er wirklich gebissen hätte, bräuchtest du in Zukunft nie wieder zu spülen." Vera wurde blaß. "Wäre mein Arm dann weg?" "Ja. Er wollte uns einfach nur kennenlernen." "Klar!" Etwas von Veras Humor kehrte zurück. "Ein wilder Wolf wollte uns kennenlernen. Riechen wir so wie sein Rudel?" Damit hatte sie mehr recht, als sie ahnte... "Keine Ahnung, Liebes. Aber -" "Oh mein Gott!" Vera fuhr voller Panik auf. "Wo ist Shannon? Hat der Wolf sie -" "Vera!" Ich zog sie wieder auf die Bank herunter. Aus ihrer Sicht war es eine gerechtfertigte Vermutung, aber ich konnte ihr schlecht die Wahrheit sagen. Noch nicht. "Wir hätten Shannon bestimmt schreien gehört, wenn es so wäre. Und die Schnauze des Wolfes war völlig sauber." "Darauf habe ich nun wirklich nicht geachtet." Vera sah mich unwillig an. "Toni, wie kannst du dabei nur so ruhig bleiben? Und woher nehmen die Mädchen die Frechheit, einen wilden Wolf zu umarmen? Toni, er hätte ihnen den Kopf abreißen können, verdammt noch mal! Herr im Himmel, weißt du, was ich für eine Angst ausgestanden habe?" Ja, dachte ich, ich habe es gerochen. "Ich kann es mir denken, Liebstes. Ich kann dir jedoch nur sagen, daß du auf deine Angst gehört hast. Die Mädchen und ich haben auf unser Gefühl gehört, und das sagte, daß dieser Wolf uns nichts tut." "Das stimmt." Mandy setzte sich zu Vera und sah sie ernst an. "Es gibt viele wilde Tiere, die spüren, ob Menschen gut sind, Vera. Außerdem töten Wölfe nicht, weil sie Spaß daran haben. Sie töten nur, wenn sie hungrig sind. Außerdem greifen sie nur dann an, wenn ihr Opfer eine Schwäche zeigt. Ich habe auch gespürt, daß er uns nichts tut. Ich war mir ganz sicher." "Hier steckt ihr!" Shannons fröhliches Lachen ließ uns aufsehen. Sie kam über den Weg auf uns zu getanzt und sah uns vorwurfsvoll an. "Laßt mich mitten im Wald allein. Also so was!" "Wo warst du?" fragte Vera sie scharf. Shannon sah sie erstaunt an, und da merkte ich, wie sehr sie sich verstellen mußte, um ihr Geheimnis nicht preiszugeben. Ihr Leben war zum großen Teil Schauspielerei; erst durch das Zusammensein mit uns konnte sie sich so geben, wie sie wirklich war. Ohne Geheimnisse, ohne Verstellen. Ohne uns und ihre Schwestern war jede Sekunde ihres Lebens Täuschung, Tarnung, Verstecken, Verheimlichen, Verbergen. War es das, was auf mich wartete? "Wie, wo war ich? Ich mußte mal! Ich habe Becky Bescheid gesagt." "Das stimmt", meldete Becky sich schüchtern. "Ich wollte es gerade sagen, als der Wolf kam." "Wolf?" Shannons Augen leuchteten auf. "Ihr habt einen Wolf gesehen?" "Gesehen?" Vera lachte ironisch. "Shannon, die Kinder haben mit ihm geschmust! Und ich bin vor Angst beinahe gestorben!" "Mann!" jammerte Shannon. "Den hätte ich auch gerne gesehen. Richtig geschmust?" "Wir haben ihn umarmt!" strahlte Kerstin. "Und er hat Muttis Gesicht abgeleckt!" "Ein Wolfskuß?" lachte Shannon. "Geil! Wie hat das geschmeckt, Vera?" "Nach Tod!" Vera atmete tief durch. "Entschuldige, Liebes. Ich wollte dich nicht anfahren. Ich bin nur ziemlich von der Rolle. Nur eine schnelle Bewegung von ihm, und eines der Kinder wäre tot gewesen. Mindestens eines." Es schüttelte sie heftig. "Wie sah er denn aus?" wollte Shannon wissen. "Ganz schwarz", lächelte ich. "Groß, gesund, kräftig, und einfach wunderschön. Mit ganz tollen dunkelgrauen Augen. Eine richtige Schönheit." "Ehrlich?" fragte sie leise. Ich nickte. "Ja, mein Liebling. Er sah wunderschön aus. Ein herrliches Tier. Zum Verlieben schön." "Toni!" Shannon fiel glücklich in meine Arme. Mandy und Becky lächelten versteckt, Kerstin schien etwas zu ahnen, und Birgit und Vera sahen uns erstaunt an. "Na, ich weiß nicht", sagte Vera schließlich. "Ich fürchte, ich werde nie wieder in den Wald gehen können." Shannon sah mich fragend an. Ich schüttelte unmerklich den Kopf. Sie nickte kaum wahrnehmbar und sah zu Vera. "Vera? Sollen wir nach Hause fahren? Oder möchtest du dich noch etwas ausruhen?" "Ich möchte verstehen, was das sollte!" Vera beugte sich mit blitzenden Augen vor. "Shannon, was um alles in der Welt bringt ein - ein ausgewachsenes Raubtier dazu, uns zu beschnuppern, mit Toni und den Mädchen zu schmusen und mir einen - wie sagtest du? - Wolfskuß zu geben? Wieso hat dieses Vieh uns nicht alle umgebracht?" "Ich muß mal!" lachte Mandy fröhlich. "Achtet nicht auf mich, ja?" Sie hüpfte hinter eine Reihe Büsche und verschwand aus unserer Sicht. Vera sah ihr sprachlos hinterher, während Shannon und ich uns erstaunt anblickten. Hoffentlich tat Mandy nicht das, was wir jetzt dachten. "Spinnen heute alle?" fragte Vera schließlich. "Oder liegt das an mir?" Noch bevor sie eine Antwort bekam, sprang ein weiterer Wolf aus den Büschen hervor, hinter denen Mandy verschwunden war. Er war nicht so mächtig und imposant wie der schwarze, aber immer noch eindrucksvoll genug, um Vera entsetzt aufschreien zu lassen. Sein Fell war rostrot und glatt. "Cool!" quietschte Becky begeistert und streckte die Arme aus. Es war wohl das erste Mal, daß Becky ihre Schwester Mandy als Wolf sah. Der Wolf sprang sie an und warf sie um. Becky umarmte ihn lachend und mit Armen und Beinen, während sie mit ihm herumtollte. Vera und unsere Töchter sahen entgeistert zu, wie Becky und der Wolf miteinander rauften. Der Wolf knurrte und winselte, bellte und jaulte, stieß Becky kräftig an und biß sie leicht, und die ganze Zeit über lachte Becky ausgelassen und trat und boxte und schubste den Wolf, der mitten im Toben aufsprang und gegen Kerstin prallte, die sofort auf den Boden fiel. Der Wolf stieß ihr seine Nase in die Seite und rollte sie über den Boden zu Vera hin, die bleich wie der Mond war und voller Todesangst zusah. Dann verschwand er mit drei mächtigen Sprüngen hinter den Büschen. Kerstin setzte sich lachend auf und klopfte sich den Staub ab. "War das spannend! Mutti, der wollte spielen! Der hat mich gekitzelt!" Vera riß Kerstin hoch und preßte sie an sich, dabei sah sie mich an. 'Was passiert hier?' fragten ihre Augen. 'Wieso sind wir plötzlich von Wölfen umgeben?' Shannon übernahm. Sie ging zu Vera und Kerstin und setzte sich neben sie. "Kerstin, hattest du Angst?" "Nein!" strahlte Kerstin. "Schon als der mit Becky gespielt hat, habe ich gemerkt, daß der auch nichts tut. Der wollte nur spielen und toben!" "Birgit, hattest du Angst?" Meine jüngste schüttelte den Kopf. "Ich hab mich nur erschrocken, als der so plötzlich da war. Angst hatte ich nicht." "Vera, hattest du Angst?" "Natürlich!" Vera atmete laut aus. "Shannon, entschuldige bitte, aber das war eine absolut überflüssige und blöde Frage! Hättest du keine Angst, wenn -" Sie brach plötzlich ab und sah Shannon tief in die Augen. "Du hattest keine Angst", stellte sie fest. "Ihr alle nicht. Warum nicht?" "Weil wir gespürt haben, daß die Wölfe uns nichts tun, Liebes." Ich setzte mich an ihre andere Seite. "Vera, Angst blockiert. Das hast du erlebt, als du dir damals den Finger gebrochen hast. Du warst regelrecht gelähmt vor Angst. Wie jetzt gerade. Ohne Angst hättest du wahrscheinlich auch gemerkt, daß es zwar Raubtiere sind, sie uns aber freundlich gesinnt waren." "Mehr als freundlich", sagte Kerstin. In ihrem Blick las ich erste Erkenntnis. Gut. Sehr gut. "Bin zurück!" hörten wir Mandy lachen. Sie kam fröhlich zu uns gehopst und strahlte uns an. "Hab ich was verpaßt?" "Nichts Wichtiges", seufzte Vera. "Nur einen weiteren Wolf, der ausgelassen mit Becky gespielt hat. War etwas ganz normales. Kommt ja alle Tage vor." "Echt?" strahlte Mandy. "Wie sah der aus? Auch schwarz?" "Nein, der war -" Vera kniff die Augen zusammen. "Mandy, du mußt ihn gesehen haben! Der kam genau an der Stelle zum Vorschein, wo du warst!" Mandy zuckte mit den Schultern. "Ich hab nichts gesehen. Vielleicht ist der vor mir abgehauen." "Und sein Fell hatte die Farbe deiner Haare." Veras Augen fuhren über Mandys Kopf, dann sahen sie zu Shannon. "Wie der schwarze die Farbe deiner Haare hatte, Shannon." "Und das heißt?" fragte Shannon gelassen. Vera blinzelte und schüttelte den Kopf, als wolle sie eine unbequeme Tatsache vertreiben. Oder sich gegen eine Erkenntnis wehren. "Das heißt, daß wir jetzt nach Hause fahren. Ich brauche einen Cognac." Auf dem Rückweg stellten Shannon und ich amüsiert fest, daß Vera nicht einen einzigen Blick neben den Weg warf. Sie dachte zu angestrengt nach, um Ausschau nach Wölfen zu halten.
* * *
Aus einem Cognac wurden drei, dann war Vera langsam wieder sie selbst. Sie erwähnte den Vorfall mit keinem einzigen Wort, doch ihre Blicke ruhten nachdenklich auf Shannon und Mandy. Jedoch, und das erfüllte mich mit sehr großer Erleichterung, wich sie den beiden nicht aus und lehnte auch das Schmusen mit ihnen nicht ab. Sie war nur sehr nachdenklich. Genau wie Kerstin, die sehr still neben mir saß, während ich Vera im Arm hielt und zärtlich streichelte. Kurz bevor es Essen gab, meldete Kerstin sich. "Papi? Können wir nachher mal was reden?" "Sicher, Kerstin. Hier, oder -" "Draußen. Im Garten." "Ist gut, mein Kleines. Sag Bescheid, wann." Kerstin sagte direkt nach dem Kaffee Bescheid. Wir gingen in den Garten und setzten uns auf die Wiese. Kerstin druckste nicht lange herum, sondern kam gleich auf den Punkt. "Shannon war der schwarze Wolf", sagte sie, ohne es als Frage klingen zu lassen. "Und Mandy war der andere, der rote." "Und wenn es so wäre?" fragte ich leise. "Hättest du dann Angst vor ihnen?" "Nein." Kerstin sah mich ratlos an. "Papi, ich - ich war neidisch, als ich plötzlich wußte, wer sie sind und was sie können. Ich möchte mich auch so verwandeln können wie sie." Sie sah traurig in Richtung Himmel. "Aber das kann ich wohl nie", murmelte sie. "Wir sollten uns melden, wenn uns was an den beiden stört, Papi. Mich stört, daß sie etwas können, was ich nicht kann. Was ich niemals können werde." "Komm zu mir." Ich legte meine Arme um sie und zog sie mit dem Rücken an meinen Bauch. Kerstin ergriff meine Unterarme und hielt sich daran fest. "Kerstin", begann ich vorsichtig. "Wenn du jetzt feststellen würdest, daß du das auch kannst, was würdest du dann tun?" "Laufen!" erwiderte sie ohne zu zögern. "So schnell laufen wie ein Wolf. So toben wie Mandy und Becky vorhin. So schmusen wie Shannon vorhin. Und alles riechen, was so in der Luft ist." Sie sah mich an, ihre Augen schimmerten ganz leicht rötlich. "Und einen Wolf suchen", flüsterte sie, "mit dem ich mich paaren kann. Bin ich verrückt?" Der rote Schimmer verstärkte sich und verschwand. Glücklich preßte ich Kerstin an mich. "Nein, Kerstin. Du bist nicht verrückt. Du bist meine Tochter." "Ich weiß." Sie atmete laut aus. "Aber was hat das mit -" Sie erstarrte in meinem Arm. Ein paar Sekunden lang blieb sie still, dann drehte sie sich zu mir. "Deine Tochter", wiederholte sie flüsternd. Ich nickte lächelnd. Kerstins Augen glitten über mein Gesicht, während sich ihres voller Hoffnung erleuchtete. "Wir können das auch?" flüsterte sie. "Du kannst das auch?" "Ja, Kleines. Ich lerne es heute abend, und du wirst es auch bald schon können." "Papa!" strahlte sie überwältigt. "Wann?" "Schon sehr bald, Bolzen. Ein paar Tage noch, schätze ich." "Geil!" Sie drückte mich stürmisch. "Kann Mami das auch? Und Birgit?" "Birgit wird noch etwas Zeit brauchen, genau wie Becky. Vielleicht noch ein Jahr. Mami... Das wissen wir noch nicht, Kerstin. Shannon weiß sehr viel mehr darüber, und sie ist gerade dabei, sich schlau zu machen. Erinnerst du dich, wie -" "Toni?" rief Shannon vom Haus her. "Kommst du mit Kerstin mal bitte rein?" "Was denn jetzt?" fragte Kerstin, als sie aufstand. "Wir werden es gleich erfahren." Der Grund war Vera. Ausdruckslos zeigte sie mir ihren Arm. Die beiden Kratzer waren verschwunden, die Haut war wieder völlig glatt. Ich sah Shannon an, die voller Glück lächelte. Es hatte geklappt! Vera war jetzt ein Teil von uns. Eine unvorstellbare Erleichterung erfüllte mich, Vera nicht zu verlieren. "Na schön!" knurrte Vera. "Ihr zwei wißt Bescheid, wie ich sehe. Seid ihr so lieb und weiht mich in euer kleines Geheimnis ein? Toni, du weißt am besten, wie lange Wunden bei mir brauchen, bis sie verschwunden sind. Also: was geschieht hier?" "Du willst es wissen?" Shannon sah sie direkt an, ihre braunen Augen hatten einen so intensiven Blick, wie ich es bei ihr noch nie gesehen hatte. Wenn ich nicht gewußt hätte, wer und was sie war, hätte ich Angst vor ihr bekommen. Vera bekam jedoch keine Angst. "Ja, ich will es wissen. Und zwar auf der Stelle." "Dann sieh her." Shannon riß sich die Kleider vom Leib und ging auf die Knie. Vera wollte gerade aus der Haut fahren, als Shannon sich veränderte. Sie stöhnte leise, als sich ihre Knochen und Gelenke in eine neue Form brachten, als ihre Haut Fell produzierte, als ihre Arme und Beine sich in die Läufe eines Wolfes verwandelten, doch ich hätte nicht sagen können, ob sie vor Schmerzen oder vor Lust stöhnte. Schockiert tastete Vera nach mir und drückte sich an mich, während Kerstin und ich voller Faszination und Erregung zusahen, wie aus Shannon in weniger als einer Minute ein reinrassiger, schwarzer Wolf wurde, der mitten in unserem Wohnzimmer stand und Vera ansah. Dann öffnete Shannon die Schnauze und ließ ein lautes, erregtes Heulen los, das für den freien Wald bestimmt war, in unserem Wohnzimmer jedoch ohrenbetäubend klang. "Papa!" stöhnte Kerstin, als würde sie gleich einen Orgasmus bekommen. "Wehr dich dagegen", sagte ich leise. "Du kannst es bremsen, Kerstin." Auch ich mußte mich heftig gegen den Wunsch, mich zu verwandeln, wehren. Aber ich wollte Shannon dabei haben; ich hatte etwas Angst, es alleine zu tun. Shannon verwandelte sich zurück, und das schien viel schmerzhafter zu sein als die Verwandlung in den Wolf. Und es dauerte länger, fast doppelt so lang. Erschöpft hockte Shannon schließlich auf allen Vieren auf dem Boden, das Gesicht gesenkt, und schwer atmend. "Oh mein Gott!" flüsterte Vera entsetzt. "Oh mein Gott!" Ich führte sie zur Couch und setzte sie hin. Kerstin kniete sich neben Shannon, die langsam wieder fit wurde, und streichelte ihre Haare. "Es ist nicht so schlimm, wie du denkst, Liebes", sagte ich zärtlich. "Es ist ein sehr intensives Gefühl von Leben." "Sie ist ein Werwolf!" Vera sah mich voller Panik an. "Toni, wir - wir haben einen Werwolf im Haus!" Ich zuckte mit den Schultern. "Nicht so schlimm wie Küchenschaben." Vera sah mich vollkommen fassungslos an. Ich kannte Vera und wußte, wie ich sie zu nehmen hatte; außerdem halfen ihr lockere Sprüche jetzt mehr als vernünftige Gespräche. "Das ist mein Ernst", lächelte ich. "Überleg doch mal, welche Vorteile das hat, Liebes. Wir brauchen keine Alarmanlage, keinen Wachhund, kein Hundefutter, keine Hundesteuer... Möchtest du heute abend mit Shannon Gassi gehen, oder soll ich?" "Toni!" schrie Vera völlig außer sich. "Rede nicht so mit mir, verdammt! Wir können sie nicht hierbehalten!" "Dann müssen wir auch Mandy rausschmeißen." Ich sah Vera ernst an. "Und Becky. Und mich. Und Kerstin. Und Birgit. Und dich. Kerstin? Holst du mir bitte mal ein scharfes Messer aus der Küche?" "Ja!" Sie lief los, während Vera mich bleich wie ein Gespenst anstarrte. Sekunden später reichte Kerstin mir ein kleines Tomatenmesser. Ohne zu zögern ritzte ich mir damit die Haut am Unterarm. Sofort floß Blut. "Toni!" Veras Erstarrung fiel von ihr ab. "Du hast den Verstand -" Ihre Augen weiteten sich, als sie sah, wie der Schnitt sich langsam schloß. Es dauerte nicht ganz zwei Minuten, dann war der Schnitt ohne die kleinste Narbe verheilt. Shannon wiederholte das Experiment bei sich, mit dem gleichen Ergebnis. Veras Augen wurden riesengroß, als sie erst meinen Arm, dann den von Shannon und schließlich ihren betrachtete. Endlich dämmerte Verstehen in ihren Augen. Shannon und ich begannen, lange und eindringlich mit Vera zu reden.
Kapitel 10 - Freitag, 02.07.1999
Nach dem Frühstück versammelten wir uns alle im Wohnzimmer, auf Shannons Wunsch. Als wir saßen, sah Shannon uns der Reihe nach und ernst an. "Für euch wird das sehr wichtig sein, was ich sagen werde. Meldet euch bitte sofort, wenn ihr etwas nicht versteht. Becky, Birgit, ihr beide hört erst einmal zu, wir können uns dann hinterher noch weiter unterhalten. Wir sind Wölfe, Vera. Keine Werwölfe. Ein Werwolf ist per Definition ein Mensch, der bei Vollmond zum Wolf wird. So etwas sind wir aber nicht. Wir sind durch eine verrückte Laune der Natur mit zwei Leben ausgestattet. Einem menschlichen und einem wölfischen. Die Verwandlung liegt unter unserer Kontrolle, und wir behalten auch den gegenteiligen Aspekt unserer Persönlichkeit jederzeit bei. Als Mensch überwiegt der Mensch in uns, als Wolf der Wolf, aber es sind immer beide Aspekte vorhanden. Mandy, für dich ist das noch sehr neu und ungewohnt und auch sehr aufregend, aber du mußt vorsichtiger sein, wo du dich verwandelst. Menschen haben keine Hemmungen, Wölfe zu erschießen. Ich habe keine Ahnung, wie unsere Regeneration abläuft, wenn wir schwer verwundet werden, aber ich denke, daß wir genauso sterben können wie alle anderen Menschen oder Tiere. Ich will es nicht unbedingt ausprobieren. Klar?" Das Rudel nickte. "Gut. Vera, wie schaut's aus? Wie geht's dir?" "Verwirrt." Vera lächelte schief. "Sehr verwirrt sogar." "Kann ich gut verstehen", grinste Shannon. "Du hättest mich sehen sollen, als ich beim ersten Mal plötzlich wieder ein Mensch wurde und ein frisch gerissenes Kaninchen im Mund hatte... Ich habe mich übergeben wie ein Weltmeister. Toni wollte eigentlich gestern seine erste Verwandlung durchführen, aber du warst uns sehr viel wichtiger. Beschreibe mir mal bitte, wie du dich fühlst, Vera. Möglichst präzise, und ganz ehrlich." "Tja... Voller Kraft. Sicherer. Selbstbewußter. Ich spüre Gehorsam, wenn ich dich oder Toni ansehe. Ich spüre Schutz, wenn ich die Mädchen ansehe. Etwas in mir vibriert vor Energie." Sie überlegte angestrengt, von uns aufmerksam beobachtet. "Es sind zwei Wesen in mir, aber beide werden von mir kontrolliert. Ohne Probleme. Ich weiß jetzt, daß ich mich verwandeln kann, wann und wo ich will. Die Schmerzen, wenn ich ein Wolf werde, sind locker zu ertragen. Es ist sogar irgendwie erregend. Aber die Rückverwandlung... Wenn ich all meine scharfen Sinne verliere, tut das etwas weh. Dauert es deswegen länger?" "Genau, Vera. Der Wolf in dir wehrt sich dagegen, wieder Mensch zu werden, genauso wie der Mensch sich wehrt, Wolf zu werden. Und da Wölfe stärker als Menschen sind..." Sie hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. "Man gewöhnt sich aber dran. Ich bin jetzt seit über zwei Jahren ein Wolf und hatte kein einziges Mal Probleme, wieder Mensch zu werden. Auch deswegen sehe ich uns nicht als Werwölfe an, denn laut der Dinge, die ich gelesen habe, wird der Wolf immer stärker und übernimmt schließlich den Menschen vollständig. Und das geht viel schneller als diese zwei Jahre." "Shannon, wieso ging das bei mir so schnell? Du hast mich gestern vormittag - infiziert, und abends konnte ich mich schon verwandeln. Wie kommt das?" "Das liegt am Blut, Vera. Ich war letztes Jahr beim Arzt, wegen einer gynäkologischen Untersuchung, und der Arzt wollte mich wegen meines Blutbildes gleich in ein Krankenhaus stecken. Wenn ein Werwolf - ich muß es jetzt mal so nennen - einen Menschen beißt, und sei es auch noch so leicht, kommt dieser - dieser Virus, obwohl es eigentlich keiner ist, über den Speichel des Wolfes in den Blutkreislauf des gebissenen Menschen und wird dort innerhalb von Sekunden im Körper verteilt und beginnt auch direkt, sich zu vermehren und die Organe zu besetzen. Nach etwa einer Stunde hat er sich im Gehirn eingenistet und kann dann schon die Verwandlung steuern. Die körperliche. Das geistige Verständnis für das, was da abläuft, dauert natürlich wesentlich länger. Wie gesagt, es ist kein Virus in diesem Sinne. Es ist mehr ein Bestandteil des Blutes, der eigentlich nur bei Wölfen vorkommt. Mein Arzt hat deswegen sofort Tollwut bei mir vermutet und wollte mich nicht nur ins Krankenhaus stecken, sondern auch noch das Gesundheitsamt informieren, damit Mandy, Becky und Daddy auch eingeliefert werden." Sie sah mich sehr traurig an. "Das konnte ich einfach nicht zulassen, Liebster." "Ich verstehe dich, mein Liebling." Auch Vera verstand, doch mit ihrem neuen Wissen konnte sie es wesentlich besser verarbeiten als früher. Shannon lächelte dankbar. "Dazu eine Frage", meldete sich Kerstin. "Wenn wir als Wolf angegriffen werden, also von einem Menschen, wie können wir uns dann wehren? Ich meine, damit wir ihn nicht anstecken?" "Das Genick durchbeißen", erwiderte Shannon ruhig. "Und zwar so, daß der Kopf vom Körper getrennt wird. Danach hat auch die Regeneration keine Chance mehr. Glaubt mir das einfach." "Aber Tiere werden nicht damit infiziert?" fragte ich. "Nein, mein Liebster. Nur Menschen. Der Metabolismus von Menschen und Wölfen ist, was das Blut angeht, in diesem Punkt äußerst verträglich, aber mit anderen Tieren verträgt sich diese Komponente nicht. Oder hat schon mal jemand etwas von Werhasen oder Werhirschen gehört?" "Killertomaten!" kicherte Mandy. "Das schon eher." Shannon wurde wieder ernst. "Deswegen dürft ihr niemals einen Menschen beißen. Wenn ihr gegen einen kämpfen müßt, dann bringt ihn so um, wie ich gerade gesagt habe, doch laßt ihn um Himmels willen nicht am Leben. Aber versucht bitte immer, so einem Kampf aus dem Weg zu gehen. Wenn Menschen getötet werden, folgen massive und großartige Untersuchungen, und damit haben wir die Probleme am Hals. Fragen dazu? Gut. Vera, du wirst feststellen, daß du in Zukunft mit weniger Schlaf auskommen wirst. Letzte Nacht warst du einfach fertig wegen der vielen neuen Eindrücke, aber diese Nacht wirst du nur noch so lange schlafen wie wir." "Na toll!" knurrte Vera. "Noch mehr Zeit für den Haushalt." "Wir sind ja bei dir!" grinste Shannon. "Ein letztes noch. Vera, hier im Haus habt Toni und du das Sagen. Wenn wir Wölfe sind, haben Toni und ich das Sagen." Ihre Augen glitzerten kalt. "Du kannst als Wolf versuchen, meinen Platz einzunehmen, aber dann mußt du mit mir darum kämpfen. Als Mensch kann ich dir die Folgen dieser Handlung in Ruhe erklären; als Wolf würde ich mich sofort auf dich stürzen, bis du aufgibst." "Und wenn du aufgibst?" fragte Vera schmunzelnd. Shannon zuckte nur mit den Schultern. "Wenn ich ein Wolf bin", sagte sie leise, aber mit tödlichem Ernst, "bin ich ein Wolf. Wir werden heute abend eine gemeinsame Tour machen. Toni, heute abend folgst du mir bitte noch, ab morgen bist du der Alphawolf." Ich nickte lächelnd. Shannon klärte die Truppe noch über die Rangfolge im Rudel auf, dann war unsere erste Sitzung als zukünftige Wölfe beendet. Direkt nach der Versammlung meldete sich Mandy und schleppte mich in ihr Zimmer. "Und nun?" fragte ich, als wir angekommen waren. "Hierher kommen!" Sie klopfte auf das Bett. "Hinlegen! Vorher aber ausziehen!" Kurz darauf lag ich nackt in ihrem Bett. "Und was hast du jetzt mit mir vor?" "Was Schönes!" Ihre Augen wurden noch grüner, als sie schon waren, und schlugen plötzlich in ein eiskaltes Blau um. Aus ihrer Kehle drang ein leises Knurren. Genauso schnell war es wieder vorbei; Mandy war wieder sie selbst. "Ich will dich so sehr!" flüsterte sie erregt, während sie ihre Kleider abwarf. "Ich will mit dir schlafen, Toni! Hier und jetzt!" "Sanft oder rauh?" flüsterte ich. Mandy warf sich der Länge nach auf mich. "Weiß ich nicht. Kenn ich ja auch nicht. Mach einfach mal." "Bleibst du Mensch, oder wirst du Wolf?" "Ich bleib Mensch." Sie dachte kurz nach. "Ich versuch's jedenfalls!" kicherte sie dann. "Nein, ich bleib Mensch. Ich will das erst mal so versuchen. Shannon sagt, sie wäre fast abgedreht. War's so toll?" "Es war unglaublich schön." Ich küßte sie zart. "Und so wird es auch für dich werden, mein Süßes." Mandy drückte mich, und im gleichen Moment klopfte es an der Tür. "Kann ich rein?" hörten wir Kerstins Stimme. "Klar!" rief Mandy. Kerstin huschte in das Zimmer und schloß die Tür hinter sich. Als sie Mandy und mich nackt auf dem Bett sah, leuchteten ihre Augen auf. "Hab ich doch richtig gespürt! Darf ich zusehen, Papi?" "Von mir aus gerne, Bolzen. Mandy?" "Sicher! Wann willst du es tun, Kerstin?" "Ganz bald! Shannon sagte, wenn ich mich paaren will, bin ich bereit für den Wolf. Stimmt das?" Mandy nickte mit leuchtenden Augen. "Genau! So war's bei mir auch! Ich wollte Toni haben, aber ich wußte nur noch nicht genau, wann. Und in der Nacht ging's los. War irre!" "Cool!" Die beiden Mädchen umarmten sich lachend. Anschließend setzte Kerstin sich vor das Bett und sah zu, wie ich Mandy von der Stirn bis zu den Zehen küßte. Als ich mich zwischen ihren Beinen versenkte, kannte Kerstin sich noch aus. Ich spürte ihre Hand in meinem Nacken, während ich Mandy zu einem Orgasmus leckte. Mandy kam schnell und hart. Ihr Höhepunkt war noch nicht ganz zu Ende, als ich vorsichtig in sie eindrang. Kerstin setzte sich neugierig auf. Mandy war so alt wie sie, und bei ihr zuzusehen brachte ihr mehr Sicherheit, als mich mit ihrer Mutter zu beobachten. Auch wenn ich nicht tief in mir gespürt hätte, daß Mandy noch Jungfrau war, hätte ich es spätestens beim Eindringen gemerkt. Mandy war höllisch eng; so eng, daß es fast schon wehtat, doch sie ging voll mit. Sie zog ihre Schamlippen auseinander, um mir zu helfen, kam mir Stoß für Stoß entgegen, und selbst das Durchstoßen ihres Hymens verursachte ihr keinerlei Schmerzen. Je tiefer ich ging, um so tiefer wurde auch Mandys Stimme, bis sie am Ende, als ich endlich ganz in ihr war, nur noch ein heiseres Knurren war. "Wow!" flüsterte Kerstin überwältigt. "Papa, ihre Augen!" "Ich weiß, Bolzen." Mandy streckte sich, um mir einen Kuß zu geben; ihre Augen glitzerten kalt und animalisch in einem ganz klaren Eisblau. "Jetzt geht's los, mein Süßes", flüsterte ich. "Bereit?" "Immer!" Ein heiseres Grollen folgte dem Wort. "Papa! Ich kann's gleich nicht mehr stoppen!" "Laß es laufen, mein Süßes. Ich liebe dich." "Ich dich auch." Ihr Gesicht verformte sich leicht und wurde wieder normal, begleitet von einem tiefen, kehligen Knurren. Auch ich spürte die Energie in mir und begann. Mandy stöhnte bei jedem tiefen Stoß, mit denen ich sie in die Matratze drückte, kehlig auf. Ihre enge Scheide erregte den Menschen in mir, ihr Grollen und Knurren den Wolf. Ich wurde schneller und härter. Meine Sinne schärften sich. Ich wußte, wann Mandy zum letzten Mal auf Toilette gewesen war, daß Kerstin vor weniger als sechzig Minuten an sich herumgespielt hatte, daß Becky gerade einen Orgasmus bekam und Birgit auch kurz davor war. Ich roch Veras Nagellack, die neuen Pflanzen, die darauf warteten, im Beet untergebracht zu werden, und Mandys heißen Atem. "Ich auch!" knurrte sie heiser. "Ich rieche auch alles!" Ihre Hände krallten sich in meinen Rücken. Ich spürte Fingernägel, Krallen, wieder Fingernägel. "Papa!" winselte sie. "Das ist so schön!" Sie bleckte die Zähne. Es war erregend, zu sehen, wie sich ihr ganzes Gesicht andauernd verformte. "Deins auch", keuchte sie. "Papa! Ich komme gleich!" Sie schlang ihre Beine um meine Hüfte und stieß ihr Becken immer wieder hechelnd gegen mich. Ohne weitere Vorwarnung kam sie, mit einem leisen Jaulen, das immer stärker wurde und plötzlich abbrach. Ihre Scheide krampfte sich um mein Glied und brachte es zur Explosion. Ich stieß wieder und wieder in sie, bis ich nicht mehr konnte. Ausgepumpt sank ich auf sie. Mandy drehte schnell den Kopf zur Seite und umarmte mich mit aller Kraft. "Wow!" flüsterte Kerstin. "War das geil!" Ihre Hand legte sich auf meinen Hintern und streichelte ihn sanft. Ich sah ihre Augen, die in einem tiefen, satten Rot erstrahlten. "Morgen!" flüsterte sie. "Morgen früh." Ich nickte mit einem erschöpften Lächeln. Kerstin verstand. Sie gab mir einen dicken Kuß auf den Mund und stand auf. "Reden wir nachher darüber." Sie lief schnell hinaus. Mandy und ich blieben noch ein paar Minuten liegen; mein Gewicht störte sie nicht. "Das war herrlich", flüsterte Mandy glücklich. "Mein neuer Papa!" "Meine neue Tochter." Wir küßten uns zärtlich. "Hat es dir wirklich gefallen, mein Süßes?" "Ja. Alles. Bin ich dir auch nicht zu häßlich? Weil ich noch keinen Busen und so habe?" Sie schaute mich besorgt an. "Natürlich nicht, mein Süßes. Ich liebe dich so, wie du bist." Mandy umarmte mich glücklich.
