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Sie sagte es mir, nachdem ich sie losgebunden hatte, dort unter dem Apfelbaum. Sie stand vor mir, klein, barfuss und dreckig, in einem ausgebleichten Sommerkleidchen und griff nach meinen Händen. Sie klammerte sich an meinen Händen fest, als ob sie Angst hatte, ertrinken zu müssen. Mein grässlicher Traum fiel mir ein, in dem Sassi es genauso gemacht hatte. Und exakt wie im Traum brach sie in Tränen aus. „Chris!“ schluchzte sie. „Chrissie!“ „Sassi, was hast du?“ fragte ich besorgt. Ich löste meine Hände aus ihren und umfing sie mit den Armen. Sie lehnte sich mit den Ellbogen gegen meine Brust, die kleine Hände zu Fäusten geballt. „Morgen fahren wir nach Hause“, schluchzte sie. „Ja“, sagte ich leise. Das war doch nicht schlimm. Sie blickte zu mir hoch: „Wir wohnen jetzt ganz woanders Chris! Deswegen sind meine Eltern weg. Sie sind umgezogen! Ich sollte bei euch bleiben, damit ich ihnen nicht in den Füßen rumlaufe.“ Saskia weinte bitterlich. „Die Firma von meinem Vater geht woanders hin und Vater muss mit, sonst verliert er seine Arbeit. Wir ziehen weit weg, Chris! Ganz weit!“ Sie nannte den Namen einer Stadt hoch oben im Norden nahe der dänischen Grenze. Laut weinend drückte sich Saskia an mich. Mir wurde eisig kalt. DAS war es also! Sassi litt nicht unter einer unheilbaren Krankheit. Aber es war genauso schlimm! Sie zogen weg! „W … wir w … werden uns nie wieder sehen!“ schluchzte sie. „Nie wieder, Chrissie!“ Ich war wie erschlagen. „Nein!“ flüsterte ich entgeistert. Aber es war so. Unter Tränen berichtete Saskia, wie ihre Eltern es ihr erzählt hatten, kurz nachdem wir beide Freunde geworden waren. „E…endlich hatte ich einen F…Freund“, weinte sie. „U…und jetzt v…verliere i…ich dich w…wieder! Ich werde wieder ganz allein sein. Ich will a…auch keine a…anderen Freunde.“ Sie klammerte sich an mir fest. „Ich w…will nur d…dich als F…Freund!“ Ich hatte das Gefühl, als ob eine riesige Pranke mit rasiermesserscharfen Klauen mein Herz packte und zerdrückte. Ich verblutete innerlich. „Sassi!“ Jetzt musste ich auch heulen. Ich konnte nichts dagegen tun. Wir blieben im Garten bis zum letzten Moment, saßen aneinandergedrängt auf einem sonnenwarmen Mäuerchen und redeten. Saskia erzählte mich noch einmal in allen Einzelheiten, wie allein sie immer gewesen war. Auch in der Schule hatte sie keine richtige Freundin gehabt. Sie hatte Angst vor dem neuen Wohnort. „Dort bin ich wieder ganz allein“, flüsterte sie. Mir tat das Herz so weh, dass ich pausenlos hätte schreien können!
Abends im Bett bat mich Sassi, sie noch mal zu fesseln. „Ich will es noch einmal spüren“, sagte sie und schaute mich mit großen Augen an. „Wir haben so schön zusammen gespielt. Weißt du noch, wie ich dich das erste Mal angebunden habe, als du auf das Glaspferd getreten bist?“ Und ob ich das wusste! Also legte ich ihr die „Handschellen“ aus Katzenhalsbändern an. Zuerst an den Händen. Dann fesselte ich ihre Füße. Sie hatte sich eine Zehe irgendwo geritzt. Ein kleiner Kratzer war auf der Zehe. Ich blies sachte Luft drauf, obwohl das Ding doch schon so gut wie verheilt war. Saskia hielt andächtig still. Dann kuschelten wir uns aneinander und schliefen ein.
Der Abschied am folgenden Morgen war das Grässlichste, was ich je erlebt habe. Wir standen einander gegenüber und wussten nicht recht, was wir sagen sollten. In meiner Hosentasche fühlte ich mein Paar Lederschellen. „Jeder von uns soll ein Paar behalten“, hatte Sassi morgens beim Aufwachen gesagt. „Immer wenn wir die Bänder anziehen, denken wir aneinander.“ Da standen wir nun. Saskia fing an zu weinen. Unbeholfen umarmte ich sie. Mir fiel kein Trost ein. Mir tat selber das Herz weh. Die Erwachsenen standen dabei und machten betretene Gesichter. Saskias Mutter kam an: „Wir müssen jetzt fahren, Sassi. Komm bitte.“ Sassi schaute mich lange an. Tränen liefen ihr unablässig übers Gesicht: „V…vergiss mich nicht, Chrissie! Du hast v…versprochen, i…immer m…mein Freund z…zu sein.“ „Ich bin immer dein Freund Sassi“, sagte ich.
Später im Auto auf der Heimfahrt machte meine Mutter den zaghaften Versuch, mich zu trösten: „Ihr könnt euch doch regelmäßig schreiben, Christian.“ Was für ein Käse! Neunjährige wollen sich keine Briefe schreiben. Neunjährige wollen zusammen sein! Sie wollen zusammen spielen! Sie schien das zu kapieren, denn den Rest der Heimfahrt ließen mich meine Eltern in Ruhe. Ich rechnete ihnen das hoch an. Ich hatte keine Kraft mehr zum Reden. Hätte ich auch nur eine einzige Frage beantworten müssen, ich hätte angefangen zu heulen wie ein Baby. „Sassi!“ dachte ich. Es tat so weh, als hätte mir einer ein glühendes Messer ins Herz gerammt und würde es nun genüsslich umdrehen; wieder und wieder. Ich rief mir ihren wunderschönen Tanz draußen in der sonnendurchglühten Heide ins Gedächtnis, sah Saskia tanzen und schaute zu, wie die Abdrücke ihrer kleinen nackten Füße allmählich diese einzigartige Rosette in den Sand malten. Sah sie knien und ihr herrliches, bittersüßes Feenlied singen. „Sassi!“ dachte ich voller Inbrunst. „Ich werde immer dein Freund sein! Immer!“
30. Teil) (für Ramona)
Das Ende eines traurigen Sonntags
Ich saß am Ufer des kleinen Bachs im Wald nahe meinem geheimen Platz. Es war Sonntag. Noch zwei Wochen Ferien. Und zwei Wochen war es nun her, dass Saskia und ich getrennt worden waren. Es schmerzte wie am ersten Tag, ja das Herzweh schien sogar noch schlimmer zu werden. In der Nacht hatte ich von Saskia geträumt. Es war ein unheimlich realistischer Traum gewesen.
Es war in der Heide. Irgendwelche Leute schleppten mich voran. Sie sahen ein bisschen aus wie römische Legionäre, vielleicht weil am Freitag ein Römerfilm im Fernsehen gekommen war. Meine Hände waren mit Eisen zusammen gekettet, und ein bulliger Legionär zerrte mich an einer langen schweren Kette hinter sich her. Mitten in der Heide stand ein geborstener Baum. Davor war ein großer kreisrunder Sandplatz. Es sah fast so aus wie die Heide nahe bei unserem Urlaubsbauernhof. Doch alles war düster und schwarz. Das Heidekraut war knorrig und vertrocknet und ragte viel höher als normal in den Himmel. Bleigraue Wolken hingen über der düsteren Szenerie. Die Legionäre zerrten mich unter den geborstenen Baum, der einem Galgen täuschend ähnlich sah. Sie warfen die Kette über den Galgen und zogen meine Arme in die Höhe, bis ich ausgestreckt da stand. Dann legten sie auch noch meine Füße in Eisen. „Das wars. Nichts wie weg!“ sagte einer der Legionäre und warf ängstliche Blicke um sich. „Gleich geht die Sonne unter. Ihr wisst, was dann passiert.“ Die Legionäre liefen eilig davon und ließen mich mutterseelenallein angekettet mitten in der Heide stehen. Die Eisenfesseln taten sehr weh an den Hand- und Fußgelenken. Ich traute mich kaum, zu zappeln. In der Ferne blies jemand auf einer Römertrompete. Es war ein lang gezogener schauriger Laut. Plötzlich kam aus der Heide eine Antwort. Eine Art Heulen. Ich wurde vor Schreck stocksteif. Das musste ein Tier sein, ein sehr großes Tier! Verschreckt schaute ich in die Richtung, aus der das Heulen gekommen war. Die übergroßen Erikabüsche krachten und raschelten, als etwas Großes auf mich zukam. Ich hörte ein schreckliches Knurren. Dann erschien eine wahre Alptraumkreatur am Rand des Sandplatzes. Es war ein riesiges Wesen, eine Kreatur, die keinem irdischen Tier glich. Der Körper schien halb Bär und halb Löwe zu sein. Riesige Pranken mit scharfen Klauen trugen ihn. Zottiges mausgraues Fell bedeckte den Leib des Tiers. Am fürchterlichsten war der Kopf! Er sah aus wie eine Mischung aus riesigem Wolfskopf und einem Menschengesicht. Kleine graue Augen lagen tief in den Höhlen. Sie glühten vor Mordlust. Knurrend öffnete die grausige Kreatur ihr Maul. Ich erkannte riesige Hauer. Knurrend umkreiste der fleischgewordene Albtraum den Sandplatz. Mit der Klarheit, die manchen Träumen eigen ist, wusste ich, dass dieses schreckliche Vieh mir im Moment nichts antun konnte. Solange die Sonne noch am bleigrauwolkigen Himmel stand, musste es warten. Aber wehe, die Sonne versank hinterm Firmament! Dann würde sich die Bestie auf mich stürzen und mir die Eingeweide heraus reißen. Ich zerrte verzweifelt an meinen eisernen Fesseln, den Schmerz ignorierend, den mir das bereitete. Wenn das schreckliche Vieh auf mich losging, würde ich noch viel furchtbarere Schmerzen erleiden! Knurrend und fauchend starrte mich die Kreatur an. Ich erkannte in dem riesigen kantigen Wolfsgesicht die Visage des Streifenschneiders wieder; das Wesen hatte seine stechenden grauen Augen. Plötzlich hörte ich Saskia rufen: „Chris! Chris! Wo bist du?“ Um Gottes Willen! Sassi durfte nicht herkommen! Das Monster würde sie töten! „Bleib weg, Sassi!“ brüllte ich aus Leibeskräften. „Renn fort! Rette dich! Du kannst nichts mehr für mich tun!“ Ich fühlte Tränen aufsteigen. Wie gerne hätte ich Saskia noch einmal im Leben gesehen, bevor die Albtraumkreatur mich umbrachte! „Chris!“ Am Rande meines Blickfeldes erkannte ich Saskia. Sie kam über die Heide gerannt, genau auf mich zu. Sie trug ihren alten Heimmädchenrock und eine alte fleckige Bluse in der Farbe von verwaschenem Rot. Das fürchterliche Vieh empfing sie mit einem trompetenden Schrei. „Chris!“ schrie Saskia entsetzt. „Oh Gott Chris! Was haben sie mit dir gemacht.“ „Du kannst mir nicht helfen“, rief ich. „Bitte renn weg und rette dich. Sobald die Sonne untergeht, greift das Vieh an.“ Hinten am Horizont rissen die bleigrauen Wolken auf und gaben den Blick frei auf eine fette dunkelrote Sonne, die sich unbarmherzig herabsenkte. Saskia prallte gegen eine unsichtbare Wand. „Aua! Eine magische Sperre!“ Die Kreatur, die mich am Galgen belauerte, gab ein Geräusch von sich das wie fauchendes Lachen klang. „Du kannst nicht zu mir durchdringen Sassi“, rief ich bedauernd und zerrte an meinen harten Eisenfesseln. Oh wie mir die Gelenke wehtaten! „Doch Chris!“ rief Saskia. Als hätte die Bestie die Worte verstanden, setzte sie sich in Bewegung. Mit langsamen schleichenden Bewegungen näherte sie sich Saskia. Mein Herz schlug vor Angst um Sassi. Gerade als das Tier am Rande des Sandplatzes ankam, sprang Saskia mit einem seltsamen hohen Sprung in den Sand. Sie schrie hell auf und reckte die Arme in den Himmel. Das Monstrum erstarrte. „Zurück!“ rief Saskia. „Zurück! Weg vom Tanzplatz!“ Das Albtraumwesen knurrte wütend, aber es traute sich nicht, den Sandplatz zu betreten. Saskia begann zu tanzen. Sie drehte sich, sie sprang, sie wirbelte auf unsichtbaren Linien umher. Ihre nackten Füße begannen die magische Rosette in den Sand zu schreiben. Das grauenhafte Vieh schlich keifend rund um den Sandplatz, aber es wagte sich nicht an Saskia heran. Hinten am Horizont sank die Sonne mit abnormaler Geschwindigkeit. Bald würde es dunkel werden. Das Albtraumwesen wusste es und lauerte darauf. Es würde uns beide ermorden. Die Sonne berührte den Horizont. Saskias Tanz wurde schneller. Sie wirkte angestrengt. Ihre Haare waren verschwitzt. „Sie schafft es nicht“, dachte ich verzweifelt. „Nun muss auch sie sterben.“ Ich war so traurig darüber. Aber es gab keine Rettung. Das fürchterliche Vieh wusste es. Es gurgelte hungrig und kam immer näher. Die Sonne war fast untergegangen. Saskia tanzte wie rasend. Sie bewegte sich so schnell, dass man ihre Bewegungen kaum erkennen konnte in der Dämmerung des schwindenden Tages. Ich zerrte einmal mehr an meinen eisernen Fesseln. Keine Chance! Die Sonne verschwand hinterm Horizont. Das Monster brüllte hungrig auf und wollte sich auf Saskia stürzen. Da machte Saskia mitten aus einer Drehung heraus einen Satz mitten in ihre getanzte Rosette im Sand. Sie kniete nieder und kreuzte die Arme vor der Brust. Dann begann sie ihr Lied zu singen. Ihre helle Stimme trug weit über die schwarze Heide. Die angreifende Bestie erstarrte. Die Töne schienen ihr fast körperlich weh zu tun. Je länger Sassi sang, desto mehr verzog das bösartige Tier das Gesicht. Beim zweitletzten Satz der zweiten Strophe wälzte es sich schreiend im Heidekraut. Dann raste es in riesigen Sprüngen davon. Wir hörten es schreien: „Iiiiiiiiiieh! Iiiiiiiieh! Iiiiiiiiieh!“ Das knorrige Heidekraut knackte. Die Schreie verklangen in der Ferne. Im dämmrigen Abendlicht kam Saskia zu mir. Sie torkelte vor Erschöpfung. Der Tanz hatte sie alle Kräfte gekostet. Plötzlich knackte es an meinen Füßen und die Eisenfesseln platzten auf. Danach geschah das Selbe mit meinen Handfesseln. Ich fiel beinahe zu Boden. Saskia fiel gegen mich und wir stützten uns gegenseitig. „Chris!“ rief Saskia. „Oh Chris!“ Sie begann zu weinen. Ich weinte ebenfalls. Wir hielten uns umarmt und wir weinten ohne Unterlass. Wir klammerten uns schluchzend aneinander fest. Trotz der Rettung fühlte ich schreckliche Trauer in meinem Innersten. Ich weinte und weinte und weinte.
Dann wachte ich auf und stellte fest, dass mein Kopfkissen nass geweint war. Den ganzen Tag musste ich an diesen Traum denken. Auch jetzt. Wie niedlich Sassi ausgesehen hatte nach ihrem anstrengenden Tanz! Die Haare ein bisschen verschwitzt und mit ganz roten Backen und ihr Atem war ganz schnell gegangen. Ich dachte an früher, wenn wir zu Winters auf Besuch gefahren waren, wie ich mich immer gewehrt hatte, mit Saskia zu spielen. Damals fiel mir nicht auf, wie verzweifelt sie zu mir Kontakt suchte, wie sie probierte, mit mir ins Gespräch zu kommen und mit mir zu spielen. Immer hatte ich sie auf hässliche Weise abgewimmelt. Ich hatte sie damit aufgezogen, dass der Dachständer in ihrem Zimmer rund gemacht worden war, damit sie sich nicht ihren Dickkopf dran stieß. Ich hatte…ich hatte… „Könnte ich das doch nur rückgängig machen!“ dachte ich mit wehem Herzen. Es tat mir so unendlich leid, dass ich so eklich zu Sassi gewesen war. Ich sah ihre verletzt blickenden Augen vor mir, bittend… Plötzlich musste ich weinen. Ich konnte nicht anders. Alle Schleusen öffneten sich. Was ich zwei Wochen lang mit Gewalt zurück gehalten hatte, brach alles aus mir heraus. Ich schluchzte lauthals los. Wie lange ich dort am Bach im Wald heulte, kann ich nicht sagen. Es dauerte lange, so lange, dass ich schließlich leer geweint war. Ich fühlte mich innerlich ausgehöhlt und verbrannt. Traurig trat ich den Heimweg an. Selbst mein geliebter Geheimplatz hatte es nicht geschafft, meine wunde Seele zu heilen. Als ich die Haustür aufschloss, hörte ich Stimmen. Jemand fragte nach mir. „Er wird schon noch kommen“, sagte meine Mutter. Ich verdrehte verzweifelt die Augen. Auch das noch! Besuch! Sonntags! Sonntags kamen nur die Bergers mit ihrem Sohn Arnim. Ich nannte ihn Arschnim, weil er sich immer am Hintern kratzte und weil er ein blöder Arsch war. Dauernd kritisierte er an meinen Spielsachen rum und wollte was anderes spielen als ich. Oh Gott! Bitte nicht! Arschnim war der Letzte, den ich jetzt gebrauchen konnte. „Was haben wir ein Glück, dass die Eigentumswohnung noch nicht verkauft ist“, sprach eine Männerstimme. Das war nicht die Stimme von Arschnims Vater. „Sonst wüssten wir nicht, wohin.“ „Unglaublich!“ Das kam vom meiner Mutter. „Dass die das so einfach können! Keinen Lohn zahlen und dann in Konkurs gehen. Und die Chefs setzen sich mit fetten Abfindungen zur Ruhe!“ Die Männerstimme lachte freundlich. Es klang wie „Hieck! Hiiieeck!“ Diese Lach kannte ich doch! “Das Schönste ist, dass die Marphophan uns drei leitende Ingenieure dort direkt vorm Werkstor abgeworben hat. Ich falle die Karriereleiter ein ganzes Stück hinauf und wir können unsere Eigentumswohnung behalten.“ „Wir wollten sowieso nie von hier weg“, mischte sich eine Frauenstimme ein. Auch die kam mir bekannt vor, aber ich kam nicht drauf, wieso. Ich lauschte angestrengt. „Und mit dem zusätzlichen Geld können wir uns endlich auch ein kleines Wochenendgrundstückchen auf eurem Campingplatz leisten. Ist der Platz neben euch wirklich noch zu kaufen.“ „Ja“, sagte mein Vater. „Die Müllers wollen aufhören, weil er nicht mehr Auto fahren darf nach seinem Schlaganfall. Der Wohnwagen mit Vorbau ist fast neu und für den Preis geschenkt.“ „Unser Sprössling hat sich sofort wieder häuslich in ihrer Kammer niedergelassen. Als wir es ihr sagten, dass wir zurückkehren, hat sie vor Freude geweint.“ „Unserer wird sich auch freuen“, sagte meine Mutter. „Wo er nur bleibt?“ Ich hielt es vor Neugier nicht mehr aus. Ich wollte wissen, wer da im Wohnzimmer saß und komisches Zeug quatschte. Als ich zur Tür reinschneite glaubte ich, einen Tritt von einem Gaul abgekriegt zu haben. Winters saßen am Wohnzimmertisch zusammen mit meinen Eltern. Die Eltern von Saskia! Vom Fenster her kam ein Jauchzer: „Chris!“ Ich fuhr herum. Mein Herz setzte einen Schlag aus. Es blieb einfach stehen und ich bekam Angst, dass es nie wieder loslegen würde. Dann stolperte es wieder voran. Es fiel hin, stand wieder auf und kam ins Galoppieren. Ich konnte es nicht glauben. Sie stand vor mir, keine drei Meter entfernt. Sie trug wieder so ein hübsches einfaches Sommerkleidchen. Die braunen Haare flossen um ihr Gesicht, die hellbraunen Augen schauten mich an. Pure Freude funkelte darin. Es war Saskia! Mein Herz drehte sich langsam um mich selbst. Irgendetwas dort drinnen riss mittendurch. Ein süßer Schmerz überflutete mich. Ich wollte etwas sagen, aber ich kriegte den Mund nicht auf. Ich musste mit Gewalt zum Sprechen ansetzen. Es war, als müsse ich eine Barriere zur Seite stoßen. Dann kam ein Schrei über meine Lippen: „SASSI!“ „CHRIS!“ Mit zwei Sätzen war sie bei mir und flog mir in die Arme. „Chris! Wir sind zurück! Wir bleiben hier! Die Firma von meinem Vater ist pleite und er arbeitet jetzt bei einer anderen Firma und kriegt viel mehr Geld. Ich habe mein altes Zimmer auf dem Speicher wieder und wir bleiben da! Für immer!“ sprudelte sie heraus. Wir klammerten uns aneinander wie Ertrinkende. „Sassi!“ flüsterte ich inbrünstig in ihr Ohr. „SASSI!“ Aus dem Augenwinkel sah ich, dass meine Mutter Tränen in den Augen hatte. Ausgerechnet meine Mutter, die nicht mal bei schmalzigen Filmen heulte! Wir klebten mindestens drei Minuten aneinander fest, Sassi und ich. Dann löste sie sich von mir und schaute mich lange an. Sie gluckste sanft, so ein kleines lachendes Geräusch. „Ich habe Käsekuchen für dich gebacken.“ „Sie hat keine Ruhe gegeben“, sagte ihre Mutter. „Wir haben noch soviel Zeugs auszuräumen, aber nein, Mademoiselle musste unbedingt einen Kuchen für ihren Freund backen.“ Sie lachte. „Warum geht ihr zwei nicht draußen spielen“, schlug mein Vater vor. „Nutzt das schöne Wetter aus. Für morgen ist Regen gemeldet.“ Das ließen wir uns nicht zweimal sagen. Ich schnappte meinen kleinen Rucksack. Dort verstauten wir die Plastikbox mit Sassis Kuchen und zogen los. Hinter den Gärten unserer Straße führte ein Schotterweg zum Wald, wo mein geheimer Platz war. Am Gartentor hielt Saskia mich auf: „Weg damit!“ Sie zeigte auf meine Schuhe. „So ist es Sitte!“ Lachend zogen wir Schuhe und Socken aus und versteckten sie neben dem Gartentürchen unter einem Busch. Barfuss zogen wir los. Auf dem geschotterten Weg kamen wir ganz schön ins Eiern. „Au!“ rief Saskia. „Manno! Sind die Steine spitz!“ „Wir können nichts machen“, sagte ich resigniert. „Wenn wir die Waren im Rucksack nicht pünktlich abliefern, bekommen wir Ärger in der Heimschule. Du weist, wie die Heimleitung reagiert. Die schicken uns doch mit voller Absicht über diesen grässlichen Weg.“ Saskia war sofort voll dabei: „Ja gemein! Immer auf uns! Diese widerliche Heimleiterin!“ „Nein Sassi!“ sagte ich leise und blieb stehen. „DIE nicht mehr!“ Ich erzählte ihr davon, dass das Gesicht des Streifenschneiders ausgesehen hatte wie das Gesicht der Heimleiterin in meiner Phantasie. „Wie eklich!“ flüsterte Saskia entsetzt. „Du Armer! Was musst du erschrocken sein!“ „Denkst du noch manchmal dran?“ fragte ich vorsichtig. Sie schüttelte den Kopf: „Nein. Ich will nicht mehr dran denken!“ „Ich habe heute Nacht was Komisches geträumt.“ Ich erzählte ihr, dass das schreckliche Vieh im Traum geschrieen hatte wie der Streifenschneider. Saskias Augen wurden riesengroß: „Mensch Chris! Ich auch!“ Sie hatte drei Tage zuvor einen ähnlichen Traum gehabt. „Du warst in einem Verlies in einer riesigen dunklen Burg eingesperrt. Die ganze Zeit hatte ich Angst, mich zu vertanzen und ich musste mich doch so beeilen! Dann bin ich gestolpert und hingefallen. Sofort war das Monster bei mir und wollte mich umbringen. Es sah aus wie ein riesiger tollwütiger Büffel mit einem Raubtiergebiss. Mit ganz langen, scharfen Zähnen. Da hast du unser Lied gesungen. Du hast dich an den Gitterstäben festgehalten und gesungen. Ich habe mitgesungen und das fürchterliche Tier rannte kreischend weg.“ Schweigend schauten wir uns an. „Wir träumen sogar das Gleiche“, flüsterte ich. Sie schaute mich so lieb an! Immer wenn sie mich so ansah, machte mein Herz einen glücklichen kleinen Hopser. Wir liefen weiter. „Die Heimleiterin brauchen wir nicht mehr“, sagte Saskia. „Wir nehmen den gemeinen Vorsteher der Schule aus dem alten Schwarzweißfilm, der gestern kam. Den mit Mr. Rochester und seiner verrückten Frau, die das Schloss angesteckt hat. Vorher war die neue Frau von Mr. Rochester als kleines Mädchen in so einer schrecklichen Schule. Hast du den Film gesehen?“ „Ja“, sagte ich. „Und in der Schule war die kleine Liz Taylor die Freundin von dem Mädchen und ist an Lungenentzündung gestorben. Das war so traurig. Der Schulvorsteher hieß Mister Brockenkotz.“ Saskia gluckste. „Mister Brockenkotz? Der hieß Mr. Broklehurst.“ „Von mir aus! Dann eben Mister Broukelhörst.“ „Nein Brockenkotz ist besser.“ „Er hat auch eine Frau“, sagte ich. „Jedenfalls in meiner Phantasie. So ein dünnes Rippengestell mit stechenden Augen und einem Gesicht wie ein Reptil. Die Kinder nennen sie den Komodowaran. Sie liebt es, Kinder im Keller einzusperren.“ „Und jetzt müssen wir schwere Kartoffelsäcke über diesen steinigen Weg schleppen.“ Saskia war voll dabei. „Das ist gemein, weil wir doch barfuss sind, aber wer kauft schon Kindern wie uns Schuhe? Den Lohn fürs Kartoffelschleppen streicht natürlich Mr. Brockenkotz ein.“ Ich ging eine Weile schweigend neben Saskia her. Endlich konnte ich es sagen: „Ich habe dich so vermisst, Sassi! Ich dachte jeden Tag an dich. Es tat weh. Du glaubst gar nicht, wie weh das tat! Und ich hatte Angst, dass du in der neuen Stadt keine Freunde findest.“ Saskia senkte den Kopf. „Es war furchtbar“, sprach sie leise. „Wir sind in ein Hochhaus gezogen in eine winzige Wohnung. Dort kannte ich niemanden. Ich fürchtete mich vor dem ersten Schultag. Ich saß immer in meinem kleinen Zimmer und habe stundenlang geweint. Mutti ging es auch nicht gut. Sie vermisste ihre Bekannten und die kleine Wohnung gefiel ihr nicht. Die ganze Gegend war nicht schön. Nur Häuserblocks und Straßen, Lärm und Dreck. Als Vater uns sagte, wir müssten nach Hause zurück, haben wir vor Freude getanzt.“ „Und ich wusste nichts davon“, sagte ich düster. „Wir haben ein paar Mal versucht, bei euch anzurufen, aber es ging keiner ans Telefon.“ Wir kamen zum Waldrand. „Der schmale Weg da drin ist geheim“, sage ich. „Den kennt keiner mehr. Vor vielen Jahren war das mal ein Trimm-Dich-Pfad, aber die Trimm-Stationen vergammelten und der Pfad geriet in Vergessenheit. Es gibt keinen Eingang mehr. Kein Weg führt zu diesem Pfad.“ Ich lotste Saskia durch eine Lücke im Gebüsch. „Pass auf! Hier gibt es Brennesseln.“ „Och!“ rief Sassi, als wir auf dem Pfad standen. Der schmale Fußweg verlief in sanften Windungen etwa fünf bis acht Meter vom Waldrand entfernt. Die Sonne, die durch das Laub der Bäume schien, malte goldene Kringel auf den braunen Waldboden. „Ganz versteckt! Und schön ist das!“ Ich lächelte sie an: „Ich bringe dich zu meinem Geheimversteck. Dort war noch nie jemand.“ „Noch nie?“ Ich schüttelte den Kopf: „Keiner meiner Freunde hat den Platz je betreten.“ „Nur ich!“ sagte sie leise und schaute mich mit großen Augen an. Mein Herz schlug gleich wieder schneller. An meinem Geheimversteck angekommen bewunderte Sassi alles gebührend. Dann nahm sie mir den Rucksack ab: „Hast du deine Katzenhalsbänder-Handschellen dabei?“ Ich nickte und zog sie aus dem Rucksack. Sie lachte und holte ihre aus der Kuchendose. Ich schnüffelte nach dem Käsekuchen und machte dicke Augen. „Hunger!“ grummelte ich. „Du Fresser!“ rief sie lachend. „Nix gibt’s! Erst wirst du angebunden! Setz dich mit dem Rücken gegen den Baum da!“ Nur zu gerne gehorchte ich ihr. Ich musste die Arme nach hinten recken und Saskia schnallte meine Hände hinterm Stamm zusammen. Dann fesselte sie meine Füße. Sie holte die Kuchendose und kam zu mir. Sie hockte sich mit dem Gesicht zu mir auf meine Oberschenkel, die Knie rechts und links von meinen Beinen. Dann holte sie ein Stück Käsekuchen aus der Dose und hielt es mir unter die Nase. Ich schnappte danach wie ein hungriges Krokodil, aber sie zog es mir weg und biss selber hinein. „Ich kann dich elendiglich verhungern lassen“, rief sie triumphierend. Ich setzte meinen allerbesten supertreuen und megatraurigen Hundeblick auf: „Wenn ich nicht auf der Stelle was zu essen kriege, verhungere ich echt und dann bin ich tot. Dann hast du keinen Freund mehr.“ Da fütterte sie mich ganz schnell. Ja sie stopfte mich geradezu voll mit Käsekuchen, bis ich platzsatt war. Sassi kniete über meinen Beinen und hielt ihre kleinen Hände gegen meinen Brustkorb gedrückt. Sie schaute mich wieder so unheimlich lieb an. „Chris!“ sagte sie leise. „Chris.“ Ihr Blick wurde fragend: „Bist du wirklich mein Freund.“ „Ja Saskia“, sagte ich und lächelte sie an. „Für immer?“ bohrte sie nach. „Für immer Sassi!“ Sie fiel mir um den Hals und drückte mich so fest, dass ich fast keine Luft bekam. „Chris!“ sagte sie inbrünstig. „Chrissie!“ Ich spürte, wie sie allen Mut zusammensuchen musste. „Ich habe dich richtig lieb Chris“, sagte sie leise. Mein Herz begann mächtig zu klopfen. „Ich dich auch Saskia. Ich bin so froh, dass du wieder hier bist.“ Ich dachte an das belauschte Gespräch. Ihre Eltern hatten gesagt, sie würden sich ein Campinggrundstück neben unseren kaufen. Ich dachte an „meine“ Insel im See, an den Wald dort am Campingplatz…zusammen mit Sassi würde es der Himmel auf Erden sein. Saskia rutschte von mir runter und öffnet meine Fesseln. „Ich kann dir was vorspielen“, sagte ich. „Im Urlaub hatte ich meine Mundharmonika nicht mit, aber heute habe ich sie dabei. Ich habe jeden Tag dein Lied geübt.“ „Ja“, sagte sie. „Aber zuerst festbinden!“ Sie setzte sich neben mich und schloss ihren rechten Fuß mit meinem linken Fuß zusammen. „Bei den Händen geht es aber nicht“, sagte ich. „Sonst kann ich die Mundharmonika nicht spielen.“ Ich zog das kleine Instrument aus der Hosentasche. „Dann eben so“, meinte sie, umfasste meinen linken Oberarm und schnallte ihre Handgelenke davor zusammen. „So! Jetzt bin ich an dich gefesselt. Jetzt kann uns nichts mehr trennen.“ „Nein Sassi“, sagte ich sanft. „Nichts kann uns je wieder trennen. Wir werden immer Freunde sein.“ „Immer Freunde“, sagte sie und lehnte ihren Kopf auf meine Schulter. Ihre seidigen Haare kitzelten mich am Hals und an der Backe. Ein wunderschönes Gefühl. Ich hätte vor Freude die ganze Welt umarmen können. Stattdessen setzte ich die Mundharmonika an die Lippen und spielte ein langsames Intro. Ich ließ die Harp jammern und schluchzen, bevor ich die richtige Melodie spielte. Sassi setzte ein und sang den Text mit ihrer herrlichen glockenhellen Stimme. Mir wurde ganz schwummerig im Bauch vor Glück. Ich wusste, wir würden für immer Freunde sein! ENDE
Mit Saskia auf dem Campingplatz (31. Teil)
Ankunft und erste Schnuppertour rund um den See
Wenige Tage nachdem Saskia mit ihren Eltern zurückgekehrt war, fuhren wir gemeinsam zum Campingplatz. Der Platz lag an einem kleinen See im Wald, nahe bei einem Dorf. Winters hatten es tatsächlich geschafft, den Platz neben unserem zu ergattern. So ein Campinggrundstück sah folgendermaßen aus: Ein Wohnwagen wurde aufgestellt, ein kleiner Vorbau drangesetzt, der aussah wie ein winziges Holzhäuschen und eine Terrasse aus Holz davor gebaut mit Geländer darum. Es gab ein Stückchen Wiese zum Drauflegen und Grillen und Platz fürs Auto. Dazu noch ein kleiner Blechschuppen für Fahrräder oder Boote. Wir fuhren jedes Wochenende zu unserem Platz außer im Urlaub. Dann ging es normalerweise ans Meer. Onkel Eberhard, der Cousin meines Vaters hatte seinen Wohnwagen schräg gegenüber stehen. Allerdings nannte ihn kein Mensch Eberhard. Mein Vater nannte ihn manchmal Ebi und alle anderen nannten ihn Trööt und ich sagte Onkel Trööt. Das war nämlich so: Früher hat Onkel Eberhard gerne einen getrunken. Eines Abends kamen er und noch welche von der Kirmes im Dorf. Sie waren zu wie Uhus und Onkel Eberhard hatte sich eine kleine Trompete aus Plastik gekauft, auf der er ständig trötete. So erhielt er seinen komischen Spitznamen. Onkel Trööt war für jeden Spaß zu haben und er liebte es, in Gegenwart von Kindern „schweinische Ausdrücke“ zu gebrauchen, weil das meine Mutter immer auf die Palme brachte. Das Trinken hatte er sich vor drei Jahren abgewöhnt, weil er damals sehr krank gewesen war und ihm der Arzt riet, die Zigaretten und den Alkohol besser bleiben zu lassen. Seitdem hatte er abgenommen, war fit und noch frecher als vorher geworden. Sagte meine Mutter jedenfalls. Und er sei ein schlimmer Weiberheld geworden. Das sähe man ja schon an seiner sauber rasierten Billardkugel. Onkel Eberhard meinte dazu immer: „Ich trage halt mein Haar offen.“ Er rasierte sich jeden Tag den Kopf, so dass er nackig und ganz glatt war. Das schien den Frauen tatsächlich gut zu gefallen, denn die fingerten immer an seiner „Rummel“ rum. Onkel Trööt kannte auch Saskias Eltern gut. Die waren früher auch manchmal zum Campen mitgefahren, allerdings an einen anderen Campingplatz. Er freute sich, dass die Winters wieder mit von der Partie waren. „Noch mehr Alkoholiker zum Lachen“, meinte er grinsend. Er klimperte Sassis Vater mit den Augen an: „Sag Schnucki trinkst du immer noch so gerne einen guten Wein?“ „Schnucki?“ Saskia musste lachen. „So nannte ihn deine Mutti früher“, sagte Onkel Trööt. „Und wenn er zu viel tankte, nannte sie ihn einen Weinschlauch.“ „Du hast dich nicht verändert Ebi“, sprach Saskias Mutter. „Bist bloß dünner geworden.“ Sie holte ein großes blaues Bündel aus dem Kofferraum: „Sassi. Chris. Schaut mal, was wir euch mitgebracht haben!“ Wir kamen sofort angewetzt. „Ein Zelt!“ rief ich. „Für uns?“ Saskias Mutter nickte: „Wir dachten uns, ihr beiden Freunde möchtet vielleicht zusammen in einem gemütlichen Zelt schlafen.“ „Damit die Alten nachts in Ruhe pimpern können“, lästerte Onkel Trööt. „EBI!“ „Ist doch wahr oder?“ Onkel Trööt feixte. Mir und Saskia war es egal. Die Aussicht, ein eigenes Zelt zu bewohnen, gefiel uns ausnehmend gut. Sassi drückte sich eng an mich und flüsterte mir ins Ohr: „Wie auf dem Bauernhof. Denk an die Halsbänder!“ Ich kriegte vor Vorfreude rote Ohren. „Hilfst du bitte den Kinder Ebi?“ flötete Saskias Mutter. „Ja klar! Die Herrschaften genießen das Campingwochenende und ich kann mich hier in Fetzen reißen“, brummte Onkel Trööt. „Sklaverei nennt man das. Wahrscheinlich wollen die so schnell wie möglich mit dem Saufen anfangen.“ Er grinste uns zu und half beim Aufbau des Zeltes. Es war ein geräumiges Kuppelzelt von guter Qualität mit einem großen Eingang. Onkel Trööt blies uns die dicke Doppelluftmatratze mit seiner Kompressorpumpe auf und stopfte sie ins Zelt. „Da ihr beiden Turteltäubchen“, sagte er und grinste anzüglich. „Euer Asyl. Wahrscheinlich werdet ihr nachts jämmerlich erfrieren und alles nur, weil eure Alten in Ruhe vö…“ „EBI!“ Saskias Mutter stand neben ihm. „Nicht vor den Kindern!“ „Ach nee“, machte Onkel Trööt scheinheilig. „Willst du mir weismachen, die wissen nicht, was abgeht?“ Er wandte sich an uns: „Ihr wisst doch wie das mit den Blümchen und den Bienchen funktioniert, oder?“ „EBI!“ „Eeebiii!“ äffte Onkel Trööt sie nach. „Möchtet ihr beiden nicht ein bisschen die Gegend erkunden?“ schlug Sassis Mutter vor. „Wir müssen noch alles einräumen. Dazu habt ihr doch bestimmt keine Lust. Warum zieht ihr nicht los. Christian kann dir alles zeigen Sassi.“ „Von mir aus“, sagte ich. Ich hätte gerne mitgekriegt, wie Onkel Trööt sie weiter ärgerte, aber noch lieber wollte ich mit Sassi losziehen. Wir zogen unsere Sandalen aus und schmissen sie ins Zelt. Barfuss marschierten wir los. „Seid aber bis um zwei Uhr zurück“, rief uns Saskias Mutter nach. „Ich nehme Sassi mit zum Einkaufen ins Dorf. Sie braucht einen neuen Bikini.“ „Hast du deine Halsbänder dabei?“ fragte Saskia, als wir außer Hörweite waren. Ich nickte. „Können wir hier irgendwo damit spielen?“ Ich lächelte sie an: „So gut wie überall Sassi. Es gibt so viele Plätze hier! Im Wald. Am See. Auf der Insel. Hinterm Wald im Sandloch. Das Schöne ist, es gibt auf dem Campingplatz nicht viele Kinder. Also wird uns auch keiner nachspionieren. Ich zeigte ihr im Schnelldurchlauf alles Sehenswerte, dann schleppte ich sie mit in den Wald. Dort gab es einige breite Hauptwege und viele schmale Seitenpfade. Ich wählte einen sandigen Pfad, der uns einmal um den See herumführen würde. Kaum waren wir im Wald, holten wir die Katzenhalsband-Handschellen hervor. „Fessel mich“, bat Saskia. Sie drehte mir den Rücken zu und hielt die Hände nach hinten. Ich legte ihr die Halsbänder um die Handgelenke und zog die Schnallen zu. Bei mir musste ich es selber machen und mich ziemlich verrenken, bis ich es hinkriegte. Kichernd standen wir voreinander in T-Shirts und Shorts, die Arme auf den Rücken gefesselt. „Jetzt machen wir, gefesselt wie wir sind, eine Runde um den See“, sagte ich. „Ich find das doll aufregend“, sagte Saskia. Wie schön ihre hellbraunen Augen dabei leuchteten! Wir liefen los. Der Pfad war breit genug, um nebeneinander zu gehen. „Wir sind im Dorf beim Klauen von Äpfeln erwischt worden“, sagte Saskia unvermittelt. „Nun müssen wir gefesselt zur Heimschule, wo Mister Brockenkotz schon auf uns wartet, um uns zu bestrafen. Genau wie in dem Film.“ „Jane Eyre“, sagte ich. „Ja so ist es. Wir Armen. Gottseidank ist der Weg nicht so steinig wie der hinter unserem Haus. Aber ich habe jetzt schon Angst vor der Strafe. Ob wir wieder in den dunklen Keller eingesperrt werden wie letztes Mal? Weißt du noch, wie wir an die Wand gekettet wurden?“ „Ja“, sagte Saskia. „Es war schrecklich. So kalt und so dunkel und die Eisenketten taten so weh. Der Komodowaran hat es sichtlich genossen, uns zu bestrafen.“ Es war immer die Frau von Mister Brockenkotz, die die Kinder in den Keller schleifte. Er selber hielt es anscheinend für unter seiner Würde, den Keller zu betreten. Stets reckte er seinen Bart vor und er sagte: „Es ist eines so hochgestellten Herrn wie mir unwürdig, den tiefsten Keller aufzusuchen.“ Das fanden wir Zöglinge komisch, aber kein Kind wagte es, etwas zu sagen. Wer aufmuckte, der wurde hart bestraft. In unser wunderbares Phantasiespiel vertieft liefen wir weiter. Der Pfad führte nahe am Waldrand entlang. Man konnte an einigen Stellen den See sehen. Der sandige Boden fühlte sich kühl und weich unter unseren nackten Sohlen an. Wo die Sonne durchs Laub schien, war der Sand schön warm. „Da kommt ein Boot“, sagte Saskia warnend. „Der kommt genau auf uns zu.“ Da war das Kanu auch schon am Ufer und der Mann, anscheinend ein Angler, sprang heraus. Er hatte es offensichtlich sehr eilig. „Ich krieg die Fesseln nicht auf“, fiepte Saskia erschrocken und wand sich verzweifelt. Der Angler kam durchs Unterholz gestürmt wie ein Büffel, genau auf uns zu. „Zu spät! Verstecken!“ wisperte ich. Wir sausten hinter einen Busch und hockten uns auf die Fersen. Der Mann kam angerannt. Mist! Hatte er uns gesehen? Wollte der was von uns? Da hielt er an und stellte sich an einen Baum. Es machte „rrrrrriiiep“, dann nestelte er an sich rum und dann pladderte es laut. Sassi unterdrückte ein Kichern: „Der muss sich mal entwässern! Ja wenn man muss, dann muss man.“ Ich grinste sie an: „Die Kraft des Wassers ist so groß, dass selbst der stärkste Mann der Welt es nicht zu halten vermag.“ Leise kichernd hockten wir hinter unserem Busch. Der Angler schien innen ganz mit Wasser gefüllt zu sein. Er pieselte ewig und drei Tage. Es rauschte und platschte und pladderte. „Gleich wird der Wald überschwemmt!“ flüsterte Saskia. „Gefesselt wie wir sind, werden wir jämmerlich ertrinken.“ „Sei still!“ flehte ich und versuchte verzweifelt, ein lautes Lachen zu unterdrücken. „Aaaah!“ machte der Pissler. Das Wasserrauschen erstarb. Sassi und ich prusteten verhalten. „Hrrrng!“ machte der Pinkler und das Wasser rauschte von neuem. „Der hat einen eingebauten Tank“, witzelte Saskia. „Kein normaler Mensch kann so viel Pinkelwasser in sich haben!“ „Mindestens zwanzig Liter“, flüsterte ich. „Wahrscheinlich hat er ein Aquarium ausgesoffen.“ Endlich war der Gigantpinkler fertig. Er hob das rechte Bein und ließ einen Furz. Das schallte nur so durch den Wald: „Porrrröööööööp!“ Saskia und ich fielen hinterm Busch um vor Kichern. Wir bemühten uns mit aller Kraft, nicht laut loszulachen. „Porrp! Prörrrööööö!“ dröhnte die Methangas-Posaune. Sassi konnte das Lachen nicht länger halten. Sie kicherte los. Der Furzer horchte auf: „Ist da jemand?“ „Nö!“ rief ich. Im selben Moment hätte ich mir am liebsten die Hand auf den Mund gehauen, aber das ging ja nicht, weil meine Hände auf den Rücken gebunden waren. „Du perverse Sau!“ gröhlte der Piss-Furzer. „Du schaust wohl gerne anderen Leuten beim Brunzen zu! Dir komm ich gleich hin!“ Sasssi und ich kicherten los. Der Angler stapfte wütend zu seinem Kanu davon. „Perverslinge!“ grollte er, sprang ins Boot und ruderte auf den See hinaus. Saskia richtete sich auf die Knie auf. „Tschüs Mister Super-Brunzer!“ rief sie ihm hinterher. „Chiao Hundert-Liter-Mann!“ rief ich. „Perverse Säue!“ schimpfte der Angler und ruderte hastig weg. „Anzeigen sollte man euch. Schwule! Alles Schwule! Ihr schwulen SÄUE!“ Sassi und ich erstickten beinahe vor Lachen. Während wir auf dem Pfad weiterliefen, mussten wir immer wieder lachen. „Der hat gepupst wie ein Moped!“ lachte Saskia. „Porööööp!“ Vor Lachen wäre sie beinahe hingefallen. Endlich beruhigten wir uns und beendeten die Runde um den See. Ich zeigte Sassi die kleine Insel im hinteren Teil des Gewässers: „Dort habe ich ein Geheimversteck.“ Sie schaute mich bewundernd an: „Du hast wohl überall Geheimverstecke?“ „Nur zuhause das eine und das auf der Insel“, sagte ich. „Ja und dann noch eins im Sandloch und die kleine Höhle im Wald und am Bahndamm und…“ Ich musste lachen. „Ich habe gerne Plätze, wo ich mal meine Ruhe habe“, sagte ich schließlich. „Ich habe so viele Freunde, dass es manchmal ganz schön ist, mal allein zu sein.“ Saskias Augen zuckten. Sie schaute ganz erschrocken. Als ob ich sie geschlagen hätte. Rasch begann ich, meine Handfesseln zu öffnen. „Sassi, was ist?“ Ich war ganz verdattert. „Und ich? Willst du mich auch nicht dabei haben?“ Ihre Stimme war ein leises Mäusefiepen. „Doch Sassi!“ sagte ich rasch. „Sonst nähme ich dich doch nicht mit. Du bist jemand ganz Besonderes. Du darfst als Einzige mit zu meinen Geheimplätzen?“ „Ehrlich?“ Tränen schimmerten in ihren Augen. „Sag die Wahrheit, Chris!“ Ich befreite mich aus den Katzenhalsbändern und umarmte sie linkisch. „Ehrlich Saskia“, sagte ich leise. „Dich will ich dabei haben.“ Sie lehnte sich an mich und schluckte. „Ich hab ja sonst niemand“, flüsterte sie. Ich streichelte ihr Haar. „Sei nicht traurig Sassi. Ich will immer mit dir zusammen sein. Ich bin dein Freund. Das habe ich dir doch gesagt.“ Ich fühlte ihre nach hinten gefesselten Arme und streichelte sachte daran hinab. Sie seufzte leise und lehnte sich weiter an mich. „Zeigst du mir alle deine Geheimverstecke Chris?“ „Alle“, versprach ich. „Ehrlich?“ „Ehrlich Sassi.“ Ich hielt sie lange fest. Dann machte ich ihre Fesseln auf und wir kehrten zum Campingplatz zurück. Es war fast zwei Uhr.