* * *
"Eine Woche sind sie jetzt hier." Vera kuschelte sich auf der Couch an mich. "Eine Woche erst. Toni, was wird in den nächsten zwei Wochen noch alles passieren?" "Lassen wir uns überraschen", schmunzelte ich. Vera erschrak. "Um Himmels willen, nein! Nicht noch mehr Überraschungen!" "Sag bloß, es gefällt dir nicht, ein Wolf zu sein?" "Doch." Sie gab mir einen Kuß. "Das gefällt mir sehr. Ach, wenn man vom Teufel spricht..." Ich sah auf und fand Shannon, die mich zärtlich anblickte. "Es wird Zeit." "Ja." Ich stand auf. "Wo?" "Im Keller." Sie nahm meine Hand und ging mit mir hinunter in den Waschkeller, wo sie die Tür hinter uns schloß. "Was muß ich tun?" fragte ich nervös. "Die Leine loslassen", erwiderte Shannon leise. "Und wenn du zurück willst, die Leine wieder anziehen. Der Mensch in dir wird immer da sein, Toni. Das ist alles, was ich dir erklären kann. Den Rest mußt du selbst herausfinden." Sie lächelte mich aufmunternd an. "Du schaffst das schon." "Ich habe trotzdem etwas Angst", gestand ich. Shannon nickte. "Das ist auch gut so. Dadurch bleibst du wachsam und aufmerksam. Übrigens, Mandy hat fast überhaupt keine Schmerzen dabei. Warum das so ist, weiß ich noch nicht; das muß ich erst herausfinden. Das scheint bei jedem unterschiedlich zu sein. Fang an, wenn du bereit bist." "Ist gut, mein Liebling." Ich begann, mich auszuziehen, und hielt sofort wieder inne. "Shannon? Wieso wolltest du, daß wir jetzt doch wieder Kleidung tragen?" "Nur damit ihr euch erst mal an die Verwandlung gewöhnt, Liebster. Wenn wir nackt sind, kann es passieren, daß es urplötzlich einsetzt, und wenn ihr noch ungeübt seid, wird es schwierig für euch, damit umzugehen. Deswegen. Sobald du es geschafft hast, können wir darauf verzichten." Sie lächelte mich an. "Jetzt, da du dich ausziehst, gehst du bewußt an die Verwandlung heran. Jede Bewegung ist eine Vorbereitung dafür. Das ist der Sinn dahinter." "Verstehe, meine Alpha." "Mein Alpha!" flüsterte sie verliebt. "Toni, heute nacht jagen wir zusammen, ja? Mit Mandy und Vera. Möchtest du das?" "Ja, mein Liebling. Können wir Kerstin mitnehmen? Sie sagte, sie will morgen mit mir schlafen, und ihre Augen glühten tiefrot, als sie es sagte." "Natürlich. Dann werden wir uns gleich um sie kümmern und sie auch zum Wolf machen. Dann sind wir fünf. Schon ein kleines Rudel. Wird das schön!" Sie warf sich in meine Arme. "Toni, ich bin so glücklich!" "Ich auch, mein Liebling. Ich leg los, ja?" "Tu das." Sie ging zwei Schritte zurück. Ich atmete tief durch und zog mich bewußt aus, mit jeder Bewegung daran denkend, daß ich gleich ein Wolf sein würde. Ich spürte die Energie in mir wachsen und steigen. Als ich nackt war, ging ich, wie ich es bei Shannon und Vera gesehen hatte, auf die Knie, und im gleichen Moment setzte es ein. Ich stöhnte laut, als Knochen, Muskeln, Sehnen, Nerven und Gewebe sich verformten, und fiel auf die Hände. Vor meinen Augen war nur noch ein roter Nebel, durch den ich nichts mehr sah. Ein Teil von mir notierte es als Schwachstelle und merkte sich, mich niemals zu verwandeln, wo es nicht sicher war. Mein Körper wurde innerhalb von Sekunden in eine neue Form gepreßt, und in meinem Gehirn öffneten sich Türen über Türen. Ein tief vergrabenes Wissen stieg auf, kam in den Vordergrund und überlagerte das menschliche Wissen. Ich wunderte mich kurz, daß ich keinen Schmerz, sondern nur extreme Lust verspürte, dann lichtete sich der Nebel. Vor mir sah ich Shannon; mein Blick war genau auf ihren Bauch gerichtet. Ich hob den Kopf und sah sie an. Meine Liebe zu ihr drückte sich in einem leisen Knurren aus. "Toni!" Ich spürte die Worte mehr, als daß ich sie hörte. Ich spürte ihre Bewunderung, die sie mir entgegenbrachte. Sie kniete sich hin und streckte ihre Arme nach mir aus. Neue, unbekannte Muskeln nahmen ihre Arbeit auf. Unter meinen Pfoten spürte ich die Beschaffenheit des Bodens und war mir sofort im Klaren darüber, wie ich mich bewegen mußte, wie schnell ich welche Bewegung höchstens angehen durfte, um nicht zu rutschen. Mein Körper war voller Kraft und neuem Bewußtsein, eine perfekte Maschine für die Jagd. "Mein Toni!" Shannon legte ihre Arme um mich. Ihre Berührung tat mir gut, aber sie war nicht ganz das, was ich wollte. "Warte!" Schnell zog sie sich aus und kniete sich hin. Wenig später drückte sie sich an meine Seite und knurrte leise. Nun stimmte es. Sie rieb sich an mir entlang und legte sich vor mir auf den Boden. Ich stupste sie sanft mit der Nase an, knickte meine Läufe ein und legte meinen Kopf auf ihren. Tat das gut! Ein Gefühl von Ruhe und Entspannung, wie ich es nur selten erlebt hatte, durchfuhr mich. Der Ruf des Menschen in mir wurde laut. Knurrend erhob ich mich. Ich ergriff die Leine und zog sie an. Ein kurzer, intensiver, heißer Schmerz fuhr durch meine Nerven, als mein Körper sich zurückbildete und die Türen in meinem Gehirn sich schlossen, dann war ich wieder Mensch. Ich blinzelte mehrmals, um mich an das verschwommene Bild zu gewöhnen, das meine menschlichen Augen mir lieferten, dann war mein Sehvermögen wieder normal. Aber weit weniger ausgeprägt als das, was die Augen des Wolfes sahen. Ich bemerkte Shannon, die winselnd vor mir hockte und auch wieder Mensch wurde. Keuchend kam sie schließlich zur Ruhe. "Alles in Ordnung?" fragte ich besorgt. Sie nickte matt. "Ja. Geht gleich." Ich hielt sie im Arm, bis sie wieder Kraft hatte, sich aufzurichten. Sie sah mich erstaunt an. "Toni, du warst unglaublich schnell! Mandy ist schon um einiges schneller als ich, aber du... Wahnsinn! Hat es wehgetan?" "Nein, Liebling. Nur beim Zurückverwandeln ganz kurz, aber selbst das war nicht so schlimm. Daß ich jetzt viel weniger sehe und höre und rieche und mich vollkommen schwach und unbeweglich im Vergleich zu vorher fühle, ist viel schlimmer. Ich komme mir irgendwie... abgeschnitten vor!" "Und wie fühlst du dich jetzt?" Meine Augen wurden feucht. "Glücklich. Eins mit mir und mit dir." "Ich liebe dich auch!" flüsterte sie bewegt. "Wir ruhen uns noch etwas aus, dann gehen wir zu Kerstin." "Und dann auf die Jagd." Meine Sinne erwachten schlagartig. "Genau!" Erregt drückte sich Shannon an mich.
* * *
Ich hatte bisher nicht viele Verwandlungen gesehen, aber an diesem Abend wurde der Rekord aufgestellt. Shannon trainierte uns regelrecht und stellte dabei fest, daß Kerstin und ich uns innerhalb von acht Sekunden verwandeln konnten. In beide Richtungen. Kerstin spürte wie ich nur bei der Rückverwandlung einen schnellen, intensiven Schmerz, aber die Freude, ein Wolf zu sein, war diesen Schmerz mehr als wert. "Ich glaub das nicht!" lächelte Shannon verliebt, als wir uns im Schutz einer Baumgruppe wieder in Menschen verwandelt hatten. "Toni, kannst du mir etwas von deinem Blut abgeben? Du und Kerstin verformt euch, als wärt ihr aus Gummi!" "Wenn ich wüßte, woran es liegt, würde ich mit Freuden mit dir tauschen, mein Liebling." Ich nahm sie in die Arme und drückte sie. "Ich weiß wirklich nicht, warum das bei uns so schnell geht, Shannon. Ich kannte bisher nur die Szenen aus Filmen, wo die Leute sich schreiend und stöhnend am Boden wälzen, wenn sie zum Wolf werden, und dachte irgendwie, daß das auf mich auch zukommen würde... Ich weiß es wirklich nicht, mein Liebling." "Ja, man könnte wirklich neidisch werden", lächelte Vera. "Aber bei mir liegt es einfach daran, daß ich so ungern wieder Mensch werde. Mandy, wie ist es bei dir?" "Es tut weh, wenn ich Mensch werde", erwiderte Mandy sachlich. "Aber auch bei jedem Mal weniger." "Das war ein sehr gutes Stichwort, Vera." Ich sah Shannon an. "Liebling, wie ungern wirst du wieder Mensch?" "Sehr ungern", bekannte sie. Dann klickte es. "Meinst du..." "Vielleicht, Shannon. Mir macht beides Spaß. Kerstin? Was ist mit dir?" Kerstin lachte hell. "Ich finde das Verwandeln am Tollsten! Das könnte ich stundenlang machen. Aber ich fühl mich auch bei beidem wohl." Shannon nickte nachdenklich. "Könnte sein. Das könnte wirklich sein. Toni, da reden wir nachher im Traum nochmal drüber, ja? Da kann ich besser denken. Okay!" Sie klatschte leicht in die Hände. "Ihr habt vorhin gewittert, daß hier in der Gegend Rehe sind. Mandy, Kerstin, ich weiß, daß ihr Rehe mögt, aber es geht jetzt um die Jagd. Ihr kennt inzwischen alle den Wolfskörper und könnt damit gut umgehen; das haben wir ausreichend geübt. Jetzt kommt die Jagd. Wir werden aufgrund der Witterung das Reh einkreisen. Wenn ein Hirsch dabei ist, halten Mandy und Kerstin sich bitte zurück." Sie sah die beiden Mädchen an. "Das Geweih eines Hirsches kann verdammt tiefe Wunden schlagen. Ihr schaut dann erst einmal zu. Wenn es ein Reh ist, werdet ihr es zu Toni und mir jagen. Vera, du gibst den beiden Rückendeckung, das heißt, du achtest darauf, daß keine Gefahr von hinten kommt. Toni, du machst das gleiche bei mir. Ich muß mehr auf die Mädchen achten. Wenn das Reh ankommt, wirst du es reißen, und ich achte auf Gefahr. Alles klar? Prima. Beim Anpirschen folgt einfach euren Instinkten, die werden euch besser leiten als ich es jetzt ausdrücken oder erklären kann. Und los!" Wenig später strichen fünf Wölfe leise durch das Geäst. Vorneweg ein rein schwarzer und ein schwarzer mit einigen grauen Strähnen, dahinter zwei kleinere, ein rostroter und ein brauner. Schlußlicht war ein kräftiger brauner Wolf. Schnell fanden wir die Witterung wieder und folgten ihr. Auf ein leises Knurren von Shannon hin trennten wir uns. Vera und die Kinder folgten der Witterung, Shannon und ich schlugen einen großen Bogen, bis unsere Instinkte uns anhalten ließen. Dann konnten wir nur noch geduldig warten. Die Position der Sterne hatte sich deutlich verändert, als wir das Reh hörten. Offenbar machten Kerstin und Mandy einen hervorragenden Job. Sie jagten das Reh nicht, sondern scheuchten es in aller Ruhe auf uns zu, indem sie sich zu erkennen gaben und das Reh somit zur Flucht trieben. Unsere Nasen verrieten uns, daß Vera und die Kinder vielleicht noch vierhundert Meter entfernt waren, das Reh war deutlich näher. Shannon und ich tauschten die Plätze. Sie achtete auf das, was hinter uns vorging, ich lenkte meine Sinne auf das Reh. Dann sah ich es. Es trat vorsichtig witternd zwischen zwei Bäumen hervor. Meine Instinkte traten in Aktion. Ich musterte das Reh gründlich und fand schnell heraus, daß es sich mehr an den rechten Bäumen hielt anstatt den linken. In meinem Gehirn bildeten sich mögliche Jagdrouten, Ausweichwege und Fluchtmöglichkeiten. Gleichzeitig wußte ich, daß Mandy und Kerstin sich trennten, um das Reh in die Zange zu nehmen. Veras Aufmerksamkeit war in das Dunkel hinter ihnen gerichtet. Mein Jagdtrieb erwachte. Gleich würde ich mein erstes Tier erlegen. Dann war es soweit. Das Reh stand neben einem mächtigen Baum. Wenn es mich bemerkte, würde es einen Satz nach links machen und in einen dichten Busch treten. Die Sekunde, die das Tier brauchen würde, um sich daraus wieder zu befreien, war meine Chance. Meine Muskeln in den Läufen spannten sich und stießen mich ab. Das Reh sah mich und sprang nach links. Wie erwartet, geriet es mit den Vorderhufen in den Busch und strauchelte. In dem Moment, wo es sich befreite, hatte ich es an der Gurgel und biß zu. Das Reh wehrte sich einen Augenblick lang, dann brach es zusammen. Sofort waren Shannon, die Kinder und Vera zur Stelle und fraßen sich satt. Ich achtete auf die Umgebung, und erst als sie fertig waren, schlug ich meine Zähne in das Reh. Eine lustvolle Erregung überfiel mich, als ich das frische, warme Fleisch und das Blut spürte. Wie berauscht fraß ich und hörte erst auf, als ich vollständig satt war. Shannon kam zu mir und rieb ihren Kopf unter meinem Kiefer entlang, dann knurrte sie ein leises Kommando. Sie lief in einem lockeren Trab in Richtung Heimat. Ich war direkt an ihrer Seite. Die Kinder folgten uns, Vera sicherte den Schluß. Schließlich kamen wir an die Stelle, wo unsere Kleidung lag. Wir verwandelten uns zurück und zogen uns an, unterbrochen von leiser Unterhaltung über unsere Jagd. Schließlich gingen wir die paar hundert Meter bis nach Hause. Ich grub den Schlüssel aus, den ich unter einer Pflanze vergraben hatte, und öffnete. Wenig später saßen wir aufgeregt im Wohnzimmer, mit kalten Getränken versehen. "Das war so geil!" quietschte Kerstin aufgedreht. "Papa, ich wußte, wo ihr wart! Ich hab das wirklich gerochen!" "Ich auch!" strahlte Mandy. "Und Kerstin und ich mußten gar nicht miteinander reden - äh, knurren." Sie kicherte ausgelassen. "Wir wußten beide, was der andere vorhatte! War total irre!" Shannon lächelte Vera an. "Und bei dir?" "Das gleiche." Vera schloß die Augen und lächelte. "Ich wußte, wo ihr zwei wart, und was die Kinder vorhatten. Ich habe gespürt, daß du und Toni auf der Lauer gelegen habt, und daß Toni das Reh angegangen ist. Ich habe es nicht gesehen oder gerochen, ich habe es gespürt. War schon eine tolle Erfahrung." "Toni?" "Tja... Als das Reh ankam, sah ich nur noch Linien und Kurven, Shannon. Wo das Reh hergehen konnte, wohin es flüchten konnte, von wo ich angreifen konnte... War schon beeindruckend. Und das Töten an sich... Jetzt als Mensch müßte ich mich ekeln, aber als Wolf war es die totale Befriedigung. Weniger das Fressen, mehr das Jagen und Schlagen. Das Gefühl des Siegens. Ja, das Gefühl des Tötens in dem Moment." Ich sah Shannon nachdenklich an. "Und gleichzeitig war da ein Gefühl von Befriedigung, daß ihr fressen konntet. Daß wir einen weiteren Tag überlebt hatten. Das kommt eigentlich erst jetzt so richtig hoch, Liebling. Vorhin war das noch gar nicht so stark." "Gut!" lächelte Shannon glücklich. "Das heißt, du machst dir wirklich Gedanken um das Rudel, mein Alpha. Toll!" Sie drückte mich kurz, dann schaute sie in die Runde. "Ab heute", sagte sie eindringlich, "werdet ihr nur zu zweit rausgehen. Kerstin, Mandy, euch meine ich damit ganz besonders. Ihr beide seid als Wolf noch jung und verspielt, und ihr achtet deswegen auch weniger auf Gefahren. Wenn ihr raus wollt, sagt bitte einem von uns Bescheid, damit jemand mit euch kommt. Okay?" "Versprochen!" strahlten die Mädchen. "Gut. Dann würde ich sagen, da es schon kurz vor Mitternacht ist, gehen wir in die Falle. Ihr habt euch super benommen vorhin. Ein ganz dickes Lob!" "Ein gutes hat das Jagen noch", meinte Vera verschmitzt, als sie aufstand. "So sparen wir uns ein Abendessen. Mann, bin ich voll!" Lachend gingen wir nach oben. Wir brachten die Kinder ins Bett und gingen dann selbst schlafen. Shannon kuschelte sich bei Vera ein, während ich den Abend und die Jagd noch einmal Revue passieren ließ. Irgendwann schlief ich ein.
Kapitel 11 - 20
Kapitel 11 - Samstag, 03.07.1999
'Shannon?' 'Ja, Liebster?' 'Mir geht das, was Vera vorhin gesagt hat, nicht aus dem Kopf. Liebling, als Wolf schlingen wir das Fleisch zusammen mit kleineren Knochen und Fell hinunter. Aber was passiert damit, wenn wir das als Mensch verdauen? Die Knochen reißen uns doch alles innendrin auf!' 'Das dachte ich zuerst auch, Liebster. Ist aber zum Glück nicht so. Die Magensäfte, die wir als Mensch haben, sind die gleichen wie bei einem Wolf. Da hat die Natur gründlich nachgedacht. Als Mensch, da gebe ich dir recht, würden wir innerlich verbluten, weil die Knochensplitter uns alles aufreißen würden. Aber unsere Magensäfte - und ich glaube, der Darm auch - sind wie beim Wolf. Also keine Gefahr. Ich habe eines Nachts mal einen Hasen vollständig verschluckt, und am nächsten Tag war in meinen Ausscheidungen nichts Unnormales. Nicht böse sein, wenn ich das so deutlich sage, ja?' 'Ich bin dir im Gegenteil sehr dankbar, mein Liebling. Und damit zu dir.' 'Ja. Ich bin sehr gerne ein Wolf, weil ich da viel intensiver lebe und fühle. Bevor ich dich kennengelernt habe, hatte ich nur Becky und Mandy als Grund, wieder ein Mensch zu werden. Weil sie mich brauchen. Als Mensch, meine ich. Aber jetzt... Ich glaube, wenn ich als Wolf an dich als Mensch denke, fällt es mir vielleicht leichter, zurückzukommen. Das können wir morgen mal testen, ja? Aber daß du und Kerstin so schnell seid... Einfach unglaublich.' 'Mandy ist ja auch sehr schnell, Liebling. Auch in beide Richtungen.' 'Ich weiß. Heute war sie unglaublich schnell. Fast so wie ihr. Und sie hat das gleiche Blut wie ich. Hmm... Muß also wirklich an mir liegen. Toni?' 'Ja, mein Liebling?' 'Bleiben wir immer zusammen?' 'Ja, Shannon. Vera und ich werden morgen mit den Kindern reden. Mit unseren, meine ich. Birgit und Kerstin sind von Becky und Mandy so begeistert, daß ich überhaupt kein Problem sehe. Becky und Birgit hängen jede Sekunde aufeinander, ohne sich auch nur ein einziges Mal zu streiten, und bei Mandy und Kerstin sieht das ähnlich aus. Beide haben zwar einige unterschiedliche Interessen, verbringen aber sehr viel Zeit miteinander. Auch ohne jeglichen Streit. Und dich lieben sowieso alle.' 'Danke!' kicherte Shannon. 'Toni? Glaubst du, Daddy wird uns wirklich zu dir lassen?' 'Wenn nicht, kenne ich drei bezaubernde junge Damen, die ihm die Hölle heiß machen werden.' 'Stimmt!' Shannon lachte fröhlich. 'Das würden wir wirklich. Bisher ist kein Brief gekommen, und keine Karte. Angerufen hat er auch nicht. Na ja, kennen wir ja. Toni? Wachst du auf? Ich möchte dich küssen.' 'Dann komm rüber.' 'Bin auf dem Weg!'
Shannon und ich wurden im gleichen Moment wach. Sie befreite sich vorsichtig aus Veras Armen und kroch unter mein Oberbett. Wir küßten uns leidenschaftlich, in Gedanken gemeinsam bei der Jagd, bis sie mein Glied ergriff und gegen ihre Scheide drückte. In Sekunden waren wir beide so feucht, daß es in sie glitt. Sie legte sich auf mich, zog die Knie an und bewegte sich aus den Kniegelenken heraus. Es war eine ruhige, stille Aktion, die aber gerade wegen der Zärtlichkeit genauso gut wirkte wie das wilde vorher. Durch unsere stark gewachsene Nähe spürten wir uns gegenseitig intensiver als jemals zuvor, und wir kamen in der exakt gleichen Sekunde. Seufzend fiel Shannon auf mich, streckte vorsichtig die Beine aus, um mich nicht zu verlieren, und küßte mich zärtlich. "Das war schön!" flüsterte sie. "Ganz sanft, und ganz liebevoll. Ohne Wolf macht das auch Spaß." Ich lachte leise. "O ja! Kein Beißen, kein Knurren... Doch, war schön." "Du Spinner!" Shannon drückte mich mit all ihrer Kraft. "Bleib in mir", flüsterte sie. "Ich finde das so schön, wenn das da so hart und voll ist. Du auch?" "Eigentlich nicht", grinste ich. "Ich mach das nur, um dir einen Gefallen zu tun." "Du frisch geschlüpfter Welpe!" kicherte Shannon. "Na warte! Bei der nächsten Jagd beiße ich dich ins Hinterteil!" "In dieses?" Ich kniff sie leicht in ihren hübschen, runden Po. Shannon quietschte leise. "Ja, nur in deins!" Sie kuschelte sich an mich. "Ich lieb dich so!" flüsterte sie. "Wann kannst du wieder?" "Versuch mal, kann aber etwas dauern. Ich liebe dich auch." "Warte." Sie zog zuerst das rechte Bein an, dann das linke. Wenig später war sie wieder in Bewegung. In einer wirkungsvollen Bewegung, die uns langsam, aber sicher wieder höher schaukelte. Es dauerte deutlich länger als beim ersten Mal, endete aber schließlich mit dem gleichen Erfolg. Glücklich sank Shannon auf mich. "Wunderschön!" "Möchtest du zurück zu Vera?" "Nein. Warte, ich roll runter." Sekunden darauf lag sie neben mir, in meinem Arm. "Bist du müde?" "Nein. Du?" "Nein. Wollen wir?" "Komm." Wir standen leise auf und schlichen uns in den Garten. Im Schutz der Bäume verwandelten wir uns. Shannon drückte sich tief in die Ecke der Mauer an der Terrasse, ich rutschte dicht neben sie. Sekunden später schliefen wir, Fell an Fell. Wir wurden wach, als ein junger brauner Wolf auf uns sprang. Wir hatten schon gespürt, daß Kerstin etwas plante, und so schnappte ich sie mit meinen Zähnen am Nacken und zerrte sie über die Terrasse ins Wohnzimmer. Kerstin jaulte und bellte; ein Geräusch, das höchstes Vergnügen ausdrückte. Shannon kam hinzu und stupste sie in die Seite, bis Kerstin sich winselnd auf den Rücken legte und die Kehle entblößte. Wir ließen von ihr ab. Kurz darauf waren wir zwei wieder menschlich. Shannon folgte uns mit wesentlich weniger Mühe als sonst, und auch um einiges schneller. "Mann!" lachte Kerstin, die sich den Nacken rieb. "Was seid ihr gemein!" "Wer uns so brutal weckt, muß bestraft werden. Guten Morgen, Bolzen." "Morgen, Papi!" Wir umarmten uns stürmisch und küßten uns ziemlich wild, dann begrüßten sie und Shannon sich auf die gleiche Weise. Wir nahmen Kerstin in die Mitte und gingen in die Küche, um Frühstück vorzubereiten. Um viertel nach sechs waren alle bis auf Becky und Birgit am Tisch. Shannon hatte recht gehabt; das Leben als Wolf brachte es fertig, intensiver, aber dafür weniger zu schlafen. Vera schüttelte lachend den Kopf, als Shannon ihr von unserem Nachtlager erzählte. "In der Ecke auf der Terrasse! Das soll gemütlich sein?" "Und wie!" schwärmte Shannon. "Ich hatte es ganz gemütlich! Den Kopf an der Mauer, Toni am Bauch... Doch, war schön." Vera und die Mädchen lachten herzhaft. Wir plauderten und lachten, bis die beiden jüngsten aufwachten und herunterkamen, dann aßen wir gemeinsam und in aller Ruhe. Trotz des leckeren Rehs vom Abend vorher hatte ich einen guten Appetit. Vera, Shannon, Kerstin und Mandy jedoch auch. Nach dem Essen redeten Vera und ich mit Kerstin und Birgit, doch wie wir erwartet hatten, waren die beiden überglücklich, Mandy, Kerstin und Shannon bei sich zu haben. Das ließ hoffen, die drei Kinder endgültig bei uns aufnehmen zu können. Vera machte sich anschließend fertig, um mit Mandy einkaufen zu fahren. Shannon redete noch eingehend mit mir und teilte mir mit, daß ihre Schmerzen bei der Verwandlung deutlich geringer gewesen waren als zuvor, so daß sie es nun mit Gewißheit auf ihre Einstellung zum Menschsein zurückführen konnte. Danach wartete Kerstin auf mich.