32. Teil)
Sieg der Nervensägen
Ich hockte mit einem Comic vorm Wohnwagen, als Saskia mit ihrer Mutter vom Einkaufen zurückkam. Als erstes zog sie die Sandalen aus und schmiss sie in ihren Wohnwagen. Zum Einkaufen hatte sie eines von ihren kurzen dünnen Sommerkleidchen angezogen. Ihr braunes Haar flog im Wind und ihre hellbraunen Augen leuchteten. Sie sah wahnsinnig niedlich aus. Ich merkte gleich, dass etwas mit ihr war, weil sie vor Aufregung rote Backen hatte. „Guck mal, was ich mir vom Taschengeld gekauft habe Chris!“ rief sie und legte ein kleines Päckchen vor mich auf den Tisch. Ich legte das Comicheft weg und bekam große Augen. „Was ist DAS denn?“ fragte Saskias Mutter entgeistert. „Allem Anschein nach eine kleine, stabile Pappschachtel“, sagte Onkel Trööt, der dazu gekommen war. Ich öffnete die Schachtel und ließ ihren Inhalt auf den Tisch fallen. „EBI!“ hühnerte Sassis Mutter. „Ich meine DAS da!“ Onkel Trööt tat, als untersuche er den Inhalt des Päckchens ganz genau. „Ah ja“, meinte er trocken. „Dacht ich’s mir doch! In Fettpapier eingewickelter billiger Chromstahl Made in Taiwan.“
„EBI!“ Sassis Mutter stemmte die Fäuste in die Hüften. „Sag mal Sassi, wo hast du die Dinger her?“ Saskia tat ganz unschuldig: „Die habe ich mir in dem Geschäft mit den Soldatensachen gekauft, da wo du die Pudelmütze für Papa gekauft hast, dieses Ding ohne Pudelquaste. Armer Papa! Kriegt eine Pudelmütze ohne Pudel.“ Damit hatte sie die Lacher auf ihrer Seite. Mein Vater lachte sein langes A-Lachen: „Aaaaa – aaaa – aaa – aa – a – a – a!“ Saskias Vater lachte wie immer rückwärts. Das richtige Lachen blieb stumm und beim Luftholen quiekte er laut: „Hieck! Hieck! Hiieeeck!“ Onkel Trööt lachte sein fettes Lachen: „Ärrr-härr-härr-härr-härr!“ wobei er dauernd mit dem Kopf vor und zurück wackelte. Saskia holte ihre Errungenschaft aus der Umhüllung. Es waren echte Handschellen! Sie öffnete die chromglitzernden Dinger und legte sie sich um die Handgelenke. Mit einem wunderbaren Ratschen rasteten sie ein. Das leise Krrrk-krrrk ließ mir einen wohligen Schauer über den Rücken laufen. Mit zusammen geketteten Händen stand Sassi vor mir und lächelte mich an. „Jetzt kann ich böse Gangster festnehmen“, verkündete sie freudig. Die Männer beruhigten sich gerade vom Lachen, waren aber noch halber drin. Jetzt oder nie! Ich setzte meinen allerbesten „ich-armer-kleiner-Junge-krieg-nie-was“-Blick auf und lamentierte lautstark los: „Mama! Ich will auch so Handschellen!“ Meine Mutter griff sich an den Kopf: „Das darf doch wohl nicht wahr sein!“ Sofort lachten die Männer wieder los. „Ich will aaaber!“ jammerte ich und legte fünf Pfund reine Quengelpower in meine Stimme. „Sassi hat ja auch! Und die ist sogar ein Mädchen!“ Meine Mutter zeigte auf meinen Papa: „Da hast du es! DEIN Sohn!“ Das sagt sie immer, wenn ich was angestellt habe. „Immer langsam“, meinte Dad. „Zur Hälfte sind es auch deine Gene, Erika.“ „Bitteee! Ich willlll!“ quengelte ich. Ich spürte, dass ich den Kampf schon so gut wie gewonnen hatte. „Bittteeee Mammmmaaa!“ „Also gut!“ rief Mutter. „Gib Ruhe! Schrei nicht den ganzen Campingplatz zusammen. Du kriegst solche dämlichen Dinger.“ Sie schaute genervt zum Himmel: „Und dann liegen sie nur rum!“ „Aber jetzt gleich!“ hakte ich nach. „Bis morgen ist es zu spääät!“ Meine Mutter ließ sich auf einen Campingstuhl sinken: „Jetzt fangen die Kopfschmerzen an.“ Sie fasste sich an die Stirn: „Genau hier! Oh mein Gott! Womit habe ich das verdient.“ „Aaa – aa – a – a – a!“ „Hieck! Hieck! Hieeeck!“ „Ärrr-härrr-härrr-härr!“ „Lacht ihr auch noch, ihr verblödeten Machos!“ giftete Mom. Schnell startete ich einen neuen Angriff. „Wir können doch mit dem Auto fahren“, schlug ich mit treuem Hundeblick vor. „Dann sind wir ganz schnell wieder daaa!“ „Wenn ich’s nicht tue, wirst du wohl sterben, was?“ seufzte meine Mutter. „Na schön. Bevor du elend eingehst. Darfs sonst noch was sein? Ketten? Daumenschrauben? Eine Streckbank vielleicht?“ „AU JA!!!“ brüllte ich, womit die allgemeine Heiterkeit ihren Höhepunkt erreichte. Diesmal lachten auch unsere Mütter. Sie klammern sich dann meistens aneinander fest und sie gluckern wie Truthähne und sie heulen wie Seehunde. Manchmal kriegen sie sogar Tränen in die Augen: „Ruddu-ruddu-ruddu! Hjouck! Hjouck!“ Es war beschlossene Sache. „Ich will mit!“ bettelte Saskia. Sie hielt mir ihre zusammen geschlossenen Hände hin: „Mach mal auf, Chrissie!“ Zusammen mit unseren Müttern düsten wir ins Dorf zum Military-Shop.
33. Teil)
Ein gelungener Coup
Im Geschäft sauste Sassi gleich zu dem Regal, in dem die Handschellen gestapelt waren: „Da liegen sie. Kosten nur 9,95!“ „Na wenigstens nicht so viel Geld für diesen unnötigen Mist“, seufzte meine Mutter. „Die fliegen ab morgen sowieso nur noch in den Ecken rum. Länger als eine Stunde spielt ihr mit den dappichen Dingern ja doch nicht.“ Wenn sie gewusst hätte! Mutti ging mit Saskias Mutter zur Kasse: „Einmal Spielzeug für zukünftige Terroristen bitte.“ Der Verkäufer lachte freundlich und grinste mich an: „Na junger Mann, willst du Sheriff spielen? Da hast du genau das Richtige ausgesucht. Das sind echte Handschellen, nicht so jämmerliche Dinger aus Plastik.“ Saskia bekam hektische rote Flecken ins Gesicht. Schon im Auto war sie so komisch gewesen. Sie trat mir auf den Fuß und machte unmerkliche Zeichen. Pass auf!, bedeutete das. Auf was denn?, überlegte ich. Als meine Mutter den Zehner auf die Ladentheke legte, gings los. „Eh! Der Christian kriegt seine Handschellen gekauft!“ lamentierte sie und setzte ihr allerbestes „immer-werde-ich-total-ungerecht-behandelt“-Gesicht auf. „Ich musste meine bezahlen! Das ist ja so was von ungerecht!“ „Du hast sie ja einfach so gekauft“, hielt ihre Mutter dagegen. Sie wirkte schon ziemlich genervt. Angriff Sassi! Los! „Aber da wusste ich ja auch noch nicht, dass sie bezahlt werden!“ jaulte Sassi. Sie tat, als wäre sie kurz davor, in Tränen auszubrechen. „Ich will auch bezahlte Handschellen, eh!“ Ihre Mutter verdrehte die Augen. „Also gut, bevor du mir den letzten Nerv tötest.“ Sie holte einen Zehner aus dem Geldbeutel. So wie es aussah, wollte sie den Saskia in die Hand drücken. Aber die war schneller. „Danke Mama!“ krähte sie, raste zum Regal und kam mit einen Paar Handschellen zurück. Sie legte sie auf die Theke und umarmte den Bauch ihrer Mutter: „Danke Mutti. Du bist die Beste!“ Damit hatte sie ihre Mutter überrumpelt. Jetzt war ich dran. „Sassi hat ZWEI Paar!“ setzte ich an und ließ meine Stimme halb weinerlich, halb nörgelig klingen. „Immer kriegen Mädchen alles! Ich will auch zwei Paar!“ „Ein Paar hat sie ja auch selber bezahlt“, hielt meine Mutter dagegen. „Dann bezahl ich auch ein Paar selber“, rief ich schnell. „Ich will genauso viel wie Sassi.“ Bevor meine Mutsch was unternehmen konnte, flitzte ich zum Regal und grabschte mir eine Schachtel. An der Theke legte ich einen Zehner auf den Zählteller. „Jetzt seid ihr beiden aber recht gut versorgt“, meinte der Verkäufer lächelnd. „Ihr könnt auf Verbrecherjagd gehen. Braucht ihr noch was? Starke Taschenlampen für die Nacht zum Beispiel!“ „Haben wir welche auf dem Campingplatz“, sagte meine Mutter hastig. Sie hatte wohl Angst, dass wir NOCH teurer werden würden. „Auf Wiedersehen.“ „Ein Tipp noch“, rief uns der Ladeninhaber hinterher. „Behalten Sie einen Schlüssel, für den Fall, dass den Kindern ihre Schlüsselchen verloren gehen.“ „Danke“, rief meine Mutter zurück. „Das werde ich. Und ob ich das werde.“ Auf dem Weg zum Auto verdrehte sie die Augen: „Ich sehe nämlich schon, wie wir die Polente anrufen müssen, um unsere zusammen geketteten Sprösslinge zu befreien. „Auf dem Campingplatz wird sofort ein Schlüssel konfisziert! Alles klar Junior?“ „Ja Mama“, sagte ich und schaute Saskia glücklich an. Manno! Zwei Paar Handschellen für jeden von uns! Wie wir das geschafft hatten! Ich konnte mein Glück nicht fassen. Kaum saßen wir im Auto, packten wir unsere funkelnden Schätze aus. Die Handschellen fühlten sich genial an, so kalt und schwer. Und wie die klirrten! Ich hielt Sassi die Hände hin und sie legte mir ein Paar an. Das Ratschen und Klickern beim Einrasten hörte sich einfach super an. Es war ein ganz anderes Gefühl als mit Stricken. Die Handschellen waren hart und unnachgiebig. Gleichzeitig hatte ich eine große Bewegungsfreiheit, da sich zwischen den Schellen drei Kettenglieder befanden. Mit einiger Mühe legte ich Saskia auch Handschellen an. Gefesselt saßen wir hinten im Auto. Wir lächelten uns freudig an. Wie cool! Fesseln spielen direkt unter den Augen der Erwachsenen. „Die haben die Dinger ja schon an“, rief meine Mamusch, als sie in den Rückspiegel blickte. „Meine Güte! Wenn uns einer anhält und das sieht!“ Saskias Mutter musste lachen. „Nimm es leicht Erika“, sagte sie. „Schon morgen sind die Handschellen wieder out und sie werden sich was Neues ausdenken.“ „Ja“, grantelte meine Mutter. „Und die Mistdinger liegen irgendwo im Wohnwagen auf dem Boden, wo ich sie nicht gleich sehe und ich trete barfuss drauf und breche mir eine Zehe!“ Auf dem Campingplatz marschierten wir in Handschellen aus dem Auto. Die zusätzlichen Paare trugen wir in der Hand. Onkel Trööt prustete gleich los: „Pffffft! Die haben den ganzen Laden leergekauft! Ärrr-härrr-härrr!“ „Wo habt ihr das alles her?“ rief mein Vater. „Wart ihr im SM-Shop oder bei Beate Uhse?“ „ROLF!!“ kreischte Mutter. „Hieck! Hieck! Hieeeck!“ machte Sassis Vater. Allem Lachen zum Trotz zeigte Onkel Trööt mal wieder seinen Sinn fürs Praktische. „Antreten! Alle zwei!“ bellte er und wir beeilten uns, zu ihm zu gehen. Er schnappte sofort nach den Schlüsseln und band an zwei Stück ein Schnürchen. „Einer wird in euren Wohnwagen ans Schlüsselbrett gehängt“, bestimmte er. „Und einer kommt an ein Paar eurer Handschellen! Keine Widerrede! Wenn ihr den anderen Schlüssel verschlampt, ist immer noch einer zur Rettung da. Ich weiß, es ist uncool, den Schlüssel an den Handschellen zu haben.“ Er zwinkerte uns zu. „Aber seht es doch so: der besoffene Sheriff hat den Schlüssel vergessen. Ihr könnt euch befreien, während der Sack seinen Brandy-Rausch ausschläft und ihm im Schlaf die Hosen klauen. Dann muss er euch in Unterhosen verfolgen. Ganz Dodge City wird brüllen vor Lachen.“ Eine absolut coole Idee, fand ich. „Und noch was Leute“, sagte Onkel Trööt und sperrte Sassis Handschellen auf. Er nahm mich aufs Korn: „Siehst du, wie schmal und zart dieses Handgelenk ist?“ Er hielt Saskias Handgelenk zwischen Daumen und Zeigefinger. Ja Saskias Handgelenk war wirklich sehr zart, wie es da in Onkel Eberhards Pratze lag. „Was meinst du, wie leicht das bricht?“ fragte Onkel Trööt. „Seht also zu, dass ihr nicht stolpert, wenn ihr die Dinger tragt. Ich meine: schaut nach vorne, dort wo ihr hinlauft!“ „Mein Gott Ebi“, rief meine Mutter. „Da kriegt man ja Angst.“ „Kappes!“ sagte Onkel Trööt. „So blöd sind die beiden Stieglitze nun auch wieder nicht, was?“ Er nagelte mich mit den Augen fest: „Und kommt nicht auf die Schnapsidee, euch die Hände auf den Rücken zu fesseln und dann einen Wettlauf zu machen. Das gibt schnell zermatschte Nasen.“ „Machen wir nicht Onkel Eberhard“, sagte ich und fasste Saskia an der Hand. „Wir passen immer gut auf. „Na dann zieht los, ihr Ganoven! Zeigts dem dämlichen versoffenen Sheriff von Dodge City!“ sagte Onkel Trööt. Wir verstauten die Handschellen in Sassis kleinem Rucksack und rückten ab. „Aber sauft nicht zu viel Brandy im Saloon!“ rief Onkel Trööt uns hinterher. „Mannomann!“ hörten wir meinen Vater sagen. „Waren wir als Kinder genauso schlimm?“ „Nein“, antwortete Onkel Trööt todernst. „Wir waren schlimmer. VIEL schlimmer!“ Das Lachen der Erwachsenen begleitete uns noch eine ganze Weile, bis wir außer Hörweite waren.
34. Teil)
Saskia wird in Gefangenschaft geführt
Als wir über den Campingplatz liefen, stieß mich Saskia an: „Erkennst du die Stimme?“ Vor einem Wohnwagen saßen einige Leute um einen Grill versammelt, schauten zwei Hähnchen beim gar werden zu und tranken Bier. Ein Mann erzählte lautstark, wobei er mit beiden Armen in der Luft herum fuchtelte. „Ich sags ja! Sauerei so was! Man kann nicht mal in Ruhe im Wald pinkeln gehen! Schauen die mir doch glatt zu! Schwule! Das waren garantiert Schwule! Die riefen mir mit so hohen weibischen Stimmen hinterher, diese Säue! Haben sich wohl am Anblick eines gestandenen Mannsbilds aufgegeilt, das den Lurch auswringt. Alles Schwule!“ Sassi biss sich auf die Lippen. Sie klammerte sich an mir fest. Ich konnte sie fast nicht stützen, weil ich selber vor unterdrücktem Lachen ganz weiche Knie bekam. Wir schauten, dass wir fix weiter kamen. Endlich war der Campingplatz zu Ende und wir gelangten in den Wald. Sassi kicherte laut los. Sie hielt sich lachend an mir fest. „Schwuuule!“ imitierte sie den Mann. „Aallesss Schwuuuule!“ Lachend lagen wir uns in den Armen. Es dauerte einige Zeit, bis wir uns beruhigt hatten und Saskia mir ihre neue Idee erzählen konnte. Immer wieder unterbrachen wir uns gegenseitig und riefen: „Schwuuule! Aallessss Schwuuule!“ Schließlich liefen wir los, tiefer in den Wald hinein. Ich wusste, wo die passenden Orte für Saskias affenstarke Spielidee lagen . . .
Saskia Winter lief allein durch den Wald. Sie war auf der Flucht vor Karl Kordel dem Rittmeister. Der Rittmeister arbeitete für Baron von Seil und war als Kinderhasser im gesamten Fürstentum bekannt. Und arme Bettelkinder hasste Karl Kordel am allermeisten. Erwischte er eins beim Betteln auf offener Straße, machte er das arme Kleine sofort dingfest und schleifte es aufs Schloss, wo das Kind zur Strafe oft wochenlang im Kerker schmachtete. Saskia war vor Hunger so zittrig gewesen, dass sie an der Haustür eines reichen Bürgerwohnsitzes um Brot gebettelt hatte. Das Hausmädchen hatte ihr ein Stück Brot zugesteckt und es wäre alles gut gegangen, wenn nicht ausgerechnet in diesem Moment der Rittmeister aus der Spelunke „Zum Schwulen Gockel“ getreten wäre. „Hah! Wieder so eine räudige Bettelgöre!“ plärrte er und wollte sich auf Saskia stürzen. Die nahm die Beine in die Hand und weil Karl Kordel einen ziemlichen Bierbauch spazieren trug, schaffte er es nicht, sie einzuholen. Keifend kehrte er zum „Schwulen Gockel“ zurück und krakeelte nach seinem Pferd, um die Verfolgung aufs Neue aufzunehmen. „Dich krieg ich, du kleines Aas!“ schrie er und gab seinem dicken Gaul die Sporen. „Dir werd ich helfen, in aller Öffentlichkeit zu betteln. Im Land von Baron von Seil wird nicht gebettelt!“ Anfangs sah es gut für Saskia aus. Sie erreichte den Wald und wäre dem wütenden Rittmeister fast entkommen, aber sie hatte keine Schuhe und lief barfuss. Vom Waldrand an war der Weg mit spitzigem Schotter belegt. Sie wurde langsamer. Schon war der Rittmeister heran. (ich rannte hinter Sassi her und gab galoppierende Töne von mir. Deggeleng-Deggeleng!) Karl Kordel warf sein gefürchtetes Lasso und fing die arme Saskia damit ein. Das in Lumpen gekleidete Bettelmädchen fiel hin. Schon war Karl Kordel über ihr. Er sprang vom Pferd und holte seine eisernen Handfesseln, die er immer zum Kinderfangen dabei hatte. „Nein! Bitte nicht!“ rief Sassi weinend. „Bitte Herr Shitmeister, lassen Sie mich laufen!“ Karl Kordel schwoll der Kamm. „WIE nennst du mich, du Luder?“ plärrte er und zerrte Saskia an den Haaren. „Du missratene Kröte! Dir helf ich!“ Mit roher Gewalt zerrte er Saskias Hände in die Höhe und ließ die Eisenfesseln um die Handgelenke des Mädchens schnappen. Dann band er sein Lasso-Seil an die Zwischenkette der Handschellen. „Mitkommen!“ bellte er und stieg wieder auf seinen Gaul. Ohne sich umzusehen, ritt er los. Saskia rannte hinterher. Sie bemühte sich verzweifelt, auf dem geschotterten Weg mit dem Pferd Schritt zu halten. Der Rittmeister zerrte sie erbarmungslos hinter sich her. „Bitte nicht so schnell!“ flehte das Mädchen unter Tränen. „Ich kann nicht mehr!“ „Wenn du nicht läufst, schleife ich dich bis zum Schlosse!“ rief Kordel. Er ritt mitten durch einen tiefen eisig kalten Bach (das Rinnsal war knöcheltief) und Saskia wäre beinahe gestürzt. Ohne Gnade schleppte der Rittmeister seine kleine Gefangene hinter sich her bis zum Schloss. Vorm Portal saß er ab und zerrte Saskia hinter sich her ins Schloss. „Melde er mich dem Baron“, blaffte er einen livrierten Diener an. „Ich bringe ein Landstreicherkind!“ Der Diener eilte voraus und öffnet eine hohe zweiflügelige Tür. „Herr Baron, der Rittmeister Karl Kordel“, meldete er. Baron von Seil saß in seinem Lehnstuhl und starrte den Ankömmlingen ungnädig entgegen. „Wash sholl dieshe Shtörung Rittmeishter?“ fragte er mit hoher Stimme. Er lispelte stark. Jedes S klang, als stecke ihm die Zunge zwischen den Zähnen. „Ich möchte gerade in dieshem Momente meinen Nachmittagskaffe nehmen.“ Der Baron sagte „Kaffe“ statt „Kaffee“. Das sollte hauptstädtisch klingen. Von Seil wer nämlich sehr eingebildet. Er ergriff eine goldene Klingel und bimmelte damit: „Triiine! Triiine! Komme shie shleunigsht herbei.“ Ein dickes Küchenmädchen mit rotem Kopf kam eilig angerollt. „Sie haben nach mir gerufen, Herr Baron?“ Als sie den Rittmeister sah, wurde sie noch röter. „Bringe shie mir eine Tasshe Kaffe bittshön! Mich verlangt nach meinem Trunke.“ „Sehr wohl Herr Baron.“ Das Küchenmädchen kullerte von dannen. „Alsho wash isht dash, Rittmeishter?“ fragte Baron von Seil und zeigte auf Saskia, die die barfuss in Lumpen und mit zusammen gefesselten Händen im Raum stand. „Widerlich! Wash für ein sheushlichesh Lumpenkind! Shicher hat shie Läushe! Schafft shie hinweg, Rittmeishter. In den Kerker mit ihr! Und fessheln Shie shie gut! Shie darf nicht entkommen. Sholl shie dort unten shmoren! Nächshte Woche kommt der Ankäufer vom Arbeitshhaush. Dem geben wir shie mit, shushammen mit dem Lumpenbub, der shon im Kerker shmachtet. Hinweg mit der Göre shage ich!“ „Mitkommen!“ bellte Karl Kordel und zerrte Saskia hinter sich her. Weinend humpelte das Mädchen hinter dem gemeinen Mann her. Der lange Weg auf bloßen Füßen über Stock und Stein hatte ihr die Füße zerschunden. Sie konnte kaum noch laufen. Der Rittmeister zerrte sie sie Treppe hinunter ins Verlies des Schlosses. Er schloss eine Gittertür auf. In einer dunklen Zelle kniete ein Junge in Saskias Alter am Boden. Er war mit Eisenfesseln an die Wand gekettet. Auch seine Füße waren mit Eisen zusammen geschlossen. „Christian!“ rief Saskia entsetzt. „Haben sie dich auch erwischt?!“ „Sassi“, rief Chris. „Oh nein! Ich dachte, wenigstens du wärst entkommen! Warum hast du dich nicht im Wald versteckt?“ Rittmeister Kordel schleifte die weinende Saskia zur Wand. Er warf sie nieder auf die Knie und kettete ihre Hände an einem Eisenring in der Wand fest. Dann legte er ihr eiserne Fußangeln an. „Ich hatte so Hunger“, jammerte Saskia unter Tränen. „Christian, ich habs nicht mehr ausgehalten. Ich habe an einem Haus gebettelt. Da hat der Shitmeister mich erwischt.“ „Was sagst du da?!“ brüllte Karl Kordel und schlug Saskia ins Gesicht. „Du kleines Miststück! Wag es nicht noch mal, mich so zu nennen, sonst lernst du mich kennen!“ Er stand auf und betrachtete befriedigt die in Ketten an der Wand kauernden Kinder. „Zur Strafe für die Frechheit dieses Mädchens erhaltet ihr keinen Tropfen Wasser und kein Stück Brot!“ Gemein lächelnd ging er weg. „Oh nein“, wimmerte Saskia. „Ich habe so Hunger! Ich habe seit zwei Tagen nichts gegessen außer einem winzigen Stückchen Brot. Das halte ich nicht aus!“ Aber der Rittmeister war schon fort. Er kam drei Stunden später zurück, eine Korbflasche mit Schnaps in der einen und eine geräucherte Salami in der anderen Hand. „Na habt ihr Hunger?“ fragte er und grinste gemein. Der Anblick der Salami trieb den Kindern das Wasser in die Augen. „Bitte Herr Rittmeister, nur ein Stück!“ bettelte Saskia. „Nur ein winziges Stückchen! Bitte!“ Auch Christian fing an zu betteln, auch wenn er sich geschworen hatte, nicht weich zu werden. Aber der Anblick der Salami machte ihn verrückt. „Bitte Rittmeister Kordel, geben Sie mir ein Stückchen. Bitte, bitte!“ Kordel fuchtelte mit der Salami vor den Gesichtern der angeketteten Kinder herum, aber sobald sie danach zu schnappen versuchten, zog er sie schnell weg. „Hahahahaaaa! Was für ein toller Spaß!“ gröhlte er und nahm einen tiefen Zug aus der Schnapsflasche. Er war offensichtlich ziemlich betrunken. „Hahahaaa!“ Er biss in die Salami und kaute behaglich: „Schmeckt wundervoll.“ Er verdrehte genießerisch die Augen. „Hmmm! Feiiiin! Und gleich nebenan in der Räucherkammer sind noch viel mehr solcher Salamis.“ Er streckte Saskia und Christian die Zunge heraus: „Aber nicht für euch.“ Wieder soff er aus der Schnapsflasche. Schwankend lief er vor den knienden Kindern hin und her und quälte sie mit der Salami, die allmählich Stück für Stück in seinem Wanst verschwand. Sassi und Chris litten Höllenqualen vor Hunger. Karl Kordel war so damit beschäftigt, die Gefangenen zu piesacken, dass er nicht bemerkte, wie ein kleines silbrig glänzendes Ding aus seiner Tasche zu Boden fiel. Er soff weiter Schnaps. Schließlich rülpste er laut. „Mannbinnichdichtmann!“ lallte er. Er verließ die Gefängniszelle und vergaß die Tür zu schließen. Vor der Zelle stand im Gang eine eiserne Pritsche. Der Rittmeister ließ sich darauf fallen und schlief auf der Stelle ein. „Das ist unsere Chance Sassi“, wisperte Chris. „Kommst du dran?“ „Ich versuchs“, antwortete Saskia. Sie hockte sich auf den Hintern und angelte mit den Beinen nach dem kleinen Gegenstand am Boden. Es war der Schlüssel zu ihren Eisenfesseln! „Ich komm nicht dran!“ Saskia brach in Tränen aus. „Sassi bitte“, sagte Chris. „Ich bin zu weit vorne angekettet. Ich komme nicht dort hin. Versuch es noch mal, sonst werden wir entweder hier im Kerker verschmachten oder ins Arbeitshaus verkauft und du weißt, was das bedeutet!“ Weinend reckte sich Saskia in die Länge. Die eisernen Handfesseln schnitten grausam in ihre schmalen Handgelenke. Sie reckte ihre nackten Füße so weit wie möglich in den Kerkerraum. Und tatsächlich! Sie konnte das Schlüsselchen gerade so mit den Zehen berühren. Unter Keuchen und Stöhnen schaffte sie es, den Schlüssel mit den bloßen Füßen zu sich heran zu ziehen. Sie reckte ihren Oberkörper zum Boden, um ihn mit dem Mund aufzunehmen, aber die Fesseln ließen dies nicht zu. (sie war mit den Handschellen in einem Meter Höhe an einem Baum fest gemacht. Weia! Wenn ich nicht den „Rettungsschlüssel“ an meinen Handschellen getragen hätte!) Saskia weinte vor Enttäuschung und vor Furcht. Schließlich packte sie das Schlüsselchen mit beiden großen Zehen und hob die Füße nach oben. Sie war so gelenkig, dass sie es packte, den Schlüssel zu ihrem Mund zu bringen. Mit dem Mund fummelte sie den Schlüssel in die Handschellen. Flugs schloss sie ihre Handfesseln auf, gleich danach ihre Fußangeln. Dann befreite sie ihren Freund Christian. „Oh tut das weh!“ wimmerte sie und unterdrückte einen Schmerzensschrei. „Meine Handgelenke sind ganz wund und meine Füße tun so weh. Der Shitmeister hat mich mit dem Pferd hinter sich hergeschleppt.“ „Ich stütze dich, Sassi“, sprach Christian beruhigend. Er führte die zitternde Saskia an dem laut schnarchenden Rittmeister vorbei. Einem Impuls folgend kettete Chris eine herunterhängende Hand des Mannes an die schwere eiserne Pritsche. Klick-Klack machte die Eisenfessel. Den Schlüssel dazu legte Chris gerade außer Reichweite von Karl Kordel. „Rache ist Blutwurst!“ flüsterte er grinsend. Dann holten die beiden hungrigen Kinder im Räucherraum so viele Salamis mit, wie sie tragen konnten und flüchteten aus dem Schloss. Erst tief im Wald hielten sie an und mampften mit Genuss ihre Beute. „Ich schätze, der Rittmeister wird mächtigen Ärger kriegen“, meinte Chris auf beiden Backen kauend. „Geschieht ihm recht, dem Kinderquäler“, sagte Sassi.