Aus einer verrückten Laune heraus hatte ich mich festlich angezogen, mit Anzug und Krawatte. Als ich Kerstins Zimmer betrat, wartete sie bereits mit leuchtenden Augen auf mich. Sie trug ein dunkelgrünes, knöchellanges Kleid, das sie zu ihrem 13. Geburtstag bekommen hatte. Wir umarmten uns wortlos und küßten uns, dann zog erst sie mich und anschließend ich sie aus. Noch immer schweigend führte sie mich zu ihrem Bett und drückte mich darauf. Sie schwang sich auf mich, setzte sich auf meinen Bauch und rutschte höher, bis sie über meinem Hals saß. Ich legte meine Hände auf ihren festen Po, schob ihren Unterleib näher zu mir und begann, sie gründlich zu lecken, während meine Finger mit ihren kleinen Brüsten spielten. Als sie sehr erregt war, zog ich ihre Schamlippen mit den Daumen auseinander, nahm ihren wundervollen, kleinen Kitzler zwischen die Lippen und kaute darauf. Kerstin stöhnte auf und kam. Noch im Orgasmus legte ich sie auf ihr Bett, setzte mein Glied an und stieß vorsichtig zu. Kerstins Hände schossen zwischen ihre Beine und zogen ihre Scheide auseinander, um mir zu helfen. In diesem Moment war Kerstin nicht mehr meine kleine, 13jährige Tochter, sondern der zukünftige Wolf unseres Rudels. Stück für Stück ging ich in sie, durchstieß ihr Hymen, was sie nur mit einem kurzen Laut quittierte, und steckte endlich ganz in ihr. "Mein Papa paart sich mit mir!" sagte sie leise und sehr, sehr glücklich. "Mein kleiner Beta!" Ich küßte sie auf die Stirn. "Tut es weh?" "Nein! Ist megageil voll!" Sie schlang ihre Beine um meine Hüfte. "Legst du jetzt los?" "Soll ich?" stichelte ich. Sie nickte mit leuchtenden Augen. "Ja!" Ich begann, sie zu ficken. Auch sie war unvorstellbar eng; ich konnte mir nicht vorstellen, daß es ihr nicht weh tat, doch in ihrem Gesicht stand nur Lust. Ich bewegte mich zuerst langsam und ruhig in ihr, bis sie richtig mitging, dann legten wir los. Unsere Körper prallten rhythmisch aufeinander, rieben sich kurz aneinander, um die Lust zu erhöhen, und trennten sich wieder, bis Kerstin mit einem heftigen Schütteln kam. Ihre Scheide zuckte wie in einem Krampf und schickte mich über den Punkt hinaus. Ich bohrte mich tief in sie, als ich kam. Kerstin umarmte mich mit Armen und Beinen und drückte sich mit aller Kraft an mich, während unsere Schnauzen ein lautes Heulen in die Welt jagten.
"Tut so etwas nie wieder!" Vera warf ihre Handtasche auf die Couch und sah Kerstin und mich wütend an. "Was denn?" fragte Kerstin einen Moment vor mir. "Was denn?" höhnte Vera. "Kind, als ihr beide in höchster Lust geheult habt, stand ich mit Mandy friedlich vor der Kasse und wurde klatschnaß vor Erregung!" Wütend verschränkte Vera ihre Arme vor der Brust und ließ sich in die Couch fallen, die Augen auf Shannon gerichtet. "Und du!" fuhr sie Shannon an. "Du hättest mir ruhig sagen können, daß zusätzlich zu allem anderen auch noch ein Gespür dafür kommt, was ihr anderen gerade so treibt. Ist doch wahr!" wütete sie über unser aufsteigendes Lachen hinweg. "Ich fand das gar nicht lustig! Die Kassiererin wartete auf das Geld, und ich war geil bis in die Haare! Hört auf zu lachen, verdammt!"
* * *
"Na schön." Shannon sah sich grinsend um. "Jetzt, da Vera sich wieder abgeregt hat, können wir den heutigen Abend besprechen." "Abgeregt!" plusterte Vera sich auf. "Ich fange gerade erst an, mich aufzuregen! Ist doch wahr! Meine älteste Tochter wird entjungfert, und ich bin nicht dabei. Würde euch das gefallen?" "Natürlich nicht, mein Liebes", sagte ich geduldig und nahm sie in die Arme. Vera schmiegte sich schmollend an mich. "Du hast ja völlig recht, mein Liebes. Wir tun es auch nie wieder, mein Liebes." "Das glaube ich dir aufs Wort!" lachte Vera hell. "Natürlich wirst du das nie wieder tun. Wie denn auch?" "Jetzt komm mal wieder runter!" grinste Kerstin. "Wenn du es gespürt hast, warst du ja irgendwie dabei. Also friedlich jetzt." "Friedlich? Wie redest du denn mit deiner Mutter?" "Ich rede nicht mit meiner Mutter", kicherte Kerstin. "Wir reden über unseren Abend als Wolf, und da sind wir beide Betas, die sich nichts zu befehlen haben. Also friedlich jetzt!" "Toni!" jammerte Vera. "Hilf mir! Sprich ein Machtwort!" "Als Vater oder als Alpha?" "Ach, du!" Lachend drückte Vera sich an mich. "Mach voran, Shannon. Ich rege mich später weiter auf." "Ist gut." Shannon hatte alle Mühe, ernst zu bleiben. "Fangen wir gleich mit dir an, Vera. Was spürst du genau?" Vera wurde ernst. "Eure Gefühle, Shannon. Eure Stimmungen. Von allen. Von dir und Toni sehr stark, von Mandy und Kerstin nicht ganz so stark, aber immer noch sehr deutlich. Birgit und Becky... Nur ansatzweise. Mal kommt was durch, mal nicht." "Wie bei uns." Shannon sah mich an. Ich nickte. "Genau, mein Liebling. Vera, das ist bei uns genauso. Wir drei, also du, Shannon und ich, spüren uns gegenseitig sehr stark. Mandy und Kerstin kommen etwas schwächer an, aber immer noch sehr deutlich, wie du gesagt hast, und die beiden jüngsten bekommen wir nur mit, wenn etwas Außergewöhnliches geschieht. Shannon spürt Becky natürlich stärker als wir, genau wie ich dich, Kerstin und Birgit stärker spüre als Shannon es tut. Das ist aber auch ganz natürlich." "Also habt ihr das auch. Gut." Vera sah nachdenklich in die Runde. "Shannon, liegt das am Wolf?" "Ich glaube ja. Als Rudel sind wir aufeinander angewiesen, als Familie auch. Ich denke, daß sich dieses Gespür vom Wolf zum Menschen überträgt, da es sich in beiden Fällen um eine Sippe handelt, um es mal so zu sagen. Aber wie gesagt: bevor wir euch kennengelernt haben, hatte ich nur meine Schwestern als Vergleich. Deswegen ist das für mich auch alles etwas neu." "Aha. Wird dieses Gespür stärker?" "Ja, Liebes. Shannon und ich haben uns anfangs nur undeutlich gespürt, aber inzwischen bekommen wir jedes kleinste Gefühl voneinander mit. Ich von dir übrigens auch, und das schon seit Jahren." "Ach du Scheiße!" entfuhr Vera. Mandy, Kerstin und Shannon lachten herzhaft. Vera errötete leicht. "Tut mir leid. Seit Jahren?" "Ja", grinste ich. "Von Kerstin und Birgit übrigens auch, und das praktisch seit Geburt. Durch den Wolf ist das stärker geworden, aber es war von Anfang an in meinem Leben präsent." "Jedes kleinste Gefühl?" vergewisserte Vera sich. Ich nickte grinsend. "Ja, mein Liebstes. Ich weiß, daß dir Männer mit einem flachen Hintern am besten gefallen, vor allem, wenn sie breite Schultern haben und sehr maskulin auftreten. Sie erregen dich auf eine wundervolle Art, und du bist abends dann immer herrlich wild." "Toni!" Vera wurde - das erste Mal, seit ich sie kannte - flammend rot. "Du hast das gespürt?" "Ja, Liebes." Ich küßte sie zärtlich. "Vera, das sind doch nur Äußerlichkeiten. Wenn dein Gespür ausgeprägter ist, wirst du merken, daß ich auf vollbusige Blondinen anspringe. Aber sie lieben... Da gehört doch wesentlich mehr zu. Wir beide lieben uns sehr, und du bist mir treu. Das weiß ich, eben weil ich es spüre." Vera wurde sehr unsicher. Ich drückte sie zärtlich an mich. "Na komm!" flüsterte ich. "Vera, ich weiß nicht, wie schnell dein Gespür auf dem Höchststand sein wird, aber du wirst dann auch sehr viel bei mir erkennen, was du im Prinzip schon weißt oder ahnst. Mach dir bloß keine Vorwürfe deswegen. Dieses Gespür wird uns noch stärker aneinander binden, als wir jetzt schon sind. Alles andere ist nebensächlich." Vera lächelte dankbar. "Wenn ich jemals vergessen sollte, warum ich dich so liebe", sagte sie leise, "muß ich einfach nur mit dir reden. Dann fällt es mir sofort wieder ein." Sie schmiegte sich an mich. "Mach weiter, Shannon." "Okay." Shannon sah uns gerührt und mit feuchten Augen an. "Vera, wenn dieses Gespür erst einmal voll ausgewachsen ist, gibt es auch keine Geheimnisse mehr. Das kann ich dir aus eigener Erfahrung sagen. Du wirst sofort spüren, wenn dich jemand anlügt. Das ist das Gute bei der Sache. Schön! Damit zu heute abend. Ich dachte mir, wir üben heute mal das Anschleichen an einen Bauernhof. Gestern, bei dem Reh, war es sehr einfach, die Witterung aufzunehmen und ihr zu folgen. Auf einem Bauernhof sind aber viel mehr Gerüche. Wir werden kein Tier anfallen, sondern nur üben, so nahe wie möglich an die Ställe heranzukommen, ohne daß die Tiere nervös und aufgeregt werden. Mandy und Kerstin, ihr zwei werdet vorausgehen. Vera, du bleibst dicht bei ihnen. Toni und ich sichern euren Fluchtweg." "Fluchtweg?" fragte Kerstin erstaunt. Shannon nickte ernst. "Fluchtweg. Kerstin, auf einem Bauernhof gibt es häufig auch Gewehre. Schrotgewehre. Sobald ihr Gefahr spürt, haut ihr ab! Macht nicht lange rum, sucht nicht lange nach Spuren, sondern haut ab, so schnell ihr könnt! Ihr müßt immer daran denken, daß ihr einem Kampf mit einem Menschen aus dem Weg gehen müßt. Unbedingt!" Die Mädchen nickten mit ernsten Gesichtern. "Gut. Noch Fragen? Prima. Dann auf."
Nach der Übung mit dem Bauernhof, die zu Shannons Zufriedenheit ablief, mußte Vera ihr erstes Tier erlegen. Wie gestern trieben Kerstin und Mandy ihr ein Reh zu, das Vera dann mit zwei Sprüngen anfiel und zu Boden riß. Diesmal durften wir jedoch nicht fressen, sondern Kerstin und Mandy mußten jede einen Hasen jagen. Erst als auch sie ihre Aufgabe erfüllt hatten, fraßen wir. Als Mensch hatte Wild mir nie so recht geschmeckt, als Wolf liebte ich es. Gesättigt und befriedigt kehrten wir gegen elf Uhr nach Hause zurück und fielen glücklich in unsere Betten.
Kapitel 12 - Sonntag, 04.07. bis Mittwoch, 07.07.1999
Es war fast vier Uhr, als ich mit einem dumpfen Gefühl im Bauch erwachte. Vera wälzte sich unruhig im Schlaf herum. Plötzlich schoß ein Schmerz durch meinen Körper, und Vera fuhr hoch. "Kerstin!" Innerhalb von Sekunden waren wir auf der Terrasse und verwandelten uns. Wir nahmen Kerstins Witterung auf, die wie ein roter Faden in der Luft hing, und folgten ihr in höchstem Tempo. In weniger als drei Minuten hatten wir die zwei Kilometer zu dem Bauernhof, an dem wir Anschleichen geübt hatten, zurückgelegt und pirschten uns vorsichtig heran. Hinter uns spürte ich Shannon näherkommen. In der Luft lag der Geruch von Blut. Von Kerstins Blut. Viel Blut. Ein intensiver Geruch, der mir verriet, daß unser Rudel ein Mitglied eingebüßt hatte. Kerstin war tot, das wußte ich. Der Mensch in mir schrie vor Trauer und Wut, der Wolf war eiskalt. Und jetzt, in diesem Moment, war ich ein Wolf. Ich drückte mich in den Schatten eines Gebäudes und schlich mich an, von Vera und Shannon gefolgt. Hinter der Ecke lag Kerstin, tot und blutend, das roch ich. Und ich roch den Schweiß eines Menschen. Ich roch Schießpulver. Ich roch Angst und Sieg. Meine Instinkte verrieten mir die Position des Menschen. Er bewegte sich vorsichtig, zögernd. Meine Ohren sagten mir, wo er hinging. Der Schall seiner Schritte erzählte mir, wo Kisten und Fässer standen. Ich hatte das vollständige Bild. Meine Muskeln spannten sich an und stießen meinen Körper vorwärts. Ich sah eine Bewegung, hörte einen lauten Knall, spürte einen heißen Schmerz an meinen Vorderläufen und prallte gegen den Menschen. Meine Zähne schlossen sich um seinen Arm, mein Kiefer drückte sich mit aller Kraft zusammen. Ein greller Schrei ertönte. Ich ließ die abgebissene Hand mitsamt Gewehr fallen und setzte mich auf den Menschen. Ich sah ihn an. Ich sah ihn nur an. Mehr nicht. Ich genoß seine Todesangst. Als ich spürte, daß er das Unausweichliche akzeptiert hatte, stand ich auf und ging weg. Seine Hoffnung durchfuhr mich, und in diesem Moment sprang Vera ihn laut knurrend an. Seine Todesangst wurde noch stärker als vorher. Gut. Er sollte leiden, wie Kerstin gelitten hatte. Als sie mit ihm fertig war, war sein Körper vollkommen zerfetzt und in der Gegend verstreut. Shannon lauschte zum Haus hinüber, doch es blieb still. Er war alleine gewesen. Wir gingen zu Kerstin, die als Wolf in einer großen Blutlache lag. Vera leckte kurz über ihre tiefen Wunden und hielt inne. Sie stieß ein verwirrtes Jaulen aus. Wieder leckte sie und knurrte, dann winselte sie erleichtert. Kerstin lebte! Sekunden später waren wir menschlich. Kerstin hatte neben den Schußwunden auch noch ein Messer im Bauch stecken; das war der eigentliche Grund für das viele Blut. Ich zog es unter Tränen heraus und warf es weg. Shannon hob es auf. Ich legte meine Hand auf Kerstins Bauch. Unter dem Fell spürte ich ihr Herz schlagen, kräftig und gleichmäßig. "Sie lebt!" schluchzte ich. "Vera, sie lebt!" Ich warf mich auf Kerstin und umarmte sie. Vera warf sich weinend dazu. Etwa fünf Minuten später regte Kerstin sich. "Scht!" machte Vera leise. "Bleib liegen, Kleines. Du mußt gesund werden." Kerstin winselte leise und ließ den Kopf wieder sinken. Die Wunde an ihrem Bauch hatte sich geschlossen, aber sie hatte sehr viel Blut verloren. Shannon setzte sich zu uns. Weitere zehn Minuten rappelte Kerstin sich auf. Sie stand etwas unsicher auf ihren Pfoten und schwankte, doch sie fing sich recht schnell. Shannon baute sich vor ihr auf. "Wir beide", sagte sie so drohend, daß Kerstin den Schwanz zwischen die Hinterläufe zog, "werden uns gleich unterhalten. Danach wirst du dich verwandeln, und dann werden deine Eltern mit dir reden." Sie hockte sich hin und wurde zum Wolf. Wir folgten ihrem Beispiel. Kerstin führte uns zu einem Gebüsch, wo sie ihre Kleider versteckt hatte. Wir fanden außerdem eine Reisetasche mit Plastiktüten, in denen wir drei Hühner entdeckten. Nun wurde mir klar, was Kerstins Ausflug zu bedeuten hatte. Offenbar wollte sie sich um das heutige Mittagessen kümmern. Winselnd stieß sie mit ihrer Nase vor die Tasche, als wollte sie sich entschuldigen und auf ihre Bemühungen für das Rudel hinweisen, doch Shannon kümmerte sich nicht um ihre Unterwürfigkeit. Mit einer blitzschnellen Bewegung holte sie aus und schlug Kerstin die rechte Vorderpfote gegen den Kopf. Kerstin wurde von den Pfoten gerissen und überschlug sich mehrmals jaulend. Shannon sprang mit einem aggressiven Kläffen auf sie und biß sie in die Schulter. Kerstin warf sich winselnd auf den Boden und zeigte ihre Kehle, doch Shannon war noch lange nicht mit ihr fertig. Kerstin mußte einen kräftigen Schlag nach dem anderen einstecken, und einen schmerzhaften Biß nach dem anderen. Das Alphaweibchen züchtigte den aufmüpfigen, undisziplinierten Welpen. Endlich war es vorbei. Shannon drehte sich zu uns um, knurrte Vera und mich befehlend an und verschwand mit mächtigen Sätzen in der Dunkelheit. Vera folgte ihr. Ich ließ mich sinken und beobachtete Kerstin, die sich zurückverwandelte und schluchzend und weinend anzog. Als Vater wollte ich sie in den Arm nehmen und trösten, als Wolf und Vater wußte ich, daß sie ohne ihre Fähigkeit, sich selbst zu heilen, uns für immer verlorengegangen wäre. Endgültig und unwiderruflich tot. Dieses Wissen gab mir die Kraft, die ich brauchte. Weinend hob sie ihre Tasche auf, ließ sie wieder fallen und warf sich an mich. "Papa!" schluchzte sie. "Papa!" Ich zwang mich, Wolf zu bleiben, und knurrte sie böse an. Sie schreckte zurück, schnappte sich ihre Tasche und rannte weinend heim. Ich folgte ihr nach Hause. Zum zweiten Teil ihrer Strafe. Shannon wartete, bis ich wieder Mensch war, dann begann sie. "Vera, laß mich bitte zuerst eins sagen, bevor ihr loslegt. Wir sind Wölfe! Wir können nicht nach menschlichen Maßstäben beurteilt werden. Ich habe mir angewöhnt, zweigleisig zu denken. Für das, was ich als Wolf tue, werde ich auch als Wolf belohnt oder bestraft, und für das, was ich als Mensch tue, werde ich auch als Mensch belohnt oder bestraft. Hört Kerstin bitte erst an, und dann entscheidet." Sie setzte sich auf die Couch und schwieg. Vera und ich sahen zu Kerstin, die sehr zerknirscht vor uns stand und jetzt liebend gerne überall gewesen wäre, nur nicht gerade hier. "Fang an." Veras Stimme war eisig. So eisig, daß selbst Shannons Drohung auf dem Bauernhof wie ein sanftes Lächeln dagegen war. Kerstin wurde einen Meter kleiner. "Ich wollte für das Mittagessen sorgen", sagte sie kleinlaut. "Drei Hühner hatte ich schon. Ich hab immer nur eins gerissen und das dann zur Tasche gebracht. Ich hab's auch immer ganz ordentlich eingepackt, damit kein Blut in die Tasche kommt!" Für diese Worte hätte ich sie am liebsten umarmt und geküßt, doch ich mußte streng bleiben. Trotzdem rührte mich ihr Versuch, Pluspunkte zu sammeln. Aber die Minusseite wog einfach zu schwer. "Na ja", fuhr sie mit ihrem Bericht fort, "und beim vierten dann... Ich war einfach zu wild darauf, noch eins zu fangen, daß ich den Bauern gar nicht gehört habe. Plötzlich knallte es, und mir tat es überall scheußlich weh. Ich wurde gegen eine Wand geschleudert und war ziemlich daneben. Bewegen konnte ich mich auch nicht mehr. Und dann stach irgend etwas in meinen Bauch. Ab da weiß ich nicht mehr viel, nur noch, daß ihr plötzlich da wart und alles ganz schrecklich nach Blut stank." Sie schluchzte kurz. "Nach meinem Blut!" Sie weinte heiße Tränen. Diesmal konnte ich nicht anders. Ich nahm sie in den Arm. Sie klammerte sich an mich und heulte vor Kummer, Angst, Schmerzen und Erleichterung. Vera seufzte lautlos und sah mich fragend an. Ich nickte. Kerstin hatte genug gelitten für eine Nacht. "Nein." Wir sahen überrascht zu Shannon, die aufstand. "Kerstin und Mandy hatten den Befehl, einen von uns mitzunehmen, wenn sie rausgehen. Deswegen habe ich sie vorhin so verprügelt. Und kommt mir jetzt bloß nicht spitzfindig, daß ich den Befehl als Mensch gegeben habe und deswegen kein Recht dazu hatte! Kerstin ist als Wolf noch zu unerfahren, um alleine überleben zu können. Den Beweis hat sie uns gerade geliefert. Wir müssen ihr auf der einen Seite dankbar sein, weil wir jetzt wissen, daß auch tödliche Wunden nach einer Zeit heilen, andererseits hat sie gegen einen Befehl verstoßen und hätte umkommen können. Wenn der Bauer nicht so ein Feigling gewesen wäre und ihr das Fell abgezogen oder den Kopf abgeschlagen hätte..." Shannon schauderte, und wir mit ihr. Es war vielleicht tatsächlich nur eine Sache von Sekunden gewesen. Welcher Bauer hat schon einen ausgestopften Wolfsschädel über der Tür hängen? Ein Beil ist schließlich ein alltägliches Werkzeug auf einem Bauernhof und schnell geschwungen. "Das meine ich", sagte Shannon leise. "Das müßt ihr Kerstin noch klarmachen. Danach kann sie gerne ins Bett gehen. Ihr solltet ihr auch sagen, daß ihr Vater nur wegen ihr angeschossen wurde. Und daß ein Mensch getötet worden ist. Vielleicht bringt sie das dazu, sich an die Regeln zu halten." Ohne ein weiteres Wort lief sie die Treppe hinauf. "Das letzte tut mir nicht leid." Vera sah Shannon kühl hinterher. "Ansichtssache, Liebes. Als Kerstins Vater gebe ich dir recht. Der Bauer hingegen hat nur sein Eigentum gegen ein wildes Tier beschützt. Aus seiner Sicht war die Sache ganz klar. Daß der Wolf ein junges Mädchen ist, konnte er nicht wissen." "Ich weiß!" Vera sah mich gequält an. "Ich habe ihn zerrissen, Toni! Ich habe ihn in kleine Stücke zerrissen!" "Das hast du, Liebes. Wenn du es nicht getan hättest, hätte ich es getan." Ich strich Kerstin, die noch immer laut weinte, über den heißen Kopf. "Jetzt verstehe ich, was Shannon meint, wenn sie sagt, daß wir den Kampf mit einem Menschen unbedingt vermeiden müssen." "Nicht nur du." Vera schmiegte sich an uns und streichelte Kerstin, die sich gar nicht beruhigen wollte oder konnte. "Trägst du sie hoch?" "Sicher." Ich nahm Kerstin auf den Arm. Sie klammerte sich schluchzend an mich und weinte ununterbrochen. Ich trug sie in mein Bett und zog sie aus, dann legte ich mich zu ihr. Plötzlich hatte ich das sichere Gefühl, daß Kerstin nur traurig spielte. "Bolzen!" flüsterte ich. "Warum weinst du noch immer?" "Wenn ich aufhöre", schluchzte sie, "schimpft ihr nur wieder mit mir!" Ich mußte mir das Lachen verbeißen und drückte sie stürmisch. "Na gut. Wir schimpfen nicht mit dir, und du hörst auf, zu weinen. Okay?" "Wirklich?" schniefte sie. "Versprochen." "Na gut." Als wäre ein Schalter umgelegt worden, versiegten die Tränen. Ich drückte sie grinsend an mich und streichelte sie, bis Vera hereinkam. "Ich habe die Hühner in den Kühlschrank gelegt und mich noch gewaschen." Sie zog sich schnell aus, legte sich hin und rutschte an uns heran. "Alles wieder gut, Bolzen?" Kerstin nickte bekümmert. "Ja. Es tut mir leid, was ich gemacht habe." "Wirklich?" "Ja." Sie sah mich geknickt an. "Ganz ehrlich." "Warum?" "Warum?" Ihre Augen glitten über mein Gesicht, als suchte sie dort nach der Antwort. "Ja, Bolzen. Warum tut es dir leid?" Sie verstand. "Weil es wehgetan hat", flüsterte sie. "Sehr weh. Und weil Shannon mich verhauen hat. Das hat auch ganz schön gezwiebelt. Ich wußte gar nicht, daß sie so stark ist!" Zwei wunderschöne grünblaue Augen schauten mich erstaunt an. "Und warum noch?" Allzu lange konnte ich das Lachen nicht mehr unterdrücken. "Weil ich nicht auf sie gehört habe, und weil ich euch Kummer gemacht habe." "Besser spät als nie." Vera strich Kerstin kräftig durch die Haare. "Was weißt du noch von vorhin, Kerstin? Was ist mit dem Bauern passiert?" "Keine Ahnung." Kerstin sah uns ratlos an. "Genau! Wo ist der eigentlich hin? Und woher kam die Schweinerei auf dem Boden? War da noch ein Schäferhund?" "Nein, Kerstin." Vera schaltete auf kalt. "Die Schweinerei war etwas Blut von deinem Vater, der angeschossen wurde, als er dich retten wollte, und -" "Angeschossen?" Kerstins Kopf fuhr zu mir herum. "Du wurdest getroffen?" "Ja. Aber hör deiner Mutter zu, Bolzen. Sie ist noch nicht fertig." Betroffen drehte Kerstin sich wieder zur anderen Seite. "Das tut mir so leid!" flüsterte sie. "Kommt noch besser." Veras Augen zeigten keinerlei Regung. "Der Rest der Schweinerei, also eigentlich alles, was da noch herumlag, war der Bauer. Kerstin, du warst tot. Er hat dich erstochen. Das Messer in deinem Bauch hat dich umgebracht. Wenn er dir den Kopf abgeschlagen hätte, wärst du jetzt nicht hier. Du lebst nur noch, weil du den Wolf von deinem Vater geerbt hast und dich selbst heilen konntest." "Der Bauer war das?" Kerstin würgte. Sie sprang hektisch auf und rannte ins Bad. Sekunden später übergab sie sich laut und heftig. "Das war's." Vera lächelte zufrieden. "Gute Nacht, Toni. Schlaf schön." "Gute Nacht, Liebstes. Ich kümmere mich schon um sie." "Ich weiß." Sie küßte mich, drehte sich um und lag still. Kerstin kam nach etwa fünf Minuten zurück; sie war bleich und sah vollkommen fertig aus. Ich schloß sie in meine Arme und streichelte sie, bis sie eingeschlafen war, erst dann erlaubte ich mir, über den Abend nachzudenken. Kerstin hatte ihre Lektion gelernt, da war ich mir sicher. Aber der Bauer ging mir nicht aus dem Kopf. Immer wieder sah ich seine Augen, die mich in Todesangst anstarrten, spürte seine Erleichterung, als ich von ihm wegging, und hörte seine Schreie, als Vera ihn zerfetzte. Der Alphawolf in mir stimmte der Aktion aus ganzem Herzen zu; es konnte nicht hingenommen werden, daß ein Mitglied des Rudels angegriffen wurde. Der Mensch in mir litt unter einem sehr heftigen schlechten Gewissen und massiver Schuld. Irgendwann kämpfte sich der Wolf nach oben und verdrängte die negativen Gefühle, doch der Schlaf kam in dieser Nacht nicht mehr. Am Morgen bewies Kerstin, daß sie wieder auf dem Damm war. Vera holte die Hühner aus dem Kühlschrank und rupfte sie. Das machte Kerstin noch mit. Als es dann jedoch daran ging, die Hühner auszunehmen, schüttelte Kerstin sich vor Ekel. "Du verlangst im Ernst von mir, ich soll mit der Hand in den Popo des Huhns greifen und alles da drin rausnehmen?" Vera nickte. "Genau." Kerstin schüttelte energisch ihren süßen Dickkopf. "Kann ich mich nicht verwandeln und das Huhn roh fressen?"
* * *
In den Lokalnachrichten um elf Uhr hörten wir es zum ersten Mal. "...wurden heute morgen die Überreste eines Bauern gefunden, der ersten Untersuchungen zufolge von einem großen Hund oder hundähnlichem Tier angefallen und getötet wurde. Das Waldgebiet nördlich des Hofes sollte von der Bevölkerung gemieden werden. Hinweise auf wilde oder freilaufende Hunde in diesem Gebiet können unter der Telefonnummer -" Ich schaltete das Radio aus. Kerstin saß geknickt auf der Couch, von den anderen Mädchen mitfühlend beobachtet. Birgit und Becky waren dabei, damit sie schon einmal die Grundlagen für nächstes Jahr lernten, wenn es bei ihnen soweit war. "Und nun?" fragte Mandy zögernd, als niemand Anstalten machte, zu reden. "Wie ihr gehört habt." Shannon war immer noch sehr unterkühlt. "Das Waldgebiet meiden, und freilaufende Hunde melden. Ihr könnt euch denken, daß inzwischen alle Förster und Jäger ihre Gewehre geladen haben und durch den Wald robben." Kerstin zog den Kopf noch tiefer zwischen die Schultern. Mandy atmete tief durch und sah ihre große Schwester an. "Shannon, Kerstin ist nicht alleine schuld. Wir haben gestern darüber geredet, ob wir noch ein paar Hühner fangen sollten, und wir haben gelost, wer von uns das machen darf. Sie hat gewonnen." "Und der Bauer hat verloren." Shannons braune Augen waren kalt wie Eis. Mandy schwieg bedrückt. Shannon stieß den Atem aus und schlug mit der Faust auf den Tisch. "Ein Mensch ist gestorben!" sagte sie tödlich leise. "Weil ihr Lust auf ein paar Hühner hattet! Toni? Ich möchte Kerstin für die nächsten drei Tage verbieten, als Wolf nach draußen zu gehen. Nicht nur als Strafe, sondern auch zu ihrem Schutz." "Tu das, mein Liebling." "Dann will ich auch nicht rausgehen!" sagte Mandy wütend. "Das wirst du auch nicht." Shannon sah sie kalt an. "Mandy, du wirst eine Woche nicht als Wolf rausgehen. Weder alleine noch in Begleitung. Und glaube mir eins, Schwester der Sonne!" Sie beugte sich vor, und Mandy wich unwillkürlich zurück. "Ich werde wissen, wenn du draußen bist!" Shannon lehnte sich wieder zurück. Mandy nickte eingeschüchtert. "Shannon", fragte ich ruhig. "Warum eine Woche?" "Weil", antwortete Shannon, ohne Mandy aus den Augen zu lassen, "sie verdammt genau weiß, warum ich diese Regeln für neue Wölfe aufgestellt habe. Wir haben oft genug darüber geredet. Deswegen. Sie wußte viel besser als Kerstin, wie gefährlich es werden kann. Kerstin ist durch ihre Unerfahrenheit in gewisser Weise entschuldigt, aber Mandy nicht. Kerstin lernt im Moment Theorie und Praxis, Mandy hat die gesamte Theorie schon hinter sich. Nicht wahr, Mandy?" "Ja!" murrte Mandy. "Gut. Kerstin, in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag werden wir zwei gemeinsam rausgehen und jagen. Danach wirst du Gefahren einschätzen können." Der Blick, mit dem sie Kerstin ansah, vertrieb bei meiner Tochter die aufgekommene Freude sofort und sehr nachhaltig. Sie nickte schweigend. "Mandy? Wir beide werden am nächsten Sonntag rausgehen und deine Disziplin überprüfen. Danach kannst du wieder alleine los, aber jagen wirst du nur mit uns zusammen. Verstanden?" "Ja." Das kam schon viel weniger wütend, eher bedrückt. "Fein. Toni? Hast du noch etwas auf dem Herzen?" "Ja." Ich sah Kerstin und Mandy an. "Ich möchte keine von euch verlieren. Weder an ein Auto, noch an einen Jäger oder einen Bauern mit einem Beil. Ich möchte euch nicht an ein Labor verlieren, in dem ihr bei lebendigem Leib aufgeschnitten werdet, um herauszufinden, wie ihr euch verwandeln könnt. Ich möchte euch morgens gesund und munter im Arm halten können und mit euch schmusen. Mehr kann ich nicht dazu sagen. Außer dem hier." Ich legte drei kleine, schwarze Kugeln vor Kerstin auf den Tisch. Sie starrte verwundert darauf und sah mich dann fragend an. "Das sind Schrotkugeln", lächelte ich. "Die sind während der Nacht von meinem Körper abgestoßen worden. Zwei saßen in der Schulter, eine in der Brust. Behalte sie als Erinnerung." "Papa!" Kerstin warf sich bitterlich weinend an mich, und das war diesmal nicht gespielt.