Wir teilten uns die Minisalami aus Saskias Rucksack und fanden unser neues Spiel einfach toll. Das wollten wir noch weiter ausbauen. Die Ideen flogen uns nur so zu.
35. Teil)
Das Zeichen des Hakylos
Wir liefen weiter in den Wald hinein. Ich wollte Sassi das Sandloch hinterm Wald zeigen. Dort war ein weites Tal, das aus rotem Sand bestand und wie eine riesige Wüste aussah mit einigen Ginster- und Wacholderbüschen, hie und da etwas Heidekraut und einigen Kiefern, die so taten, als würden sie irgendwann mal ein Wald werden – so in zehntausendhundert Jahren oder so. Unten im Sandloch lief ein kleiner flacher Bach mit einigen sehr tiefen Stellen. Im Bach gab es interessante Tiere zu sehen und an einigen Stellen war der Sand weich und schlammig. Dort konnte man geil „Sumpf und Untergehen im Moor“ spielen. Saskia schaute mich von der Seite an. Ich merkte, dass sie an einer Frage rumkaute. „Was hast du Sassi?“ versuchte ich ihr Mut zu machen. Sie blieb stehen und schaute mir in die Augen: „Der Mann im Wald. Denkst du noch an ihn?“ Sie meinte den Streifenschneider. Ich schüttelte den Kopf: „Nn-nn. Immer wenn mein Kopf dran denken will, mache ich die Gedanken schnell weg. Ich will nicht an ihn denken.“ „Ich mache es auch so“, sagte Saskia leise. „Aber er war schon zweimal nachts bei mir.“ Mich gruselte. Sie träumte von dem ekelhaften Kerl?! „Er kann uns nichts anhaben, Saskia“, sagte ich und zählte auf, was im Fernsehen und Radio immer wieder über den Mann verbreitet worden war: „Er befindet sich im Gefängniskrankenhaus. Sie haben ihm die Klicker aboperiert und sobald er gesund genug ist, landet er lebenslänglich im Hochsicherheitstrakt.“ Ich grinste. „Mein Vater sagt, die Ärzte hätten wahrscheinlich nicht beide Eier wegschneiden müssen, aber sie haben es doch gemacht. Damit der Streifenschneider kastriert wird. Dann ist er ein Ochse.“ „Ein Ochse?“ Saskia schaute mich fragend an. „Wird er zu einer Kuh?“ „Nein Sassi. Ein Ochse ist ein Stier, dem man die Eier abgemacht hat. Dann wird er friedlich und ein bisschen dumm.“ Saskia schaute zu Boden. „Ich glaube nicht, dass der Streifenschneider jemals friedlich wird“, sagte sie leise. „Dazu war zuviel Bosheit in ihm. Das kann man nicht wegoperieren. Aber wenn er dumm wird, das ist gut.“ Sie bemühte sich um ein Lächeln. „War es ein sehr schlimmer Traum?“ fragte ich vorsichtig. Ich hatte Angst, Sassi weh zu tun. Sie sah so verletzlich aus in diesem Moment. „Nein Chris“, antwortete sie und schaute mich ernst an. „Es war sogar irgendwie lustig. Der Streifenschneider wollte mir was tun, aber du hast ihn verdroschen, ihn so richtig verkloppt. Wie in den Westernfilmen. Ihr wart gleichgroß und du hast ihm die Nase blutig gehauen und ihm ganz fest in den Bauch geboxt und ihn dann mit einem Schlag umgehauen. Ich habe dich im Traum total bewundert dafür. Es war ein tolles Gefühl, wie du mich beschützt hast.“ Mir wurde warm. Wie sie mich ansah! Ich schwor mir, jeden umzuhauen, der meiner Sassi was wollte. Wir lächelten und unsicher an. Keiner fand die richtigen Worte. Dann legte Saskia ihre Hände auf meine Brust. Ich glaubte, dort verbrennen zu müssen! Ich schluckte und nahm allen Mut zusammen. Mit der rechten Hand berührte ich ihre Wange, streichelte sanft dort entlang bis runter zu ihrem Hals. Sie lächelte mich so wahnsinnig lieb an und gab einen kleinen glucksenden Laut von sich. Ich fühlte, wie ich feuerrot wurde und Sassis Backen färbten sich ebenfalls rot. „Gehen wir weiter“, schlug ich vor, weil mir nichts Besseres einfiel.
Christian und Saskia wanderten weiter durch den riesigen Wald der das Land des Baron von Seil von der Grafschaft Schnur trennte. Graf Schnur war einer der mächtigsten Herrscher im Königreich Kettingen. Sein Land lag hinter der großen roten Sandwüste, die zu durchqueren sich kaum jemand wagte. Man konnte die Grafschaft auch über andere Wege erreichen, aber dort lauerten Soldaten des Grafen und die waren die Letzten, mit denen Christian und Saskia zusammen treffen wollten. Sie Büttel des Grafen reagierten genauso bösartig auf arme verwaiste Bettelkinder wie Baron von Seil oder sein gemeiner Rittmeister Karl Kordel. Kurz bevor der Waldweg am Rande der Roten Sandwüste endete, machten die beiden Waisenkinder einen schrecklichen Fund. „Oh Gott! Chris! Sieh nur! Das Spinnenzeichen!“ rief Saskia. „Mir wird bange! Die Hakenmänner waren hier!“ In den Stamm einer alten Eiche war ein riesiges Brandzeichen gesetzt: das Abbild einer Spinne, das Zeichen der Hakenmänner von Fürst Hakylos dem Spinnendämon! „Es ist ganz frisch“, flüsterte Christian. „Es riecht noch verbrannt. Die Hakenmänner müssen letzte Nacht hier gewesen sein. Saskia, wir müssen uns in Acht nehmen. Von jetzt an sind wir nachts in großer Gefahr.“ Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch betraten die beiden Lumpenkinder die Rote Sandwüste. Tagsüber konnten ihnen die Hakenmänner nichts anhaben, sie waren bösartige Geschöpfe der Nacht, aber wo ihr Zeichen war, waren sie nicht weit. Plötzlich schrak Christian zusammen: „Hast du das gehört? Ein Wimmern.“ Rasch gingen die beiden Kinder dem Geräusch nach. Sie fanden einen kleinen Blumenelf, dessen linkes Beinchen unter einem dicken Stein eingeklemmt war. Als er die Kinder sah, fiepte der Elf ängstlich. „Keine Angst kleiner Blumenelf“, sprach Sassi beruhigend. „Wir wollen dir nur helfen.“ Sehr vorsichtig hob sie den Stein vom Beinchen des Elfen. „Ist es gebrochen?“ „Nein“, rief der Elf. „Ich hatte Glück. Es tut nur ein wenig weh. Uff! Wenn ihr beiden nicht gekommen wärt, hätte ich unter diesem Stein verhungern können.“ Er ließ seine kleinen Flügelchen schwirren und umkreiste die beiden Kinder fliegend. „Ihr habt etwas gut bei mir, Menschenkinder.“ Er runzelte die Stirn: „Hmmm…mal nachdenken. Was könnte ich euch schenken. Ah ich habs! Magische Hand- und Fußangeln aus Elfenmetall!“ Er blieb mit surrenden Flügelchen direkt vor Saskia und Christian in der Luft stehen. „Diese speziellen Handschellen werden nachts getragen und schützen einen vor Entdeckung durch die Hakenmänner. Die gehen um im Lande! Ihr wisst davon, nicht wahr?“ „Ja“, sagte Saskia. „Danke. Solche magischen Schellen könnten wir gut gebrauchen.“ Der Elf machte einige komplizierte Armbewegungen in der Luft. „Schandra-ala-dira!“ rief er. „Stein werde Metall!“ Es knallte laut und Rauch stieg vom Boden auf. Als er sich verzog, lagen dort, wo zuvor der Stein gelegen hatte, vier Paar glänzende Handschellen. „Noch sind sie wirkungslos“, sprach der Elf. „Sie müssen erst magisch aktiviert werden.“ Er surrte zu Christian: „Du musst sie tragen, alle vier. Du musst an den Stock und deine Freundin muss dich freitanzen. Nur die magische Rosette – in den Sand getanzt- wird die metallenen Fesseln in magische Gegenstände verwandeln. Bist du bereit?“ Christian nickte: „Ja.“ „Den Stock dort“, rief der Elfenjunge. „Hol ihn Mädchen und dann leg deinem Freund die Handschellen an.“ Sassi holte den Stock und legte ihn neben den am Boden sitzenden Christian. Der streckte die Hände aus. Saskia ließ nacheinander zwei Paar Handschellen um seine Gelenke schnappen und ließ sie einrasten. Nun musste Christian die Knie anziehen und die gefesselten Hände darüber ziehen. Anschließend steckte Saskia den Stock unter Christians Kniekehlen und oberhalb seiner Ellbogen durch. Zum Schluss schloss sie seine Füße mit zwei Paar Handschellen zusammen. Absolut wehrlos hockte Christian im Sand. „Und nun Menschenmädchen, tanze den magischen Kreis“, verlangte der Elfenjunge. „Doch hüte dich, einen Fehler zu machen! Jeder Fehler im Tanz zieht die Handschellen weiter zusammen. Im schlimmsten Falle brechen sie deinem Freund die Gelenke!“ Saskia kniete vor Christian. „Ich werde so gut tanzen wie noch nie Chris“, sagte sie inbrünstig. „Ich liebe dich!“ Sie küsste ihn auf die Backe. „Ich liebe dich auch Sassi“, antwortete der gefesselte Junge. Seine Stimme war rau vor Verlegenheit. „Vertrau mir“, sprach Saskia und stand auf.
36. Teil) (für Ramonika) Saskias magischer Tanz
Christian sah zu, wie Saskia mit nackten Füßen einen Kreis vor ihm im Sand abschritt. Die Abdrücke ihrer kleinen Füße sahen aus wie eine Art großer Lorbeerkranz. Sobald der Kreis vollendet war, begann sie zu tanzen. Sie wirbelte im Kreis herum, sie warf ein Bein in die Luft, sie drehte sich, sie sprang, sie wiegte sich wie ein Grashalm im Wind. Ihre Arme beschrieben uralte Muster in der Luft. Christian war fasziniert von Saskias Tanz. Er beobachtete wie sie ihre weißen Füße in den Sand setzte, wie sie sprang und sich in komplizierten Pirouetten drehte. Ihre nackten Sohlen malten eine Rosette in den Sand so perfekt wie mit einem riesigen Zirkel gezogen. Er lauschte dem sanften stampfenden Geräusch von Sassis nackten Füßen im Sand. Plötzlich stieß sie einen leisen Schrei aus. Sie hatte sich vertanzt! In der Rosette zeigte sich ein winziger Fehler. Mit einem laut hörbaren Klicken zogen sich die beiden Handschellen an Chistians linkem Fuß ein Stück enger zusammen. Das Metall kühlte merklich ab. Tanz Sassi!, dachte der Junge inbrünstig. Tanz wie noch nie zuvor! Die untergehende Sonne überglühte das tanzende Mädchen mit dunklem Orangerot. Auf Saskias weißer Haut schienen Flammen zu tänzeln. Sassi tanzte. Sie war konzentriert bei der Sache. Ihre Haare flogen, wenn sie sich drehte. Dann –mit einem leisen Aufschrei- sprang sie in die Mitte der Rosette und landete im Spagat. Sie stützte die linke Hand auf den Boden und reckte den rechten Arm in die Höhe. „Unglaublich, unglaublich!“ rief der kleine Blumenelf. Er umkreiste Saskia applaudierend in der Luft. „Nur ein einziger winziger Fehler! Noch nie sah ich solche Perfektion. Ihr seid führwahr die beste Tänzern im gesamten Königreich Kettingen.“ Er flog zu dem angeketteten Christian: „Der Lohn ist euch gewiss. Schandra-ali-tatanka!“ Mit lautem Klicken sprangen die Handschellen auf und gaben Christians Hand- und Fußgelenke frei. Die Schellen fielen klirrend zu Boden. Sie veränderten ihre Farbe. Aus chromglitzerndem Stahl wurde ein Metall mit einem weichen honigfarbenen Goldschimmer. „Nun sind sie magisch“, rief der Elf. „Kein Schlüssel kann sie zusperren und kein Schlüssel kann sie öffnen, auch nicht, wenn ihr sie anderen Menschen anlegt. Denkt bitte immer daran: sobald die Sonne untergeht, verschließen sich die magischen Schlösser der Handschellen, sobald man sich die Schellen anlegt, und sie öffnen sich mit dem ersten Sonnenstrahl wieder von selbst. Wer die magischen Handschellen aus Elfenmetall an Händen und Füßen trägt, der ist gefangen. Aber er ist auch gefangen in der Sicherheit der Unsichtbarkeit. Niemand kann euch sehen, wenn ihr sie tragt. Auch die Hakenmänner des Spinnenherrschers Hakylos nicht. Ihr seid vor ihnen sicher, solange das Elfenmetall euch an Händen und Füßen bindet. Und wenn ihr die Handschellen bei euch tragt, sind sie für andere Wesen unsichtbar. Nur Elfen können sie erkennen und wissen, dass ihr ein Geschenk der Elfen bei euch tragt.“ Der Elf drehte in der Luft drei Pirouetten. „Ich muss nun Abschied von euch nehmen, liebe Menschenkinder. Ich muss nach Hause eilen. Dort erwartet mich meine Schwester Ramonika. Sicher ist sie schon in Sorge meines Fernbleibens wegen. Auf Wiedersehen und gehabt Euch wohl.“ „Tschüss Blumenelf“, rief Chris und winkte. „Und danke für die magischen Elfenschellen“, rief Saskia. Die Sonne ging unter. Dämmerung breitete sich aus. „Wir sollten einen Schlafplatz suchen“, sagte Christian. Er nahm Saskia an der Hand und lief mit ihr in die Rote Sandwüste. Bei einem Hügel fanden sie unter einem dichten Ginstergebüsch eine Kuhle mit weichem Sand. Dort hinein legten sich die zwei Kinder. Sie holten die magischen Elfenschellen und legten sie an. Kaum hatte Chris sie an seine Fußgelenke gelegt, rasteten sie von selbst ein. Das gleiche passierte bei seinen Handgelenken. „Uff! Du bist weg Chris!“ schrie Saskia erschrocken und begeistert zugleich. „Du bist vollkommen unsichtbar.“ „Ich kann dich sehen Sassi“, kam Christians Stimme aus dem Nichts. Saskia legte die Handschellen um ihre zierlichen Fußgelenke. Mit sanftem Klicken rasteten sie ein. Dann legte sie sich das andere Paar an die Handgelenke an. Auch dort fesselten die Elfenschellen sie von selbst. „Nun sind wir beide unsichtbar“, sagte Chris. Er griff nach Saskias zusammengeketteten Händen: „Komm Sassi. Leg dich zu mir. Wir wollen uns gemeinsam wärmen.“ Dicht aneinandergekuschelt lagen sie im warmen, weichen Sand. Wenn sie sich bewegten klirrten die Hand- und Fußfesseln leise.
„Ich bin noch nicht müde“, sagte Saskia. Sie lächelte mich an. „Uns fehlen noch richtige Lumpenkleider. Erst dann sehen wir aus wie arme Bettelkinder.“ „Ja das wäre toll“, meinte ich und schaute in ihre schönen hellbraunen Augen. Ich fühlte mich ihr sehr nahe.
37. Teil)
Eine Nacht in der Roten Sandwüste
„Ich könnte welche für uns nähen“, meinte Sassi. „Du kannst das?“ Ich war baff. „Ich kann nähen und häkeln und stricken und noch viel mehr“, sagte Saskia. Sie klang ein bisschen stolz. „Du kannst hicken und sträkeln?“ fragte ich grinsend. Sie lachte. „Hicken und Sträkeln“, gluckste sie. „Mein rotes Wollkäppchen mit dem grünen Rand habe ich selber gehäkelt.“ „DAS hast du selber gemacht? Woah!“ Ich schaute Saskia so lieb wie nur möglich an. „Sag Sassi, könntest du vielleicht so ein Käppchen auch für mich häkeln?“ „Gerne“, antwortete sie und griff nach meinen zusammen geketteten Händen. Unsere Handschellen klirrten gegeneinander. Ein cooles Geräusch. Überhaupt fühlte sich das super an. Das Metall war hart, glatt und kühl. Wir fühlten uns wie richtige Gefangene. Mit den Handschellen würden wir noch viel Spaß haben, dass wusste ich schon jetzt. „Gleich heute Abend mach ich mich an die Arbeit“, versprach Saskia. Sie tastete mit ihren gefesselten Füßen nach meinen und strich mit ihren kleinen Zehen über meine Fußoberseite und über die Knöchel. „Aber ich muss deins grün machen mit einem roten Rand, weil ich nicht mehr genug rote Wolle für ein ganzes Käppchen habe.“ „Macht nichts“, beeilte ich mich zu sagen. „Das würde sogar prima aussehen. Genau umgekehrt wie deins und doch die gleichen Farben. Grün und Rot. Meine Lieblingsfarben, wenn sie zusammen gehören.“ Saskia lächelte mich lieb an: „Meine auch.“ Ich streichelte vorsichtig mit dem Finger über ihre Backe: „Du kannst so viel Sassi. Für ein Mädchen bist du echt toll.“ Sie wurde ein bisschen rot. Lange schaute sie mich an. „Gibt es sonst noch Mädchen, die du magst?“ fragte sie leise. „Nein“, antwortete ich. „So wie dich mag ich sonst keinen Menschen auf der Welt. Von allen habe ich dich am meisten lieb.“ Sie schaute mich an und gab wieder diesen kleinen leisen Gluckser von sich. Das Geräusch machte mich verrückt. Sie sah dann so lieb aus, dass ich ganz außer mir war. Saskia tat, als gähnte sie: „Jetzt bin ich aber müde. Lass uns schlafen Chris.“ „Ja wir schlafen. Das magische Elfenmetall schützt uns ja vortrefflich.“
Christian hielt Saskias kleine Hände in seinen. „Hoffentlich kommen keine Hakenmänner“, flüsterte Saskia. In der hereinbrechenden Dunkelheit schimmerten ihre Augen wie dunkle Teiche in ihrem hellen Gesicht. Die Hakenmänner waren der Schrecken der Welt! Sie waren die Kinder von Hakylos, dem Spinnendämon. Hakylos war der Sohn von zwei Halbdämonen, dem Adlermann Hijack, der Männergestalt und Adlergesicht hatte und von Erftra der Verfluchten der Nacht. Für eine schreckliche Tat war Erftra auf immer ins Dunkel der Nacht verbannt worden und nur für eine Stunde pro Nacht war ihr erlaubt, Menschengestalt anzunehmen. Sonst war sie eine riesige Spinne. Sie hasste seitdem den hellen Sonnenschein und schwor, die Erde zu erobern und in einen dunklen Ort ewiger Nacht zu verwandeln. Ihr Hass war nach ihrem Tod auf ihren Sohn Hakylos übergegangen. Hakylos hatte die Gestalt eines hochgewachsenen Menschen. Sein Körper hatte jedoch die Attribute seiner Eltern geerbt. Er trug die schnabelförmige Nase seines Vaters und er war angefüllt mit Gift in seinem Innern. Von Zeit zu Zeit wuchsen Hakylos Spinndrüsen. Dann spann er ein riesiges mehrstöckiges Spinnennetz im Wald und aus einer Legeröhre, die aus seinem rechten Arm wuchs, kamen hunderte Eier hervor. Aus diesen schlüpften Spinnen, die er mit kleinen Tieren und –wie man hinter vorgehaltener Hand erzählte- Menschenkindern fütterte. Nach einigen Wochen verpuppten sich die Spinnen und wurden zu Hakenmännern, großen finsteren Gesellen mit Menschengestalt, mit rotglühenden Augen und einem Adlerschnabel. Die Hakenmänner waren auf der Jagd nach kleinen Kindern, denn der Sage nach gab es irgendwo auf der Welt einen Jungen und ein Mädchen, die zusammen gehören und die beide das gleiche magische Zeichen trugen. Diese Kinder wollte Hakylos in seine Gewalt bringen und töten. Tötete er diese Kinder, würde ewige Nacht über die Welt kommen. Es hieß jedoch in der gleichen Sage, dass diese Kinder die Welt von den Hakenmännern befreien würden. Christian und Saskia war das erst mal egal. Sie waren müde und bald schliefen sie aneinandergekuschelt ein. Ab und zu klirrten die magischen Handschellen aus Elfenmetall, wenn sie sich im Schlaf bewegten. Mitten in der Nacht schreckten sie hoch. Irgendetwas hatte sie geweckt. „Es ist jemand da!“ wisperte Saskia. Zitternd vor Furcht klammerte sie sich an Christian fest. „Sei ganz still, Sassi“, flüsterte Chris und hielt seine kleine Freundin fest. „Solange wir an Händen und Füßen mit den magischen Elfenschellen gefesselt sind, sind wir unsichtbar. Aber man kann uns vielleicht hören.“ In atemloser Spannung lauschten sie in die finstere Nacht hinaus. Etwas schnaufte und grunzte. Sie hörten das Geräusch scharfer Klauen, die über Stein scharrten. Der Mond kam hinter einer Wolke hervor und übergoss die nächtliche Wüste mit fahlem kaltem Licht. „Oh nein!“ Saskia drängte sich noch enger an Chris. Keine fünf Meter von ihnen entfernt ritt eine Karawane des Schreckens vorbei. Es waren Hakenmänner auf ihren Gorns. Die Gorns waren pferdegroße Reittiere, aber sie waren Fleischfresser, mit riesigen kantigen Köpfen die aussahen wie eine Mischung aus Bären und Wolfskopf. Ihre scharfen Klauen kratzten übers Gestein. Das Mondlicht spiegelte sich in den großen gebogenen Hauern in den Schnauzen der Dämonentiere. Die Hakenmänner saßen hochaufgerichtet auf ihren fürchterlichen Reittieren. Ihre Augen glühten dunkelrot in der Nacht. Sie verständigten sich mit Tönen, die wie Grunzen und Raubtierschreie klangen. Es hieß, dass die kaum die Menschensprache hervorbringen konnten. Ein Trupp von zwei Dutzend der Hakenmänner ritt an Saskia und Christian vorbei. Die beiden Kinder waren vor Angst außer sich. Sie waren vor den Blicken der Hakenmänner geschützt, aber was war mit den Nasen der Gorns? Es hieß, die Hakenmänner fütterten ihre Reittiere mit Menschenfleisch! Konnten die Gorns die Kinder riechen? „Ich hab so Angst, Chris“, fiepte Saskia. Sie zitterte wie Espenlaub. Ihre Handschellen klirrten leise. Ein Gorn blieb stehen. Es grunzte laut. Seine Gefährten stimmten ein wildes Gefauche und Geknurre an. „Wors irst loos?“ fragte einer der Hakenmänner. „Die Gorns sspüren wasss“, entgegnete einer seiner Kameraden. Die Hakenmänner schauten sich in der Roten Sandwüste um. „Nichtsss!“ sagte der Hakenmann. „Wahrsscheinlichchch ein Hasssse. Weiter! Wirr müssssen diessse zzzwwei Kinderrrr findenn!“ Unter Fauchen und Brüllen setzten sich die Gorns in Bewegung. Nach zehn Minuten waren sie allesamt verschwunden im Dunkel der Nacht. „Oh Chris!“ sagte Saskia bibbernd. “Ich hatte so eine Angst!” „Pscht Sassi“, tröstete Christian. „Die sind weg. Nun können wir in Ruhe schlafen.“ Er hielt seine kleine Freundin an den Händen. So schliefen sie ein. Beim ersten Sonnenstrahl erwachten sie davon, dass die magischen Elfenschellen mit einem leisen Klicken aufsprangen und sie freiließen. „Sieh nur Sassi“, rief Christian. „Sie werden durchsichtig!“ Die beiden Kinder konnten die Handschellen kaum noch erkennen. Die Elfenmagie wirkte.
Sassi grinste mich an. „Das war toll Chrissie!“ Sie sprang auf. „Jetzt will ich aber nur rumziehen. Zeig mir alles. Nachher können uns dann irgendwelche Schergen oder Häscher gefangen nehmen und zu Graf Schnur bringen oder so.“ Ihre Augen blitzten unternehmenslustig. Ich stand auf. Es war schön gewesen, an Händen und Füßen gefesselt mit Sassi im Sand zu liegen. Ich war richtig schläfrig geworden. Dem Sonnenstand nach hatten wir noch mächtig Zeit. Ich beschloss, Saskia mein Geheimversteck im Sandloch zu zeigen. Aber zuerst würden wir zum „Sumpf“ gehen. Aber nicht ohne Handfesseln! „Wir gehen durch den Sumpf zu meinem Versteck“, sagte ich zu Sassi. „Aber in Handschellen.“ „Ja prima“, stimmte sie zu. „Wir tragen die Schellen doppelt, dann geht auch nix verloren.“ Ich musste grinsen. Die übrig bleibenden Handschellen hätten wir ja im Rucksack transportieren können, aber die Idee hatte was. Sassi streckte die Hände aus. „Ich erst!“ Ich legte ihr ein Paar Handschellen an. Ich ließ mir Zeit, genoss es, mit dem kühlen harten Metall zu hantieren und lauschte dem leisen Ratschen und Klickern der Verschlüsse. Dann legte ich Saskia gleich noch ein Paar an. Ich lächelte ihr zu: „Weils so schön ist, und wie sagt man? Aller guten Dinge sind drei!“ Schwupp-di-wupp hatte sie drei Paar Handschellen an! „Uff! Die sind schwer!“ sagte sie und beäugte ihre gefesselten Hände. „Das sieht super aus und es fühlt sich cool an.“ Ich holte die „Sicherheits-Handschellen“, an die Onkel Trööt den Schlüssel gebunden hatte und zog sie an, ebenfalls vorm Körper. Ich hätte die Hände lieber auf dem Rücken getragen, aber das war nicht ratsam, wenn man vorhatte, in den „Sumpf“ zu gehen. „Komm Sassi. Bis zum Sumpf ist es noch ein Stück.“ Wir liefen los. Der Sand fühlte sich weich und pudrig unter unteren nackten Füßen an. Wir liefen zwischen Heidekrautbüscheln und vereinzelten Ginsterbüschen hindurch.
38. Teil) (für Ramonika)
Im Sumpf
Wir kamen an den Sumpf. Es war eine weite sandige Stelle direkt bei einem flachen Wassertümpel, der auch im Sommer nie ganz austrocknete. „Das soll ein Sumpf sein?“ Saskia war skeptisch. „Sieht aus wie normaler Sand.“ „Lauf rein“, sagte ich. Sie schaute mich an. „Ich trau mich nicht. Ist es tief?“ Ich hätte jetzt rumlabern können von wegen Mädchen haben immer Schiss und so, aber das hatte ich mir bei Sassi ganz und gar abgewöhnt. Ich konnte einfach nicht eklich zu ihr sein. Stattdessen zuckte ich die Achseln und lief los: „Dann geh ich eben als Erster.“ Ich lief genau auf die ebene Sandfläche zu, die trügerisch trocken im Sonnenlicht gleißte. Man sah es wirklich nicht, bis man drinsteckte. Ich trat auf die Sandschicht und sackte sofort ein. Mit einem leise schmatzenden Geräusch quatschte der lehmige Morast zwischen meinen Zehen hoch. Saskia gab einen Schrei von sich. Es klang wie ein sehr kurzes „U!“, ein kleiner erschrockener und gleichzeitig bewundernder Quiekser. Schon steckte ich schön tief im Matsch. Meine Unterschenkel versanken bis zur Hälfte. Ich fuchtelte mit meinen zusammengeketteten Armen. Ganz schön schwer, wenn man nicht wie gewohnt mit ausgebreiteten Armen balancieren konnte! „Komm Sassi“, lockte ich. „Es ist toll.“ Sie stand am „Ufer“, die zusammen gefesselten Hände ausgestreckt vor sich haltend. Langsam kam sie näher. „Wo fängt es an?“ Sie tastete mit ihren nackten Füßen den Boden unter sich ab. „Es fühlt sich an wie normaler Sand.“ Ein Schritt weiter. Ihr linker Fuß sank leicht ein. Unter der trockenen Oberfläche zeigte sich roter lehmiger Matsch. Mutig schritt Saskia weiter. Bald stand sie neben mir. „Woah! Ist das tief!“ sagte sie. „Das ist Treibsand. Das habe ich im Fernsehen gesehen. Wird es noch tiefer?“ „Nein“, sprach ich bedauernd. „Leider.“ Eine Weile stapften wir im Matsch herum, genossen das Gefühl, wenn der Lehm zwischen den nackten Zehen durchquatschte. Sassi schrie begeistert auf: „Guck mal! Ich bin fast bis zu den Knien untergegangen!“ Sie versuchte, ihr rechtes Bein zu befreien. „Ich hänge fest.“ Erschrocken blickte sie mich an. Ich stapfte sofort zu ihr und sprach ihr Mut zu. Gemeinsam schafften wir es, dem „schrecklichen Sumpf“ zu entkommen. Wir liefen in den flachen Weiher hinein, dessen Grund komischerweise überhaupt nicht sumpfig war und reinigten dabei unsere verschmierten Beine und Füße. Dann marschierten wir zu meinem Versteck. Es befand sich auf einem mehrere Meter hohen Sandhügel, der mit Büschen und einigen Bäumen bewachsen war. Oben hatte er einen „Krater“. Deswegen nannte ich ihn „den Vulkan“. Im „Krater“ konnte man sich in den warmen, weichen Sand legen und fremde Eindringlinge im Sandloch schon von Weitem sehen. Saskia lief zu einem Busch. „Eine Sklavengabel“, rief sie mit einem genüsslichen Schaudern in der Stimme. „Da guck. Vorne ein Ypsilon und hinten eins. So wurden Sklaven aus Afrika in die Gefangenschaft geführt.“ Sie hatte Recht. Mir war früher nie aufgefallen, dass die knorrigen Äste des Busches so aussahen. Vielleicht weil sie sehr tief hingen. „Im Stehen kommen wir da nicht rein“, befand ich fachmännisch. „Also nix drin mit: in die Gefangenschaft laufen.“ „Dann ist es eben, um Gefangene auf dem Schiff festzumachen“, sagte Saskia prompt. Sie reckte mir die gefesselten Hände hin: „Mach die ab. Ich will an die Gabel!“ Ich befreite unsere Hände von den Handschellen. Saskia beschrieb in allen Einzelheiten, wie unsere komplizierte Fesselung aussehen sollte. Ich war begeistert. Der Ast des Busches sah aus wie eine Stange mit je einer Gabel vorne und hinten und das Ganze war quer zu einem Hauptast angewachsen. Eigentlich waren es zwei Seitenäste, aber es sah aus wie einer, der quer über den Hauptast ragte. Saskia kniete vorne nieder. Sie bewegte sich langsam rückwärts, bis ihr Genick in der Astgabel ankam. Ich holte einen Strick aus dem Rucksack und legte ihn ihr um den Hals. Ich machte einen Knoten hinein, damit er sich auf keinen Fall zuziehen konnte. Er war so lose um Sassis Hals gelegt, dass ich mit vier Fingern dahinter greifen konnte. Diesen Seilring knotete ich hinten im Ende der Astgabel fest. Aber das reichte Sassi natürlich nicht. Sie reckte die Hände nach hinten und ich kettete ihre Handgelenke mit einem Paar Handschellen hinter ihrem Rücken zusammen. Dann nahm ich ein weiteres Paar Freudenspender aus Chromstahl und bückte mich. Ich hob ihren nackten linken Fuß ein wenig an und schob die Handschelle drunter. Dann klickte ich sie zu. Genauso verfuhr ich mit Saskias rechtem Fuß. Es ratschte leise, als ich die Handschellen sachte zusammendrückte. Nun war Saskia wehrlos an die Astgabel gefesselt. Ich kroch hinter sie und steckte meinen Hals probeweise in die hintere Astgabel. Sie „passte“. Fein. Ich knotete einen Halsring zurecht und zog ihn an, machte ihn aber noch nicht an der Astgabel fest. Stattdessen hockte ich mich auf den Hintern und ließ ein Paar Handschellen um meine Fußgelenke schnappen. Dann drehte ich mich um, richtete mich auf die Knie auf und hoppelte zu „meiner“ Astgabel. Ich steckte den Hals rein und band das Seil am Ende der Gabel fest. Dann legte ich mir das letzte Paar Handschellen an. Ich ließ zuerst nur einen Verschluss um mein rechtes Handgelenk schnappen. Sodann hob ich die Arme hoch. Mit rechts schob ich die noch freie Schelle über den Ast, an dem mein Kopf angebunden war. Auf der anderen Seite schlüpfte ich mit der linken Hand in die Mulde der Schelle und ließ das Ding mit einiger Mühe zuklappen. Es ratschte und klickerte und dann war ich ebenfalls rettungslos angekettet. Hätte an der Verbindungskette meiner eisernen Handfessel nicht der kleine Schlüssel an seinem Schnürchen gebaumelt, Saskia und ich wären nie wieder von alleine frei gekommen. Ich betrachtete Saskia vor mir. Ihre kleinen Hände bewegten sich im gnadenlosen Griff der Handschellen. Ihre nackten Füße auch. Manchmal klirrten die Fesseln. Die Sonne spiegelte sich in dem blanken Metall. Saskias Fußsohlen waren vom Barfusslaufen schmutzig, obwohl wir im Weiher herum getappt waren. Sie hatten eine hübsche dunkle Farbe angenommen, dort wo sie den Boden berührten. Ich stellte mir vor, mit Saskia den ganzen Sommer barfuss zu laufen. Eine schöne Vorstellung. Dann erzählte ich ihr vom Schlüsselchen an der Kette. „Stell dir vor, wir hätten keinen Onkel Trööt“, sagte ich und gab meiner Stimme einen drohenden Unterton. „Du bist vollkommen hilflos ohne mich, das weißt du ja. Und nun stell dir vor, ich hätte einfach bloß das Schlüsselchen in meine Handschellen gesteckt und es fällt runter, als ich mich bewege. Weil meine Hände oben über dem Ast angekettet sind, erreiche ich damit nicht den Boden.“ „Brrrr! Was für eine Vorstellung!“ rief Sassi. Sie schüttelte sich und wühlte mit den nackten Füßen im Sand herum. „Das wäre ja fürchterlich.“ Aber ich merkte, dass die reine Vorstellung allein ihr gut gefiel. Mir auch. Das Knien würde bald anstrengend werden, aber ich dachte nicht dran, uns zu befreien. Ich hatte Lust, noch eine Weile hinter Sassi angekettet zu sein und ihre gefesselten Hände und ihre zusammengeketteten nackten Füße zu betrachten. Hier würde uns so schnell keiner stören.
39. Teil) (für Ramonika)
In der Gewalt der Häscher
Wir blieben noch eine Weile als arme Sklaven gefesselt. Irgendwann bat Saskia mich, sie zu befreien: „Mir fangen die Knie an wehzutun.“ „Mir auch“, gab ich zu und begann mit der ziemlich aufwendigen Prozedur unserer Befreiung. Dabei erklärte ich Sassi genüsslich, wie verdammt LANGE das dauerte. „Wenn einer hierher unterwegs gewesen wäre, ich hätte uns nicht schnell genug frei kriegen können.“ Schließlich hatte das ja in der „Hier-und-jetzt-Welt“ stattgefunden. Sie quiekste erschrocken. Endlich waren wir frei und liefen Hand in Hand im Sandloch umher. Ich schaute auf die Armbanduhr, die wir im Rucksack dabei hatten. Wir hatten noch Zeit bis zum abendlichen Grillen vorm Wohnwagen. Also nichts wie ab in unser Phantasieland!
Christian und Saskia liefen Hand in Hand durch die Rote Sandwüste. Sie würden es an einem Tag schaffen, sie zu durchqueren. Und wenn nicht, hatten sie ja die magischen Handschellen des kleinen Blumenelfen. Doch sie waren noch nicht weit gekommen, da wurden sie von einer Horde Reiter umstellt. Es waren Söldner von Graf Schnur. „Bettelgören!“ rief der Hauptmann der Söldner. „Auf dem Weg in unsere Grafschaft, um zu betteln und zu stehlen!“ Er grinste bösartig. „Na wenn ihr so wild drauf seid, zur Grafschaft Schnur zu gelangen, wollen wir euch gerne begleiten Kinder.“ Er richtete sich im Sattel auf: „Legt sie in Ketten! Legt ihnen Handfesseln und Fußangeln an. Die Gören sollen auf keinen Fall entwischen! Graf Schnur wird bestimmen, was mit den Rotznasen zu geschehen hat.“ Seine Männer lachten roh. Sie fielen über Christian und Saskia her. Die beiden Kinder hatten keine Chance. Innerhalb von drei Minuten trugen sie Eisen an Händen und Füßen. Ihre Handfesseln wurden je einem Soldaten mit einer Führungskette an den Sattelknauf gehängt. Die Reiter setzten sich in Bewegung. Saskia und Christian, die wegen der Fußeisen nur kleine Trippelschritte machen konnten, bemühten sich verzweifelt, Schritt zu halten. Wenn sie hinfielen, würden die rohen Kerle sie einfach so mitschleifen. „Wieder mal Material zum Verkauf ans Arbeitshaus“, rief einer der Männer. „Oder sie landen in den unterirdischen Minen, wo sie sich zu Tode schuften können“, gröhlte ein anderer. „Vielleicht sollen sie auch zu Haussklaven ausgebildet werden“, meinte ein dritter. „Dann dürfen sie zur Schule gehen. Zur Schule von Mister Brockenkotz.“ Die Männer lachten gemein. Sie klopften sich vor Heiterkeit auf die Schenkel. Die Schule von Mister Brockenkotz war berühmt im ganzen Königreich Kettingen; berühmt für ihre unmenschliche Strenge. Nicht alle Kinder, die dort hinkamen, verließen die Schule lebend. Die Sterblichkeitsrate war höher als im übrigen Königreich. Es hieß, die Kinder bekämen zu wenig zu essen und im Winter mussten sie sich mit Eiswasser waschen und sie hatten nicht genug warme Kleider zum anziehen. Saskia und Christian wankten hinter den Reitern her. Sie wussten, dass schwere Zeiten auf sie zukamen, egal wie Graf Schnur entschied.
Im Schloss zerrte man die beiden erschöpften Kinder in den Gerichtssaal. Saskia wurde gegen eine Steinsäule gedrückt. Die Söldner bogen ihre Arme nach hinten und schlossen ihre Handgelenke hinter der dicken Säule zusammen. Ihre Fußeisen behielt sie an. Christian wurden die Handfesseln geöffnet. Aber nur kurz. Er wurde zu Boden geworfen. Ein Stock wurde unter seinen gehockten Kniekehlen hindurchgeführt, die Arme unterm Stock durch und vorne vor den Schienbeinen wieder mit Handschellen zusammengeschlossen. So war auch der Junge hilflos gefesselt und konnte nicht fliehen. Bald darauf kam Graf Schnur. Der Graf war ein fetter Kerl mit einem Schnurrbart, der nach beiden Seiten weit in die Luft stand. „Wös bröngt öhr mör da ön?“ blökte er. Der Hauptmann salutierte. „Kinder Euer gräfliche Durchlaucht. Es sind Bettelgören. Wir haben sie am Rande der Roten Sandwüste aufgegriffen. Sie waren auf dem Wege hierher, um ihren Betteleien und Diebereien nachzugehen, wie Pack dieser Art es nun einmal tut. Es sind Tagediebe, Herr Graf.“ „Widerlöch!“ sagte Graf Schnur. „Wö kömmen nör öll döse mössratönön Könder hör? Öinföch ökelhöft!“ Er blökte nach seinem Diener Schnurbert: „Schnöörbört! Kömme ör hierhör!“ Schon kam Schnurbert angewieselt. Er war ein eklicher Schleimer, der kleine Kinder hasste, schlimmer noch als Rittmeister Karl Kordel, und der Kinder gerne misshandelte. Er liebte es, sie zu quälen. „Ja Herr Graf?“ fragte er. „Brönge ör döse mössratönön Könder hinwög! Fössle sie gut, auf dös sö nöcht entkömmen können. Wör mössen sö behölten, bös die Hakenmönner hier waren. Sie söllen diese Könder sehen. Wir wössen, dass die Hakenmönner zwöi Könder suchen. Öch glaube nöcht, dass diese verlausten Bettler ös sönd, aber söcher ist söcher. Wör wöllen öns doch lieber nöcht mit Hakylös anlögen. Föhre sie hinwög Schnöörbört.“ Hakenmänner! Sie waren hier gewesen! Und sie waren anscheinend hinter Saskia und Christian her. Den beiden Kindern gefror das Blut in den Adern „Aber gerne Herr Graf!“ Schnurberts Augen begannen zu leuchten. „Ich werde sie eigenhändig im Verlies anketten und mit Stricken binden Herr Graf.“ Er wandte sich an einen rangniederen Söldner: „Hilf mir! Mach die Gören los, doch lass ihre Hände zusammengebunden. Wir bringen sie ins Verlies.“ Saskia und Christian wurden losgemacht und mit zusammengefesselten Händen ins Verlies geschleppt. Dort warf der rohe Söldner Saskia zwischen zwei Säulen zu Boden. Rechts und links wurden ihr Handschellen an die Handgelenke gelegt und die Arme auseinander gezogen und an den Säulen festgemacht (zwei Büsche waren so nett, in praktischer Entfernung zu stehen. Das Sandloch ist prima, Leute. Echt!) Als wäre das nicht genug wurden dem armen Mädchen auch noch die Füße mit Fußangeln zusammen gekettet. Weil der widerliche Schleimkopf Schnurbert ein Faible für unbequeme Fesselungen hatte, wurde der arme Christian just wieder so festgesetzt wie oben im Gerichtsraum: mit einem Stock unter den Kniekehlen, die Hände unterm Stock hindurch und vor den Schienbeinen zusammengekettet und die Füße ebenfalls zusammengeschlossen. Der Söldner versetzte dem mit Gewalt zusammengekugelten Jungen einen Tritt. „Hier könnt ihr verrotten, ihr Blagen! Bis die Hakenmänner kommen, das kann dauern.“ Er warf die Tür hinter sich zu und Schnurbert sperrte ab. Lachend verschwanden die beiden miesen Kerle. Saskia und Christian litten stundenlang in ihren schrecklichen strengen Eisenfesseln. Sie machten sich schreckliche Sorgen wegen der Hakenmänner. Anscheinend waren die Rotaugen hinter ihnen her. Wieso nur? Sie fanden keine Erklärung und konnten sich nur in ihr Schicksal ergeben. Aber gegen Abend kam das Küchenmädchen Mathilde vorbei. Dem hatten sie ein Jahr zuvor das Leben gerettet, als es im Eis eines Flusses einbrach. Um ihre Schuld wieder gut zu machen, befreite Mathilde die Kinder. „Hoffentlich bekommst du wegen uns keine Schwierigkeiten Mathilde“, sagte Saskia, als sie draußen vor dem Hintereingang des Schlosses standen. „Macht euch um mich keine Sorgen“, sagte Mathilde. „Ich komme schon klar. Außerdem hat kein Mensch eine Ahnung, dass ich es war, die euch geholfen hat. Nun flieht Kinder. Mehr kann ich leider nicht für euch tun. Ich habe nicht einmal Essen, das ich euch zustecken kann. Es ist alles eingesperrt und ich habe keinen Schlüssel zur Speisekammer.“ Christians Magen knurrte laut. „Schade“, sage er. „Vielleicht finden wir irgendwo was zu Essen. Tschüss Mathilde.“ Die Kinder machten sich auf den Weg.
„Jetzt wird’s aber echt Zeit“, sagte ich unterwegs. „Ich hab Kohldampf. Und wie!“ Saskia lachte. „Du Fresser“, sagte sie vergnügt. „Aber diesmal habe ich auch Hunger.“ Hand in Hand kehrten wir zum Campingplatz zurück – ohne Fesseln. Die wollten wir aber bald wieder anlegen.
40. Teil) (für Ramonika)
Vorm Wohnwagen
Als wir auf dem Campingplatz ankamen, schrieen unsere Mütter natürlich gleich los, weil sie dachten, wir trügen tonnenweise Dreck, Schmutz und sonst was am Körper, und wir mussten sofort duschen. Mütter! Ich sags ja! Frisch geduscht kehrten wir zurück. „Oh Gott! Ich bin geblendet! Ich kann nichts mehr sehen!“ kreischte Onkel Trööt und schlug sich die Hände vors Gesicht. „Blendend weiße Körper! Es müssen Außerirdische sein!“ „Jetzt sind die beiden Dreckspätze wenigstens sauber“, befand meine Mutter. Ich musste mich mit Sassi vor unseren Wohnwagen stellen und sie knipste ein Bild von uns. Wahrscheinlich hatte sie Angst, wir würden uns in der nächsten Sekunde in tiefschwarzem Schlamm wälzen, um wieder schön geil dreckig zu werden. Ich muss zugeben, dass ich die Vorstellung insgesamt recht interessant fand. Wir trugen Badehose und Bikini vom Duschen. Erst hopsten wir in die Wohnwagen, um uns anzuziehen. Auf dem Rückweg vom Duschen hatten wir verabredet, uns farblich passend zueinander anzuziehen. Als ich raus kam, stand Sassi in einem moosgrünen Sommerkleidchen da. Sie trug ihr rotes Häkelkäppchen mit dem schmalen grünen Rand. Ihr braunes Haar quoll darunter hervor und sie sah sehr süß aus. Ich selber trug Shorts von ähnlicher Farbe und ein rotes T-Shirt. Natürlich waren wir beide barfuss. Und wir hatten unsere Handschellen mit. Als wir uns nahe beim Grill ins Gras setzen wollten, kreischte meine Mutter laut auf. „Nein! Nicht hinsetzen! Ihr werdet wieder schmutzig!“ Mütter! Also holte ich unsere alte braune Wolldecke und breitete sie auf dem Boden aus. Ich setzte mich mit Saskia drauf und dann holten wir die Handschellen hervor. „Mach mich fest“, bat Sassi. „Es ist schöner, wenn ich von dir gefesselt werde, als wenn ich es selber mache.“ Sie streckte die Hände nach vorne. Ich legte ihr die Handschellen an. Schön langsam drückte ich sie zu, um es lange zu genießen. Knirschend schloss sich das kalte, harte Metall um Saskias schmale Handgelenke. Dann ließ ich ein zweites Paar um Saskias Fußgelenke schnappen. Auch die drückte ich schön vorsichtig zu. Einen Moment schaute ich Sassi an. Ihre Hände und ihre nackten Füße wirkten durch das schwere Metall noch zierlicher und liebenswerter. Sie lachte mich unter ihrem Wollkäppchen lieb an. Ich lächelte zurück. Dann setzte ich mich neben sie und legte mich selbst an Händen und Füßen in Eisen. Meine Mutter kriegte Glotzaugen: „Die spielen ja schon wieder mit den Dingern!“ „Heute Mittag hast du dich noch beschwert, sie würden sie gleich in die Ecke werfen Erika!“ sagte Saskias Mutter grinsend. „Was willst du eigentlich?“ Onkel Trööt drehte meiner Mamutsch eine Nase: „Ätsch! Eins zu Null für die Stieglitze! Trööööt!“ „Aber sie könnten sich durch das kalte Metall erkälten“, mummerlte meine herzallerliebste Mama besorgt. Onkel Trööt riss die Augen auf. „Oh mein GOTT!“ schrie er und sprang auf, wie von der Tarantel gestochen. Zitternd stand er vor seinem Campingstuhl. „Oh Gott! Likörika! Danke für die Warnung! Ich habe nur eine Badehose an, weil es so tierisch HEISS ist, aber mein bitterböser Klappstuhl hat ein Gestell aus METALL! Herr Jesus! Erkälten? Ich spür schon, wie ich eine doppelseitige LUNGENENTZÜNDUNG kriege! Ich werde jämmerlich verrecken! Aaarrrgl!“ Er röchelte kunstfertig und das allgemeine Gelächter ging los. Mein Vater lachte sein tiefes AAA – AA – A – A –Lachen, Sassis Vater lachte rückwärts und schnappte mit Hieck! Hieeck! nach Luft. Unsere Mütter truthahnten und seehundeten lauthals. „Ruddu-ruddu-ruddu-hjouk! Hjouk!“ Und Onkel Trööt lachte sein fettes Ärr-härrr-härrr, wobei er wie verrückt mit dem Kopf vor und zurück wackelte, so schlimm, dass ich Angst bekam, er würde ihm jeden Moment abbrechen. Er nannte meine Mutter Erika gerne Likörika, um sie zu frotzeln. Sie trank nämlich gerne Likör. Meinen Vater nannte er Alkoholix, weil meine Mum ihn so nannte. Papa trank alles, was Alkohol enthielt, allerdings nur am Wochenende. „Haben Saskias Eltern auch Spezialnamen?“ fragte ich neugierig. „Na klar“, rief Onkel Trööt. „Der Herr wird Schnucki genannt, wenn seine Liebste ihn mag. Wenn nicht, ist er der Weinschlauch, weil er dem Weine –egal welcher Farbe- nicht abhold ist. Und seine ihm angetraute Ehefrau heißt Misses Baileys, weil sie den gerne trinkt.“ Er rülpste lautstark. „Hualp! Ich habe gekotzt … äh gesprochen!“ Dann widmete sich mein Dad dem Grill. Er ist nämlich ein Pyromane. Er muss IMMER am Feuer rumfummeln. Sassis Vater bereitete das Futter vor, dass auf den Grill sollte, wenn genug Glut da war. Onkel Trööt machte eine Riesenschüssel Salat an und unsere Mütter rasten herum und taten so, als ob sie aufräumten. Sie räumten Teller und Besteck raus, dann räumten sie es wieder rein, dann stellten sie den Tisch anders auf und räumten alles wieder raus und so fort. Weiber können nämlich nicht in Ruhe auf ihrem Hintern sitzen. Das ertragen sie nicht. Hat mir Onkel Trööt mal gesagt. Nur Sassi, die konnte das. Sie saß ein bisschen an mich gelehnt und sie häkelte mein Käppchen, obwohl ihre Hände zusammen gekettet waren. Ich schaute fasziniert zu, wie ihre schmalen Finger wirbelten und den Faden zupften und hin und her lenkten und mit der Nadel vor und zurück wuselten. Nach einer Weile holte ich meine Mundharmonika raus und begann, Sassis Liedchen zu spielen. Prompt sang sie den Text mit:
Siehst du den Tanz der kleinen Feen, Sommer wir ewig sein Dort wo die Heideblumen stehn, fand ich die Liebe mein Wir wandern, wir singen, ich spür süßen Schmerz In deinen blauen Augen, dort glüht mein kleines Herz.