* * *
Shannon, Mandy und Becky zauberten aus den drei Hühnern Huhn auf Reis. Kerstin und Birgit sahen aufmerksam zu. Vera und ich wiederum sahen unseren Töchtern zu, die durch die drei Mädchen sehr viel im Haushalt lernten und auch anwendeten. "Und?" fragte Vera leise. "Wie war euer Treffen?" "Für zwei ganz bestimmte Mädchen nicht so besonders." Ich informierte Vera kurz, die sofort zustimmte. "Da hat Shannon absolut recht. Auf dem Weg hierher sind mir drei Streifenwagen begegnet, die das Gebiet absuchten. Drei! Normalerweise sehen wir höchstens einen im Monat." "Schon recht, Liebes. Mir macht nur die Formulierung in den Nachrichten Sorge. 'Hund oder hundähnliches Tier'. Die Zahnabdrücke eines Wolfes unterscheiden sich deutlich von denen eines Hundes. Selbst ein Husky oder ein deutscher Schäferhund haben ein anderes Gebiß, obwohl diese Arten dem Wolf sehr ähnlich sind. Der vordere Teil des Unterkiefers ist deutlich schmaler, und die Zähne in dem Bereich stehen dichter beieinander. Ich weiß nicht, ob unsere Pfoten Abdrücke hinterlassen haben; wenn ja, haben wir ein echtes Problem. Hunde setzen die Hinterpfoten zwischen die Spur der Vorderpfoten, Wölfe dagegen auf die Spur der Vorderpfoten. Wenn jemand bei der Untersuchung war, der sich mit Wölfen auskennt..." "Nicht schlecht!" Vera sah mich anerkennend an. "Woher weißt du das alles?" Ich deutete auf die Küche. "Von unserem bildhübschen Wolfslexikon auf zwei ebenso hübschen Beinen." "Aha." Vera schmiegte sich lachend an mich. "Sie muß sehr viel darüber gelesen haben." "Das glaube ich auch, Liebes. Sie sagte, daß sie alles alleine erfahren und erleben mußte. Wie auch anders? Sie hatte ja niemanden, an den sie sich wenden konnte." "Ein Punkt für dich. Zwei Punkte. Ich gebe dir recht, Toni. Diese Formulierung deutet darauf hin, daß einige Leute Bescheid wissen könnten." "Richtig, Liebes. Förster und Jäger sind in der Anatomie von Vierbeinern im allgemeinen wesentlich bewanderter als Nachrichtenreporter. Wenn die einen Wolf sehen, werden sie nach diesem Vorfall erst schießen und dann fragen. Bei Hunden könnte das unter Umständen andersherum sein. Könnte!" "Anzunehmen. Also werden wir auch auf die Jagd verzichten. Richtig?" "Ja. Oder wir fahren mit dem Auto in eine ganz andere Ecke und legen da los. Mal schauen. Wir müßten uns aber erst einmal um Shannon kümmern; das ganze ging ihr sehr nahe." "Dir nicht?" fragte Vera leise. "Doch, Liebstes. Sehr nahe sogar. Ich kann seine Augen nicht vergessen." "Ich auch nicht. Aber der Gedanke, daß er Kerstin abgeschlachtet hat..." "Ich weiß, Vera. Ich weiß." Ich drückte Vera an mich, um aus ihrer Nähe Trost zu ziehen.
* * *
Wegen der Besprechung am Morgen gingen die vier jüngeren Mädchen nach dem Mittagessen an die Bügelwäsche, so daß Vera und ich Zeit für Shannon hatten. Da es begonnen hatte, leicht zu regnen, blieben wir im Haus und auf der Couch. Shannon war tatsächlich sehr mitgenommen. Die Trauer über den Tod des eigentlich völlig unschuldigen Bauern und der Ärger über Kerstins und Mandys lose Auffassung von Disziplin hielten sich in etwa die Waage. Vera und ich mußten fast eine ganze Stunde sanft mit ihr schmusen, bevor sie sich entspannte, aber dann hatten wir es auch geschafft. Am späten Nachmittag fuhren wir in eine Eisdiele. Die Mädchen hatten 'Wolfsverbot', aber keinen Hausarrest als Mädchen. Shannon hatte die Idee dazu gehabt; ob aus Taktik oder Liebe zu Eis, blieb sich am Ende gleich, denn überall wurde der Vorfall diskutiert. Kerstin und Mandy wurden immer kleiner, weil sie häufig die Worte "Wolf" und "abknallen" hörten, in den meisten Fällen in einem Satz. So ganz langsam realisierten sie, warum Shannon darauf bestanden hatte, daß sie nicht als Wolf hinausgingen. Die Stimmung war aufgeheizt und feindlich. Die Abendnachrichten setzten noch eins drauf. Der Nachrichtensprecher ließ den Hinweis einfließen, daß der letzte freilebende Wolf in Deutschland um 1850 herum geschossen wurde; daraufhin konnten sich die beiden Mädchen an einem Finger ausrechnen, wie wild die Jäger auf eine Trophäe sein würden. Als am Montag dann die Meldung kam, daß es sich bei dem angreifenden Tier tatsächlich um einen Wolf handelte, war Kerstin bereits so eingeschüchtert, daß sie freiwillig bis zum Sonntag warten wollte, bis sie sich wieder verwandelte, doch Shannon bestand auf der Nacht zu Donnerstag. In dieser Nacht wurden weder Shannon noch ich wach. Am Dienstag saßen Kerstin und Mandy angeödet im Wohnzimmer herum. Sie stritten sich nicht, sie litten nur gemeinsam unter dem leichten, aber andauernden Nieselregen, der ein Spielen im Garten oder Radtouren verhinderte. Auch beim Schmusen blieben sie mürrisch und launisch, so daß wir die beiden sich selbst überließen. Der Mittwoch kam, und damit auch Shannons 15. Geburtstag, den sie und ich noch in der Nacht im Garten einläuteten. Wir liebten uns mit einer Intensität und Ausdauer, die uns beide überraschte, doch seit Kerstins Unfall in der Nacht zum Sonntag hatten wir nicht mehr miteinander geschlafen. Der Hunger hatte sich wahrscheinlich aufgestaut. Wir schliefen als Wolf auf der Terrasse, bis die Sonne aufging, und dann weiter in meinem Bett. Als Vera wach wurde, gratulierte sie Shannon ebenfalls auf eine sehr schöne Weise, so daß Shannon schon überaus glücklich zum Frühstück kam, doch die Geschenke, die sie von ihren Schwestern und uns bekam, brachten sie vor Glück glatt zum Weinen. An diesem Tag wurde sie von uns allen rund um die Uhr verwöhnt und bedient, wie wir es bei unseren Kindern taten, und abends gingen nur Shannon und ich essen, wie sie es sich gewünscht hatte. Zum ersten Mal seit Tagen konnten wir uns relativ ungestört unterhalten, über alles, was uns bewegte und auf dem Herzen lag. Nach dem Essen bekam Shannon einen weiteren großen Wunsch erfüllt: ich steckte sie in die Wanne und badete sie, gemeinsam mit Vera. Shannon war außer sich vor Glück. Anschließend brachten wir sie ins Bett und verwöhnten sie noch einmal nach Strich und Faden, bis sie glücklich und vollkommen erschöpft einschlief. Vera und ich lächelten uns an, küßten uns zärtlich und schmiegten uns dann an Shannon, die im Schlaf schnurrte. Zufrieden schliefen wir ein.
Kapitel 13 - Donnerstag, 08.07. bis Sonntag, 18.07.1999
Um halb zwei weckte Shannon mich. Wir standen auf, zogen uns schnell an und gingen zu Kerstin, die schon wach, aber auch ziemlich besorgt war. "Wollen wir wirklich raus?" fragte sie uns mit ängstlichen Augen. Shannon nickte. "Wollen wir. Wir müssen sogar, Kerstin. Mach dich fertig." Wenig später war Kerstin angezogen. Wir fuhren mit dem Wagen nach Süden, um dem Bauernhof im Norden aus dem Weg zu gehen, und verwandelten uns mitten in einem kleinen Wäldchen, nachdem Shannon die Marschroute festgelegt hatte. Es klang sehr gefährlich, was Shannon vorhatte, aber sie wußte, was sie zu tun hatte. Sie führte Kerstin zu einem Steinbruch, in dem Kerstin Kleintiere jagen mußte. Schon das Gehen auf dem lockeren Geröll war riskant, und dann in der Dunkelheit jagen...? Eine Stunde später war Kerstin fertig mit den Nerven. Ihr Wolfskörper blutete aus vielen kleinen Wunden, die sie sich bei unzähligen Ausrutschern zugezogen hatte, ihr Selbstvertrauen war zerstört, und ihre Laune auf dem absoluten Tiefstand. Shannon befahl ihr, Mensch zu werden, was Kerstin auch äußerst übellaunig tat. "Das wollte ich dir zeigen", sagte Shannon sanft, als Kerstin schmollend auf dem Boden hockte. "Kerstin, du hast dich verletzt, weil du nur auf deine Beute, aber nicht auf die Umgebung geachtet hast. Du hast dich viel zu eng gemacht, Bolzen. Du hast nicht alle Sinne benutzt, die du hast." Kerstin sah auf, als Shannon zum ersten Mal ihren Kosenamen benutzte. "Glaubst du?" fragte sie unsicher. Shannon lächelte zärtlich. "Glaubst du es?" gab sie leise zurück. Kerstin sank in sich zusammen und nickte bekümmert. "Ja", hauchte sie. "Gut." Shannon gab ihr ihre Kleidung. "Zieh dich an." Die nächste Station war die Innenstadt. Kerstin schaute sich verblüfft um, als Shannon mich bat, anzuhalten. "Was machen wir denn hier?" "Jagen." Shannon stieg aus. Kerstin folgte ihr ziemlich verwirrt, auch ich hatte einige Probleme, Shannons Absichten zu erkennen. Wir gingen durch die trotz der Uhrzeit noch sehr belebte Innenstadt. Kneipen und Discos waren gut gefüllt, auf der Straße liefen Betrunkene, Prostituierte und Schläger herum. Es war die Zeit der Gewalt. Auch ohne Wolf zu werden, erkannte ich, wie gefährlich es hier war. Kerstin spürte es auch. Ihre schlechte Laune verschwand, ihre Aufmerksamkeit stieg. Shannon suchte sich einen einsamen Hinterhof aus, wo Kerstin sich auszog und verwandelte. Shannon hockte sich vor sie hin und sah ihr tief in die Augen. "Eine Runde um den Block", sagte sie eindringlich. "Dann bist du wieder hier. Eine Runde. Keine Jagd, Kerstin. Du jagst niemanden. Verstanden?" Das Wolfshaupt nickte. "Gut." Shannon strich ihr kräftig über die Schnauze. "Ab!" Anstatt loszulaufen, schlich Kerstin sich langsam zur Einfahrt, jeden Schatten und jede Deckung ausnutzend. Ich spürte förmlich, wie all ihre Sinne auf das Äußerste angespannt waren. Nun verstand ich. "Genau." Shannon kam lächelnd in meinen Arm. "Sie wird nicht jagen, weil sie dazu gar nicht kommen wird. Sie wird gejagt werden." "Wird sie es schaffen?" "Das hängt von ihr ab. Wenn sie auf die Umgebung achtet, ja. Wenn nicht... Nun, wir werden es hören." Eine Viertelstunde später kam Kerstin zurück. Sie verwandelte sich. Ihre Stirn war naß vor Schweiß, ihr Körper roch nach Anspannung und Streß. Doch ihre Augen leuchteten. "Alles klar, Shannon." "Gut!" Shannon umarmte Kerstin. "Erzähl." "Tja... Ich hab versucht, mich nicht sehen zu lassen, aber das ging nicht. Türen, Schaufenster... Irgendwann wurde ich gesehen. Und da hab ich die Angst der Menschen vor mir gespürt." Ihre Stimme wurde leiser. "Und ihren Wunsch, mich zu töten. Ich hab mich in einer dunklen Ecke versteckt und gewartet, bis die Stimmung wieder einigermaßen friedlich war, dann bin ich schnell zurückgekommen." "Perfekt. Zieh dich an, Bolzen." Sie küßte Kerstin zärtlich. Eine halbe Stunde später lagen wir wieder im Bett. Shannon bei Vera, Kerstin bei mir. Meine Tochter schmiegte sich an mich und dachte sehr gründlich nach. Ich hielt sie im Arm und streichelte ihre Haare, bis sie sich schließlich zu mir drehte und mich küßte. "Gute Nacht, Papi", flüsterte sie. "Gute Nacht, Kerstin. Du hast es sehr gut gemacht." Kerstin lächelte schüchtern. "Ich hab heute auch viel gelernt. Sehr viel." Sie kuschelte sich ein und schloß die Augen. Ich streichelte sie sehr zärtlich, bis sie eingeschlafen war, dann schloß auch ich die Augen.
* * *
Am Morgen war Kerstin gereift. Sichtbar. Sie hatte die Gefahren des Wolfslebens und ihre Verantwortung erkannt und akzeptiert. Das Interesse der Medien an dem Tod des Bauern hatte auch nachgelassen, wie das Jagdfieber der Jäger. Vier volle Tage waren bereits vergangen, ohne daß der gesuchte Wolf aufgetaucht war, und langsam kehrte das Leben für alle wieder zur Normalität zurück. Für alle außer dem Bauern natürlich. Wir hatten inzwischen durch vorsichtige Erkundigungen erfahren, daß er alleine lebte und weder Frau noch Kinder hatte. Das war immerhin ein Trost, wenn auch ein schwacher. Der Hof stand schon seit einigen Wochen zum Verkauf, da er sich nicht mehr rentierte, allerdings gab es kaum Interessenten dafür. Nach diesem Vorfall würden es überhaupt keine mehr sein. Shannon übte täglich ihre Verwandlung, die von Mal zu Mal schneller und schmerzloser vor sich ging. Zum Wochenende war sie genauso schnell wie Kerstin und ich. Mandy stand die blanke Wut im Auge, wenn sie ihre große Schwester als Wolf in unserem Wohnzimmer stehen sah, aber da mußte sie durch. Vera, Kerstin und ich unternahmen unsere ersten Alleingänge in der Nacht, jedoch ohne Jagd. Wir lernten nur. Auch das gefiel Mandy nicht allzu besonders. Als Ausgleich schmusten wir oft mit ihr, und ich schlief mit ihr, so oft es ging. Das tröstete sie etwas. Ich stellte jedoch fest, daß Sex für Kerstin und Mandy zwar eine schöne, tolle und aufregende Sache war, doch das Dasein als Wolf war tausendmal interessanter. Unser Schlafbedürfnis hatte sich komplett verändert. Auch wenn wir sehr müde waren, schliefen wir im Höchstfall nur noch vier bis fünf Stunden. Die Ruhepausen, die wir im Körper des Wolfes verbrachten, bauten uns schneller wieder auf als zwei Stunden Schlaf. Am Sonntag vormittag gingen Shannon und Mandy raus und kamen erst am späten Nachmittag wieder. Mandy war am Boden zerstört; offenbar hatte Shannon sie sehr hart rangenommen. Der Erfolg zeigte sich jedoch schon am Abend, als wir alle fünf auf die Jagd gingen: Mandy tanzte kein einziges Mal aus der Reihe und hielt sich strikt an die Regeln des Rudels. Die dritte Woche mit den Mädchen brach an, und ein neuer Rhythmus stellte sich ein. Sobald es abends dunkel wurde, gingen wir auf die Jagd, auch wenn wir nicht jeden Abend Tiere jagten. Meistens streunten wir ziellos durch die Gegend, wichen Gefahren aus, suchten sie gelegentlich, um unsere Sinne zu schärfen, und begannen, unser Revier abzustecken. Für uns fünf reichte ein kleines Gebiet von etwa vierzig Quadratkilometern, da wir ja nur stundenweise Wölfe waren und nicht auf eine vollständige Ernährung durch die Jagd angewiesen waren. Shannon war damit zufrieden; als vollständiges Rudel, mit Becky und Birgit, und als "Vollzeitwölfe" würden wir ein Revier von ungefähr acht-, neunhundert Quadratkilometern brauchen. Immerhin mußten ja neue Jungtiere heranwachsen, die wir jagen konnten, und das ging nun mal nicht von heute auf morgen. Doch unser kleines Jagdgebiet reichte uns erst einmal völlig aus. Wir hatten einen dichten Wald, Wasser, und sogar einen Unterschlupf, nachdem wir einen Fuchsbau gestürmt und erweitert hatten. Nachts in der Erde zu liegen, den Geruch des Waldes in der Nase zu haben und alle Mitglieder des Rudels Fell an Fell zu spüren, war ein wundervolles Gefühl. Die fünf Mädchen hatten vollständig den Haushalt übernommen. Für Vera und mich bedeutete das sehr viel Freizeit, obwohl wir ihnen halfen, wo immer es ging, doch meistens scheuchten sie uns wieder weg. Meine Geschichten wuchsen in einem immensen Tempo; es war, als hätte ich durch den Wolf noch mehr Ideen als vorher. Birgit und Kerstin lernten kochen und backen, und sie gingen diesem neuen Hobby mit wahrer Begeisterung nach. Vera fand endlich wieder genügend Zeit, sich um den Garten zu kümmern, und verbrachte Stunde um Stunde mit der Pflege der Pflanzen und Beete. Ihre neuen Naturerfahrungen halfen ihr dabei immens. Sie setzte um, arrangierte neu, und war rundherum glücklich. Am Samstag kehrte Ian zurück. Er brachte seine Koffer ins Haus und kam direkt danach zu uns. Seine Töchter begrüßten ihn herzlich, aber wir spürten, daß sie sich schon sehr von ihm distanziert hatten. Er spürte es auch und bat uns gleich, als die Mädchen ihn genügend über seine Reise ausgequetscht hatten, um ein Gespräch. Um Ruhe zu haben, gingen wir mit zu ihm. "Tja", meinte er, als wir alle unsere Getränke vor uns stehen hatten. "Das war ziemlich deutlich, daß die Mädchen sich bei euch sehr viel wohler fühlen als bei mir. Wie sieht es bei euch aus?" Vera sprach zuerst. "Wir würden sie liebend gerne aufnehmen, Ian. Mehr als gerne. Unsere Kinder und sie vertragen sich perfekt." "Toni?" "Genau die gleiche Meinung, Ian. Sie übernehmen einen Großteil der häuslichen Aufgaben und revanchieren sich so für die Familie, die wir ihnen geben. Sie passen perfekt zu uns." "Gut." Für einen Moment zog sehr große Trauer über sein Gesicht, dann hatte er sich wieder gefangen. "Ist nicht einfach", gab er zu. "Aber andererseits... Was habe ich schon von ihnen? Wie oft sehe ich sie? Wie oft kann ich ausgiebig mit ihnen reden und auf ihre Sorgen eingehen? So gut wie nie. Sollen wir es gleich perfekt machen?" "Das ist deine Entscheidung, Ian", sagte Vera sanft. "Möchtest du nicht erst noch mit ihnen reden?" "Nein." Ian lächelte bedrückt. "Vera, ich war drei Wochen weg. Ich bin gerade zurückgekommen. Wo sind meine Töchter? Bei euch. Wo möchten meine Töchter sein? Bei euch." Er riß sich zusammen und war nun der Manager, der eine Aufgabe übernommen hatte und sie konsequent zu Ende führt. "Gehen wir es an." Eine gute halbe Stunde später waren die drei Verträge, die Shannon, Amanda und Rebecca McDonaghue als Pflegekinder unter unsere Aufsicht stellten, ausgefüllt und unterschrieben. Ian füllte auch gleich einen Dauerauftrag für die monatliche Verpflegung aus, und obwohl Vera gegen die Höhe protestierte, blieb Ian beharrlich dabei. Er unterschrieb und gab ihn mir mit den Worten, ihn bei seiner Bank einzuwerfen, damit ich sicher sein konnte, daß er keinen Rückzieher macht. Für den Juli gab er uns einen Scheck mit, über die volle Summe von 4.500 Mark. "Das erspart Mandy das Ausrechnen ihrer Verpflegungskosten", lächelte er dünn, als ich heftig widersprach. "Gehen wir rüber und sagen es ihnen." Seine Töchter nahmen die Neuigkeit mit einem lachenden und einem weinenden Auge auf, doch selbst das Weinen hielt sich in Grenzen, da sich die drei Mädchen schon sehr von ihrem Vater distanziert hatten. Die drei Wochen bei uns hatten das ihre dazu beigetragen, um die Trennung noch leichter zu machen. Außerdem war ihr Vater ja nicht aus der Welt. Er war nach wie vor ihr Vater und konnte sie jederzeit besuchen. Das einzige Problem war unser Haus, zumindest in Ians Augen. Wortlos schüttelte er den Kopf, als er die zukünftigen Zimmer der Mädchen besichtigt hatte. Es war ihm deutlich anzusehen, daß ihm die Aussicht, Mandy und Becky in die Zimmer von Kerstin und Birgit zu stecken, überhaupt nicht gefiel. Er sagte jedoch nichts, sondern verabschiedete sich ziemlich schnell von uns allen. Immerhin waren die Mädchen jetzt endgültig bei uns. Welche Änderungen sich daraus ergeben sollten, war uns jedoch überhaupt nicht klar; das Schicksal hatte gerade erst begonnen, sich um uns zu kümmern.