Um uns wurde es merklich stiller. Auch die Leute gegenüber hörten auf zu quasseln. Alle lauschten dem Lied.
Ich möchte immer bei dir sein, wünsch dass das Glück uns leite In weiter Ferne und daheim, immer an deiner Seite Die Blumen, sie blühen, ganz früh schon im März Wo sie erblühen tanze ich, dort glüht mein kleines Herz.
„Mann!“ sagte Onkel Trööt leise. „Mann!“ „Ihr habt das selber erfunden, nicht?“ fragte Saskias Vater. Auch seine Stimme war seltsam leise. Meine Mutter schaute ganz komisch. Ihre Augen waren nass. Auch Saskias Mutter wirkte gerührt und sogar mein Dad, der nicht auf Schmalz-Lieder steht. Auf der anderen Seite des Wegs, der zwischen den Campinggrundstücken durchführte, begann jemand zu klatschen. Alle Leute rundum fielen ein. Einige pfiffen sogar. Sassi und ich duckten uns zusammen. „Noch mal! Das war wunderbar Kinder!“ rief die Wilde Hilde von weiter oben am Weg. „Ja noch mal!“ verlangte ihre Nachbarin, die Scharfe Anne, von der Onkel Trööt erzählt hatte, er habe sie sich „mal gegönnt“. Letzteres kapierte ich damals nicht recht, aber ich hatte mich bemüht, sehr weltmännisch und wissend dabei zu lächeln. Die Wilde Hilde und die Scharfe Anne lebten als Singles. Sie hatte nur Hunde als Gefährten. Hilde hatten einen riesigen Kampfhund, einen Bavarian Straffordshire Rehpinscher (14 cm) hoch, den sie Rüdiger nannte. Onkel Trööt drohte ihr oft, sie des Namens wegen bei der Polizei anzuzeigen. Das sei nämlich Tierquälerei! Zu Anne gehörte Mops. Mops war ein quadratischer Wischmop mit Raketenantrieb, ein kläffendes Fellbündel, das beim Anblick seines Leinchens laut kläffend Salto rückwärts schlug. Wir kamen nicht drumrum. Wir mussten das Lied noch einmal vortragen. Diesmal sang Sassi lauter und ich ließ die Mundharmonika schluchzen und heulen. Wieder gab es Applaus. „Denkt euch noch mehr solche Lieder aus“, verlangte der lange Piet aus Reihe 3, der seiner Frau die Schultern massierte. „Das ist klasse.“ Aber erst mal gab es Futter. Obwohl Saskia und ich lautstark protestierten, mussten wir uns zum Essen der Handschellen entledigen. Nun gut. Wir stopften Salat, grobe Bauernbratwürste und Putenschnitzel in uns hinein und kehrten danach sofort auf unsere Decke und in die Handschellen zurück. Saskia häkelte weiter und Onkel Trööt gab eine Anekdote aus seinem Leben zum Besten: „Ich bin damals im ersten Lehrjahr im Eisenwerk gewesen. Ich machte gerade den Lehrgang im Feilen und quälte mich mit einer U-Schiene aus siebenunddreißiger Stahl rum. Die Halle war fast leer, weil die Anderen in einer Filmvorführung waren. Ich stand ganz allein an meiner Werkbank, wo sonst sechs Lehrlinge arbeiteten. Eine Werkbank weiter stand Michael Denzer und riss ein Blech zum Bohren an. Wir nannten ihn „Methan-Michel“, weil der Kerl immer und überall furzte. Er musste eine Methangasfabrik im Gedärme eingebaut haben. Er war ein richtiger Akkord-Kacker. Also an dem Tag brodelte es mir auch ziemlich im Gedärm. Ich hatte tags zuvor einen Bohneneintopf gegessen und war noch nicht auf der Schüssel gewesen. Wie ich so vor mich hinfeilte, spürte ich plötzlich, wie es hinten gewaltig zu drücken begann. Just in den Moment kam der Lehrmeister zu Methan-Michel und begann in aller Seelenruhe, dessen Werkstück zu begutachten. Ich gab mir natürlich alle Mühe, nicht laut zu furzen. Gegenüber auf der andren Seite der Halle standen sämtliche Drehbänke still. Es waren kaum Geräusche zu hören. Mein Furz hätte geklungen wie eine Trompete. Also presste ich mit Gewalt die Arschbacken zusammen, um den Furz anzuhalten. Doch die Kraft der Natur war stärker und der Furz kam raus. Aber ich schaffte es, ihn ganz leise und flüsternd zu lassen. Na die Leisen sind die Schlimmsten! Das merkte ich gleich. Ich wurde von einer ungeheuerlichen Giftgaswolke eingehüllt. Die Pforten der Hölle schienen sich aufgetan zu haben, um riesige Schwaden giftigen Brodems entweichen zu lassen. Von dem Gestank begannen wir die Augen zu tränen. Die blanken Metallflächen an meinem Schraubstock überzogen sich mit Grünspan und die hölzerne Werkbank bekam vor Abscheu tiefe Runzeln. Draußen vor den Fenstern fielen die Vögel von den Bäumen. An dem Tag hatte mein Darm anscheinend inwendig Lepra! Hrch! Hrch! Hrch!“ Onkel Trööt fing schon mal so langsam an, seine Lach anzuwerfen. Auch Saskias Vater hieckte bereits verdächtig. „Und dann kam das Beste!“ dröhnte Onkel Trööt. „Ich hatte dermaßen viel Schwefelwasserstoff abgelassen, dass meine gasförmige Untat bis zu Methan-Michel und dem Lehrmeister schwappte. Der Meister machte ein Gesicht wie ein dicker doofer Bär, dem ne Biene mitten in die Nase gestochen hat. „Mein Gott! Denzer du olle Sau!“ keuchte er und wurde ganz grün im Gesicht. „Du bist doch der abscheulichste Gas-Kacker der Welt!“ Der Methan-Michel wusste nicht, wie ihm geschah, war er doch ausnahmsweise mal völlig unschuldig. Er lächelte dümmlich und wurde rot. „Ich war das nicht!“ sagte er und guckte recht blöd aus der Wäsche. „Von wegen du zweibeiniges Gaswerk!“ dröhnte der Meister und dampfte davon – genau in meine Richtung! Heideweih! Ich bückte mich über mein Werkstück und feilte wie ein Besessener. Der Meister kam an und blieb direkt neben mir stehen. „Ja das gibt’s doch nicht!“ blökte er. Ich beugte mich noch tiefer über meinen Schraubstock. Nun würde der Meister wissen, wer die Lehrlingswerkstatt mit Giftgas verseucht hatte! Ich war geliefert. „Unglaublich!“ dröhnte der Meister. „Das stinkt ja bis HIERHER!“ Damit dampfte er von dannen und ich musste mich am Schraubstock festklammern, sonst wäre ich vor Lachen aus dem Sicherheitsschuhen gekippt!“ Nun gab es kein Halten mehr. Alle brüllten vor Lachen. „Hieck! Hieck! Hiiieeeck!“ „Ruddu-ruddu-hjouk-hjouk-ruddu-ruddu!“ „AAAAA-AAAA-AAA-AA-A-A-A-AAAAAA!“ “Ärrrr-härrr-härrrr!” Onkel Trööt brach vor Lachen beinahe wieder der Kopf ab! Aber wie immer, wenn es am Schönsten ist, können Mütter es nicht ertragen, dass ihre Kinder es nett haben. Meine Mamsch schaute DE-MON-STRA-TIV auf ihre Armbanduhr und verdrehte die Augen: „Christian-Schatz, ich würde sagen, es ist Zeit fürs Bett.“ „Mama-Schatz, da muss ich aber weit laufen bis zu meinem Bett! Mindestens 40 Kilometer,“ gab ich zurück, womit ich die Lacher wieder auf meiner Seite hatte. Meine Mutter visierte meinen Daddy an. „DEIN Sohn!“ sagte sie und zeigte auf mich. Dann nagelte sie mich mit Blicken fest. „CHRISTIAN LIST! Wirst du wohl tun, was ich dir sage!“ Ich gabs auf. Gegen den Ton kam man nicht an. Nicht mal mein armer gequälter Vater. „Kinder werden hier immer unterdrückt!“ grantelte ich und schloss meine Handschellen auf und danach die von Saskia. „Geht noch mal aufs Kloh, sonst müsst ihr später“, sagte Saskias Mutter, als wüssten wir das nicht selber. „Gleich werden sie uns sagen, wir sollen das Zelt hinter uns zumachen, damit über Nacht keine Viecher reinkommen“, grollte ich auf dem Rückweg. „Macht das Zelt hinter euch zu“, flötete meine geliebte Mutti, „damit über Nacht keine Insekten und sonstige Viecher herein kommen.“ Saskia und ich mussten kichern. Im Zelt fuhrwerkten wir eine Zeitlang rum, bis es uns gelang, unsere beiden Schlafsäcke zusammen zu ziepen. Mit lautem singendem Wwwiiiiiiuuuuuuiiirrrr zogen wir die Reißverschlüsse hoch. Dann krochen wir zusammen in den Riesenschlafsack rein. „Die Handschellen Chris“, flüsterte Sassi mir ins Ohr. „Aber absolut! Darauf kannst du Gift nehmen“, wisperte ich zurück und begab mich auf Tauchfahrt in die Tiefen des Schlafsacks. Nach einigem Herumtasten fand ich Sassis nackte Füße und kettete sie an den Knöcheln mit einem Paar Handschellen zusammen. Dann machte ich das Gleiche mit meinen Füßen. Anschließen waren unsere Hände dran. Wir hatten eine winzige Diodenlampe brennen, die man von draußen nicht sehen konnte. In ihrem schummrigen Licht schaute ich Sassi in die Augen. „Geschafft!“ flüsterte ich. „Wir werden zum ersten Mal in unserem Leben in Eisen gelegt schlafen.“ Sassi lächelte mich an: „Es fühlt sich wunderbar an.“ Sie gähnte. „Eigentlich wollte ich noch schnell dein Käppchen fertig häkeln, aber das mach ich lieber morgen, wenn es wieder hell ist.“ „Ja das ist besser“, flüsterte ich und hielt sie an den Händen fest. Unten im Schlafsack klirrte es leise, als sie ihre Beine zu mir rüber streckte und mit den nackten Zehen anfing, an meinen Knöcheln herum zu streicheln. Ein irre schönes, sanftes Gekitzel! „Lass uns den ganzen Urlaub barfuss bleiben“, schlug Saskia vor. „Eine prima Idee“, antwortete ich. „Wenigstens auf dem Campingplatz. Wenn wir wohin fahren, werden unser Mütter uns wohl Schuhe aufzwingen.“ Wir kuschelten uns noch enger zusammen. So schliefen wir ein.
41. Teil) (für Ramonika)
Saskia am Campingstuhl festgeklebt
Am nächsten Morgen zogen wir uns die Handschellen aus, bevor wir aus dem Zelt krabbelten. Nach dem Frühstück teilten uns unsere herzallerliebsten Eltern mit, sie müssten einkaufen gehen. „Ihr zwei habt doch bestimmt keine Lust dazu“, flötete meine Mutti. „Ihr könnt ruhig hier am Wohnwagen bleiben.“ Saskia und ich stimmten zu. Das war uns recht, auch wenn ich meine Mutter im Verdacht hatte, dass sie uns extra nicht mitnahm aus Angst, dass wir uns wieder was aussuchen würden, das Geld kostete. Mütter! Bevor sie losfuhren, holte mein Vater eine breite Rolle schwarzes Klebeband aus dem Auto und reichte sie mir: „Sei so gut, und wirf das weg. Es lag ewig im Keller und jetzt klebt es nicht mehr gescheit.“ Dann fuhren sie weg. Ich ging mit Saskia in den Vorbau unseres Wohnwagens, und schloss die Tür hinter uns. Sie hatte immer noch ihr grünes Sommerkleidchen an und war barfuss. Sie holte ihr Häkelzeug und arbeitete an meiner Mütze. Ich untersuchte derweil das Klebeband. Mein Daddy hatte sich geirrt: nur die ersten fünf oder sechs Lagen klebten schlecht. Darunter war das zähe Band noch absolut mucho klebrig! Und wie! Ein Stück davon blieb an meiner Hand hängen und ich musste kämpfen, um es loszuwerden. Saskia legte ihr Häkelzeug beiseite: „Was ist das?“ Ich hielt ihr die Rolle hin: „Klebeband.“ Ich sah, wie sie auf dem Campingstuhl saß, die Arme auf die Armlehnen gestützt und die nackten Füße auf halber Höhe mit dem Sohlen gegen die Standbeine des Stuhls gedrückt. Ihre Knie standen nach vorne. Mir kam eine Idee. „Damit kleb ich dich am Stuhl fest.“ Sie gluckste. „In echt? Wie denn?“ „Genau so wie du jetzt sitzt“, antwortete ich und kniete vor ihr auf dem Boden nieder. Probeweise drückte ich ihren rechten Fuß fest gegen das runde Stuhlbein. Saskia verstand, was ich vorhatte. „Mach mal Chris!“ rief sie. „Das ist eine tolle Idee. Und richtig fest! Kleb mich ordentlich stramm an!“ Ich zog ein Stück Klebeband von der Rolle: „Fuß hoch, Sassi! Ich muss erst das Band ans Stuhlbein machen.“ Sie hob den Fuß. Ich klebte das abstehende Ende des Klebebandes ans Stuhlbein und zog die Rolle dreimal drumrum, um dem Band einen festen Halt zu geben. „So. Jetzt den Fuß her!“ bat ich und griff Saskias nackten Fuß. Ich setzte ihn mit der Sohle genau mittig über die Stelle mit dem Klebeband. Dann zog ich die Rolle vorsichtig um Saskias Fuß herum. Dadurch wurde das Band über ihren Spann gelegt. Ich führte die Rolle hinterm Stuhlbein herum und zog fest an. Eine Lage Klebeband fixierte Saskias nackten Fuß am Stuhlbein, presste ihre Sohle gegen das Stuhlbein. „Noch mehr!“ verlangte sie begeistert. „Roll noch Band drumrum, damit ich auf keinen Fall loskomme! Und richtig feste. Ich will, dass mein Fuß ganz fest angedrückt wird.“ Ich machte fünf weitere Umdrehungen mit der Klebebandrolle. Dabei variierte ich die Höhe und zog auch Band weiter oben nahe bei ihren Knöcheln über den Spann. Nach der sechsten Lage Klebeband holte ich eine Bastelschere und schnitt das Klebeband ab. Saskia wackelte mit dem Fuß und versuchte, ihn aus der Klebebandschlaufe heraus zu ziehen: „Bombenfest. Ich komme nicht heraus. Jetzt den anderen Fuß!“ Ich presste ihren linken Fuß mit der Sohle gegen das linke Stuhlbein und umwickelte ihn ebenso stramm mit Klebeband. Nun waren Saskias Füße fixiert. Sie schaute mich neugierig an. Ich machte weiter. Zuerst umwickelte ich ihr rechtes Handgelenk, das auf der Stuhllehne auflag so mit Klebeband, dass das Band um Sassis Handgelenk und die Stuhllehne zugleich lief. Danach machte ich die gleiche Klebung weiter hinten nahe ihrem Ellbogen. Zum Schluss verfuhr ich auf die gleiche Weise mit ihrem linken Arm. Sie zappelte heftig in ihren klebrigen Fesseln. „Woah!“ rief sie und wand sich energisch. „DAS hält vielleicht fest! Ich kann mich nicht rühren!“ „Pass auf, dass du vor lauter Zappeln nicht mitsamt dem Stuhl umkippst“, warnte ich, als sie den Oberkörper immer wilder hin und her warf. „Du kommst sowieso nicht frei. Du bist meine süße Gefangene.“ Sie hörte auf zu zappeln und schaute mich lange und intensiv an. „Sag das noch mal!“ verlangte sie und ihre Stimme klang dabei seltsam. „Du bist meine Gefangene“, wiederholte ich. Sie schüttelte den Kopf: „Nn-nn!“ „Doch. Das habe ich gesagt!“ Sie schüttelte den Kopf noch heftiger: „Nn-nn!“ Sie schaute mich erwartungsvoll an. Ihre Augen schimmerten weich. Da fiel es mir ein. „Du bist meine süße Gefangene“, sagte ich. Meine Stimme war rau vor Verlegenheit. „Sags noch mal Chris!“ flüsterte sie und schaute mich dabei so lieb an, dass mir ganz schwummerig wurde. „Du bist meine süße Gefangene.“ Ich holte Luft und nahm all meinen Mut zusammen: „Du bist süß, Sassi.“ Ich musste schlucken. Saskia gab einen kleinen sanften Gluckser von sich und lächelte mich an. Für mindestens eine Minute ließ sie mich nicht mehr mit ihren Augen los. Ich stand da wie gefesselt. Dann lachte sie fröhlich und ich stimmte in das Lachen mit ein. Sie nickte mit dem Kopf in Richtung Klebebandrolle: „Im Film kleben die Verbrecher den gefesselten Frauen damit den Mund zu.“ „Soll ich?“ fragte ich. Sie nickte: „Hm.“ Ich schnitt mit der Bastelschere ein Stück Klebeband in passender Länge ab und kam zu Saskia. Vorsichtig klebte ich es ihr über den Mund. „Fest genug?“ fragte ich. „Mmmh! Mmgmpf!“ antwortete sie. Sie zog Fratzen in dem Versuch, das Klebeband loszuwerden, aber das pappte gut fest. Sie lachte gedämpft. Ich musste auch lachen. „Stumm bist du, süße Saskia. Stumm und gefesselt.“ Sie schaute zu mir hoch und sah zum Sterben süß aus in ihrer Hilflosigkeit. Und sie genoss es. Das erkannte ich genau. Das Spiel gefiel ihr. Ich griff nach ihrem Hals und kitzelte sie mit den Fingerspitzen in der Halsbeuge bei der Schulter. Sie quiekste leise in ihr Klebeband und wand sich, aber ich ließ nicht locker und kitzelte weiter. Sie piepste und brummte leise und versuchte, meiner Hand zu entweichen. Endlich schaute sie mir tief in die Augen und schüttelte nur sanft den Kopf: „Nn-nn.“ Ich hörte auf. Wenn sie mich so anschaute, konnte ich sie nicht piesacken, auch nicht im Spaß. „Ich mach das besser wieder ab.“ Mit äußerster Vorsicht löste ich das Stück Klebeband, das ihren Mund verschloss. „Autsch!“ beschwerte sie sich. „Langsamer, du Folterknecht!“ Nachdem ich ihren Mund vom Klebeband befreit hatte, wollte ich das übrige Band auch losmachen, aber Sassi schüttelte den Kopf: „Ich will noch angeklebt bleiben. Ich bin eine arme kleine Biene, die im Spinnennetz klebt.“ Sie summte wie eine Biene. „Und für wie lange?“ fragte ich. „So lange wie du brauchst, um mir eine Geschichte vorzulesen“, antwortete sie und nickte mit dem Kopf zum Regal hoch, wo wir unsere Campingbücher aufbewahren. „Ist das ein Märchenbuch?“ „Ja. Daraus hat mir meine Mutti früher vorgelesen. Ich habe es immer noch, weil mir die Bilder so gut gefallen.“ Ich holte das Märchenbuch vom Regal. „Lies mir eins vor“, bat Saskia. „Solange muss ich kleben bleiben.“ Ich schlug das Buch auf: „Wie wäre es mit Fundevogel?“ „Ja, lies vor!“ bat Sassi. Ich fing an: „Es war einmal …“
42. Teil) (für Ramonika)
Rhabarbera kommt zu Besuch
Nach einer Viertelstunde war das Märchen zu Ende. Die beiden Schwester-Freundinnen, verwandelten sich – von der hexischen Stiefmutter verfolgt in einen Teich und eine Ente. Die Hexen-Stiefmutter legte sich auf den Bauch, um den Teich auszusaufen. Da kam die Ente und zog sie rein und die Hexe ersoff. Und die beiden Mädchen lebten glücklich und munter und wenn sie nicht gestorben sind…
Anschließend machte ich mich daran, die an den Stuhl geklebte Saskia zu befreien, was nicht so ganz einfach war. Vor allem die letzte Lage Klebeband an ihren Armen führte zu viel Gezeter, weil die feinen Härchen dran hängen blieben und das wehtat. Wie gut, dass sie kein Wolf war und deswegen keine Haare auf der Fußoberseite hatte. Kaum hatte ich Sassi freigekriegt, fuhren die Autos vor. Es waren unsere Eltern. „Uff! Da haben wir aber noch mal Glück gehabt“, sagte ich. „Wenn die das gesehen hätten?“ „Die haben zig Zeugs eingekauft“, sagte Saskia. „Gleich kommen sie an und wir zwei müssen beim Schleppen helfen.“ „Nix da! Wir schleichen uns davon. Komm mit zum Seitenausgang.“ Wir schlüpften zum Seitenausgang raus und schlichen hinter den Wohnwagen. „Wo sind die denn?“ fragte eine ziemlich laute Stimme vorm Wohnwagen. „Sie sind bestimmt ganz in der Nähe Bärbel“, antwortete meine Mutter. Ich stöhnte auf: „Oh Shit! Das ist Rhabarbera!“ stöhnte ich und schielte um den Wohnwagen rum. Tatsächlich stand ein drittes Auto neben unserem und dem von Saskias Eltern. Es war der rote Ford von Webers. „Nix wie weg! Ich hab keinen Bock auf Rhabarbera!“ Wir schlichen uns zwischen fremden Wohnwagen hindurch davon. „Wer ist Rhabarbera?“ wollte Saskia wissen. Ich erklärte es ihr, während wir auf Nebenwegen zum Seitenausgang des Campingplatzes liefen. Barbara Weber war die Tochter einer guten Freundin meiner Mutter. Sie war elf und kam sich schrecklich erwachsen vor. Ihr Getue ging mir tierisch auf den Geist. Die war drall und rosig und laut und kein Mensch nannte sie Barbara. Die meisten sagten Bärbel. Ich nannte sie Rhabarera, um sie zu ärgern. Am schlimmsten war aber ihre Mutter. Sie rief sie Börbele. Börbele! Man stelle sich das vor! Geräusche dieser Art hatte ich mit sieben Jahren von mir gegeben, als ich fünf Schokoladenosterhasen auf einmal gefressen hatte und die nach einer Stunde wieder zur Futterluke raus kamen: „Börbele! Bööörrbele! Ööörgel! Böörbele!“ Eltern können wirklich grausam zu ihren Kindern sein! Das liebe Börbele hatte außer Lästern nur Fressen im Kopf und im Gegensatz zu meiner Mutter, die Gott auf Knien dankte, wenn ich stopfte wie ein Bürstenbinder, war Rhabarbaras Mutter ständig hinter ihrer Tochter her und ermahnte sie, nicht zu viel Süßes zu essen, nur EIN Stück Kuchen zu nehmen und sich bitte „zurück zu halten“. Die Folge war, dass Rhabarbera immer Hunger hatte und alles fraß, was ihr in die Finger fiel. Manchmal dachte ich, dass das liebe Börbele nur deshalb so speckig war, weil ihre Mutter dauernd an ihr rumnörgelte. Ich dagegen war ein Spargel und konnte fressen wie ein Wolf, was ich in Rhabarberas Gegenwart auch gern und oft tat. Leider war Barbara nicht nur laut und gefräßig sondern auch extrem aufdringlich. Immerzu sollte ich mit ihr was unternehmen, nur damit sie ständig behaupten konnte, das sei doch alles „Kinderkram“ oder „was für Wickelkinder“. Sie liebte es, mich ein Baby zu nennen und leider war sie einen Kopf größer und wesentlich breiter als ich, so dass ich sie nicht mal verhauen konnte. Sie schmiss mich dann einfach um und setzte sich auf mich drauf, was mich stets aufs Äußerste erbitterte. Nee! Der Rollmops Rhabarbera war das Letzte, was ich gebrauchen konnte! Sollte sie mit ihren und meinen Eltern gefälligst an den See gehen und baden. Wenn sie am Strand lag, würden eh die Leute von Greenpeace kommen und sie ins Wasser zurück tragen. Save the whales! Na gut! So fett war sie gar nicht. Nur muckelig. Drall eben. Und laut! Furchtbar laut! Sie hatte eine Stimme wie ein Megaphon und ihre Schnute stand nicht eine Sekunde lang still. „Die muss ja schlimm sein“, sagte Saskia, als wir über den alten Bahndamm schritten. Auf der anderen Seite liefen wir Richtung Sandloch. Zwischen einigen Büschen und Bäumen blieben wir stehen. „Guck mal“, sagte ich zu Sassi. „Ein Elsternnest.“ Eine Weile beobachteten wir, wie die Altvögel den Jungen Futter brachten. Saskia stand dicht neben mir und irgendwie ergab es sich, dass wir die Arme umeinander legten. „Da seid ihr ja!“ gellte eine Dampfpfeife hinter uns. Die Elstern flogen vor Schreck davon. Wir fuhren herum. Vor uns stand Rhabarbera. Oh nein! So ein Mist! Bärbel glotze uns an. „Hallo Christian. Wie geht’s Kleiner?“ Sie bemerkte, dass wir uns halb umarmt hatten. Ihre Augen wurden kugelrund. „Ihr seid ja zwei Verknallte!“ quakte sie. Sie strahlte vor Begeisterung. „Zwei VERKNALLTE!“ „Sind wir nicht!“ gab ich zurück. Das ging die blöde Rhabarbera nichts an! „Seid ihr doch!“ kreischte der Rollmops vergnügt. „Mensch! Ihr werdet ja rot! KNALLrot! Zwei Verknallte!“ Ihre Augen leuchteten auf: „Ich sags den Großen!“ Sie drehte um und rannte los. Für einen Rollmops war sie erstaunlich flink. „Bärbel! Das lässt du bleiben!“ brüllte ich und rannte ihr hinterher. Sassi folgte mir auf dem Fuß. „Verknallte! Verknallte!“ singsangte Börbele und gab noch mehr Gas. „Ich sags allen! AAALLEN! Ätschibätschi ihr Verknallten!“ „Das wirst du nicht!“ schrie ich. „Bleib stehen du Luder!“ Vor uns tauchte der alte Bahndamm auf. Dahinter kam schon der Campingplatz. Börbele trug stabile Schuhe und raste ungebremst über die aufgegebene Bahnstrecke. Saskia und ich waren barfuss. Wir mussten einen Gang runterschalten, und langsam über den Damm laufen. Schienen und Bahnschwellen gab es keine mehr, aber der obere Teil des Damms bestand noch immer aus grobem Schotter. Wir kamen ganz schön ins Eiern. Zwar waren wir das Barfusslaufen gewohnt, aber hier mussten wir langsam machen. „Du sollst sofort stehen bleiben!“ schrie ich Barbara hinterher. „Ich denk ja nicht dran“, rief sie lachend und rannte, was das Zeug hielt. „Verknallte! Verknallte! Ich sags allen!“ „Ist die gemein!“ rief Saskia hitzig. „So eine dumme Ziege!“ „Ich dreh ihr den Hals um!“ keuchte ich. Ich war wütend wie noch nie. Diese blöde Pute! Es musste ja nicht der ganze Campingplatz wissen, dass Sassi und ich uns liebten! Das ging niemand was an! Nur uns beide! Wo Sassi doch so ängstlich war!!! Saubärbel verdammte! Auf dem Grasboden des Campingplatzes holten wir noch mal mächtig auf, aber Rhabarbera hatte zu viel Vorsprung. Laut gackernd platzte sie in die Erwachsenenrunde. „Christian und Saskia sind Verknallte! Die halten Händchen und sie umarmen sich! VERKNALLTE!“ Saublöde Kuh! Aber es kam ganz anders. Die Erwachsenen reagierten vollkommen ruhig. „Und ich habe fünf Finger an der rechten Hand“, sagte mein Vater seelenruhig. „Ich weiß auch was“, sagte Saskias Mutter grinsend. „Das Wasser im See ist nass.“ Rhabarbera glotzte dumm. Sie kapierte nicht, dass ihre Gemeinheit einfach so im Sande verlief. „Aber die sind verknallt!“ bärte sie lautstark. „Na und?“ fragte Onkel Trööt. „Ist doch was völlig Normales.“ „Aber die sind Verknallte!“ krakeelte Barbara. „Was soll das Börbele?“ fragte da ihre Mutter. Ihre Stimme hatte eine Schärfe, die ich noch nie an ihr gehört hatte. „Muss das der ganze Campingplatz hören? Macht es dir Spaß, andere Kinder vor allen Leuten zu blamieren? Soll ich auch mal so laut herum schreien, wenn ich dich bei was erwische? Das ist nicht nett Börbele! Du solltest dich schämen!“ „Blöde Verknallte!“ rief Rhabarbera in unsere Richtung. Sie konnte es nicht lassen. Und deshalb beschloss ich in diesem Moment, dass sie für ihren dämlichen Auftritt bezahlen würde! Ich krieg dich, dachte ich bei mir. Wenn nicht heute, dann irgendwann! Dir tu ich was an, an das du noch lange denken wirst! Doofe Ziege! Ich fasste Sassis Hand und zog sie fort. Am See spielten wir mit nackten Füßen im Ufersand herum. Wir platschten im Wasser herum und zogen Linien. „Die war vielleicht doof“, sagte Saskia leise. „Warum hat sie so was Gemeines gemacht? Wenigstens haben die Großen nicht drauf reagiert. Ich habe mich so geschämt.“ Sie wurde feuerrot. „Nicht so! Bitte!“ Sie schaute mich fast flehend an. „Ich habe mich nicht wegen dir geschämt, Chris! Ich mag dich! Ich mag dich so sehr Chris! Es ist nur … ich …“ Sie war nahe daran, in Tränen auszubrechen. Schnell umarmte ich sie. „Ich weiß, was du meinst Sassi“, sagte ich hastig. „Ich habe mich auch geschämt. Es war ekelhaft, dass Bärbel so laut rum geschrieen hat. Dass wir uns sehr gern haben, geht die Leute nichts an. Man plärrt das nicht laut raus.“ „Die verknallen ja schon wieder!“ gröhlte es nahebei. Barbara stand fünf Meter weit weg und glotzte uns an. „Verknallte! Verknallte!“ „Hau ab du Kuh!“ schrie ich. Ich packte eine Handvoll nassen Ufersand und schmiss ihn ihr hinterher. Leider traf ich nicht, weil sie so schnell wegflitzte. Wie konnte so ein Pummel dermaßen flott sein? „Ich krieg dich!“ giftete ich Börbele hinterher. „Und dann?“ fragte Saskia ruhig. „Die ist viel größer als du. Die wirft dich einfach um und legt sich auf dich drauf, dieses Nilpferdchen.“ Bei dieser „liebevollen“ Bezeichnung für Bärbel brachen wir beide in lautes Lachen aus. „Strafe muss sein!“ bestimmte ich. „Sie ist reif! Sie hat mich schon oft geärgert. Jetzt reichts mir!“ Ich grinste Saskia an. „Wir müssen sie aber mit List drankriegen. Mit purer Kraft richten wir gegen das Nilpferdchen nichts aus.“ Ich wusste nicht, dass das Schicksal mir schon bald die Macht in die Hände legen sollte, Rhabarbera nach meiner Pfeife tanzen zu lassen.