Kapitel 14 - Montag, 19.07. bis Freitag, 23.07.1999
Langsam verstanden Vera und ich, warum Ian so erfolgreich war: wenn er etwas tat, dann gründlich. Dummerweise bezog er uns mit in seine Aktionen ein, obwohl wir damit überhaupt nichts zu tun haben wollten. Dicht am Rande der Fassungslosigkeit starrten wir ihn an, nachdem er seinen Vorschlag mit freudestrahlendem Gesicht verkündet hatte. "Häuser tauschen." Vera fand als erste die Sprache wieder. "Du möchtest, daß wir die Häuser tauschen." "Vollkommen richtig." Ian beugte sich mit leuchtenden Augen vor, während ich begann, ihn als "noch ungefährlichen Verrückten" einzustufen. "Seht her." Er breitete den Grundrißplan seines Hauses vor uns aus. Die fünf Kinder sahen schweigend zu. "Erdgeschoß." Er deutete auf die Räume, die er erwähnte. "Wohnzimmer mit knapp 60 qm. Eßzimmer nahtlos angeschlossen, 25 qm. Offene Küche, vollständig neu eingerichtet, mit allem Komfort und zurück. Stammt noch vom Vorbesitzer; hat er gekauft, kurz bevor er pleite ging, sagte der Makler. Sieht auch so aus. Neben der Küche ein Vorratsraum. Zwei Gästezimmer. Ein WC für Gäste. Alles zusammen etwa 160 qm. Oben sieben Zimmer. Sechs für die Mädchen, eins für mich. Ihr könntet fünf Kinderzimmer daraus machen, ein Schlafzimmer und ein Büro oder sonst was. Oder du legst dein Büro in eines der Gästezimmer unten und machst oben ein Zimmer, wo alle Mädchen sich treffen können. Weiß der Geier; ihr werdet es schon richtig machen. Das Bad hat eine große, bequeme Wanne, die Dusche ist auch schön groß. Da passen notfalls vier Leute rein, so wie es aussieht. Im Keller ist ein Pool, wie bei euch. Nur etwas größer, jedoch noch ohne Wasser. Aber komplett ausgebaut und einsatzbereit. Da das Haus das letzte in der Straße ist und halb am Hang gebaut ist, besteht eine Seitenwand des Pools komplett aus einbruchssicherem Glas. Der Makler hat es mir vorgemacht." Ian grinste breit. "Er hat einen dicken Stein genommen, in ein Handtuch gewickelt und mit voller Kraft vor das Fenster geschlagen. Ich dachte, ich falle tot um, aber das Glas blieb heil. Dröhnte nur laut, klirrte aber nicht. Der Vorbesitzer hat irgendeine Folie von innen aufgeklebt, so daß man nicht reinsehen kann. Nur raussehen. Ist wohl gerne ohne Kleidung geschwommen oder so. Egal. Neben dem Pool sind Toiletten und Duschen, und hier dann der übliche Kram. Heizung, Waschkeller, Lagerräume für Gartengeräte und so weiter. Der gesamte Keller ist leer; alles, was wir haben, ist auf den beiden oberen Etagen. Die Zimmer der Mädchen sind noch komplett eingerichtet." Er sah sich kurz bei uns im Wohnzimmer um. "Perfekt. Einbauschränke. Wie bei uns. Dann geht das schnell. Vera, eine Gärtnerei würde deine ganzen Pflanzen und Büsche umsetzen, damit du nichts verlierst. Bäume sind bei uns auch genug. Die Kinder und ich könnten alles zusammenräumen, dann zieht ihr rüber, und ich anschließend hierher. Wollt ihr?" "Ian!" Vera war am Rande ihrer Beherrschung. "Wir können doch nicht einfach unsere Häuser tauschen!" "Doch, doch!" Er zog ein gefaltetes Blatt aus der Tasche. "Wir müssen nur zum Grundbuchamt und dort alles umschreiben. Das kostet nur ein paar Mark. Wir können es auch über einen Notar regeln, aber das dauert und kostet viel mehr. Eine Umzugsfirma könnte alles innerhalb von einem Tag umräumen. Alles schon geklärt." "Nur eins nicht." Veras Augen blitzten. "Ob wir das wollen." "Vera!" Ian sah sie mitleidig an. "Du willst mir doch nicht sagen, daß die Kinder sich in den beengten Verhältnissen hier wohlfühlen werden. Daß ein Mädchen nur ein Zimmer hat, kann ich notfalls noch akzeptieren, aber zwei in einem Zimmer... Nein. Das ist nicht akzeptabel." Veras Wut flammte auf. "Bisher hat es sie nicht gestört!" Ihre Stimme drückte aus, was sie fühlte, doch Ian ignorierte es. "Bisher waren sie auch nicht in der Schule und mußten sich zu zweit an einen Tisch quälen, um ihre Hausaufgaben zu machen. Bisher ist es auch warm draußen, so daß sie nicht stundenlang in ihren Zimmern hocken müssen. Bisher hat keine von ihnen einen Freund, mit dem sie sich in Ruhe auf ihrem Zimmer unterhalten möchte." Er beugte sich vor. "Ich habe mir in den letzten drei Wochen den Kopf zerbrochen, Leute. Genau darüber. Ich sagte euch schon, daß es mir völlig egal ist, wo ich wohne. Wenn ihr mein Haus übernehmt und ich eures, gewinnen beide Seiten. Laßt doch mal bitte euren Stolz - oder wie immer ihr das nennt - beiseite, ja? Meine Töchter sollen Platz haben! Genau dafür arbeite ich! Daß sie Platz haben, und daß ihre Zukunft gesichert ist. Ich kann natürlich auch Shannon nächstes Jahr zum Vormundschaftsgericht zerren und sie für volljährig erklären lassen, weil ich ab dann sehr viel im Ausland zu tun habe und sie sich um ihre Schwestern kümmern muß. Anschließend werde ich ihr das Haus überschreiben, und dann steht ihr eh vor der Entscheidung. Also?" Er schaute uns auffordernd an. "Darf ich was sagen?" Ian sah zu seiner ältesten Tochter. "Natürlich, Shannon." Shannon atmete tief durch. "Wir drei sind sehr gerne bei euch", begann sie, Vera und mich abwechselnd ansehend. "Auch so, wie es jetzt ist. Daß Mandy bei Kerstin wohnt, und Becky bei Birgit." Ihre Schwestern nickten. "Aber Mandy und Becky haben sehr viele Bücher und andere persönliche Dinge. Wenn wir das alles hier unterbringen sollen, wird es sehr eng." Sie lächelte entschuldigend. "Wir könnten natürlich einen Teil drüben lassen, aber dann würden wir nirgendwo richtig wohnen. Meinen Schwestern und mir ist es auch völlig egal, wo wir wohnen. Hauptsache, wir sind bei euch. Das wollte ich sagen." "Papa?" "Ja, Bolzen?" "Wir wohnen jetzt drei Jahre hier", sagte Kerstin leise. "Etwas länger, aber nicht viel. Ich fühl mich hier wohl, und Birgit auch, aber unsere Zimmer sind doch jetzt schon voll. Na ja, nicht richtig voll, aber eben gut voll. Wenn wir noch jede ein Bett dazu bekommen, und die ganzen Sachen von Mandy und Becky... Das wird wirklich sehr eng. Mir macht das wahrscheinlich nichts aus, aber... Ich meine, wenn Herr McDonaghue unbedingt tauschen will... Wir könnten es uns doch mal ansehen, oder?" "Birgit?" fragte Vera. "Deine Meinung?" Birgit nickte leise. "Die gleiche, Mami. Ihr habt ja gesagt, daß ich die Hälfte meiner Schränke und Regale freiräumen muß. Mach ich auch gerne, weil ich Becky sehr lieb hab, aber ich weiß nicht, wohin ich das alles tun soll. In den Keller? Und dann jedesmal runterlaufen, wenn ich ein bestimmtes Buch lesen will?" "Unsere Schränke und Regale sind auch voll", meldete sich Mandy. "Nicht nur gut voll, sondern richtig voll. Becky und ich haben schon überlegt, wo wir das alles hinstellen sollen, aber es reicht nicht. Alles kriegen wir nicht unter." "Unsere Kleidung auch nicht", sagte Becky schüchtern. "Birgit und Kerstin haben viel, und wir auch. Das paßt alles nicht." Vera und ich waren schon halb besiegt. Die Mädchen hatten natürlich recht, das wußten wir selbst. Wir sahen doch täglich, was unsere Töchter alles in ihren Zimmern hatten. "Was ist dann mit Geldausgleich?" fragte Vera Ian. "Dein Haus ist doppelt so teuer wie unseres. Mindestens. Wenn -" "Kein Wenn und kein Aber." Nun, da er schon fast gewonnen hatte, war Ian wieder die Ruhe selbst. "Ich habe das Haus für meine Kinder gekauft. Damit sie darin wohnen können, Vera. Das Haus ist in einem sehr guten Zustand. Nirgendwo Fäule oder Nässe, kein Schimmel und keine Pilze. Selbst im Poolbereich nicht. Wenn die Kinder möchten, und wenn ihr möchtet, werden wir einfach tauschen. Wir gehen zum Grundbuchamt, geben unsere Erklärungen ab, zahlen eine kleine Gebühr, und das war's. Sollen wir es uns einmal ansehen?" Mit gemischten Gefühlen gingen wir geschlossen hinüber. Es stimmte schon, daß wir erst drei Jahre und fast zwei Monate hier wohnten. Unsere schönsten Erinnerungen hingen an unserem vorherigen Häuschen, in dem unsere Töchter aufgewachsen waren. Dieses Haus jetzt war unser Heim, aber nicht unbedingt eins, dem wir nachweinen würden wie dem ersten. "Genau", sagte Vera leise, die meinen Gefühlen gefolgt waren. "Toni, wir haben Muttis Angebot angenommen, damit beide Kinder ein eigenes Zimmer haben. Vorher hatten sie eins gemeinsam." "Da habe ich auch gerade dran gedacht, Liebes. Sehen wir es uns mal an. Nein sagen können wir immer noch." "Wird schwer", schmunzelte Vera. "Der Garten wäre für mich ein Grund, abzulehnen, aber wenn er schon mit der Gärtnerei gesprochen hat..." Wir waren vor Ians Haus angelangt. Er führte uns erst außen herum. Vera und ich schauten das Haus mit den Augen potentieller Käufer an und fanden nichts auszusetzen. Dann zeigte er uns das Haus von innen. Ich bin mir noch heute sicher, daß er wußte, daß wir nach einer Besichtigung und dem im Raum stehenden Angebot, das Haus praktisch kostenlos zu übernehmen, nicht mehr ablehnen konnten. Und so kam es auch. Wir schauten uns die Zimmer der drei Mädchen an; tatsächlich hatte jedes von ihnen zwei Zimmer zur Verfügung. Und sie waren, wenn man jeweils zwei Zimmer zu einem zusammenlegte, voll. Ihren Besitz hätten wir in der Tat niemals vollständig bei uns unterbekommen. Alle Zimmer waren untereinander mit Türen verbunden. Das Bad war viel größer als unseres, aber es war wie bei uns das einzige auf dieser Etage. Die Dusche war sehr geräumig. Die Räume im Erdgeschoß waren ebenfalls viel größer als bei uns. Veras Augen leuchteten auf bei dem Gedanken, Teppiche, Brücken, Pflanzen und Stehlampen geschickt zu verteilen, um kleine Inseln zu bilden. Das Eßzimmer war durch eine kleine Stufe vom Wohnraum abgetrennt und grenzte auf der anderen Seite direkt an die Küche, wie bei uns mit einer Arbeitsplatte getrennt. Ian hatte vier Barhocker vor der Platte stehen, die nach der Erfahrung von sieben Personen am Eßtisch nun ungemütlich auf die drei Mädchen wirkten. Die Küche war, wie Ian gesagt hatte, so gut wie brandneu. Die Geräte waren moderner und leistungsfähiger als unsere, bei geringerem Energieverbrauch. Die Schränke boten mehr Platz als wir brauchten. Alles zusammen sah es so aus, als hätte dieses Haus nur auf uns gewartet, um mit sieben Personen hier einzuziehen. Der Keller war ein Traum, besonders der Swimming Pool. Er lag an der Seite des Hauses, an der weder Häuser noch Wege oder Straßen waren, und die Seitenwand war voll verglast. Die anderen Räume waren leer und sehr sauber, nach drei Wochen ohne Pflege nur etwas staubig. Auch die Heizung sah sehr gut aus, die Tanks waren voll gefüllt. Ein weiterer Pluspunkt war eine teure ISDN-Anlage, mit Anschlußdosen in jedem Zimmer. Ian erwähnte, daß diese schon bei seinem Einzug hiergewesen wäre, er sie jedoch niemals genutzt hatte. Immerhin bestand so die Chance, daß die Mädchen später einmal eigene Telefone bekommen konnten. Vera und ich schauten uns kurz an, dann war es entschieden. Ian machte einen formlosen Vorvertrag nach dem Motto: "Die Häuser werden ohne weitere Verpflichtungen oder Ansprüche auf den jeweiligen neuen Besitzer übertragen", dann blieb nur noch der Termin auf dem Grundbuchamt. Darum wollte sich Vera kümmern. Da noch zwei Wochen Schulferien waren, konnten wir gleich loslegen. Merkwürdig. Erst wollten wir unser altes Haus behalten, nun konnten wir gar nicht schnell genug in das neue übersiedeln. Shannon, Mandy und Becky kümmerten sich erst einmal um ihre Zimmer und räumten um; Vera und ich übernahmen das Schleppen der schweren Möbel. Kerstin und Becky packten anschließend ihre Sachen in kleine Kartons und trugen sie Stück für Stück rüber. Vera, Ian und ich machten das gleiche mit der Küche und dem Wohnzimmer. Eine schweißtreibende Tätigkeit. Am Donnerstag fuhren wir zu dritt zum Stadtamt und überschrieben uns die Häuser gegenseitig. Ian war sehr erleichtert, als alles vorüber war. Offenbar war er so fixiert auf das Glück seiner Mädchen, daß er darüber jedes Maß an Vernunft verlor. Denn wer verschenkt schon ein derart großes Haus? Aber damit mußte er klarkommen. Wenn er tatsächlich so glücklich über den Tausch war, wie er aussah, hatten sowohl er wie auch die Mädchen und wir bei dem Tausch sehr gut abgeschnitten. Am Freitag morgen kamen Möbelpacker, die die persönlichen Sachen wie unser Schlafzimmer und die Möbel unserer Töchter umräumten. Gegen Mittag war der Tausch vollzogen, inklusive Autos und Fahrräder. Die fünf Mädchen waren begeistert. Ians Töchter, weil sie ihre Zimmer behalten konnten, und unsere, weil die neuen Zimmer ein gutes Stück größer waren als ihre alten. Vera war begeistert, weil nächste Woche die Gärtnerei alle Pflanzen umsetzen wollte, ich war begeistert, weil mein neues Büro auf den Garten zeigte. Und Ian war begeistert, weil er seine Töchter nun in großen, eigenen Zimmern wußte. Alle waren begeistert. Und das war meistens der Punkt, wo etwas passierte.
Kapitel 15 - Samstag, 24.07. bis Sonntag, 25.07.1999
"Toni?" "Komm rein, Shannon. Fertig mit dem Pool?" "Nein." Etwas in ihrem Ton ließ mich von meinem Monitor aufblicken. "Was hast du, Liebling?" "Was gefunden." Sie zuckte mit den Schultern. "Ich weiß aber nicht, was." "Und wo?" "Neben dem Pool." "Neben?" "Ja." Sie nahm meine Hand. "Kommst du eben mit?" "Sofort." Ich speicherte und folgte ihr dann in den Keller. Shannon wollte den Pool wischen und anschließend füllen, aber ihr Fund hatte sie wohl davon abgehalten. Sie führte mich über den etwa einen Meter breiten Rand des Pools zur Fensterseite und deutete auf den Boden. "Da." Ich sah genauer hin und entdeckte eine Klappe im Boden, sehr geschickt angebracht und nur zu sehen, wenn man sehr genau darauf achtete. Ich drückte Shannon lachend an sich. "Sehr gut, Liebling. Du hast den geheimen Eingang zum Versorgungsschacht des Pools entdeckt." "Danke!" Sie strahlte mich an. "Aber warum ist der auf dieser Seite? Die ganze Elektrik und die Wasserleitungen sind doch auf der anderen Seite. Der Eingang zum Schacht ist doch da drüben." "Äh - was?" Ich stutzte und schaute mir das Becken genauer an. Das Wasser wurde auf der anderen Seite eingefüllt, und dort waren auch die Scheinwerfer, die dem Wasser in der Nacht wohl einen besonderen Reiz geben sollten. Shannon grinste breit. "Na los! Erklär mir das!" "Da gibt es nur eins: aufmachen und nachschauen." Eine der Fliesen konnte aufgeklappt werden, darunter verbarg sich der Griff, um die Klappe anzuheben. Sie ging einigermaßen leicht auf. Wir fanden eine kleine Leiter, die in einen engen Schacht führte, und einen Schalter, der für eine matte Beleuchtung sorgte. Ich war den engen Gang von meinem alten Pool her gewohnt und stieg als erster die Leiter hinunter. Shannon folgte und schmiegte sich direkt an mich, als wir beide unten standen. Der Gang war gerade so hoch, daß ich fast aufrecht stehen konnte. Fast. Alle zwei, drei Meter hing eine schwache Glühbirne. Der Gang führte in Richtung Süden, zum Garten hin, und war stark abschüssig. Wir folgten ihm. Nach der Ecke ging er nach Osten weiter, ebenfalls abschüssig, über die ganze Breite des Hauses. Stirnrunzelnd überlegte ich, wo er enden mochte, als er nach Norden abknickte. Mittlerweile mußten wir unter dem anderen Schacht sein, in dem die Elektrik für den Pool lag. Dieser endete an der Hausmauer zum Garten. "Ist das aufregend!" lachte Shannon, die ihre Hand in mein Hemd gekrallt hatte, um dicht bei mir zu bleiben. "Toni, wo führt das hin?" "Todsicher ins Chaos", brummte ich. Der Schacht schien komplett unter dem Haus zu liegen, über die gesamte Länge und Breite. Der Gang machte drei komplette Runden, bevor wir an eine Tür kamen. Eine sehr alte Tür, aus massivem Holz, mit einem ebenso massiven, altertümlichen Schloß. "Ist das geil!" jauchzte Shannon leise. "Toni? Ich krieg die Hälfte vom Schatz! Ich hab schließlich die Klappe entdeckt!" "Hältst du sie mal?" "Was?" "Die Klappe." "Boah!" Sie drückte mich lachend. "Findest du das nicht auch aufregend? Wer weiß, was hinter der Tür auf uns wartet! Sollen wir uns nicht lieber verwandeln?" "Shannon!" Ich gab ihr einen satten Kuß auf ihr Plappermäulchen. "Bist du jetzt mal ruhig?" "Nö!" Sie gab den Kuß zurück, sehr leidenschaftlich, dann schmiegte sie sich an mich und sah mich an. "Was mag das sein, Toni? Eine Mauer würde bedeuten, daß Ende ist, aber eine Tür..." "Genau, mein Liebling. Eine Tür heißt, geh nur dann weiter, wenn du dazu autorisiert bist." "Das sind wir. Das ist unser Haus. Wir wohnen hier." Sie nickte bekräftigend. "Wer macht auf?" "Mach du", lächelte ich gemein. "Dann kriegst du die Rache der Geister ab." Shannon nickte. "Ich wußte, daß du lügst, wenn du sagst, daß du mich liebst." Sie zwinkerte mir zu und drückte den Griff herunter. Die Tür bewegte sich nicht. "Abgeschlossen." Shannon sah mich an. "Und nun?" "Aufbrechen, Schlüssel suchen, oder alles vergessen." "Nein. Nicht vergessen. Ich will wissen, was dahinter ist. Aufbrechen klingt gut. Wie?" Wir schauten uns das Schloß an. Es war mit einer dicken Platte aus Eisen an der Tür befestigt. Nicht geschraubt, sondern genagelt. Versuchsweise klopfte ich gegen die Tür. Es ergab ein sattes Geräusch, das leicht hallte. "Muß riesengroß dahinter sein", meinte Shannon im gleichen Moment. "Schraubendreher und Hammer?" "Genau. Und Bohrmaschine." Shannon runzelte die Stirn. "So lang ist das Kabel doch nicht!" "Schon mal was von Akkus und kabellosen Werkzeugen gehört? Komm, holen wir alles." Etwas später hatten wir alles zusammen, sogar eine starke Taschenlampe. Shannon hatte zwei Tragetaschen aus Stoff mitgenommen, für den Schatz, den sie hinter der Tür zu finden hoffte. "Toni, überleg doch mal!" plapperte sie aufgeregt, während ich das Schloß musterte, um den besten Ansatz für den Schraubendreher zu finden. "Wenn da jetzt Diamanten und Goldmünzen und kostbare Ketten und wahnsinnig schöne Ringe und Rubine und Smaragde und -" "Shannon?" "Ja?" Sie schaute mich fragend an, als ich das Werkzeug auf den Boden legte und aufstand. "Was denn?" "Schau mal her." Ich nahm den Türgriff in die Hand und drückte ihn nach oben anstatt, wie Shannon vorher, nach unten. Die Tür ging einen Spalt nach außen auf. "Cool!" staunte Shannon. "War die gar nicht abgeschlossen?" "Offensichtlich nicht." Trotz der lockeren Rede war die Spannung auf unseren Gesichtern nicht zu übersehen. Vorsichtig zog ich die Tür auf, während Shannon die Taschenlampe anknipste. Außer einem Geruch nach Moder und Staub kam uns nichts entgegen. Shannon rümpfte ihre süße Nase. "Riecht aber gar nicht gut!" "Dagegen hilft waschen." Ich drückte sie kurz, als Shannon Anstalten machte, mich zu erwürgen. Shannon sah mich verliebt an. "Laß uns reingehen", sagte sie leise. "Ich will wissen, was das ist." "Ich auch. Bleib hinter mir, Liebling." "Ja, mein Alpha." Kichernd stellte sie sich hinter mich und sah mir über die Schulter. Ich nahm ihr die Taschenlampe ab und leuchtete in den Raum hinter der Tür. Es war eine Höhle. Eine echte, reinrassige Höhle, vielleicht zwei, zweieinhalb Meter hoch, mindestens zehn Meter lang und drei Meter breit. Ich konnte nicht abschätzen, wie tief wir nun waren, aber ich vermutete, etwa sechs, sieben Meter unter dem Erdboden. Was mich verwirrte, war der Felsen an den Seitenwänden der Höhle. Wenn dieser Felsen auch unter unserem neuen Haus war, konnte ich mir nicht vorstellen, wie der Keller angelegt werden konnte, ohne diese Höhle zu entdecken. Oder sie schloß so gerade eben mit der Grundfläche des Hauses ab oder grenzte daran. "Geh rein!" drängelte Shannon hinter mir. "Los!" Zögernd setzte ich einen Fuß über die Schwelle der Tür, dann zog ich den anderen nach. Shannon kam mir sofort nach und drückte sich an meine Seite. "Hier war schon jemand." Sie deutete auf den Boden. Im Staub sahen wir Abdrücke von ganz normalen Turnschuhen. Andere Spuren ließen auf einen Tisch und zwei oder drei Stühle schließen. Vielleicht hatte der Besitzer vor Ian hier eine Art Arbeitszimmer gehabt. Allerdings war die Höhle unbeleuchtet. Sehr merkwürdig. "Und weiter." Wir folgten der Höhle, bis sie in einen Gang mündete. Vor uns war ein Abgrund, vielleicht sechs oder sieben Meter lang und so breit wie der Gang, der sich hinter dem Abgrund fortsetzte. "Und Ende." Shannon seufzte enttäuscht. "Kein Schatz." "Und was ist mit mir?" schmunzelte ich. Shannon schmiegte sich an mich. "Dich kann ich ja nicht verkaufen. Dich will ich behalten!" "Hab ich ein Glück!" Wir küßten uns kurz, dann meinte Shannon: "Verwandeln und springen? Das müßten wir schaffen." "Habe ich auch gerade gedacht. Du wartest hier, Liebling, und wenn ich drüben bin, packst du unsere Sachen in eine Tasche und wirfst sie mir rüber. Dann kommst du nach." "Ja, mein Alpha." Ich zog mich aus und verwandelte mich. Ich nahm einen langen Anlauf und flog über den Abgrund. Gut einen Meter hinter der Kante setzte ich auf und stoppte. Wenig später war ich wieder ein Mensch. Shannon zog sich aus, steckte Kleidung und Taschenlampe in eine der Stofftaschen, packte die andere dazu und warf sie mir herüber. Wenig später stand sie an meiner Seite und strahlte mich an. "Das ist wahnsinnig aufregend!" "Für mich auch. Aber hier war noch nie jemand; der Boden ist völlig unberührt." Ich leuchtete in die Dunkelheit vor uns. Der Boden war staubig, aber ohne erkennbare Spuren. Nach wenigen Metern veränderte sich der Gang. Er sah nun so aus, als wäre er auf natürlichem Wege entstanden. Wir folgten dem stark gewundenen Pfad und standen schließlich vor einer Mauer. Shannon stampfte wütend mit dem Fuß auf. "Das darf doch nicht wahr sein! Die ganze Aufregung für nichts und wieder nichts?" Verärgert schlug sie mit der Faust gegen die Mauer. Ein dumpfes, hohl klingendes Geräusch entstand, und der Stein, gegen den sie geschlagen hatte, bröckelte, blieb aber an der Stelle. "Die ist ja ganz morsch!" rief Shannon begeistert. "Los! Schlagen wir sie ein!" "Warte!" Ich fing ihren Fuß ein, mit dem sie vor die Mauer treten wollte. Shannon strauchelte und hielt sich an mir fest, ihre Augen schauten mich fragend an. "Wieso?" "Wir sollten erst mal nachdenken, mein Liebling. Du sagtest vorhin, eine Mauer bedeutet Ende. Warum ist die Mauer hier, wenn dahinter noch etwas ist? Ist sie hier, um uns abzuhalten, oder ist sie hier, um das, was dahinter ist, von uns abzuhalten?" Shannon erschrak. "Du meinst... Du meinst, da könnte etwas Gefährliches hinter sein?" "Ich weiß, daß hier eine Mauer ist, Shannon. Niemand baut eine Mauer aus purem Vergnügen. Also hat sie einen Sinn." "Ja, aber die ist morsch. Wenn etwas Gefährliches dahinter wäre, hätte dieses - Gefährliche die Mauer schon längst eingerissen." "Wenn es sich bewegen kann." Wir sahen uns lange und nachdenklich an, dann nickte Shannon. "Okay. Ich werde Wolf, und du reißt die Mauer ein. Einverstanden? Was immer dort sein mag, so können wir nicht überrascht werden. Du kannst notfalls reden, und ich kann notfalls mehr sehen und angreifen." "Klingt vernünftig, mein Liebling. Geh lieber ein paar Schritte zurück." "Ist gut." Shannon verwandelte sich und schnupperte an der Mauer, dann sah sie mich an und ging langsam zwei Meter zurück. Keine direkte Gefahr, sagte diese Geste. Ich trat kräftig gegen die Mauer, die sofort zu einem großen Teil einbrach. Drei weitere Tritte, und der Durchgang war frei. Shannon und ich liefen ein gutes Stück zurück, um dem Staub auszuweichen, der sich jedoch schnell auf den Boden legte. Wir gingen wieder näher heran. Der Lichtschein der Taschenlampe zeigte einen kleinen Raum, an dessen Rückseite ein vormals stabiles, jetzt jedoch nur noch verrostetes und sehr brüchiges Eisengitter in der Wand steckte. Durch die Gitterstäbe war eine Art Podest zu sehen. In dem kleinen Raum selbst stand ein winziger Tisch, der offenbar nur noch von Spinnweben zusammengehalten wurde, und auf dem Tisch lagen einige Blätter vergilbtes Papier. "Shannon?" sagte ich leise zu dem Wolf, der sich an meine Beine gedrückt hatte. "Geh bitte ganz vorsichtig zurück. Sehr vorsichtig." Unhörbar wich Shannon zurück in den Gang. Ich folgte ihr äußerst langsam, um bloß keine Luftströmungen zu verursachen. Nach zehn Metern und einer leichten Biegung fühlte ich mich sicherer. Ich nickte Shannon zu, die kurz darauf nackt vor mir stand. "Tu mir einen Gefallen, Liebes", bat ich sie, bevor sie den Mund aufmachen konnte. "Lauf zurück und hol Vera. Sag ihr, sie soll ihre alte Ausrüstung mitbringen." "Alte Ausrüstung?" "Ja. Lauf." Gehorsam verwandelte Shannon sich wieder und lief los. Als sie gut fünfzehn Minuten später mit Vera zurückkam, mußte ich lachen, denn auch für mich war ein brauner Werwolf mit leuchtend blauem Rucksack nicht gerade alltäglich. Wenig später waren beide Mensch und angezogen. Veras Augen leuchteten, als sie den Raum und die Einrichtung sah. "Toni!" Aufgeregt umarmte sie mich. "Fang an, Liebes. Davon hast du doch immer geträumt." "Mein ganzes Leben lang!" Vera nahm sich den Rucksack und bewegte sich ganz vorsichtig und langsam in den Raum hinein. Shannon sah mich nur fragend an. Ich nickte lächelnd. "Vera hat früher Archäologie studiert. Bis zu Kerstins Geburt hat sie im Museum alte Bücher und Schriftrollen restauriert. Ihr größter Traum war, selbst einmal etwas zu entdecken, aber sie hat nie die Chance bekommen. Nach Kerstins Geburt war sie nur noch Mutter." "Jetzt verstehe ich." Shannon kam in meinen Arm. "Warum sollte ich ganz vorsichtig zurückgehen?" "Weil schon eine starke Luftströmung das Papier zerstören kann. Es ist sehr alt und demzufolge wahrscheinlich äußerst brüchig. Das wollte ich auf jeden Fall verhindern. Das Einstürzen der Mauer hätte schon alles zerstören können." "Kapiert." Sie schmiegte sich an mich. Gemeinsam sahen wir Vera zu, die ein Blatt Papier nach dem anderen zwischen zwei Kartons legte, um sie später so zu behandeln, daß man es anfassen konnte. Es war nervenaufreibend, ihr zuzusehen, aber für sie mußte es noch schlimmer sein. Eine hastige Bewegung... Es dauerte fast eine Stunde, dann hatte Vera die acht Blätter sicher zwischen Kartons gepreßt, die von Wäscheklammern zusammengehalten wurden. Sie warf einen Blick auf das Gitter und winkte uns herein. "Toni? Kannst du mir helfen? Einfach vorsichtig ziehen; so wie das aussieht, wird es sich auflösen, wenn wir es nur kräftig berühren." Ich zögerte. "Möchtest du nicht lieber erst die Blätter auswerten, Liebes? Ich meine, ein Podest hinter Gittern... Das gibt mir nicht gerade ein gutes Gefühl. Es läuft uns ja nicht weg." "Da hast du wohl recht." Sie sah einen Moment zu dem Gitter herüber, dann nickte sie. "Ja. Laß uns gehen." Zwanzig Minuten später saß sie in Kerstins Zimmer, Fenster und Türen geschlossen, und bestrich jedes einzelne Blatt mit einer Tinktur, die dem Papier mehr Konsistenz gab. Danach käme die langwierige Prozedur des Restaurierens, bei der ein ganz milder Kleber auf mögliche Bruchstellen gepinselt wurde. Wir ließen Vera in Ruhe arbeiten. Diese Entdeckung war natürlich das Gesprächsthema unter den Mädchen. Allen fiel es schwer, sich wieder auf die Hausarbeit zu konzentrieren, aber da Vera sich nicht blicken ließ, kehrte ganz allmählich wieder Ruhe ein. Nach dem Mittagessen ging Vera direkt zurück an die Papiere, und am Sonntagabend verkündete sie die Ergebnisse. "Es ist Altdeutsch", sagte sie sehr ernst. "Von der Schrift her würde ich sie auf Mitte des 14. Jahrhunderts schätzen. Plusminus hundert Jahre." Sie breitete die Blätter vor sich aus. "In dem Podest ist - etwas - enthalten, was durch das Öffnen befreit werden würde." Vera sah auf ihre Notizen. "Das erste Blatt ist nicht vollständig beschrieben, nur eine sehr unklare Formulierung über das, was noch folgt. Scheint aber auch nicht wichtig zu sein. Ist mehr eine Inhaltsangabe. Das zweite Blatt enthält eine Beschreibung, aber es ist in einem sehr alten Latein gehalten. Um das zu entziffern, brauche ich noch viel Zeit. Blatt Drei und Vier - und das stürzt mich doch in eine gelinde Verwirrung - beschäftigen sich mit Wölfen und Menschen. Und wie der eine zum anderen werden kann. Es ist ein fast unmöglicher Zufall, daß gerade wir darauf gestoßen sind." Sie schüttelte den Kopf und sah Shannon an. "Shannon, was hast du noch für uns geplant? Reicht es nicht, daß wir inzwischen alle Werwölfe sind? Daß ich gerade den einen Schock halbwegs verdaut habe? Machst du das mit Absicht?" "Klar!" Lachend warf sich Shannon in Veras Arme und drückte sie. "Nur die stärksten überleben, und das teste ich gerade bei euch." "Du kleiner Satansbraten!" Die beiden küßten sich kurz, dann setzte sich Shannon neben Vera auf die Couch, während Vera wieder auf ihre Notizen sah. "Blatt Fünf, Sechs und Sieben enthalten die Beschreibung eines Verstecks, in dem Schätze liegen sollen." Shannon jubelte auf, doch ein Blick von Vera brachte sie zum Schweigen. "Bei diesem Schatz soll ein Stück sein, daß gewaltige magische Kräfte hat und einen Menschen innerhalb von Sekunden in einen Wolf verwandeln kann. Welches das ist, steht jedoch nicht dabei. Dieser Schatz verbirgt sich irgendwo und kann nur erreicht werden, wenn das Podest zur Seite bewegt wird. Danach gelangt man in eine Art Höhlensystem, und der Weg zum Schatz steht hier." Sie deutete auf drei Blätter; auf einem erkannte ich eine Skizze. "Blatt Acht geht auf das Höhlensystem ein, wer es gefunden hat und so. Nicht weiter interessant." Sie legte die Blätter ab. "Sehr gute Arbeit, mein Liebes", lächelte ich. Vera lächelte zurück. "War auf jeden Fall spannend." "Wollen wir gleich los?" fragte Shannon aufgeregt. Auch die anderen Mädchen zappelten unruhig hin und her. "Toni?" Vera sah mich fragend an. "Was meinst du? Nirgendwo in den ganzen Blättern steht ein Hinweis auf Gefahr. Und genau das -" "Macht dich stutzig", unterbrach ich sie. Vera nickte ernst. "Ganz genau. Mehr als stutzig. Es macht mich nervös. Andererseits... Diese lange Grube am Anfang des Ganges macht in meinen Augen auch keinen Sinn. Welcher Mensch hat schon die Kraft, darüber zu springen? Irgend etwas stimmt da nicht." "Shannon hatte vorhin eine gute Idee gehabt, mein Liebes. Sie war Wolf, während ich die Mauer eingetreten habe, für alle Fälle. Vielleicht können wir das jetzt auch so machen. Nachschauen sollten wir aber." "Das auf jeden Fall", grinste Vera. "Erst mal gucken, aber nichts anfassen." "Genau."