Die Chance ergab sich eine Stunde später. Die Großen hockten vor Winters Wohnwagen und tranken Kaffee. Ich ging mit Sassi zu unserem Wohnwagen. Dort hatten ich meinen Rucksack mit unserem Fesselzeugs liegen. Drinnen kamen wir drüber zu, wie Rhabarbera gerade ein riesiges Stück Buttercreme-Baumkuchen in ihren Schlund stopfte. „Mpff!“ machte sie, als sie uns sah und ihre Augen weiteten sich erschrocken. „Sieh mal einer an!“ sagte ich leise. „Die Rhabarbera frisst einfach anderer Leute Kuchen auf, ohne zu fragen! Ich glaube nicht, dass meiner Mutsch das gefallen wird. Sie ist da sehr, sehr eigen! Wenn du sie gefragt hättest, hättest du den ganzen Kuchen allein fressen können, aber das jetzt! Oh weh, Rhabarbera! Das gibt Ärger!“ Börbele schluckte den Kuchen runter. Im Gesicht wurde sie abwechselnd rot und blass. „Bitte verratet mich nicht!“ flehte sie inständig. „Meine Mutter bringt mich um! Sie hat mich heute Morgen zuhause schon dabei erwischt, wie ich heimlich einen Dreierpack Snickers gegessen habe. Zuerst wollte sie mich gar nicht mit auf den Campingplatz nehmen. Bitte Christian sag nichts! Bitte!“ Ich hatte sie in der Hand!!! „Wer sollte mich dran hindern Rhabarbera?“ fragte ich und lächelte süffisant. „Bitte nicht!“ wimmerte Bärbel. Sie hatte echt Schiss. Das galt es auszunutzen. „Unter einer Bedingung!“ sprach ich. „Okay! Ich mach, was du willst!“ beeilte sie sich zu sagen. „Du wirst deine gerechte Strafe für dein blödes Geschrei erhalten.“ Barbara schluckte. „Und was hast du vor?“ fragte sie. „Das wirst du schon sehen“, sagte ich und lächelte Saskia zu. „Kann ich dich mal kurz sprechen Sassi?“ Wir verkrümelten uns in eine Ecke und flüsterten miteinander. „Einverstanden“, wisperte Saskia. „Das machen wir. Verdient hat sie es!“ Wir kehrten zu Börbele zurück. „Wir gehen ins Sandloch“, verkündete ich. „Lass deine Schuhe und Socken hier.“ „Wieso dass denn?“ fragte Rhabarbera. „Maul nicht rum, sonst geh ich zu deiner Mami und singe wie ein Kanarienvogel.“ „Na gut“, brummte Bärbel und zog Schuhe und Strümpfe aus. Wir sagten unseren Eltern, dass wir zum Spielen loszogen und liefen fort. „Viel Spaß“, rief mein Vater uns hinterher. Oh, den würden wir haben! Saskia und ich! Rhabarbera wohl eher weniger …
„Es ist doof, mit Käsfüßen rum zu laufen“, meckerte Börbele unterwegs. „Wir sehen ja aus wie Zigeunerkinder! Wie Assi-Kinder! Wozu gibt es Schuhe?!“ Eine interessante Idee! Warum immer als arme Bettelkinder durchs Königreich Kettingen laufen, wenn man im Pferdewagen durch die Lande zockeln konnte wie früher die Landfahrer? Ich schaute zu Sassi rüber und sah, dass sie ähnlich dachte. Ein einfacher Wagen mit hölzernem Verschlag, gezogen von zwei struppigen Pferdchen, Jockele und Zockele. Nun, wenn wir die dralle Rhabarbera mitschleppen wollten, brauchte es vielleicht noch ein Hoppele und ein Moppele… Seltsam fand ich, dass es Barbara nicht gefiel, barfuss zu laufen, dass sie es als Zwang und Entwürdigung empfand. Sie schämte sich ganz offensichtlich, so „assimäßig“ daher zu kommen. Gut so! Dann war das Teil ihrer Strafe. Eigentlich hatte ich nur einen Einheitslook für uns drei gewollt. Doch es kam noch besser. Im Sandloch steuerte ich einen passenden Platz in einem kleinen Hain an, wo wir ungestört waren. Rund um eine Sandfläche von etwa zwei Metern Durchmesser standen kräftige Büsche, die uns vor neugierigen Blicken schützten. „Hier wirst du deine Strafe empfangen“, sprach ich mit drohender Stimme zu Börbele. Sie kriegte gleich dicke Kugelaugen. „Was habt ihr vor?“ quiekte sie. Sie schien echt Schiss zu haben. „Ihr werdet doch nicht verlangen, dass ich mich ausziehen muss?“ Dumme Pute! Gibt ihren „Feinden“ dermaßen wirkungsvolle Munition in die Hand! Wie dämlich! Der Gedanke hatte was. Sollte ich, oder sollte ich nicht? Nun … vielleicht beim nächsten Mal, falls ein nächstes Mal notwendig sein sollte. „Wir haben was Besseres vor Rhabarbera“, säuselte ich und holte Seile aus dem Rucksack. Sie gaffte ratlos. „Wollt ihr mich wie einen Gaul ins Geschirr legen?“ Oh Herr lass Hirn vom Himmel regnen! Wieder Munition für uns! Wie konnte jemand, der sich soviel auf sein „erwachsenes Alter“ einbildete, nur so strohdoof sein? „Nein, wir fesseln dich“, sagte Saskia. „Waaas?“ Barbara riss die Augen noch weiter auf. „D … das könnt ihr nicht MACHEN!“ „Können wir doch!“ schnarrte ich. „Leg dich auf den Rücken!“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Nein!“ erwiderte sie patzig. „Das ist ekelhaft! Man kann doch nicht einfach jemanden anbinden! Das ist scheußlich! Da mache ich nicht mit!“ Ich schaute Saskia übertrieben verzweifelt an: „Sie will also, dass wir es ihrer Mutter sagen. Manno! Konnte sie uns das nicht gleich auf dem Campingplatz sagen? Jetzt sind wir den ganzen weiten Weg umsonst gelaufen.“ Rhabarbera wurde bibberig. „Ich .. nein! Sagt es nicht! Bitte! Aber Fesseln?!? Das .. .das ist EKELHAFT!“ „Ekelhaft?“ fragte Saskia sanft. „Es … es …“ Rhabarbera fuchtelte mit den Armen. „Es ist ENTWÜRDIGEND! Genau! Das ist es!“ Mit einem Mal begann mir die ganze Sache noch viel mehr Spaß zu machen. Börbele hatte also eine tierische Abneigung gegen Fesseln. Ursprünglich waren die Stricke nur dazu gedacht, sie an Ort und Stelle festzuhalten, damit wir sie bestrafen konnten. Aber dass sie das Gefesseltwerden an sich unangenehm fand, machte alles noch besser. „Entwürdigend?“ fragte ich leise. „Ach nee! Und was denkst du, war dein lautes Geschrei über Verknallte für Saskia und mich? Das war auch entwürdigend! Du hast das verdient. Also leg dich endlich hin! Je länger du dich wehrst, umso schlimmer wird es für dich.“ Barbara verlegte sich aufs Bitten: „Nicht Christian! Bitte! Ich habe Angst! Ihr könnt mich doch nicht einfach hier liegen lassen. Wenn ich gefesselt bin, kann ich mich doch nicht befreien. Was ist, wenn ein Hund kommt oder ein Wildschwein aus dem Wald.“ Sie war den Tränen nahe. „Keine Angst Bärbel, wir bleiben immer in der Nähe“, sprach Saskia. Ein Glanz war in ihre Augen getreten, den kannte ich nicht. Es war ein harter Glanz. Dann fiel mir ein, dass sie so schüchtern und ängstlich war. Rhabarberas Gekreisch über unsere Verknalltheit musste sie noch viel schlimmer getroffen und verletzt haben als mich. „Wir werden ganz nah bei dir bleiben Börbele“, säuselte ich und griff nach Sassis Hand. Ich drückte sie aufmunternd. Saskia drückte zurück. „Wirklich ganz, ganz nahe Barbara“, sagte sie. „Ehrlich?“ fragte Bärbel. „Ihr lasst mich nicht allein?“ Ich schüttelte den Kopf und verbiss mir ein lautes Lachen. „Aber nein Rhabarbera. Ich VERSPRECHE dir, dass wir wirklich direkt neben dir bleiben werden. Ehrenwort!“ Und ob wir das tun würden! Arme dumme Pute! „Ich finde es wirklich schlimm, was ihr vorhabt“, brabbelte Bärbel. „Ich möchte mich entschuldigen für das, was ich gesagt habe. Fesselt mich nicht. Es ist so widerlich. Allein die Vorstellung, angebunden zu werden, ist grässlich!“ Wie schön! „Du kommst nicht drum herum Rhabarbera“, sagte ich. „Also hör endlich auf Zicken zu machen und leg dich flach! Los!“ Ich gab meiner Stimme einen strengen Klang. „N … na gut“, murmelte sie und legte sich auf den Rücken. „Entspann dich. Der Sand ist schön weich“, sagte ich und holte die Stricke. Ich nickte Saskia zu: „Die Hände zuerst.“ „Reck deine Arme über den Kopf“, sagte Saskia zu Bärbel. Die gehorchte widerwillig. Sie streckte die Arme über den Kopf und machte dabei ein Gesicht, als habe man ihr befohlen, ein ganzes Glas Essig auf einmal auszusaufen. „Kreuz deine Handgelenke!“ verlangte Saskia. Sie umschlang Bärbels Handgelenke mit einem Seil. Börbele schien es erst recht unangenehm, dass ein kleines Mädchen sie fesselte, ein WICKELKIND. Ich genoss ihren Widerwillen von ganzem Herzen. Saskia kannte Börbele nicht, aber mir hatte die dralle Rhabarbera schon oft mit ihrem lauten Mundwerk den letzten Nerv getötet. Ich würde meine Rache genießen. Sassi verschnürte Bärbels Hände perfekt und machte einen Abschlussknoten. Das überstehende Seil zog sie zu dem Stamm eines stabilen Busches und knotete es dort so fest, dass Barbara gestreckt da lag. „Und nun deine „Käsfüße“. Die sollen auch ihren Teil abkriegen“, sagte ich. Ich kümmerte mich um Börbeles linken Fuß, Sassi um den rechten. Wir legten Seilschlaufen um die Knöchel, immer fünf Umrundungen und banden sie fest. Dann zogen wir die Seile zu zwei Büschen unterhalb Barbaras und zogen sie fest um die Stämme. Wir zogen sie gut stramm, bevor wir sie verknoteten. Schließlich waren wir fertig. Rhabarbera lag ausgestreckt im Sand, die Beine leicht gespreizt. Sie wand sich, aber sie konnte sich kaum rühren. „So ist es genau richtig“, sagte ich zufrieden. Sie schaute zu uns hoch. „Wie lange soll ich so angebunden bleiben?“ Ihre Stimme klang weinerlich. Ich schaute Saskia an. Wir mussten grinsen. „Es fängt doch erst richtig an Rhabarbera“, säuselte ich. „Jetzt geht es erst richtig los. Börbeles Augen wurden groß.
43. Teil) (für Ramonika)
Rhabarberas Bestrafung
Saskia stieß mich an: „Wir müssen noch was machen, Chris.“ „Wieso?“ fragte ich, mich absichtlich dumm stellend. Natürlich wusste ich ganz genau, was lief. Wir hatten uns ja abgesprochen. „Ihr Mundwerk muss stillgelegt werden.“ „Oh…“ Ich schaute auf Barbara hinab. „Ja, ich denke, das muss getan werden.“ „Was denn?“ fragte Bärbel ängstlich. „Ihr wollt mir doch nichts antun?“ Anscheinend dachte sie, wir würden sie auf Mafia-Art zum Schweigen bringen, mit Kehle durchschneiden oder so. Ich betrachtete unser Opfer. Barbara lag wehrlos ausgestreckt am Boden, von den Stricken schön aufgespannt. Sie trug ein ärmelloses T-Shirt und eine kurze Hose. An einer Stelle beulte die Hose. Ich wusste, was Bärbel dort in der Tasche hatte. „Ist dein Taschentuch sauber, Rhabarbera?“ fragte ich und bückte mich. Saskia holte derweil etwas aus dem Rucksack. „Was ist denn mit meinem Taschentuch?“ wollte Bärbel wissen. Sie wirkte sehr ängstlich. „Es ist sauber. Ich habe heute Morgen ein frisch gewaschenes eingesteckt.“ „Um dir damit die dicken Finger abzuwischen, wenn du sie in fremden Kuchen gebohrt hast?“ fragte ich und zog das Taschentuch heraus. Es war ein ziemlich großes. Genau richtig für unseren Zweck. Ich knüllte es. „Mach den Mund auf, Börbele!“ „Was? He?“ Barbara war ganz Überraschung. Sie zerrte an ihren Fesseln. Allem Anschein nach fühlte sie sich sehr unwohl. Nun – das Gefühl würde sich noch verstärken. „Schnute auf!“ befahl ich und hielt das zusammen geknüllte Sacktuch vor ihr Gesicht. „Nein!“ kreischte Börbele und warf den Kopf hin und her. „Ihr könnt mich nicht auch noch knebeln!“ „Doch!“ meinte ich. „Na los! Mund auf!“ „Nein!“ Rhabarbera presste die Lippen fest aufeinander. „Dann eben anders.“ Ich hielt ihr mit zwei Fingern die Nase zu. Sie grunzte erschrocken, presste die Lippen aber immer noch zusammen. Doch irgendwann musste sie nach Luft schnappen. Sofort stopfte ich ihr das Taschentuch in die Schnute. „Gwmmmpf!“ machte Börbele mit weit aufgerissenen Augen. Schon war Sassi neben mir. Sie hielt ein zusammengefaltetes Halstuch bereit. Das legten wir Bärbel flugs um den Kopf und banden es vorne über ihrem Mund zu. Nun konnte sie den Knebel nicht mehr aus eigener Kraft loswerden. Sie brummte ärgerlich und ängstlich zugleich in das Taschentuch und glotzte uns mit großen Augen an. „Jetzt Rhabarbera wirst du deine Bestrafung empfangen“, sagte ich ruhig. „Wir werden dir dein indiskretes Geschrei schon austreiben.“ Ich war mächtig stolz darauf, ein so kompliziertes Fremdwort richtig gebrauchen zu können. Ich stand mit Saskia auf und entfernte mich von der wehrlos gefesselten Barbara. Sie zappelte und jammerte lautstark in ihren Knebel. „Gnn-gwiiieer! Bnn-gwwwiiieer!“ Allem Anschein nach befürchtete sie, dass wir sie entgegen meinem Versprechen doch mutterseelenallein und hilflos zurück lassen würden. „Wir sind gleich wieder da“, säuselte ich. „Nur 5 Sekunden Börbele.“ Tatsächlich brauchten Saskia und ich uns nur zu bücken. Am Rande der winzigen Lichtung standen ein paar Büschel harten, strohigen Heidegrases. Jeder von uns pflückte einen schönen großen Halm. Rhabarbera glotzte verständnislos, als sie die Halme sah. Ich schaute Saskia theatralisch an: „Sie weiß nicht, was wir mit ihr vorhaben, die Arme. Sie wird umkommen vor Neugier. Wir sollten uns beeilen, damit sie nicht länger in Ungewissheit schwebt.“ Grinsend knieten wir uns bei Barbaras nackten Füßen auf den Boden. Ich deklamierte mit lauter Stimme: „Ihre Augen sind ohne Verstehen, doch bald wird ihr Hören und Sehen, vergehen! Sie war keine Brave, drum kommt nun die gerechte Strafe! Und zwar meine Süße, gehn wir dir an die Füße!“ Nun verstand Barbara. Sie riss die Augen auf und brummte laut in ihren Knebel. Sie versuchte, ihre Füße von uns wegzuziehen, was natürlich wegen der Fesselung unmöglich war. Ich nickte Saskia zu und wir begannen in aller Seelenruhe, mit den steifen Grashalmen in Börbeles Zehenzwischenräumen zu stochern. Barbara spannte sich an wie ein Flitzebogen. Einen Moment bog sie den Rücken so sehr durch, dass sie fast abhob. Dann begann sie, wild zu zappeln. Sie zerrte an den Fesseln und schrie in den Knebel. Sie musste extrem kitzelig an den Füßen sein. Wir kitzelten auch über ihre rosigen Fußsohlen. Rhabarbera warf den Kopf hin und her. Sie keuchte. Sie schrie. Sie wand sich. Immer wieder kehrten Sassi und ich zu den kleinen Zehen zurück. Wir stochelten die Grashalme von der Sohle her oder von oben her dazwischen. Börbele ging hoch wie eine Rakete. Sie zuckte am ganzen Leib. Sie schrie und mmmpfte in den Knebel. Sie zappelte und zerrte an den Stricken wie eine Wilde in dem verzweifelten aber erfolglosen Bemühen, den kitzelnden Halmen zu entgehen. Sie bäumte sich auf. Mal spreizte sie ihre Zehen so weit, dass ich dachte, sie müssten gleich aus den Gelenken schnappen, dann verkrallte sie sie, so fest sie konnte. Kamen wir dann nicht zwischen die Zehen, kitzelten wir die wehrlos dargebotenen Fußsohlen. Bärbel keuchte und schrie. Aber wir kannten keine Gnade. Sie bekam einen knallroten Kopf. Wir folterten sie mindestens drei Minuten lang. Dann schmissen wir die Grashalme weg. Mit einem lauten Stöhnen fiel Barbara in sich zusammen. Sie atmete laut durch die Nase. Saskia und ich ließen ihr Zeit, wieder zu Atem zu kommen. „Und jetzt mit den Fingern“, sagte ich gutgelaunt. Rhabarbera schüttelte verzweifelt den Kopf. „Nnn! Nnn!“ brüllte sie in den Knebel. Es kamen nur leise, gedämpfte Töne heraus. Wir begannen ihre empfindlichen Fußsohlen mit den Fingern zu kitzeln. Das war anscheinend noch schwerer zu ertragen, denn Börbele drehte nun vollends durch. Sie wand sich so energisch, dass die Stricke, mit denen sie gefesselt war, anfingen zu knarren. Sie quiekte und schrie in ihren Knebel. Sie zappelte, sie bockte wie ein Rodeopferd. Immer wieder schoss ihr Becken in die Höhe, wenn sie den Rücken durchbog. Sie jammerte pausenlos. Sie wimmerte. Sie flehte. Aber wir gaben kein Pardon. Bärbel wand sich so energisch in ihren Fesseln, dass sie es beinahe schaffte, sich auf den Bauch zu drehen. Quietschend und schreiend versuchte sie, ihre nackten Füße vor unseren Fingern in Sicherheit zu bringen. Erfolglos. Sie war uns völlig ausgeliefert. Als wir endlich aufhörten, war Barbara ganz lila im Gesicht. Sie gab jammernde und flehende Töne von sich und bettelte uns mit den weit aufgerissenen Augen um Gnade an.