Eine Stunde später waren wir bereit. Wir hatten ausreichend gegessen, neue Batterien in die große Taschenlampe gesteckt und eine zweite, etwas kleinere dazu gepackt, und uns robuste Kleidung angezogen. Birgit und Becky waren äußerst übellaunig, weil sie nicht mit uns kommen konnten, aber als Mensch hätten sie den Sprung über den Schacht niemals geschafft. Zur Sicherheit blieben sie in der Höhle vor dem Schacht stehen und warteten auf uns. Kerstin war als Bote eingeteilt; sie sollte notfalls oder gegebenenfalls - je nach Situation - zurücklaufen und den beiden Mädchen Bescheid sagen, was wir brauchten. Das Gitter bestand tatsächlich nur noch aus Rost. Es zerbrach unter unseren Händen, als wir kräftig daran zogen. Die Luft füllte sich mit dem Geruch nach rostigem Metall und alten Steinen. Das Podest war schwer, aber Vera, Shannon und ich schafften es zu dritt, es in einem Stück zur Seite zu bewegen. Darunter kam eine Platte zum Vorschein, mit einem eingelassenen Ring. Die Platte hatte fast die gleichen Abmessungen wir der Fuß des Podestes. "Und jetzt wird's schwierig", seufzte Vera mit einem Blick auf den massiven Ring. "Wenn der genauso brüchig wie das Gitter ist..." "Wahrscheinlich. Kerstin, läufst du bitte zurück? Birgit soll ein Brecheisen holen. Das steht im Keller, neben dem Rasenmäher." "Okay!" Kerstin verwandelte sich und rannte los. "Brecheisen?" grinste Shannon. "Wozu hast du denn sowas im Haus?" "Vera braucht das im Garten", lächelte ich. "Hast du schon mal Baumstümpfe aus der Erde entfernt?" "Aha." Shannon lachte unschuldig. "Bin ja noch jung." Wir warteten, bis Kerstin als Wolf zurückkam, das Brecheisen im Maul. Sie ließ es vor uns fallen und verwandelte sich zurück. "Ging schneller so", grinste sie. "Schmeckt aber nicht." Zwei schweißtreibende Minuten später war die Platte entfernt; der Ring war tatsächlich nach dem ersten kräftigen Ziehen abgebrochen. Unter der Platte sahen wir eine sehr steile Treppe. Vorsichtig ging ich vor, mich an den Wänden abstützend, und kam in einem engen Schacht zu stehen. Vera und Shannon folgten mir, Mandy und Kerstin warteten oben. "Einer von uns sollte auch hierbleiben", sagte Vera mit ernstem Gesicht. Ich nickte. "Ja. Wer?" "Knobeln wir." Nach drei Runden hatte Vera verloren. Shannon fragte: "Warum kommt ihr nicht beide mit?" Vera sah sie ausdruckslos an. "Damit ihr nicht beide Eltern auf einen Schlag verliert." Sie drückte mir die Blätter in die Hand und erklärte mir den Weg, dann ging ich vor, und Shannon folgte. Es war tatsächlich ein System von miteinander verbundenen Höhlen, durch das wir uns nun schrittweise bewegten, bei jedem Aufsetzen des Fußes eine Falle vermutend, doch es blieb ruhig. Offenbar hatte derjenige, der sich all dies ausgedacht hatte, den Schacht und das Gitter als ausreichenden Schutz angesehen. Mir war allerdings noch immer unklar, wie derjenige die Höhle verlassen haben konnte. War es ein Mensch wie wir, mit den gleichen Fähigkeiten? Oder war es jemand, dessen Fähigkeiten wir nicht einmal erahnen konnten? Vielleicht eine halbe Stunde später standen wir an der Stelle, die auf der Skizze eingekreist war. Vor uns befand sich eine Nische in der Wand, mit einer kleinen rechteckigen Truhe. Anstelle eines Schlosses war nur ein glänzender metallener Riegel, der zur Seite geschoben werden konnte. "Wow!" flüsterte Shannon ehrfürchtig, die sich wieder verwandelt hatte. "Toni, wir sind reich!" "Vorerst sind wir noch lebendig", sagte ich ernst. "Liebling, geh bitte ein paar Meter zurück, ja? Das ist mir alles viel zu einfach. Ich möchte sie von der Seite her aufmachen." "Warte!" Sie wurde schnell zum Wolf, der kurz an der Truhe schnupperte, dann stand sie wieder vor mir. "Da ist nichts", beruhigte sie mich. "Nichts, was ein Wolf oder ein Mensch erkennen kann, Shannon. Sei so lieb, ja?" Shannon sah mich mitleidig an. "Ist doch Unsinn!" Mit einer so schnellen Geste, daß ich sie kaum sah, schob sie den Riegel zurück. Im nächsten Moment spürte ich einen irrsinnigen Schmerz in meinem Gesicht, als ob ich in einen Schweißbrenner gelaufen wäre, schmeckte glühend heiße Luft in meinem Mund bis hinunter in die Lunge und roch verbranntes Fleisch und Haare, dann wurde es schwarz um mich herum.
* * *
Das erste, was ich spürte, als meine Ohnmacht nachließ, waren Shannons Hände auf meinen Haaren, die mich streichelten. Ich öffnete die Augen und erschrak zu Tode. Shannons Gesicht war stellenweise verbrannt, doch die Selbstheilung war schon am Werk. "Du siehst auch so aus", murmelte sie undeutlich. "Heilt aber schon." Auch ihr Mund hatte einiges abbekommen. Ich nickte schwach. Sie legte sich auf den Boden, mit ihrem Kopf auf meine Schulter. "Ich höre in Zukunft immer auf dich!" versprach sie schluchzend. "Toni, das hat so wehgetan!" Ich legte meinen Arm um sie und drückte sie matt. Sprechen konnte ich noch nicht; alles in meinem Mund schmeckte nach verbranntem Fleisch. Es dauerte einige Zeit, bis wir die Kraft hatten, uns aufzusetzen. Shannons Gesicht sah schon viel besser aus; auch ihre Haare wuchsen wieder nach. "Es tut mir so leid!" sagte sie leise. "Wenn wir keine Wölfe wären, dann..." "Dann wären jetzt zwei Menschen weniger in diesem Haushalt." Ächzend lehnte ich mich an den Felsen. "Shannon, das war keine besonders gute Idee gewesen." "Ich weiß." Schüchtern drückte sie sich an mich. "Bin ja noch jung", entschuldigte sie sich. Ich zog sie zärtlich an mich. "Ja, das sagtest du schon. Und langsam glaube ich das auch." "Ich auch." Sie preßte ihre Wange an meine Schulter. "Das war wirklich dumm von mir." "Geht ja gleich vorbei, mein Liebling. Aber es kann trotzdem noch einiges passieren. Beim Öffnen der Truhe, beim Wegnehmen der Truhe, beim Herausnehmen von dem, was in der Truhe ist, auf dem Rückweg... Wer weiß." "Ich mach nichts mehr!" versprach sie hastig. "Ganz ehrlich nicht!" "Schauen wir mal." Ich strich ihr sanft über das Haar, das schon fast die normale Länge erreicht hatte. Ganz kurz zuckte der Gedanke auf, woher dieses Ding, was wir in uns hatten, wußte, wie lang es die Haare machen mußte, dann konzentrierte ich mich wieder auf die Truhe. "Shannon, jetzt gehst du aber bitte ein paar Meter zurück, ja?" "Ja, mein Alpha." Mühsam kam sie auf die Füße und brachte sich in Sicherheit. Ich wartete, bis ich ihren leisen Ruf hörte, dann machte ich mich daran, die Truhe mit einem sehr flauen Gefühl im Magen zu öffnen. Aber es geschah nichts. Im Licht der Taschenlampe starrte ich überwältigt auf die Schmuckstücke, die in der Truhe lagen. Goldene Ketten, diamantbesetzte Ringe, Halsketten mit Rubinen und Smaragden. Wenn das Zeug echt war, bräuchte keiner von uns sieben jemals wieder zu arbeiten. Ich schloß die Truhe wieder und versuchte, sie aus der Nische zu ziehen. Sie war noch nicht halb draußen, als ich ein leises Zischen hörte und einen heißen Schmerz im Rücken verspürte, genau an der Wirbelsäule. Ich schrie auf, als meine Beine nachgaben, und knickte ein. Sofort war Shannon bei mir. "Scheiße!" jammerte sie. "Ein Pfeil! Toni, ich muß den rausziehen." "Tu es!" keuchte ich. Etwas sehr Unangenehmes breitete sich in meinem Körper aus, vom Rücken ausgehend, und verursachte Taubheit in Nerven und Muskeln. "Shannon, ich fürchte, der war vergiftet." Mein Blick verschwamm. Undeutlich spürte ich, wie Shannon sich mit dem Pfeil abmühte, dann schoß ein weiterer starker Schmerz durch meinen Rücken. "Hab ihn!" Ich hörte ein leises Poltern, als sie den Pfeil wegwarf, dann schob sich ihr verwaschenes Bild vor meine Augen. "Toni? Hörst du mich?" Ihre ängstliche Stimme klang sehr weit entfernt. Ich wollte nicken, als plötzlich starke Muskelkrämpfe einsetzten. Ich spürte noch, wie mein Kopf hart auf dem Boden aufschlug, dann war ich wieder weg. Irgendwann kam ich wieder zu mir. Mein Körper fühlte sich heiß und ausgelaugt an. Shannon saß leise weinend neben mir. "Bin zurück", krächzte ich. Mein Mund war staubtrocken, keine einzige Speicheldrüse arbeitete. "Wasser!" "Sofort!" Erleichtert drückte und küßte sie mich, dann verwandelte sie sich. Ich ermahnte sie, in unseren Spuren zu bleiben. Sie nickte und rannte los. Ich blieb liegen, schnell und erschöpft atmend, und spürte, wie sich mein Körper langsam von dem Giftstoff heilte. Wie war das erst, wenn wir älter wurden, dachte ich ironisch. Mußte man uns verbrennen, um zu verhindern, daß wir wieder aus dem Sarg krabbelten? Einige Zeit später kehrte Shannon zurück, mit einer Flasche Mineralwasser, direkt aus dem Kühlschrank. Gierig trank ich die halbe Flasche auf einen Zug leer, dann ging es mir schon viel besser. "Vera ist total aufgelöst", berichtete Shannon. "Wir sind seit drei Stunden weg, Liebster. Sie hat schon gespürt, daß was nicht in Ordnung ist, aber kommen wollte sie nicht, wegen Mandy und Kerstin. Die beiden sind auch total daneben, aber jetzt sind alle wieder beruhigt." Sie stellte sich vor die Nische und sah die Truhe an, die noch zur Hälfte in der Nische stand. "Jetzt bin ich mal dran", sagte sie tapfer. "Du hast genug mitgemacht." "Finde ich auch. Hör schnell weg!" Die Kohlensäure des Mineralwassers meldete sich übermächtig. Shannon grinste. "Dir scheint es ja wieder gutzugehen. Mach das bloß nicht beim Mittagessen!" Sie zog an der Truhe und hob sie aus der Nische heraus, doch sie hatte sich gewaltig verschätzt, was das Gewicht anging. Ich merkte nur noch, daß ich einen heftigen und äußerst schmerzhaften Schlag auf den Kopf bekam, dann gingen die Lichter ein drittes Mal für mich aus.
* * *
"Verbrannt, erschossen, vergiftet und von einer Schatztruhe erschlagen", grinste Vera. "Nicht schlecht für einen Abend." "Mann!" jammerte Shannon. "Ich wußte doch nicht, daß das Ding so schwer ist, verdammt! Es tut mir wirklich leid!" Sie kuschelte sich neben mich auf die Couch, und obwohl ich lag und es kaum mehr Platz für sie gab, schaffte sie es. Sie drückte mir ein Küßchen nach dem anderen auf den Kopf. "Immerhin wissen wir jetzt, daß wir kaum umzubringen sind", meinte ich mit einem leichten Schmunzeln. "Selbst einen Schädelbruch überleben wir ohne Kopfschmerzen." "Ich fand das auch nicht gerade toll", maulte Shannon. "Neben dir zu sitzen und zu sehen, wie das Blut aus deinem Kopf lief... War nicht schön." "Ich fand's auch nicht schön, mein Liebling." Ich drückte sie zärtlich. "Wenn du nicht schon so fantastisch im Haushalt helfen würdest, würde ich dir jetzt ein Jahr Küchendienst aufbrummen." "Mach zehn Jahre draus", murmelte sie verlegen. "So schuldig, wie ich mich fühle..." "Wir leben ja noch, mein Liebling. Läßt du mich mal eben hoch?" "Nein." Sie umarmte mich kräftig. "Ich laß dich nie wieder los!" "Laß ihn aufstehen", meldete Kerstin sich lachend. "Wir wollen die Beute anschauen!" "Nein." Shannon klammerte sich an mich. Ich kitzelte sie, bis sie lachend von der Couch fiel, dann gingen wir geschlossen in die Küche, wo die Truhe in aller Unschuld auf der Arbeitsplatte stand. Die Mädchen bekamen riesengroße Augen, als Vera ein Teil nach dem anderen mit aller Vorsicht herausnahm und auf die Platte legte. Es waren zum Teil ganz normale Schmuckstücke wie Halsketten und Broschen, aber auch einige wunderschöne. Eine Halskette zum Beispiel bestand aus einer dreireihigen Kette aus feinen goldenen Gliedern und einem blutrot schimmernden Rubin, der so viele Facetten hatte, daß er schon fast wie ein Kreis wirkte. Ein Ring trug einen großen, hell schimmernden Diamanten, mit vier sehr kleinen drumherum angeordnet. Die Fassungen der Diamanten waren ebenfalls wahre Kunstwerke, geformt wie Blütenblätter. Ein Amulett erregte sofort unsere Aufmerksamkeit. Es war eine simple, jedoch stabile Kette aus einem unbekannten Material, der schwere Anhänger war aus massivem Gold und zeigte das Bild einen Wolfskörpers mit einem menschlichen Kopf. Auf der Rückseite waren einige Worte eingraviert. Vera studierte sie nachdenklich, dann schüttelte sie den Kopf. "Das Ding sollten wir auf keinen Fall verkaufen. Ich muß es noch genauer prüfen, aber auf den ersten Blick scheint es so zu sein, daß diese Verwandlung einmalig und unwiderruflich ist." "Dann sollten wir es sogar einschmelzen lassen." Shannon schaute sich das Teil aufmerksam an. "Doch", sagte sie dann entschieden. "Ich kann das nicht lesen, Vera, aber ich spüre, daß dieses Amulett Tod bringt. Und nicht nur dem, der das trägt." "In diesem Punkt bin ich sehr geneigt, deiner Meinung widerspruchslos zu vertrauen." Vera nahm Shannon das Amulett wieder ab und legte es vorsichtig zurück in die Truhe, dann klappte sie den Deckel zu und sah uns der Reihe nach an. "Kriegsrat? Auch wenn es schon fast neun Uhr ist?" Ich nickte. "Machen wir." Sofort sprinteten unsere beiden Töchter los und stellten Gläser und Getränke auf ein Tablett. Unsere drei neuen Töchter schauten sprachlos zu. Vera grinste breit. "Kriegsrat", erklärte sie ihnen, "heißt bei uns der sogenannte Familienrat. Nur kommt es bei uns gelegentlich zu offenen Kriegserklärungen, deswegen haben wir es umgetauft." "Ach so!" Lachend halfen die drei unseren beiden. Kurz darauf saßen wir wieder im Wohnzimmer, mit Getränken und Gebäck versehen, und diskutierten über unsere nächsten Schritte. "Zuerst einmal ist der Eigentumsnachweis wichtig", begann Vera. "Toni, wir gehen die gesamte Strecke vom Pool bis zur Nische ab und nehmen das mit der Videokamera auf. Dann machen wir Fotos von der gefüllten Truhe und anschließend von jedem einzelnen Teil darin. Ich werde eine Aufstellung anfertigen, wo jedes Stück mit Maßen und Details beschrieben wird." "Das hört sich gut an, Liebes. Wir müssen uns nur überlegen, wie wir den Schacht überwinden. Wenn plötzlich ein Wolf auf der Aufnahme zu sehen ist, glaubt uns niemand den Rest. Und dann? Sollen wir die Dinger verkaufen?" "Nein!" protestierten fünf helle Stimmen wie eine. In den folgenden Sekunden gab jede einzelne der fünf laut und deutlich bekannt, welche Stücke sie gerne für sich haben wollte, und aus welchem Grund ihr genau diese und keine anderen gefielen. Dummerweise wollten sowohl Becky wie auch Kerstin den gleichen Ring, und Mandy und Shannon hatten an ein und derselben Halskette Gefallen gefunden. Vera gelang es nur mit Mühe, nicht in lautes Lachen auszubrechen und gleichzeitig wieder für Ruhe zu sorgen. "Vielleicht können wir folgendes machen", schlug ich vor, als die Mädchen wieder still und friedlich waren. Nach außen zumindest. "Wir machen das, was Vera gesagt hat, um beweisen zu können, daß wir den Schmuck tatsächlich gefunden und nicht gestohlen haben. Anschließend gehen wir damit zu einem Juwelier und lassen alles schätzen, ohne etwas zu verkaufen." "Und dann?" fragte Kerstin skeptisch. "Dann diskutiert ihr unter euch aus, wer was bekommt." Vera lächelte Kerstin herzlich an. "Es sind so viele Teile, Bolzen, da findet sich bestimmt für jede von euch etwas passendes. Notfalls losen wir aus, wer was bekommt, wenn ihr euch gar nicht einigen könnt." "Da verlier ich ja doch!" murrte Becky. "Beim Losen hab ich nie Glück!" "Ich auch nicht." Birgit sah traurig in die Runde. "Wie auf der Kirmes. Ich hab immer nur die Nieten." "Wir können ja tauschen", sagte Kerstin zu Becky. "Du trägst den Ring einen Tag, und ich den nächsten. Dann wieder du und so weiter." Becky nickte mit leuchtenden Augen. "Na also", lächelte Vera. "Und bis dahin bleiben alle Stücke schön in der Truhe. Toni, haben wir noch Kassetten für die Polaroid?" "Ja, drei oder vier Stück." "Perfekt. Für den Anfang sollte das reichen. Ich fang dann schon mal an, damit wir morgen früh gleich in die Stadt fahren können."
Kapitel 16 - Montag, 26.07.1999
Ein leises Geräusch weckte mich mitten in der Nacht. Auf mir lag Kerstin, noch in der gleichen Position, in der sie eingeschlafen war. "Hier stimmt was nicht", murmelte sie. "Hier stimmt was nicht. Hier stimmt was nicht." "Kerstin?" flüsterte ich. "Kerstin!" "Hier stimmt was nicht. Hier stimmt was nicht. Hier stimmt was nicht." "Kerstin!" Ich schüttelte sie sanft. Kerstin zuckte zusammen und riß die Augen auf. Im Dunkel der Nacht schimmerten sie plötzlich gelblich. "Du wagst es?" knurrte sie mich voller Wut und Haß an. "Du wagst es, meinen Schlaf zu stören? Der letzte, der dies gewagt hat, starb volle fünf Tage! Bei dir werden es sechs werden!" Aus ihrem Mund drang ein intensiver Geruch von Verwesung, der mir den Atem raubte. Und der mir Angst machte, denn Kerstin war gestern nicht auf der Jagd gewesen. Wie wir alle nicht. "Kerstin!" rief ich laut. "Komm zu dir!" "Stirb!" schrie sie mich urplötzlich an, dann fühlte ich, wie sie in meinen Armen erschlaffte. In der gleichen Sekunde ging das Licht an. Vera und Becky sahen bestürzt zu uns herüber. "Was ist los?" "Ich weiß nicht." Ich versuchte, mein hämmerndes Herz und meine zitternden Nerven zu ignorieren, und sah Kerstin an, die friedlich und unschuldig wie ein neugeborenes Kind auf mir schlief. "Schlaft weiter", sagte ich weitaus ruhiger, als ich mich fühlte. "Sie hat nur schlecht geträumt. Vielleicht die ganze Aufregung." "Mag sein." Zweifelnd sah meine Frau unsere Tochter an. "Wirklich alles in Ordnung?" "Ja, Liebes. Sie hat mich nur ziemlich erschreckt." "Uns auch." Seufzend ließ Vera sich zurückfallen. Becky schaltete das Licht aus und kuschelte sich wieder in ihren Arm. "Gute Nacht." "Nacht, ihr zwei." Ich drückte Kerstin liebevoll an mich und starrte noch lange Zeit in die Dunkelheit.
'Was hast du, Liebster?' 'Es geht um Kerstin, mein Liebling. Sie -' 'Ja, ich sehe es schon. Sollen wir sie mal besuchen?' 'Wenn du mir verrätst, wie das geht...' 'Denk einfach an sie, so wie du an mich denkst.' Den Bruchteil eines Gedankens später war ich bei Kerstin und erstarrte. Shannon erschien neben mir. 'Oh mein Gott!' flüsterte sie. Kerstin war nur noch schemenhaft zu erkennen; um sie herum war eine kränklich gelbe Wolke, die einen bösartigen Eindruck auf mich machte. 'Denk jetzt bloß nichts Falsches!' jammerte Shannon voller Panik. Doch viel zu spät. In mir waren extrem feindselige Gefühle dieser Wolke gegenüber, die meine eigene Tochter vergiftete, und genau durch diese Gefühle wurde die Wolke auf mich aufmerksam. Sie veränderte sich nicht, aber ich spürte, daß sie mich bemerkt hatte und mich musterte. So wie ich bei meiner ersten Jagd das Reh gemustert hatte. Es systematisch nach Schwachstellen abgesucht hatte. 'Toni!' schrie Shannon panisch. 'Hör auf zu denken!' Genauso gut hätte sie von mir verlangen können, mit dem Leben aufzuhören. Ich sah die Wolke konzentriert an. 'Was willst du?' dachte ich voller Zorn. Die Wolke formte sich zu dem Bild eines Wolfes, der mich lauernd anstarrte. 'Toni! Laß uns verschwinden!' 'Und Kerstin bei diesem - diesem Ding lassen? Nein. Was willst du?' In mir tauchten Bilder auf. Bilder, wie ich mich selbst umbrachte, auf Hunderte verschiedene Arten, und jedes einzelne äußerst lebhaft und voller heiß schmerzender Gefühle. Shannon schrie auf und verschwand. Ein Teil von mir wußte, daß sie aufgewacht war, ein anderer Teil starrte die Wolke an, während der Großteil meiner Energie für das Abwehren der Bilder benötigt wurde. Plötzlich waren die Bilder weg, genau wie das Wesen, das mir diese Bilder geschickt hatte. Kerstin war wieder frei. 'Danke, Papi!' hörte ich sie leise sagen. 'Ich hatte Angst, konnte mich aber nicht wehren.' 'Komm her, Bolzen.' Keinen Gedanken später war sie dicht bei mir. 'Bist du in meinem Traum?' Ihre schönen Augen schauten mich fragend an. Ich nickte lächelnd. 'Das bin ich, Kerstin. Es reicht wohl noch nicht, daß ich den ganzen Tag auf dich aufpasse. Wo kam dieses Ding her?' 'Ich weiß es nicht. Es war plötzlich da. Ich hab Durst.' Sie verschwand.
"Papi?" "Ich bin wach, Kerstin. Was ist los?" "Hab schlecht geträumt." Sie drückte sich eng an mich. "Und ich hab irrsinnigen Durst!" "Ich auch. Gehen wir in die Küche." Auf dem Flur kam uns Shannon entgegen, wütend bis in die Haare. "Vera!" fauchte sie uns an. "Sie hat dieses Amulett offen auf dem Tisch liegen lassen. Kein Wunder, daß Kerstin so schlecht geträumt hat." Ich spürte, was sie eigentlich sagen wollte, und nickte. Shannon verstand. "Ich hab's zurück in die Truhe gelegt und sie zugemacht." "Danke, mein Liebling." Ich drückte sie kurz. "Kerstin hat Durst. Ich auch. Gehst du wieder ins Bett, oder kommst du mit uns?" "Ich komme mit. Wir haben doch noch Baileys, oder?" "Am Samstag frisch eingekauft", schmunzelte ich. "Na kommt, gehen wir runter." Es fiel mir nicht leicht, meine Angst vor diesem Wesen zu unterdrücken, aber um Kerstins willen mußte ich es tun. Nach zwei Gläsern Wasser und ein paar Minuten Unterhaltung wurde sie wieder müde und tappste hinauf, um schlafen zu gehen. "Tja", meinte Shannon, als Kerstin verschwunden war. "Das sieht gar nicht gut aus, was?" "Absolut nicht." Ich schüttelte mich, als die Panik wieder aufkam. "Shannon, was war das?" "Keine Ahnung. Es war aber keine Wolke, sondern ein formloses Wesen. Das hab ich schon gespürt. Ein sehr böses Wesen. Und ein sehr altes dazu." "Und du denkst, das kommt aus dem Amulett?" "Das denke ich nicht nur, das weiß ich." Sie sah mich eindringlich an. "Toni, dieses Wesen ist grausam. Böse. Aggressiv. Es wollte in Kerstins Seele eindringen und ihren Körper übernehmen. Wir müssen das Amulett einschmelzen!" "Auf jeden Fall!" stimmte ich nachdrücklich zu. "Aber das geht erst am Morgen, Shannon. Unser Backofen erreicht keine so hohen Temperaturen. Reicht es denn aus, das Metall zu schmelzen?" "Ja." Ihr Kopf nickte energisch. "Das reicht. Es geht auch weniger um das Schmelzen als um das Verändern der materiellen Form, in der das geistige Wesen ruht. Wenn sich die Form verändert, wird sie keine Heimstätte für das Wesen mehr sein, und es wird -" Sie erschrak und sah mich mit weit aufgerissenen Augen an. "Es wird ziellos im Jenseits herumwandern", flüsterte sie voller Angst. "Und dort jedes Wesen angreifen, was ihm unter die Finger kommt!" "Sehr schön." Müde griff ich nach der Flasche Baileys und nahm einige sehr tiefe Schlucke. Ich trank sonst kaum Alkohol, aber nach einer Begegnung mit einem uralten, gefährlichen, geistigen Werwolf brauchte ich das jetzt. "Zumindest verstehe ich jetzt, warum die Truhe so gesichert war." Ich stellte die Flasche wieder auf den Tisch. Shannon griff danach, schüttete sich ein weiteres Glas ein und nickte. "Genau. Eine Explosion, die uns umgebracht hat, der Pfeil in deinen Rücken, und das Gift. Da wollte jemand ganz auf Nummer Sicher gehen. Wo der Pfeil herkam, kriegen wir bestimmt raus, wenn wir uns gründlich umsehen. Aber wie können wir so eine Falle an die Truhe bauen?" "Wir fragen Miraculix", lächelte ich dünn. "Ich weiß es nicht, Liebling. Es muß eine magische Falle gewesen sein; eine echte Explosion hätte die Truhe zerrissen." "Okay." Sie nickte mehrmals. "Gut. Wir werden also dieses Amulett in der Truhe lassen und die Truhe zurückbringen. Wieder in die Nische stellen. Dann kommt der Magier." "Shannon!" lachte ich herzhaft. "Liebling, wir haben 1999! Wo um alles in der Welt willst du einen Magier herzaubern?" "Und wir müssen eine ganz deutliche Warnung mit in die Truhe legen." Shannon hatte mich gar nicht gehört. "In Deutsch, Englisch, Spanisch, Französisch und Russisch. Eine dieser Sprachen wird auch in Hunderten von Jahren noch verstanden werden. Toni? Kann man in der Stadt irgendwo Papier in dieses Plastik einbinden? So wie die Preisliste in dem Restaurant letztens?" "Laminieren? Bestimmt. Jede Druckerei wird das können. Hörst du zu?" "Ja, wieso?" "Wo willst du einen Magier herbekommen, Liebling?" Shannon sah mich mit einem unerklärlichen Blick an. "Toni, liebst du mich?" "Natürlich!" antwortete ich überrascht. "Wieso?" "Vertraust du mir?" "Ja, Shannon." Ich spürte ihren Ernst, tiefer und eindringlicher als jemals zuvor. Eine tiefe Unruhe ergriff mich. "Shannon, was möchtest du mir sagen?" "Etwas, was sehr unglaublich klingt. Den wahren Grund, warum Daddy uns loswerden wollte." Sie schlug die Augen nieder. Es dauerte einen Moment, bis ich ihren Satz verstanden hatte. "Den - Sekunde! Du meinst, er wollte euch loswerden? Nicht umgekehrt?" "Nein", wisperte sie. "Er uns." Sie atmete tief durch und schüttelte den Kopf, um ihre Tränen zurückzuhalten. Sie füllte ihr Glas ein weiteres Mal, hob es mit zitternden Händen zum Mund und stellte es gleich wieder ab, ohne einen Schluck zu trinken. Die Unruhe in mir wurde stärker und wandelte sich zu Angst. Zu einer tiefen Angst vor einer schrecklichen Wahrheit. "Ich wurde vor sehr vielen Jahren zum Wolf", flüsterte sie schließlich. "Genau am 12. Januar 1781. Damals war ich gerade zwölfeinhalb Jahre alt. Ich bin am 7. Juli 1768 geboren worden, in einem kleinen Dorf nördlich von Longford." Sie sah mich an, mit nassen Augen, aus denen Tränen liefen. Ich war wie erstarrt. Ich spürte Shannons Angst, mir dies zu erzählen, und ich spürte, daß es die reine, unverfälschte Wahrheit war, die sie mir erzählte. "In jener Nacht", erzählte Shannon leise, "war ich unterwegs, um Baumrinde zu holen. Unser Haus war mitten in den Feldern, die nächsten Bäume waren mehrere hundert Schritte entfernt. Ich brauchte die Rinde für einen Sud, um meine kranke Mutter zu pflegen. Meine richtige Mutter, meine ich. Shelley war - Später. Unser Vater war zwei Tage vorher gestorben, an der gleichen unbekannten Krankheit, wie Mutter sie hatte. Daß sie auch sterben würde, wußten wir, aber der Sud linderte wenigstens ihre Schmerzen. Es war Vollmond." Sie lächelte dünn. "Genau wie ein Szenario aus einem deiner Bücher, nicht wahr, Liebster? Und genau wie in deinen Büchern wurde ich von einem Wolf angefallen. Er hat mich sehr schwer verletzt, vielleicht sogar getötet. Ich weiß es nicht mehr. Als ich wieder zu mir kam, war es Tag. Meine Kleider waren nur noch Fetzen. Ich bedeckte mich, so gut es ging, und stellte dabei fest, daß ich nirgendwo verletzt war. Damals wußte ich nicht, ob ich geträumt hatte oder nicht, aber die zerrissene Kleidung sprach dafür, daß ich nicht geträumt hatte. Ich schnitt etwas von der Rinde ab, aber als ich nach Hause kam, war Mutter bereits tot." Sie holte tief Luft. "Meine drei Brüder jagten mich aus dem Haus", redete sie flüsternd weiter. "So, wie ich war. Halbnackt, und ohne eine Münze Geld. Sie gaben mir die Schuld am Tod unserer Mutter. Dabei habe ich sie am meisten von uns allen geliebt." Sie kniff für einen Moment die Lippen zusammen, dann lächelte sie schief. "Heutzutage hätte ich in dieser Aufmachung sehr viel Geld verdienen können, aber damals... Nein. Ich hatte aber Glück, daß ich bei einem Wanderdoktor mitfahren durfte, der auf dem Weg zu unserem Haus war. Als er hörte, daß beide Eltern tot waren, nickte er nur und tröstete mich, bis ich mich ausgeheult hatte. Dann fragte er, warum ich denn so aussehen würde, und ich erzählte ihm, daß ich im Wald überfallen worden wäre. Von wem, wüßte ich aber nicht mehr; es sei alles so schnell gegangen." Sie lächelte wehmütig. "Rodney - so hieß er - war einfach fantastisch, Liebster! Er hat mich gleich nach Longford gefahren und mich zu einem richtigen Arzt gebracht, der mich gründlich untersucht hat. Aber alles war in Ordnung. Rodney hat für mich ein paar Kleider gekauft und mich in den nächsten Jahren mitgenommen und für mich gesorgt. Von ihm erfuhr ich ein Jahr später, daß auch meine Geschwister durch diese unbekannte Krankheit umgekommen sind. Ich weiß bis heute nicht, was es war. Eine lokale Seuche vielleicht; wir hatten ja kaum Wasser in der Gegend." "Shannon", unterbrach ich sie behutsam. "Wenn deine Geschwister tot sind, wer sind -" "Warte", lächelte sie traurig. "Es kommt noch einiges. Du bist der allererste Mensch, dem ich das erzähle. Nach Mandy und Becky natürlich. Aber dazu komme ich gleich. Rodney hat also die nächsten Jahre für mich gesorgt, und auch als ich älter wurde, ist er mir nie zu nahe getreten. Aber je mehr Zeit verging, um so merkwürdiger wurde er zu mir. Ich verstand damals nicht, warum. Heute weiß ich, daß ich nicht älter wurde." Sie griff nach meiner Hand und drückte sie kräftig, als hätte sie Angst, ich würde aufspringen und weglaufen. "Toni, ich werde nur alle hundert Jahre ein Jahr älter", sagte sie leise. "Seit damals ist das so. Ich altere nicht mehr. Mandy und Becky auch nicht. Aber der Reihe nach. Rodney hat mich sitzenlassen, als seine Angst vor mir größer wurde als seine Sorge um mich. Das war im Sommer 1789. Da hätte ich eigentlich 21 werden sollen, sah aber immer noch so aus wie mit 12. Ich wachte eines Morgens auf und fand ein Stoffbündel neben der Feuerstelle. Meine ganze Kleidung war darin, und ein paar Kupfermünzen. Rodney hat mir irgendein Schlafmittel in den Tee am Abend vorher gegeben, damit ich nicht wachwerde, wenn er abhaute. Und von da an war ich auf Wanderschaft. Ich habe etwa zehn Jahre in Carrick on Shannon gelebt, wo wir damals gerade in der Nähe von waren, alle paar Monate woanders gewohnt und gearbeitet, und mich dann von Stadt zu Stadt und von Dorf zu Dorf durchgeschlagen. Immer mit Arbeit. Je mehr Zeit verging, um so mehr wußte ich natürlich, und um so besser konnte ich arbeiten, kochen, helfen, heilen und weiß der Geier was noch alles. Mittlerweile hatte ich auch viele Geschichten über Werwölfe gehört, sie aber nie auf mich bezogen, denn ich war ja immer noch das kleine Mädchen wie damals, als er mich gebissen hatte. Daß ich selbst ein Wolf war, merkte ich erst um 1880 herum, genauer weiß ich das heute nicht mehr. Nach meiner Rechnung war ich da knapp 14 und das erste Mal seit fast 80 Jahren wieder in Carrick on Shannon. Ich war zu der Zeit als Haushaltshilfe bei einem sehr netten Ehepaar beschäftigt, das zwei kleine Kinder hatte. Zwei Mädchen. Eins war 12, das andere 11." Sie nickte lächelnd, als sie mein Gesicht sah. "Genau, Liebster. Amanda und Rebecca. Ich war nach meiner Arbeit mit ihnen draußen im Wald und spielte Verstecken und Fangen mit ihnen, als sich plötzlich alles in mir veränderte. Toni, mein ganzer Körper riß auseinander! Von einer Sekunde zur anderen! Ich konnte nicht mehr klar sehen, alles um mich herum war wie unter einem hellroten Nebel verborgen. Als ich dann wieder richtig sehen konnte, hatte sich alles verändert. Ich sah viel mehr als vorher, und alles wesentlich schärfer. Und ich war kleiner geworden. Erst da merkte ich, daß ich auf Händen und Füßen lief, und noch einen Moment später wurde mir klar, wer ich nun war. Und was ich nun war. Mandy und Becky standen völlig sprachlos vor mir, aber - und das kapiere ich bis heute nicht - sie hatten nicht die geringste Angst vor mir. Vielleicht haben sie gedacht, ich bin ein Hund oder so etwas. Auf jeden Fall haben wir kräftig miteinander getobt und gespielt, und dabei muß ich sie ganz leicht gebissen haben." Ihre Augen füllten sich mit Schmerz. "Toni, ich habe es ganz bestimmt nicht absichtlich getan! Ich wußte doch gar nicht, was mit mir war. Wer ich war. Was ich machen konnte. Aber von dem Tag an alterten die beiden auch nicht mehr. Und damit steckte ich tief in der Scheiße, obwohl ich das damals noch nicht wußte. Wie es meine Angewohnheit war, wollte ich mich nach einem halben Jahr von der Familie absetzen, aber der Mann ließ mich nicht gehen. Er sperrte seine Kinder in ein Zimmer und zog mich in ein anderes. Zuerst dachte ich, er wollte die Abwesenheit seiner Frau ausnutzen und sich an mir vergehen, aber nichts dergleichen. Er wollte nur reden." Shannon lachte herzhaft. "Weißt du, worüber? Über seine Kinder! Darüber, daß ich so unglaublich gut mit ihnen umgehen konnte und sie besser erzog, als seine Frau es gekonnt hätte. Darüber, daß sie in den letzten vier Monaten keinen Millimeter gewachsen waren. Darüber, daß ich öfter in der Nacht verschwand und erst am Morgen wiederkam." Sie griff nach ihrem Glas und trank einen großen Schluck. "Tja", redete sie weiter. "Und so lockte er Stück für Stück aus mir heraus, und je mehr er fragte, um so mehr verstrickte ich mich in Widersprüche und Ungereimtheiten, bis ich schließlich nur noch die Wahrheit sagen konnte. Ich rechnete schon fast damit, als Hexe an den Pranger zu kommen, aber Noel - das ist sein Name - drehte den Spieß um und erzählte mir etwas, wofür wiederum er verbrannt werden konnte. Er ist Magier, Toni!" "Er ist?" unterbrach ich sie. "Nicht: er war?" "Nein, er ist!" Ihre Augen leuchteten. "Laß mich weiter erzählen, ja? Das tut so gut, alles mal sagen zu können! Wie gesagt, Noel quetschte mich aus wie eine pralle Orange. Und dann, als ich fertig war, erzählte er von sich. Seine Frau war seine Schwester Yvette, und seine Kinder - also Mandy und Becky - waren Findelkinder, die seine Schwester aufgenommen hatte. Noel mußte aus seiner alten Stadt fliehen, weil jemand, dem er geholfen hatte, gesund zu werden, ihn als Hexer gebrandmarkt hatte. War 'ne schlimme Zeit, damals. Aber heute ist es auch nicht viel besser. Egal. Selbst seine Schwester wußte nicht, daß er ein Magier war. Also damals war er noch ein Zauberer oder Hexer, aber mittlerweile ist er so fit, daß er sich Magier nennen darf, und das auch zu Recht. Aber damals war gerade der Beginn der industriellen Revolution, und da paßte ein Hexer nicht mehr ins Bild der neuen, aufgeklärten Zeit, auch wenn Irland nicht so stark davon betroffen war wie England. Noel ging es wie mir; auch er war ständig auf der Flucht. Er wohnte gerade mal zwei Wochen bei seiner Schwester, bevor ich dort angefangen hatte, und er überlegte auch schon, wo er nun hin sollte. Da machten wir einen Deal. Ich sollte ihn beißen - als Wolf, natürlich - und er würde für mich sorgen. Ich bekam einen neuen Namen: Shannon. Mein alter war Laura Lee. Und ich sollte mich um Mandy und Becky kümmern. Wir sind dann mit Mandy und Becky zu einem sehr langen Gespräch zusammengekommen. Den beiden schmeckte es anfangs natürlich überhaupt nicht, von ihrer Mutter - wie sie Noels Schwester nannten - weggehen zu müssen, aber die Aussicht auf die große weite Welt und all die Städte, die damals so aktuell waren, reizte sie dennoch ungemein. Nach ein paar Wochen waren sie so wild, mehr von der Welt zu sehen, daß sie Abschied nahmen. Noel fuhr mit uns nach New York, das gerade anfing, sich zur Weltstadt zu entwickeln, und wir blieben erst einmal dort. Noel blieb bei uns, weil in Amerika - neben England und Rußland - große Magier waren, mit denen er sich häufig traf. Nach dem ersten Weltkrieg sind wir nach Europa gefahren, hauptsächlich Paris, London, Rom und Athen, und nach dem zweiten Weltkrieg, den wir in Kopenhagen abgewartet haben, sind wir zurück nach Irland." Sie beugte sich vor und sah mich eindringlich an. "Und in dieser ganzen Zeit", sagte sie leise, "hat er seine Magie perfektioniert, Toni. Von daher kommt auch meine Angst vor diesen Wesen, denn Noel hat ab 1947 alle naselang irgendwelche komischen Geister beschworen. Alle möglichen und unmöglichen Wesen tanzten permanent vor meiner Nase herum, und das konnte ich irgendwann nicht mehr vertragen. 1950 haben Noel und ich uns dann furchtbar deswegen in die Haare gekriegt; auch Mandy und Becky hatten die Nase voll davon, jede Nacht durch irgendwelche schrill heulenden Geister aus dem Schlaf gerissen zu werden, so daß Noel sich ernsthaft um eine neue Familie für uns gekümmert hat. Er versprach unseren zukünftigen Eltern das Übliche: Geld, Glück, Gesundheit und so weiter, wenn sie uns für ein paar Jahre aufnehmen würden, ohne Fragen zu stellen. Somit waren wir wieder auf Wanderschaft. Ich kannte das ja schon, Mandy und Becky waren das aber noch nicht so gewohnt, aber da wir drei uns schon 70 Jahre kannten, kamen wir auch perfekt miteinander aus und konnten uns gegenseitig Halt geben. Vor zwölf Jahren sind wir bei Ian untergekommen. Die Story mit Shelley stimmt, Toni. Sie hat wirklich mit jedem Mann gebumst, den sie kriegen konnte. Sie war so selten zu Hause, daß ihr gar nicht auffiel, daß wir drei Mädchen nicht älter wurden. Ian und Shelley hatten einige Monate vorher geheiratet, und als Noel mit ihnen gesprochen hat, waren sie einverstanden, uns aufzunehmen. Ian bekam seine Karriere, die er sich gewünscht hatte, und Shelley bekam ganz offensichtlich auch das, was sie wollte. Aber Ian bekam noch etwas, nämlich Angst vor uns. Er sollte keine Fragen stellen, tat es aber dennoch. Wir antworteten natürlich nicht, und irgendwann ließ er es auch sein, denn Noel hatte ihm ganz klipp und klar gesagt, daß seine Glückssträhne in dem Moment zu Ende wäre, wo er zu tief bohrt. Na ja, und seit gut drei Jahren ist es eben so, daß er sich kaum mehr um uns kümmert. Er geht uns aus dem Weg, Liebster. Es ist nicht die Arbeit, sondern die Angst vor uns, die ihn von Zuhause abhält. Vor Fremden wie euch tut er nur so, als wären wir eine glückliche Familie, aber in Wahrheit hat er Angst vor uns, weil er nicht versteht, was mit uns ist." Sie sah mich traurig an. "Und jetzt habe ich auch Angst", sagte sie zögernd. "Daß du uns rauswirfst. Toni, ich verstehe, wenn du das tust, aber laß mich bitte noch eins sagen. Ich bin vor kurzem 231 Jahre alt geworden. Seit etwa einhundert Jahren weiß ich, daß es so etwas wie Liebe gibt. Und seit knapp einem Monat weiß ich, was Liebe ist. Wir sind nicht mit Magie oder Zauberei zu dir gekommen, Liebster. Wir sind zu dir gekommen, weil du so bist wie wir, und weil wir drei dich und Vera lieben. Wir lieben euch wirklich. Du warst der allererste Mann in meinem Leben, mit dem ich geschlafen habe. Wir sind bei euch, weil wir das so wollten. Weil wir euch lieben." Ich stand wortlos auf. Shannon zuckte zusammen, als ich mich bewegte. "Was machst du?" "Ich gehe zum Kühlschrank und hole mir eine kalte Milch. Alkohol hilft gegen Verwirrung, aber wenn ich überhaupt nichts mehr raffe, hilft nur noch eiskalte Milch." "Heißt das, du wirfst uns nicht raus?" fragte sie leise. Ich sah sie mitleidig an. "Shannon! Du bist ein Werwolf, wie deine Schwestern. Du hast die ewige Jugend. Du sorgst dafür, daß ich an einem Abend viermal getötet werde und schleppst mir böse Geister ins Haus, die meine 13jährige Tochter anfallen." Shannon sank vernichtet in ihrem Stuhl zusammen. Ich faßte sie ans Kinn, hob ihren Kopf und gab ihr einen fast schon schmerzhaften Kuß. "Natürlich werfe ich euch nicht raus, du Idiot! Auch wenn ich mit meinen 38 Jahren gegen dich wie ein Säugling wirke, weiß ich doch, daß Menschen, die sich lieben, auch alle Probleme bewältigen können, die sich ihnen in den Weg stellen. Und jetzt laß mich meine Milch holen!"
* * *
Wir lagen im Garten, in der entspannten und friedvollen Atmosphäre, die sich nach dem erfüllten Austausch einstellt. "Laura Lee", lächelte ich. "Wie lautet dein voller Name?" "Laura Lee O'Shaughnessy." "Das hat Musik." "Ja, nicht?" kicherte sie. "Besser als Shannon McDonaghue, oder?" "Klingt beides schön, mein Liebling. Shannon McDonaghue klingt kraftvoller, aber Laura Lee O'Shaughnessy... Schon wegen dieses Namens könnte ich mich in dich verlieben. Wie steht das mit Geburtsurkunden und so weiter?" Shannon lachte leise. "Du meinst, ich hätte es in der Schule leichter, wenn ich nachweisen kann, daß ich 231 Jahre alt bin?" "Auf jeden Fall hättest du damit kein Problem beim Numerus Clausus, wegen Wartelisten und so." Wir küßten uns zärtlich. "Sag, Liebling: gibt es so etwas?" "Nein, Liebster. Wie denn auch?" Sie rutschte auf mir zurecht. "Nicht zurückziehen, junger Held! Die Schlacht ist vorbei, aber der Krieg dauert noch an! Noel macht das alles, Toni. Immer wenn wir in eine neue Familie kommen, besucht er uns und bringt einen Packen Dokumente für uns mit. Für ihn ist das so einfach, als ob ein kleines Kind ein Bild aus lauter Strichen malt. Ian hat uns schon auf der neuen Schule angemeldet, und mit den Verträgen wegen Pflegefamilie und so geht das auch mit euch glatt über die Bühne." "Und du möchtest Noel jetzt Bescheid sagen, daß wir einen Geisterwolf im Haus haben." "Ja. Und ich will ihn bitten, euch vier zu untersuchen. Du weißt, warum." "Ja, mein Liebling. Aber ich glaube, die Antwort kenne ich schon. Unser Virus unterscheidet sich von eurem. Ich bin 38 und sehe auch so aus. Kerstin und Birgit sind auch so alt, wie sie aussehen." "Richtig, aber bei euch ist der Wolf auch erst spät erwacht. Vielleicht ist das tatsächlich ein anderer Virus, vielleicht ist er aber bei euch nur latent gewesen und wurde erst jetzt aktiv. Noel findet das heraus." Etwas in der Art, wie sie von diesem Noel sprach, ließ mich aufhorchen. "Liebst du ihn?" "Ja, aber so, wie ich einen Onkel lieben würde. Dich liebe ich als meinen Partner. Mandy und Becky hatten sehr wenig von ihm während unserer ganzen Reisen; er hockte meistens in der Stube und las in irgendwelchen Büchern herum und experimentierte in aller Abgeschiedenheit. Für sie bist du der erste richtige Vater, den sie seit über hundert Jahren haben, denn wir alle drei sind uns sicher, daß wir bei euch bleiben wollen. Alle anderen waren ja nur ein Ersatz, Toni. Alle paar Jahre die Eltern zu wechseln macht auch nicht besonders viel Spaß, und Noel hat viel von der Elternrolle auf mich abgewälzt. Notfalls kann ich euch ja auch noch mal beißen." Plötzlich lachte sie leise, aber herzhaft. "Vera!" kicherte sie. "Überleg mal, wie sie reagiert, wenn sie erfährt, daß sie auch ewig lebt und nur alle hundert Jahre ein Jahr älter wird!" "Sie wird stinksauer sein, daß du sie nicht zehn Jahre früher gebissen hast. Wie kommst du mit Noel in Kontakt?" "Du, es gibt seit einiger Zeit so komische Apparate. Wenn man die benutzt, kann man mit Leuten sprechen, die gar nicht in der Nähe sind." "Ach was!" tat ich erstaunt. "Ehrlich? Ist das so etwas wie ein Telegramm, nur mit Stimmen?" "Genau!" jubelte sie. "Macht die Technik nicht wahnsinnige Fortschritte?" "O ja!" seufzte ich. "Und vielleicht fliegen demnächst auch so komische Dinger durch die Luft, in denen Menschen sitzen!" "Kann alles passieren." Sie küßte mich stürmisch. "Toni? Weißt du, daß ich dich wahnsinnig liebe?" "Ich liebe dich auch, Shannon. Oder soll ich Laura Lee sagen? Wer kam überhaupt auf die Idee, dir einen neuen Namen zu verpassen, und warum?" "Das war ich. Mit Noel und Mandy und Becky begann für mich ein ganz neues Leben, und da wollte ich meine ganze Vergangenheit hinter mir lassen. Shannon kam mir in den Kopf, weil in jener Stadt alles für mich neu begann. Und weil ich gerne, wenn ich etwas freie Zeit für mich hatte, am Ufer des Flusses Shannon saß und den Wellen zusah. Wenn möglich, bleib bei Shannon. Da haben sich inzwischen alle dran gewöhnt. Laura Lee bin ich schon lange nicht mehr. Kann ich Noel morgen anrufen?" "Natürlich, mein Liebling. Habt ihr viel Kontakt?" "Eigentlich nicht. Er wohnt seit zwanzig Jahren in einer kleinen Hütte weitab von jedem Dorf. Das sieht so geil aus!" kicherte sie. "Eine Hütte wie aus dem 15. Jahrhundert, und mittendrin eine Stereoanlage, ein Fax und ein Handy. Alle zwei oder drei Wochen bekommt er eine Lieferung Dieselöl für seinen Generator, aber den schmeißt er nur an, wenn er wirklich mal Strom braucht. Licht kommt noch aus Petroleumlampen. Wir melden uns eigentlich nur bei ihm, wenn wir merken, daß wir wieder mal die Familie wechseln müssen. Früher haben wir uns oft Briefe geschickt, aber irgendwie ist das auch eingeschlafen." "Verstehe. Wie kommst du eigentlich damit klar, Shannon?" "Mit dem langen Leben? Eigentlich ganz gut. Ich bin nicht satt oder so. Ich freue mich jeden Tag, daß ich lebe, daß ich gesund bin, daß ich Mandy und Becky habe. Und jetzt natürlich auch über euch und daß wir bei euch sind. Vorher... Nein, das hat mich nie gestört. Es ist so, als ob dieser Virus auch für genügend Gehirnkapazität sorgt. Ich weiß, daß dieser Muskel, den man Herz nennt, nur soundso viele Jahre mitmacht, aber bei uns ist das alles auf unser Alter abgestimmt. Ich sehe aus wie 15, und mein Körper benimmt sich auch so. Womit ich etwas Probleme hatte, war die Freizügigkeit in den Sechzigern, als die freie Liebe und das neue Körperbewußtsein aufkam, aber da habe ich mich inzwischen auch sehr gut dran gewöhnt. Die Zwanziger fand ich total geil! Charleston war mein Lieblingstanz. Jazz mag ich auch sehr, aber nur den alten. Count Basie, Duke Ellington, Louis Armstrong und so. Mit Leuten wie Klaus Doldinger kannst du mich jagen! Der nennt das, was er da produziert, Jazz, aber mit Jazz hat das soviel zu tun wie Alpenhörner mit einem klassischen Konzert. Mozart und Bach geben mir eigentlich den meisten Frieden, besonders Bach. Der ganze technische Fortschritt interessiert mich sehr! Ich kenne von daheim eigentlich nur den Ochsenpflug, und wir hatten noch nicht einmal einen Ochsen. Mein Vater mußte den ziehen, und meine Mutter hat ihn geführt. Da haben die heutigen Landwirte es wesentlich einfacher, auch wenn sie immer so viel über Preisverfall und Subventionen jammern. Die wissen doch gar nicht, was wirkliche Arbeit auf dem Feld heißt! Daß es keine Kinderarbeit mehr gibt, finde ich gut, aber leider halten sich noch nicht alle Länder daran. Nimm Indien zum Beispiel. Die - Warum lachst du?" "Weil ich recht hatte." Ich drückte sie stürmisch. "Ich sagte Vera, daß du ein bildhübsches Lexikon auf zwei ebenso hübschen Beinen bist. Ich bezog das fälschlicherweise nur auf die Wölfe, aber du könntest glatt jede Form von Unterricht geben!" "Ja, nicht?" kicherte Shannon. "Tut mir leid, aber - Toni, du kannst dir nicht vorstellen, wie herrlich das ist, so offen zu reden! Du weißt jetzt wirklich alles von mir! Na ja, die kleinen Details nicht, aber eben doch das Wichtigste." "Fällt es euch eigentlich schwer, euch so zu verstellen?" "Ja." Sie kuschelte sich an mich. "Mandy fällt es nicht ganz so schwer wie Becky. Deswegen redet Becky auch so wenig. Sie hat Angst, sich zu verplappern. Ich mache jeden Tag für mich einen Schnelldurchlauf durch die Jahrzehnte und sortiere alles, damit ich keinen Ausrutscher habe. Ich meine, ich kann ja schlecht sagen, daß ich Duke Ellington vor dem Cotton Club in Harlem mal die Hand geschüttelt habe, oder daß ich die Mondlandung live im Fernsehen verfolgt habe. Daß mich die Morde an Gandhi und Martin Luther King sehr erschüttert haben. Ist alles nicht so einfach." "Das kann ich mir lebhaft vorstellen, mein Liebling." Ich strich ihr sanft über den Hinterkopf. "Ich bin froh, daß du es mir gesagt hast." "Ich auch. Ich möchte dir eigentlich alles von meinem Leben erzählen, aber dann müßten wir bis Weihnachten hier liegenbleiben." "Wenn es tagsüber nicht hell wäre, hätte ich nichts dagegen. Für wann möchtest du Noel einladen?" "So schnell wie möglich." Ihre Stimme wurde ernst. "Dieses Ding muß weg, Toni. In der Truhe ist es zwar sicher, aber wer weiß, wie lange noch. Und ich muß dringend mit Vera reden. Sie weiß gar nicht, mit welchen Kräften sie herumspielt." "Das wußtest du auch nicht", erinnerte ich sie sanft. Shannon seufzte leise. "Richtig. Deswegen sehe ich das ja auch so eng. Ich habe schon einiges mitgemacht, Toni. Ich bin von Pferden und Ochsen totgetreten und von Fuhrwerken und Autos überfahren worden, von Hängen und Kliffs abgestürzt, habe mir so gut wie jeden Knochen im Leib mindestens schon einmal gebrochen, aber so etwas habe selbst ich noch nie erlebt. Na ja, Noel wird schon wissen, was er zu tun hat. Tut mir nur leid, daß du viermal was abbekommen hast." "Ich habe es ja überlebt, Shannon. Eine Frage hätte ich nur noch an dich. Wenn du - ich meine, wenn ihr drei alle paar Jahre bei neuen Familien untergekommen seid, wieso wart ihr dann so traurig und bedrückt, als Ian nach Tokio mußte?" "Wegen dir." Wir drehten unsere Köpfe zum Haus und legten die Wangen aufeinander. "Weil ich vom ersten Tag an eine Verwandtschaft mit dir gespürt habe, Toni. Mandy und Becky auch. Wir wußten da schon, daß wir viel lieber bei euch als bei Ian wären. Auch wegen Kerstin und Birgit. Verstehst du jetzt, warum Mandy und Becky keine Freundinnen haben? Sie können doch kaum einer Seele auf diesem Planeten vertrauen! Bei dir waren wir uns aber sicher, daß du so bist wie wir. Deswegen. Wir wollten um jeden Preis zu dir, und da habe ich Noel angerufen und ihn gebeten, Ian etwas aus der Ferne zu beeinflussen, damit wir so schnell wie möglich zu dir konnten." Sie legte ihre Finger auf meinen Mund, als ich etwas sagen wollte. "Nein, Toni. Ian verdient heute mehr als zehnmal so viel wie damals, als er und Noel miteinander geredet haben. Er kommt immer noch besser dabei weg. Er hat sich auch nicht das Geld gewünscht, sondern eine Karriere. Einen erfolgreichen Beruf. Und den hat er. Bei euch hat Noel übrigens nichts gemacht. Es war immer und jederzeit eure freie Entscheidung, uns aufzunehmen. Wir haben nur etwas in den Raum geworfen und gewartet, wie ihr darauf reagiert. Aber davon mal ganz abgesehen: wie würde es dir gefallen, bei einer Familie unterzukommen, die es gar nicht gibt?" "Das ist der nächste Punkt, den ich nicht verstehe, mein Liebling. Wieso habt ihr euch nicht bei Noel darüber beschwert?" "Wieso?" Ihre Stimme klang plötzlich sehr müde, wie Hunderte von Jahren alt. "Liebster, der Deal war, daß wir versorgt werden. Wir waren ja versorgt. Wir hatten ein Dach über dem Kopf und wurden ernährt und eingekleidet. Ich verwaltete bei Ian ein monatliches Budget von knapp dreitausend Mark. Mandy bekam ihren Teil für die Einkäufe, ich sorgte für Kleidung und anderen Bedarf. Darauf beschränkte sich das immer. Auf unsere Absicherung. Von Liebe und Wärme war nie die Rede. Die Zeit mit Noel war eigentlich schön, aber er war ja auch nie da. Siebzig Jahre mit einem sogenannten Vater herumzuhängen, der nie da ist, tut verdammt weh. Unser größtes Glück war auch gleichzeitig unser größter Fluch. In keiner der Zeiten, die wir erlebt haben, war es Mädchen in unserem Alter erlaubt, selbständig zu sein. Immer und ausnahmslos war die Einwilligung der Eltern oder der Erziehungsberechtigten notwendig. Das war eigentlich das Schlimmste. Du warst schon seit über hundert Jahren volljährig und erwachsen, aber jeder sprang mit dir um wie mit einem kleinen Kind. Wir hatten nur ganz selten Familien, in denen wir machen durften, was wir wollten. Unser Ziel war immer das Überleben und das Verheimlichen unserer Fähigkeiten. Bei jeder Familie mußten wir einen neuen Lebenslauf lernen und mit unseren 'Eltern' abstimmen. Immer wieder Umzüge, neue Umgebungen, neue Menschen. Nicht einmal Ruhe." Sie zuckte mit den Schultern. "Nach zweihundert Jahren Reise hätte ich ganz gern mal ein paar Jahre Ruhe." "Hier?" fragte ich leise. "Ja. Bei euch. Mit euch. Und vor allem mit dir. In zweihundert Jahren sehe ich vielleicht alt genug aus, daß Noel mich volljährig machen kann. Dann würde schon vieles leichter. Aber wer weiß, wo die Volljährigkeitsgrenze in zweihundert Jahren liegen wird." Sie küßte mich zart und flüsterte: "Ich würde die nächsten paar tausend Jahre gern mit dir verbringen. Und du?" "Ich weiß es nicht", seufzte ich, während ich sie an mich drückte. "Ich möchte dich auch bei mir behalten, Shannon. Was mir noch nicht ganz so schmeckt, ist der Gedanke an ein ewiges Leben. Na gut, strenggenommen ist es nicht ewig. Vielleicht achttausend Jahre oder so. Aber manchmal kann ein einziges Jahr schon wie eine Ewigkeit sein. Wie werden dann achttausend Jahre sein?" "Das weiß ich auch nicht", flüsterte Shannon. "Ich lebe erst 231 Jahre, und davon etwa 119 als Wolf. Ich kann nur sagen, daß es mir nicht wie eine Ewigkeit vorkommt. Ich erinnere mich immer noch sehr deutlich an meine Mutter, wie sie bleich und naßgeschwitzt auf dem Stroh lag, wie das Feuer langsam niederbrannte, an Rodney und sein Pferd Joker, an sämtliche Häuser, wo ich gearbeitet und gewohnt habe, manchmal sogar noch an jedes Wort einer Unterhaltung. Es ist das Leben, was ich kenne, Liebster. Ich genieße jeden einzelnen Tag, soweit es geht, und freue mich, daß ich mit Becky und Mandy zusammen sein kann. Und natürlich mit euch. Wenn ich daran denke, daß ich noch fast achttausend Jahre Leben vor mir habe, freue ich mich einfach. Ich weiß, daß ich nicht sterben kann. Das wußte ich schon vor Kerstins Unfall auf dem Bauernhof, aber das konnte ich ja schlecht sagen. Und nur wegen euch mußte ich so streng mit Mandy sein. Ich weiß also, daß wir nicht sterben können. Nicht durch Unfälle. Na gut, wenn wir buchstäblich den Kopf verlieren, ist es aus, aber das ist es bei den normalen Menschen ja wohl auch, oder?" "Meistens", lachte ich leise. Shannon lachte ebenfalls unterdrückt. "Siehst du. Für mich ist die Zukunft einfach etwas, was auf mich wartet. Mehr nicht. Diese Achttausend ist für mich nur eine Zahl ohne reellen Bezug zu meinem Leben. Mein Leben geschieht jetzt. In diesem Augenblick, und genau an diesem Ort. So lebe ich, Toni. Wenn ich wollte, könnte ich heute mein Abitur machen und würde es auch schaffen. Gedanken um meine Zukunft muß ich mir nicht machen, zumindest nicht in materieller Hinsicht. Nicht nur wegen Noel, der immer für uns da ist, wenn es sein muß, sondern einfach weil ich weiß, daß ich es immer und jederzeit schaffe. Genau wie Mandy und Becky. Sie sind zwar nur knapp 130 Jahre alt, aber wenn es drauf ankommt, können sie auch für sich sorgen. Dummerweise kommen da wieder die Gesetze zum Tragen, daß Kinder in dem Alter nicht alleine für sich sorgen dürfen oder können oder sollen." "So ganz langsam fange ich an, eure Schwierigkeiten zu verstehen, mein Liebling. Wie viele Sprachen sprichst du eigentlich?" "Alles in allem? Ziemlich viele, aber nur noch die wenigsten richtig. Wenn wir drei unter uns sind, reden wir Gälisch oder normales Irisch. Englisch kann ich noch sehr gut, wegen der vielen Jahre in USA, und weil das immer wieder in der Schule kommt. Dann konnte ich mal ganz gut Spanisch, Französisch, Italienisch und Griechisch, aber davon ist so gut wie alles wieder weg. Auch die vier skandinavischen Sprachen sind kaum mehr da. Russisch hab ich mal angefangen, aber da wir nie dort waren, hat sich das irgendwann erledigt. Irgendwann merkst du, daß sich viele Sprachen auf den gleichen Stamm zurückführen lassen, und ab dann geht das Lernen ziemlich schnell. Wieso?" "Weil ich gerade daran denken mußte, daß dieses Leben der Wanderschaft vielleicht auch auf uns wartet, Shannon. Wenn sich herausstellt, daß Kerstin und Birgit ebenfalls nicht altern, dann laufen wir in ein gewaltiges Problem." "Ich weiß. Das ist der einzige Punkt, warum es mir leid tut, daß ich Vera gebissen habe. Wenn ihr euch wirklich von uns unterscheidet, was diesen Virus angeht, dann..." Sie ließ den Satz unvollendet. "Genau, mein Liebling. Dann kann Vera zusehen, wie wir anderen der Reihe nach altern und sterben, während sie immer noch 38 Jahre jung ist. Können Mandy und Becky diese Fähigkeit auch weitergeben?" "Ich glaube ja, aber genau weiß ich es nicht. Mandy ist ja erst kürzlich zum Wolf geworden." "Wie macht ihr das mit Schule und so?" "Das ist das nächste Problem", seufzte Shannon mit der Last ihrer Jahre. "Die Familien, in denen wir bisher gelebt hatten, mußten alle zwei Jahre umziehen. Spätestens. Sonst wurde es auffällig, daß wir nicht alterten. Seit 1950 lernen wir drei immer wieder den gleichen Müll. Auf jeder neuen Schule immer wieder das gleiche. Das hängt uns so zum Hals raus, das kannst du dir nicht vorstellen, Liebster. Manchmal denken wir daran, uns irgendwo niederzulassen, wo es keine Schulpflicht gibt, aber das wird mit jedem Jahrzehnt schwieriger. Das ist unter anderem auch ein Punkt, der unseren jeweiligen Eltern tierisch auf die Nerven geht, aber Noel sagt ihnen jedesmal ganz klar, was auf sie wartet. Die meisten sind so geil auf Geld und Karriere und Frauen und weiß der Kuckuck was, daß sie das anfangs gar nicht stört. Erst wenn sie merken, daß wir nach fünf Jahren keinen Tag älter geworden sind, kommt langsam so etwas wie Angst auf. Das ist dann auch der Punkt, wo wir anfangen, uns eine neue Familie zu suchen." "Bei Ian waren es zwölf Jahre?" "Ja. Die ersten Jahre vergingen mit Shelley und dem ganzen Streß. Dann noch mal vier Jahre, in denen Ian anfing, sich in seinem Beruf zu etablieren, und schließlich kam die Angst bei ihm, als wir nach neun Jahren noch immer so aussahen wie an dem Tag, an dem er uns kennengelernt hatte. Mit der Angst kam auch die Distanz. Immerhin hatte er durch seinen Beruf die perfekte Entschuldigung, nicht zu Hause zu sein. Das nutzte er auch weidlich aus. Noel stellt jedesmal die ganz klare Bedingung, daß wir ordentlich untergebracht werden müssen; deswegen war Ian auch so wild darauf, die Häuser mit euch zu tauschen. Das war der einzige Grund, denn wenn er zugelassen hätte, daß wir drei in enge oder unbequeme Verhältnisse kommen, hätte sich sein mündlicher Vertrag mit Noel ganz schnell erledigt. Bei Ian kommt noch dazu, daß er urplötzlich hier nach Deutschland ziehen mußte, weil die Berufschancen hier besser standen. Deutsch hatten wir bisher überhaupt nicht in unserem Repertoire, und Noel mußte erst einmal einen gründlichen Schnellkurs mit uns machen, damit wir in diesem Land klarkamen. Inzwischen können wir besser Deutsch als ihr Deutschen." Sie lachte leise und küßte mich. "Ihr habt ja auch genug Zeit, es zu lernen", schmunzelte ich. "Meine Güte! Was könnte ich in zweihundert Jahren alles schreiben!" "Oder in fünfhundert?" fragte Shannon leise. Ich nickte. "Ja, mein Liebling. Oder in eintausend. Weißt du, daß ich darüber noch sehr intensiv nachdenken muß? Jede Ehe und Partnerschaft steht eigentlich immer unter der Angst, daß einer der beiden Partner urplötzlich stirbt oder auszieht oder sich anderweitig bindet. Der Gedanke, achttausend Jahre lang mit Vera und dir zusammen zu sein, und mit den Kindern... Entschuldige! Darf ich überhaupt noch Kinder sagen?" "Sicher!" lachte Shannon. "Genau das wollen wir doch auch sein! Kinder, die einen Papa und eine Mama haben. Das ist auch etwas, was wir nicht verstehen, Liebster. Mandy, Becky und ich fühlen uns nicht wie Erwachsene, sondern wirklich genauso jung, wie wir aussehen." "Gut. Jedenfalls ist das ein Gedanke, der mir sehr zusagt, auch wenn ich mir überhaupt nicht vorstellen kann, wie Vera und ich in eintausend Jahren miteinander auskommen werden." "Nicht viel anders als heute", sagte Shannon überzeugt. "Toni, das sehe ich doch an Mandy und Becky und mir! Wir sind seit 120 Jahren zusammen, und gestritten haben wir uns kaum. Einmal, weil wir alle das gleiche Talent haben, und zum zweiten, weil wir aufeinander angewiesen sind. Das ist aber kein Druck für uns, sondern ein Halt. Wir sind gegenseitig für uns da. So wird das auch bei dir und Vera werden, Liebster. Es vertieft sich von Jahr zu Jahr mehr. Das kannst du mir wirklich glauben. Andererseits... Wenn ihr euch wirklich einmal trennen solltet, hat jeder von euch genügend Zeit, sich einen anderen Partner zu suchen. Nach einhundert Jahren ändert sich deine Einstellung zum Leben ganz gewaltig, Liebster. Wenn du plötzlich einhundert bist und siehst noch immer so aus wie mit 13 oder 14, dann bringt dich das ganz gewaltig ans Nachdenken. Bei uns sah das so aus, daß wir uns eben entschlossen hatten, immer zusammen zu bleiben und uns eine Familie zu suchen, in der wir uns wohl fühlen. Aber uns war immer und jederzeit klar, daß dies nur eine temporäre Angelegenheit sein konnte, was eben in der unterschiedlichen Natur von uns und unseren jeweiligen Eltern lag. Deswegen waren wir drei auch furchtbar aufgedreht, als wir von dem Grillen bei euch wieder nach Hause kamen. Wir sahen da die einmalige, unwiderrufliche Chance, mehrere hundert Jahre bei den gleichen Menschen bleiben zu können." "Das kann ich mir denken", erwiderte ich erschüttert. "Liebling, das kapiere ich erst jetzt, was das für euch heißt! Alle fünf oder zehn Jahre eine neue Familie, neue Freunde und Nachbarn, ein neuer Lebenslauf, ein ganz neues Leben, und vollständiges Stillschweigen über das, was ihr wirklich seid... Das ist ja fast schon grausam!" "Fast", lächelte Shannon in die Dunkelheit. "Uns war immer nur wichtig, daß niemand herausfindet, was wir sind. Schon deswegen haben wir uns immer sehr viel Mühe mit unserem Lebenslauf gegeben. Aber als wir euch getroffen haben... Das hat irgendwie alles verändert, Liebster. Wir haben uns auch nicht verstellt, um uns bei euch einzuschmeicheln. Natürlich sind wir anpassungsfähig und flexibel. Müssen wir auch sein. Davon hängt unser Überleben ab. Wenn jemals bekannt werden würde, daß wir Wölfe werden können, ist ein Labor, in dem wir zerschnippelt werden, noch unsere geringste Sorge. Gerade in der heutigen Zeit wären unsere Bilder innerhalb von einem Tag auf der ganzen Welt bekannt, und damit wäre es aus für uns. Das ist unser eigentliches Problem, Liebster. Noel sorgt dafür, daß wir irgendwo unterkommen, alles andere liegt bei uns. Aber er hat das gleiche Problem. Auch er muß alle paar Jahrzehnte sein Lager woanders aufschlagen, wo man ihn noch nicht kennt. Erst nach knapp hundert Jahren ist es so sicher, daß er wieder in die ursprüngliche Stadt zurück kann. Das ist auch nicht so einfach. Weißt du, wie sehr sich Städte in 100 Jahren verändern? Manchmal bis zur Unkenntlichkeit! Aber das war uns sehr schnell klargeworden. Auch, daß wir immer die Menschen, die uns viel bedeuten, verlieren würden. Deswegen war eine Familie für uns immer nur eine Übergangslösung zur nächsten Familie, ohne großartige emotionelle Bindungen." Sie seufzte laut. "Na ja, noch zweihundert Jahre, dann kann ich mir selbst eine Wohnung mieten oder kaufen und dort mit Becky und Mandy leben. Und in fünfhundert Jahren sind die beiden auch so weit, daß sie selbständig werden können." "Wollt ihr euch dann trennen?" "Nein. Das haben wir nicht vor. Es mag passieren, daß es so kommt, aber wir wollen es eigentlich nicht. Wir haben doch nur uns, Liebster." "Verständlich. Shannon, was ist denn von dem wahr, was du mir erzählt hast? Mit deinem Ertrinken, zum Beispiel." "Das war so, wie ich es gesagt habe", erwiderte sie leise. "Nur war ich da nicht vier Jahre alt, sondern schon acht. Aber der Rest war so, wie ich es erzählt habe. Die Fakten an sich stimmen, nur die Zeitangaben manchmal nicht. Und um deine nächste Frage gleich vorweg zu nehmen: unsere jeweiligen Eltern müssen uns bei allem, was wir tun möchten, unterstützen. Ian mußte bei allem, was ich sagte, mitspielen, denn er kannte mein Leben ja überhaupt nicht. Hätte er angefangen, mir zu widersprechen, wäre schnell herausgekommen, daß wir uns im Grunde völlig fremd waren." "Meine Herren!" stieß ich hervor. "Shannon, das muß doch ein furchtbar anstrengendes Leben für euch sein!" "Nicht für uns", lachte sie leise. "Nur für unsere Eltern. Versteh doch, Liebster! Sie bekommen drei Kuckuckseier ins Nest gelegt und müssen für sie sorgen. Krümmen sie uns auch nur eine Feder, ist's Essig mit Geld und schnellen Autos und allem. Unsere Eltern haben das Problem, nicht wir! Wir müssen nur darauf achten, was wir sagen, aber unsere Eltern dürfen uns nicht einmal zurechtweisen! Sie haben eigentlich den schwereren Part bei der ganzen Sache, aber dafür werden sie ja auch fürstlich belohnt." "Und verkaufen ihre Seele", entfuhr mir. "Ja", stimmte Shannon ohne zu zögern zu. "Das tun sie, Liebster. Aber es ist ihre Seele. Ians größter Traum war eine erfolgreiche Karriere. Die hat er auch. Wenn es uns nicht mehr in seinem Leben gibt, ist er rundherum glücklich. Bis zu dem Tag, an dem er erkennt, daß er weder sein Geld noch seine Karriere mit unter die Erde nehmen kann. Aber das Problem haben auch viele andere Menschen, die nicht so einen Deal eingehen." "Du hast recht, mein Liebling. Es tut mir leid, daß ich das gesagt habe." "Muß es nicht, Liebster. Du hast ja völlig recht. Mir hat das 19. Jahrhundert eigentlich am besten gefallen. Wo ich ganz alleine auf mich gestellt war und mich durchgeschlagen habe. Ich habe irgendwo gewohnt und bekam Essen und Kleidung, und dafür habe ich eben gearbeitet. Im Haus, auf dem Feld, im Geschäft... Was eben so kam. Eigentlich hat mir das viel besser gefallen als das heute, aber wenn ich heute sage, daß wir drei Waisenkinder sind, wartet sofort das nächste Heim auf uns. Und das, obwohl wir drei inzwischen in jedem Beruf unterkommen und uns selbst versorgen könnten. Es ist halt nur unser Aussehen, weswegen wir noch die Fassade einer Familie brauchen." Sie küßte mich zart. "Nur daß es bei euch eben keine Fassade mehr ist, Toni. Mit euch könnten wir wirklich eine Familie sein. Tut mir leid, wenn ich so deutlich rede." "Das muß es nicht, mein Liebling. Mir sind unangenehme Wahrheiten immer viel lieber als angenehme Lügen." "Mir auch, aber es gibt Wahrheiten, die man mit kaum einem Menschen teilen kann." Seufzend legte sie sich auf mich. "Ich liebe dich, Toni. Du bist der erste Mann in 200 Jahren, der so ist wie ich. Du bist so, wie ich mir einen Vater vorgestellt habe. Lieb, verständnisvoll, nachsichtig, fair. Und du bist so, wie ich mir einen Partner vorgestellt habe. Einfühlsam, zärtlich, geduldig. Du kannst zuhören, du gehst auf meine Argumente ein und versuchst, sie zu verstehen. Mehr noch, du versuchst, meinen Standpunkt zu verstehen. Das hat außer Noel bisher niemand getan, und selbst er hatte nur seinen persönlichen Vorteil im Auge." Ich spürte, wie eine Träne von ihr auf meine Wange fiel. "Ich weiß nicht, wie lange du lebst", sagte sie leise. "Aber ob es nun vierzig oder viertausend Jahre sind, Liebster, ich möchte sie mit dir verbringen. Jeden einzelnen Tag davon. Bisher habe ich nur überlebt, aber bei dir kann ich leben." Sie ließ ihren Kopf auf meine Schulter fallen. "Nicht weinen", flüsterte ich. "Hol deinen Noel hierher, und dann sehen wir weiter." Ich drückte sie an mich, und als ich daran dachte, Shannon viertausend Jahre lang im Arm zu haben, verstärkte sich meine Umarmung um ein Vielfaches.
* * *
Nach dem Frühstück wartete eine sehr unangenehme Aufgabe auf mich: den Weg vom Pool bis zur Nische zu filmen, nachdem ich die Truhe wieder gefüllt und zurückgestellt hatte. Über den Schacht legten wir eine ausziehbare Aluminiumleiter, die wir sonst benutzten, um die Regenrinnen am Dach von Laub zu befreien. Der Gang über diese Leiter, mit der Videokamera in der Hand, gehört zu meinen schlimmsten Erinnerungen, denn der Grund des Schachtes war selbst im Licht der starken Taschenlampe nicht auszumachen. Schließlich war auch das geschafft. Kerstin und Mandy waren so lieb, die Aufnahme zweimal zu kopieren; in der Zeit fuhren Vera, Shannon und ich in die Stadt, um den Schmuck von einem Juwelier taxieren zu lassen. Aus einem stummen Einverständnis heraus behielten Shannon und ich das, was sie mir erzählt hatte, erst einmal für uns; die Zeit für dieses Thema war noch nicht reif. Der Juwelier war auf Anhieb beeindruckt, als er unsere Schätze sah. Die Frage nach dem Eigentumsnachweis beantwortete er ziemlich knapp und eindeutig. "Jeder in der Branche weiß, welche Stücke gestohlen sind und welche nicht. Diese hier werden nirgendwo vermißt, also glaube ich Ihre Geschichte. Außerdem sind sie viel zu alt, um in dieser Menge unbemerkt gestohlen sein zu können." Gegen Mittag hatten wir eine erste, vorsichtige Schätzung jedes einzelnen Teiles vorliegen, die uns buchstäblich den Atem verschlug. Damit waren die Mädchen mehr als nur versorgt, wenn es denn zum Verkauf kommen sollte, wofür wir uns aber noch nicht entschieden hatten. Shannon war der Meinung, daß Noel sich vorher jedes einzelne Teil vornehmen sollte, um vor weiteren Überraschungen gewappnet zu sein. Nach dieser Nacht und dem Erlebnis mit dem Werwolfgeist konnte ich ihr nur zustimmen. Shannon rief Noel an, als wir wieder zu Hause waren. Ich wunderte mich sehr über die Art und Weise, wie sie mit ihm sprach. Ich hatte eigentlich vermutet, daß siebzig Jahre gemeinsames Leben eine bestimmte Nähe und Vertrautheit geschafft hätten, doch sie sprach so mit ihm, wie es zwei Geschäftsfreunde tun würden, die sich einige Jahre nicht gesehen hatten. Freundlich, aber nicht allzu persönlich. Das hörte ich zumindest an ihrem Ton; was genau sie sagte, konnte ich nicht einmal erahnen, denn sie sprach das, was wohl Gälisch sein mußte. Eine harte, kehlige, und gleichzeitig sehr weiche und fließende Sprache. Es war ein reiner Genuß, Shannon in ihrer ursprünglichen Sprache reden zu hören. 231 Jahre, dachte ich bei mir, während ich sie ansah. Und noch viele tausend lagen vor ihr, wenn sich ihre Vermutung, daß sie alle hundert Jahre nur ein Jahr alterte, bewahrheiten sollte. Wie ihre Schwestern Mandy und Becky. Wie Vera. Und wie ich. Zärtlich strich ich über die inzwischen wieder verheilte Stelle an meinem Bein, wo Shannon mich nach unserer langen Unterredung im Garten gebissen hatte. Auf meinen Wunsch, und sehr tief. Es war mir in dem Moment so, als würde durch ihre Fangzähne neues Blut in meinen Körper schießen und nachschauen, wo es am nötigsten gebraucht wurde. Außer diesem kurzem Gefühl spürte ich nichts. Kein Drehen und Ziehen, kein Verschwimmen und Überlagern. Es war alles noch genauso, wie es vorher war. Nur daß ich jetzt so alt wie Shannon werden würde. Und wie Vera. Kerstin und Birgit hatten noch Zeit; mit ihnen würden wir reden, sobald Noels Urteil feststand. Und als hätte ich gespürt, daß Shannon und Noel alles gesagt hatten, legte sie in diesem Augenblick den Hörer auf und lächelte mir zu. "Morgen. Er kommt morgen mittag. Er sagt, wenn wir tatsächlich diese gelbe Wolke gesehen haben, weiß er schon, was für ein Wesen das ist. Wir sollen das Amulett auf jeden Fall in der Truhe lassen, dann passiert uns nichts. Er wollte eigentlich noch heute kommen, steckt aber gerade mitten in einem Versuch, der bis zum Abend dauern wird." Ihr Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen. "Und noch mehr Geister für Irland!" "Komm zu mir, mein Liebling", bat ich sie mit ausgestreckter Hand. Shannon sprang zu mir auf die Couch; ihre Augen drückten die Liebe aus, die auch ich für sie empfand. "Kann ich irgend etwas für dich tun?" fragte sie mit schimmernden Augen. Ich nickte, während ich sie an mich drückte. "Das kannst du, mein Liebling. Erzähl mir etwas von Rodney und Joker. Von deinen ersten Jahren." Shannon strahlte mich glücklich an und kuschelte sich ein, dann begann sie, von ihren ersten Jahren nach dem Wolfsbiß zu erzählen. Wo sie waren, wie sie gelebt hatten, wie sie durch die Winter kamen (was Shannon wesentlich leichter fiel als Rodney), wie sie auf Joker das Reiten gelernt hatte, wie sie lernte, aus Kräutern und Wurzeln Heilsäfte zu mixen, die Rodney dann verkaufte, wie sie einmal geholfen hatte, ein Kind zur Welt zu bringen, wie sie jeden Morgen Rodneys Wagen in Ordnung brachte, bevor sie weiterzogen, wie sie an Sommerabenden träumend im Gras lag und den Wolken zusah, von den Menschen, die sie besuchten oder auf ihrem Weg trafen, von den Häusern und Stuben und wie sie eingerichtet waren, wie die Menschen damals über die Runden kamen, und je mehr sie erzählte, um so lebendiger wurden die Bilder, die ich während ihrer Rede sah, bis mir war, als säße ich neben ihr auf dem Kutschbock und lenkte Joker. "Was mir an Rodney so gefiel", sagte sie, als sie mit ihrem groben Überblick zu Ende war, "war seine Ehrlichkeit, Toni. Es gab genug Quacksalber zu der Zeit, die die Menschen einfach nur abzockten, aber Rodney nahm nur dann Geld, wenn er einem Kranken entweder ein Mittel verkaufte oder ihn heilen konnte. Wenn jemand starb, forderte Rodney kein Geld von der Familie. Er sagte, das würde ihn davon abhalten, einen Kranken leichtfertig aufzugeben. Die Leute gewöhnten sich auch schnell daran, daß ihm ein kleines Mädchen half, auch wenn es am Anfang natürlich komisch war. Aber nach einem Jahr mit ihm zusammen wußte ich schon sehr viel und half ihm, wo ich nur konnte." Sie zuckte mit den Schultern. "Richtig traurig war ich eigentlich nur einmal bei ihm, nämlich an dem Morgen, wo Joker nicht mehr aufstehen wollte. Das liebe Tier war einfach zu alt geworden. Wir saßen bei ihm, bis er auf einmal nicht mehr atmete. Rodney streichelte ihn noch einmal, dann stand er auf, holte einen Beutel Geld aus dem Wagen und machte sich auf den Weg in die nächste Stadt, um ein neues Pferd zu kaufen. Und ich... ich hab dagesessen und wie ein Wasserfall geheult." Sie lachte mit feuchten Augen. "Komisch, was? Das ist jetzt über zweihundert Jahre her, und mir kommt es so vor, als wäre es gerade gestern passiert." "Das macht mir Mut", lächelte ich gerührt. "Weil ich mich auch in zweitausend Jahren noch gerne an diesen Moment jetzt erinnern würde." "Das wirst du!" versprach Shannon lächelnd. "Ganz bestimmt. Ich weiß noch ganz genau, wie Rodney mit dem neuen Pferd zurückkam. Da war es schon Abend. Ich mochte das Tier von Anfang an nicht; ich wollte Joker zurückhaben. Aber ich könnte es dir in jeder Einzelheit beschreiben, Liebster. Angefangen von dem Puschel Haar, das immer so wild in die Luft stand, bis hin zu dem struppigen Schweif. Du wirst dich an alles erinnern, Toni, und wenn nicht, helfe ich dir schon auf die Sprünge." Ich zog sie an mich. "Das glaube ich dir aufs Wort, mein Liebling. Shannon, als ich euch das erste Mal gesehen habe, hatte ich wirklich geglaubt, daß du Ians leibliche Tochter bist. Deine Schwestern habe ich auf eure Mutter geschoben." "Ja!" lachte Shannon. "Da paßt Noel schon drauf auf. Ein Teil unserer Eltern soll so aussehen wie Mandy und Becky oder wie ich. Den Rest erklären wir dann schon." "Und du bist nicht böse, daß wir dich und deine Schwestern als Kinder behandelt haben? Ich meine, ihr seid ja schließlich -" "Nein!" unterbrach sie mich lächelnd. "Das habt ihr ja auch nie. Ihr habt uns als junge Menschen behandelt, aber nie als Kinder. Außerdem können wir unsere Tarnung ja nicht gleich am ersten Tag auffliegen lassen, oder?" Sie schaute mich verschmitzt an. "Nein, das könnt ihr wirklich nicht. Wenn ich gewußt hätte, was mich bei euch so alles erwartet... Das Haus verriegelt hätte ich!" "Aber natürlich erst, nachdem wir drin gewesen wären?" fragte Shannon mit unschuldigen Augen. "Natürlich." Das Klappern von Geschirr in der Küche lenkte uns kurz ab, bevor wir uns küssen konnten, dann kam Veras Ruf: "Essen!"
Am Nachmittag stellte ich erstaunt fest, daß sich die Zahl der Anschläge, mit der ich schrieb, deutlich erhöht hatte. Außerdem sank die Anzahl der Tippfehler fast auf Null. Offenbar sorgte Shannons Virus auch für eine erhöhte Leistung im menschlichen Körper. Vielleicht war der Virus, den ich in mir trug, schon verwässert, während Shannon noch das Original in sich hatte. Viel schneller als erwartet beendete ich die Geschichte, an der ich derzeit schrieb, und schickte sie zum Verlag. Zum ersten Mal seit Wochen, in denen ich der Doppelbelastung von alten und neuen Geschichten ausgesetzt war, hatte ich mein Tagesziel schon um fünf Uhr nachmittags erreicht. Den Rest des Tages und des Abends verbrachte die Familie geschlossen im Wohnzimmer. Shannon lenkte das Gespräch geschickt auf die alten, archetypischen Symbole und deren Bedeutung, und flugs waren wir beim Jungbrunnen gelandet. "Das wäre etwas!" seufzte Vera sehnsüchtig. "Ewig jung bleiben!" "Möchtest du das wirklich?" schmunzelte ich. Vera zuckte mit den Schultern. "Es wäre ein netter Traum, oder? Der Senilität ausweichen zu können, sein Leben lang leistungsfähig und fit zu bleiben, jeden Tag als neues Geschenk feiern zu können, und das über Jahrhunderte hinweg... Warum nicht?" Mandy und Becky ließen mit keiner Miene erkennen, was in ihnen vorging. Nach außen waren sie nur Zuhörer. Selbst die beiden wußten noch nicht, daß ich ihr Geheimnis kannte. "Ich weiß nicht", meinte Shannon nachdenklich, fast ablehnend. "Was soll man denn mit fünfhundert oder tausend Jahren Leben anfangen, Vera?" "Leben!" lachte Vera. "Shannon, du bist noch sehr jung. Entschuldige, wenn ich das so direkt sage, aber das Leben hält sehr viel Freude bereit. Es muß wunderbar sein, nicht zu altern." "Ich denke da immer an 'Das Bildnis des Dorian Gray'", erwiderte Shannon. Vera schüttelte den Kopf. "Falsch, Shannon. Dorian Gray hat sich auf magische Art und Weise vor dem Altern geschützt. Der Prozeß des Alterns setzte sich in seinem Spiegelbild - oder war es ein Gemälde? - fort, aber er selbst blieb immer jung. Ein wirklicher Jungbrunnen hätte keine derartig negativen Nebenwirkungen." "Trotzdem!" beharrte Shannon. "Das mag ja ein netter Traum sein, aber in Wirklichkeit gäbe das nur Probleme, Vera. Wie willst du es den Nachbarn erklären, daß du plötzlich nicht mehr älter wirst? Und deinem Mann und den Kindern?" "Genau!" rief Mandy aus. "Und in der Schule? Das geht doch alles nicht!" "Tja..." Vera kräuselte ihre Stirn. "Das stimmt. Damit müßte man sich eingehend beschäftigen." "Dann müßten eben alle von dem Jungbrunnen trinken", sagte Kerstin, die mir einen merkwürdig wissenden Blick zuwarf. "Keiner dürfte ausgelassen werden. Keiner!" Nun war ich mir sicher, daß sie zumindest etwas ahnte, wenn nicht sogar schon wußte. "Man könnte ja immer wieder umziehen", schlug Becky schüchtern vor. "Alle zwei, drei Jahre oder so." "Hey!" lachte Vera aufgedreht. "Das ist eine hervorragende Idee, Schätzchen! So könnte man das tatsächlich machen! Ein oder zwei Jahre kann man problemlos kaschieren." "Vera!" lachte ich laut. "Möchtest du wirklich Hunderte von Jahren mit mir verheiratet sein?" "Das", sagte Vera mit tiefem Ernst, "wäre für mich einer der beiden Gründe, von dem Jungbrunnen zu trinken. Ja, Toni. Den Spruch 'Bis das der Tod euch scheidet' nehme ich sehr ernst." "Ich auch, Liebstes. Und gerade für den ersten Satz würde ich dich ein zweites Mal heiraten. Was wäre dein zweiter Grund?" "Der ist egoistischer Natur", feixte Vera. "Ich habe Angst vor der Null." "Null?" Shannon sah sie fragend an. "Welche Null?" "Die Null, die hinten bei der Zahl 40 steht." "Oh." Shannon grinste verlegen. "Kapiert. Möchtest du nicht 40 sein?" "Ich wollte niemals 30 sein!" lachte Vera fröhlich. "Nein, das ist falsch. Ich mag es heute, 38 zu sein, und wahrscheinlich werde ich auch die 40 mögen. Aber..." Sie wurde plötzlich wieder ernst. "Jede weitere Null", sagte sie leise, "verdeutlicht mir, daß ich nicht mehr viel Zeit habe. In deinem Alter, Shannon, ist die Zahl 20 noch eine Ewigkeit entfernt. Für mich liegt sie schon mein halbes Leben hinter mir. Wenn ich 40 bin, ist die nächste Null bei der 50, und die liegt schon verdammt nah an 60. Und damit zeichnet sich so langsam das Ende ab. Wenn es möglich wäre, würde ich die 40 gerne vermeiden." Sie blinzelte kurz und schüttelte den Kopf, dann war ihre alte Fröhlichkeit zurückgekehrt. "Und was ist mit dem Symbol des Schwertes?" warf sie in die Runde. "Das kommt doch auch in vielen Mythologien vor. Shannon, was verstehst du unter einem Schwert? Und denk bitte daran, daß Kinder im Raum sind, ja?" Die drei älteren Mädchen lachten schallend. "Tja...", grinste Shannon, als sich das Lachen gelegt hatte. "Was ich persönlich davon halte, oder was es bedeutet?" "Was es bedeutet. Teile dein Wissen mit uns, du bildhübsches Lexikon auf zwei bildhübschen Beinen!" "Das sagst du, du Quell des archäologischen Wissens?" lachte Shannon. Plaudernd und scherzend verbrachten wir den Abend, bis es gegen Mitternacht Zeit wurde, ins Bett zu gehen. Nur zur Sicherheit holte ich Kerstin wieder zu uns ins Bett; auch wenn ich Angst vor diesem Wesen hatte, wollte ich meiner Tochter beistehen, so gut ich es konnte. Doch die Nacht verlief ruhig, ohne jegliche Störung.
|
|