44. Teil) (für Ramonika)
Keine Gnade für Rhabarbera
Saskia und ich krabbelten links und rechts neben Rhabarbera in Richtung ihres Kopfes. „So“, sagte ich streng. „Siehst du nun ein, wie böse du warst?“ Börbele nickte und brummte zustimmend in ihren Knebel. „Eigentlich wäre jetzt eine Entschuldigung fällig“, schob ich nach. „Nnpfumdibmm!“ brummte Bärbel eifrig. „Nnpfummdibmm!“ „Ich glaube, sie hat „Entschuldigung“ gesagt“, meinte Saskia. Börbeles Kopf brach vor Nicken beinahe ab. „Ach nee …“, sagte ich zögernd. „Weißt du, Sassi, mir kam das eher wie eine Beleidigung vor. So als hätte sie zu dir gesagt „Dumme Kuh“ oder so.“ Barbaras Augen wurden groß. „Nn-nn!“ grummelte sie in den Knebel und schüttelte den Kopf. „Hmm … jetzt wo du es sagst, Chris“, fuhr Saskia fort. „Es kommt mir nun auch so vor.“ „Eine wirkliche Frechheit“, sprach ich und gab mir Mühe, möglichst pikiert zu klingen. „Da hilf nur: noch mehr Strafe.“ „Genau“, pflichtete mir Sassi bei. „Mmmgbmm! Gmmpf!“ brüllte Börbele. „Gnnndlbmmm!“ Ich formte mit den Lippen lautlose Worte zu Sassi hin: „An den Rippen.“ Sie nickte. Dann sagte ich laut: „Auf Drei! Eins-zwei-drei!“ Sofort begannen wir Barbara an den Rippen zu kitzeln. Die spannte sich an wie eine Feder und quiekte wie ein Ferkel. Dann begann sie sich zu winden und zerrte an ihren Fesseln. Sie bäumte sich auf. Sie schrie und brüllte, aber der Knebel ließ nur leise gedämpfte Laute hören. Sie drehte sich in den Handfesseln wie ein Engerling, während wir pausenlos unsere Finger an ihren Rippen krabbeln ließen. Sie konnte quieken und schreien, so viel sie wollte, wir hörten erst auf, als sie dunkellila anlief, weil sie nicht mehr genug Luft bekam. Von mir aus hätte es noch weiter gehen können, aber Sassi verlangte von mir, Rhabarbera zu befreien. Als erstes nahmen wir ihr den Knebel ab. „Entschuldigung! Entschuldigung!“ quiekte sie sofort. Oh welche Musik in meinen Ohren. „Wirst du in Zukunft deine vorlaute Klappe halten?“ fragte ich streng. „Ja!“, antwortete Börbele wie aus der Pistole geschossen. „Und du wirst in Zukunft AUSSCHLIESSLICH bei den Erwachsenen bleiben!“ fuhr ich fort. „Auch wenn deine Mutter mit dir zu uns nach Hause kommt! Da du ja so schrecklich erwachsen bist, musst du auch bei den Großen bleiben. Verstanden?“ Ich sah ihr deutlich an, dass sie gerne Widerworte gegeben hätte, aber sie war noch immer wehrlos gefesselt und musste klein beigeben. „In Ordnung“, brummte sie. „Halt dich dran Rhabarbera, sonst verpfeif ich dich doch noch!“ Ich fing an, sie loszubinden. Sie rieb sich die Hand- und Fußgelenke: „Au! Das tut weh! Ihr seid gemein!“ Da baute ich mich vor ihr auf: „Halt den Rand!“ Ich spürte, wie ich echt sauer wurde. „Wenn du jemanden sehen willst, der gemein ist, schau in den Spiegel! Du kannst nicht anderes, als laut rumgröhlen, alles besserwissen und petzen! Was geht es dich an, ob Sassi und ich gute Freunde sind? Hast du einmal im Leben dran gedacht, wie gemein DU immer zu anderen Kindern bist? Du bist eine besserwisserische Doofliesel! Ich wollte, du kämst nie wieder bei uns zu Besuch! Auf deine aufgeblasene Art kann ich verzichten! Ich bin immer froh, wenn du wieder weg bist! Ich wollte, es wäre schon heute Abend! Und jetzt sei endlich still!“ Ich griff nach Saskias Hand und zog sie sanft fort. Börbele kam hinter uns her. Ich hörte sie flennen. „Bärbel weint“, flüsterte Sassi mir zu. „Lass sie doch!“ wisperte ich zurück. „Die dumme Pute! Sie hat es verdient!“ Ich war immer noch stinkig. „W … wartet doch auf mich!“ heulte Rhabarbera hinter uns her. „Bitte Christian!“ Ich drehte mich um: „Was ist denn noch?“ Das Nilpferdchen stand vor mir wie das heulende Elend. Von Barbaras Überheblichkeit und ihrem Hang, andere zu verletzen, war nichts mehr zu sehen. „Bitte Christian!“ jammerte sie. „Bitte!“ Ich verdrehte genervt die Augen. „Was denn?“ „Bitte redet am Campingplatz nicht von der Sache eben“, flehte Börbele. „Sagt nicht, dass ich gefesselt war, bitte. Ich schäme mich so dafür.“ Dumme Ziege! Schon wieder gab sie mir Munition in die Hand. Hatte sie das früher auch schon getan? Ich erinnerte mich nicht. Aber ich bewarte jede Granate auf, um sie später gegen sie einsetzen zu können. Wer wusste schon, ob sie nicht bald wieder die Alte wurde. „Wenn du uns in Frieden lässt, erzählen wir nichts“, sagte ich, obwohl es mich gewaltig in den Fingern juckte, sie damit zu erpressen. „Lass uns einfach in Ruhe.“ „Ja“, quakte Bärbel. „Mach ich.“ „Du hast dich eklich benommen“, sagte Sassi ganz leise. „Macht es dir Freude, anderen wehzutun? Warum machst du das? Das war so gemein von dir.“ Barbara wurde feuerrot. Einmal – ein einziges Mal in ihrem Leben- schien sie zu kapieren, was sie mit ihrem Geblöke angerichtet hatte. „Es tut mir leid. Ich wollte lustig sein“, schnüffelte sie. „Ich mache es nicht wieder. Entschuldigung.“ Diesmal – das merkte ich- war die Entschuldigung ehrlich gemeint. „Dann ist es ja gut, Barbara“, sprach Saskia sanft. Sie drückte meine Hand. Lad die jetzt bloß nicht ein, mit uns zu spielen, rief ich in Gedanken verzweifelt, sagte aber nichts. „Du hättest so schön mit uns spielen können“, fuhr Sassi fort. „Aber ich bin ehrlich, mit dir mag ich nicht spielen. Bitte geh jetzt. Setz dich zu den Großen.“ „Ja“, quakte Börbele und begann noch mehr zu flennen. Heulend und mit hängenden Schultern tappte sie weg. „Gott sei Dank!“ grummelte ich. „Die sind wir los! Was für ein Quälgeist!“ „Sie tut mir leid“, sagte Saskia leise. „Auf ihre Art versucht sie nur, Beachtung zu finden. Ich glaube, ihre Mutter ist ziemlich schlimm zu ihr, weil sie so dick ist.“ „Beachtung finden, indem man andere Kinder quält und ärgert, ist nicht gerade schön“, knurrte ich. „Nein. Das ist nicht schön“, sprach Sassi und lehnte sich an mich. „Aber vielleicht weiß sie es nicht anders.“ „JETZT weiß sie es!“ grantelte ich. Ich hatte keinen Bock, über die doofe Bärbel zu reden. Sassi schaute mich lange von der Seite an: „Hat es dir Spaß gemacht, Barbara zu quälen Chris?“ Ich überlegte lange. Dann sagte ich die Wahrheit: „Ja Sassi. Normalerweise bin ich nicht so. Aber die hat mich schon so oft runtergeputzt, mich so oft voller Schadenfreude vor anderen blamiert! Es hat Spaß gemacht, verdammt noch mal! Meiner Meinung nach hatte sie es verdient.“ Ich fasste nach Saskias Händen. Wie schwer mir das immer noch fiel! Noch immer bekam ich einen Kloß in den Hals, wenn ich Sassi nur anschaute und ich fühlte dieses unglaublich süße Gefühl tief in mir drin. „Bist du jetzt böse mit mir?“ Sie schüttelte den Kopf: „Bärbel hat sich böse benommen und wir haben es ihr heimgezahlt. Aber falls sie noch mal kommt, Chris … dann … dann … ich finde, wir sollten dann ganz von vorne anfangen, und offen für sie sein. Verstehst du mich?“ Wie zur Hölle konnte ein neunjähriges Mädchen so reden?!? Klar verstand ich! Börbeles Minuskonto sollte annulliert werden! Manno! Jedem anderen Menschen hätte ich das rundheraus abgeschlagen. Aber doch nicht Sassi! Wie sie mich anschaute! Ich kriegte einen Kloß in den Hals so dick wie ein Felsbrocken. Ich musste dreimal Luft holen, bevor ich nicken konnte. „Gehen wir noch ein bisschen in den Wald?“ fragte Saskia und lächelte lieb. „Bis zum Abendessen ist noch viel Zeit.“ Ich stimmte zu und musste grinsen. So wenig wie dieses Mal war ich beim Camping noch nie im Wasser des Sees gewesen. Würde ich ihr je meine geheime Insel zeigen können? Aber das war mir dermaßen wurscht! Hauptsache, ich war mit Sassi zusammen. Sie rannte vor mir davon. Ich rannte hinterher. Sie lachte und gab Gas. Ich lachte auch und rannte, was das Zeug hielt. Ich sah den Sand unter ihren nackten Füßen aufstieben, sah wie ihr Kleidchen flatterte und wie ihre Haare hinter ihr herwehten. Am Waldrand holte ich sie ein und grabschte sie. Sie lachte mich an, so wahnsinnig lieb. Ihre Wangen glühten, ihre Augen leuchteten, versprühten ein Feuer, das mich zugleich wärmte und verbrannte. Ich drückte sie gegen einen Baumstamm, hielt sie sanft fest. Sie atmete hastig, vom Rennen noch erhitzt und dann hielt sie den Kopf so seltsam schief und schaute lächelnd zu mir auf. „Chris!“ Nur dieses eine Wort. Sie atmete noch mal. „CHRIS!“ Dabei schaute sie mich so lieb an, dass mir total schwindlig wurde. „Sassi!“ Meine Stimme war ganz kratzig. Ich stand da, schaute sie an, wie sie am Baumstamm lehnte und zu mir hochsah. Wie klein und zierlich sie war, im Gegensatz zu mir. Wie süß sie aussah! „Sassi!“ sagte ich noch mal. Und dann fasste ich nach ihren Schultern, schüchtern und ängstlich und doch voller Verlangen. Ich musste sie anfassen. Ich musste sie berühren! Sie kam mir entgegen, schaute mich ununterbrochen an. „Chris“, sagte sie leise. „Sassi“, erwiderte ich. Und dann umarmten wir uns ganz fest. Sie legte ihren Kopf in meine Halsbeuge und gab dieses kleine unbeschreiblich süße Glucksen von sich – einen Laut puren Behagens. Mein Herz drohte mir aus dem Mund heraus zu springen vor Freude und Glück. Es schlug wie rasend. Ich drückte mein Gesicht in ihr dichtes braunes Haar. „Sassi“, murmelte ich in ihr Ohr. „Sassi, ich hab dich lieb.“ Und mit einem kleinen sanften Seufzen lehnte sie sich noch enger an mich, wurde sie wie fließendes Wasser. Niemals hätte ich geglaubt, dass mir jemand so nahe sein konnte. In diesem Moment hätte ich sterben mögen!
45. Teil) (für Ramonika)
Im Urwald
Hand in Hand gingen wir in den Wald rein; ich trug den kleinen Rucksack mit unserem speziellen Spielzeug. Wir gerieten auf den Vogellehrpfad. An einem Schaubild blieb Saskia stehen. „Sieh nur, wie viele verschiedene Eulen es gibt“, rief sie. „Hast du das gewusst?“ „Ja“, sagte ich. „Den Lehrpfad kenne ich schon ewig. Letztes Jahr haben die Vereinsmitglieder ihn neu angelegt. Ich war dabei und habe geholfen.“ „So viele Eulen“, sagte Sassi. Ich begann, laut vorzulesen: „Am meisten verbreitet von allen Eulenarten ist die Schle Ire Ule. Sie kommt fast in ganz Deutschland häufig vor. Wesentlich seltener sind die Wal Dore Ule und ihre nahe Verwandte die Sum Pfore Ule.“ „Was?“ quiekste Saskia. Sie lachte. „Du liest das falsch!“ „Nöö“, sagte ich todernst. „Das steht so da. Schau! Hier im Wald lebt auch der Waldka Uz und sein Verwandter aus den südamerikanischen Anden, der Ste Inka uz! Ein Inka-Vogel!“ Sassi kringelte sich vor Lachen. Ich fand es schön, sie mit solchen Witzchen froh zu machen. Rhabarbera hätte sicher nur blöde Bemerkungen dafür übrig gehabt. Wie gut, dass die weg war! Wie wir weiter in den Wald eindrangen, den weichen federnden Boden unter den bloßen Füßen spürten und durch Licht und Schatten liefen, gelangten wir nach Kettingen.
Christian und Saskia liefen durch den dichten dunklen Urwald von Kettingen. Sie hatten sich verirrt. Ihre Flucht war so überstürzt abgelaufen, dass sie nicht auf ihre Richtung geachtet hatten. Die breiten Hauptwege wurden schmäler und bald gab es nur noch enge Wildwechsel. Die Nacht senkte sich herab auf den Urwald. „Jetzt ist es aus“, wimmerte Saskia voller Furcht. „Nachts kommen schreckliche Kreaturen hervor. Ich habe davon gehört. Sie werden uns fressen.“ „Nicht doch, Sassi“, sagte Christian. „Wir haben noch immer unsere magischen Elfenschellen. Die werden uns schützen.“ Sie suchten sich einen Schlafplatz. Unter einer verkrüppelten Eiche fanden sie im Wurzelwerk eine kleine Höhle. Dorthinein kuschelten sie sich. „Schnell, leg mir die magischen Handschellen an“, bat Saskia. „Ich höre etwas kommen!“ In der Tat brach etwas Großes mit lautem Krachen durch den Wald. Es kam genau auf die beiden verängstigten Kinder zu. Hurtig legte Christian Saskia die magischen Handschellen um die vorgestreckten Hände. Danach ließ er das zweite Paar um Sassis Fußgelenke schnappen. Das Mädchen wurde unsichtbar. Hastig klickte Christian ein weiteres Paar Handschellen um seine eigenen Knöchel. Das Krachen kam schnell näher. Er hörte etwas schnaufen und grunzen. Es musste riesig sein. In seiner Eile kriegte er die übrig gebliebenen Handschellen nicht um die Handgelenke gelegt. „Hilf mir Sassi!“ wisperte er in höchster Not. Saskia packte mit ihren zusammen gefesselten Händen die Handschellen und legte sie Christian an. Sie tat es in allerletzter Sekunde. Kaum war der Junge unsichtbar geworden, erschien die Schnauze eines Gorn vor der Wurzelhöhle. Ein Hakenmann saß auf dem grausigen Reittier. Weitere Hakenmannreiter schälten sich aus der aufkommenden Dunkelheit. „Ssie musssen irggendwoo seiiin“, zischelte einer der Hakenmänner. „Suchcht!“ Mit lautem Getrampel suchten die Hakenmänner die Umgebung ab. „Wirr harben irre Ssspuur verlorrrn!“ meldete jemand von weiter weg. „Aabrr sssie sssinnd inn diesennn Wwallld geflohhhhen“, knurrte der Anführer. „Wirr mussssen ssie finnnnden! Hakylos wwwill diessse Kinnnder habnnnn! Loos weiterrrr!“ Geräuschvoll entfernten sich die Hakenmänner auf ihren Gorns. „Hast du das gehört?“ flüsterte Christian. Er schlotterte vor Angst. „Sie suchen uns beide.“ „Aber warum nur?“ wisperte Saskia und klammerte sich an Christian fest. „Was haben wir ihnen getan?“ „Ich weiß es nicht Sassi. Lass uns schlafen. Morgen gehen wir in einer anderen Richtung weiter.“ „Ich fürchte mich vor diesen schrecklichen Hakenmännern“, jammerte Saskia. „Ich mich auch Sassi.“ Christian hielt Saskias Hände fest. So schliefen sie ein. In der Nacht wachten sie noch einige Male auf, wenn riesige Tiere in ihrer Nähe durch den Wald brachen. Es hieß, dass des Nachts grauenhafte Ungeheuer den Wald von Kettingen unsicher machten. Nur die magischen Elfenschellen beschützten die beiden Kinder. Als morgens die Sonne durch das dichte Blattwerk schien, klickten die Handschellen auf und ließen die zwei Kinder frei. Sie entschieden sich, ihre Marschrichtung zu ändern, weg von der Route der Hakenmänner. Den halben Tag liefen sie auf engen verschlungenen Pfaden durch den dichten Wald. Verfilzte Ranken hingen von oben herab. An manchen Stellen kamen die Kinder fast nicht mehr weiter. „Ich habe Angst, Christian“, jammerte Saskia und klammerte sich an die Hand ihres brüderlichen Freundes. „Wir kommen hier nie wieder raus.“ Christian umarmte das Mädchen tröstend. „Warte nur Sassi. Bald sind wir durch. Der Wald kann nicht ewig groß sein. Er muss ein Ende haben. Sorge dich nicht.“ Der Wald hatte ein Ende, so plötzlich, dass die beiden Kinder völlig überrascht waren. Von einer Sekunde auf die nächste standen sie auf einer großen Lichtung. Viele Soldaten bewachten eine Anzahl in Ketten gelegter Kinder, die gefällte Baumstämme zersägten und Holz spalteten. Eine stete Karawane in Eisen gelegter Kinder lief mit gespaltenem Feuerholz beladen einen Weg entlang, bewacht von Soldaten. „Wer sint die da?“ schrie jemand in feinen Kleidern. Es war Junker van Reep, der Herrscher über die Westmark hinterm großen Urwald. „Ergreift sie!“ Mehrere Soldaten stürzten sich auf Saskia und Christian und schleppten sie zu Junker van Reep. „Hier sind die Grindbälger ehrenwerter durchlauchtester Junker“, sprach der Hauptmann der Soldaten. Junker van Reep grinste: „Wie schön. Noch mehr Arbeitskinter! Tie können wir gut geprauchen. Lekt sie in Eisen und führet sie zum Schlosse. Tort sollen sie Holz hacken und aufstapelen. Latet ihnen tüchtik Holz auf. Sie sollen nicht leer zum Schlosse marschieren.“ Die Soldaten legten Christian und Saskia schwere eiserne Fußangeln an. Sie waren aus dickem rostigem Eisen gemacht und eine schwere dicke Kette verlief zwischen den Füßen und erlaubte ihnen nur kleine Schritte. Allein mit diesen Eisen war schon an keine Flucht mehr zu denken. Trotzdem legte man den Kindern auch noch ähnliche Eisen an die Handgelenke. Die rostigen Bänder schlossen sich mit lautem Quietschen. Der Hauptmann der Soldaten sicherte die Eisenfesseln mit Vorhängeschlössern. Bei Versperren der Schlösser murmelte er jedes Mal eine seltsame Formel. „Glotzt nicht so dumm Kinder!“ dröhnte er. „Von heute an seid ihr Arbeitskinder des Junker van Reep. Den Rest eures erbärmlichen Lebens werdet ihr anständige Arbeit leisten, anstatt als Landstreicher, Bettler und Diebe umher zu ziehen.“ Er lachte dreckig. „Ladet ihnen Holz auf!“ befahl er einem Soldaten. „Jawoll Hauptmann!“ Der Soldat salutierte. Dann schnürte er Saskia und Christian je einen dicken Packen Feuerholz auf den Rücken. Von dem Gewicht brachen die beiden Kinder fast zusammen. Saskia blickte Christian verzweifelt an. Diese schweren Packen sollten sie bis zum Schloss schleppen? „Wenn es weit ist, kippe ich um“, jammerte Saskia leise. „Ich kann das kaum tragen.“ Sie schniefte. „Chris, was sollen wir nur tun. Wir kommen nie wieder frei.“ „Wir müssen erst mal schauen, wie es hier zugeht“, flüsterte Christian ihr zu. „Halte durch, Sassi. Bitte gib nicht auf. Vielleicht finden wir eine Möglichkeit zur Flucht.“ „Wie denn?“ weinte Saskia. „Wir sind in Eisen gelegt!“ „Schneller!“ brüllte ein Soldat, der sie zu Pferd begleitete und gleichzeitig auf rund 20 Kinder aufpasste. „Sonst gebe ich euch die Peitsche zu kosten!“ Er lachte roh. „Und denkt nicht mal im Traum daran, zu fliehen. Dieser Weg durch den Urwald ist mit Hexenmagie geschützt. Verlasst ihr den sicheren Weg, landet ihr mitten im undurchdringlichen Urwald. Dort kommt ihr nicht weit. Es gibt Ungeheuer, die nur auf eine so leckere Beute wie euch warten.“ Er ließ seine Peitsche über den Köpfen der verängstigten Kinder knallen. „Schneller ihr faule Bande! Los! Schneller!“
46. Teil) (für Ramonika)
In Ketten
Der Weg durch den Urwald war weit und die Kinder wurden bald müde von dem schweren Packen Holz, den ein jedes zu schleppen hatte. „Die Ketten sind so schwer!“ klagte Saskia. „Und die Fußeisen reiben meine Knöchel wund. Das tut so weh Christian!“ Christian wusste, was Saskia meinte. Bei jedem Schritt scheuerten die rostigen eisernen Fußangeln an seinen Fußgelenken. Mit der Zeit bildeten sich wunde Stellen. Er schaute Sassis nackte Füße an. An einigen Stellen ihrer zarten Knöchel hatten sich kleine blutige Wunden gebildet. Würde sie den weiten Weg überstehen? Er begann sich Sorgen zu machen. Wann immer er konnte, ging er hinter ihr und versuchte mit den zusammen geketteten Händen ihren Holzpacken ein wenig mit zu tragen. Trotzdem wurde Sassi immer müder. „Ich habe solchen Durst“, wisperte sie. „Ich habe schon lange nichts mehr getrunken.“ Christian wandte sich an den Soldaten, der sie beaufsichtigte. „Könnten wir bitte etwas Wasser haben?“ fragte er. „Halt die Klappe und lauf weiter!“ blaffte der Soldat und schwang die Peitsche. „Saufen könnt ihr im Schloss.“ „Aber meine Freundin kann bald nicht mehr“, sagte Christian. „Dann hat sie Pech“, gab der Soldat kalt zurück. „Wer umkippt, bleibt liegen und nachts kommen die Ungeheuer aus dem Wald.“ Saskia begann lautlos zu weinen. Sie stolperte immer öfter. Dann schlug sie längelang hin. „Aufstehen!“ bellte der Soldat und trieb sein Pferd zu Sassi. Die angeketteten Kinder stoben erschrocken auseinander. „Los steh auf, du Grindbalg!“ Saskia lag weinend am Boden. Sie war so entkräftet, dass sie es kaum schaffte, auf die Knie zu kommen. „Hoch mit dir!“ brüllte der Soldat. „Beim Schloss wartet man auf Feuerholz!“ „Wasser!“ wimmerte Saskia. „Bitte nur einen einzigen Schluck!“ Der Soldat ließ die Peitsche auf die mageren Beine des Mädchens knallen. Mit einem Aufschrei brach Saskia zusammen. „Aufstehen!“ schrie der Soldat und schlug wieder zu. „Hoch mit dir!“ Schreiend versuchte Saskia, der furchtbaren Peitsche auszuweichen. Christian stellte sich schützend vor sie und half ihr aufstehen. Er nahm ihr einige Holzscheite aus ihrem Bündel ab. „Wenn du noch einmal aufs Maul fällst, bleibst du liegen“, schnaubte der Soldat wütend. „Dann finden wir morgen früh deine abgenagten Knochen! Los! Vorwärts!“ Die Kinder schleppten sich weiter. Hier und da weinte eines leise vor sich hin. Alle hatten schreckliche Angst, allein und gefesselt im Wald zurück gelassen zu werden. „Ich kann nicht mehr“, wimmerte Saskia. „Christian! Ich habe solchen Durst. Ich kann nicht mehr!“ Plötzlich surrte ein kleiner Junge mit Flügelchen neben den Kindern her. Es war der kleine Blumenelf, dem sie in der Roten Sandwüste das Leben gerettet hatten. Ein Mädchen mit langen braunen Haaren in einem hübschen lavendelfarbenen Kleidchen und mit weißen Schmetterlingsflügeln begleitete ihn. „Hallo Menschenkinder“, begrüßte der Elf Saskia und Christian. „Das ist meine Schwester Ramonika.“ Saskia blickte den Elf flehend an. Ihre Augen schwammen in Tränen. „Könnt ihr mir ein bisschen Wasser bringen?“ bettelte sie inbrünstig. „Bitte, bitte! Ich komme um vor Durst!“ „Was ist denn mit euch passiert?“ fragte Ramonika voller Mitleid. „Die Soldaten von Junker van Reep haben uns gefangen genommen“, berichtete Christian. „Wir sind nun Arbeitskinder und müssen für den Junker bis zum Umfallen schuften.“ „Wir holen Wasser“, versprach Ramonika und flog mit ihrem Bruder davon. Kurz darauf kamen sie mit großen Blüten zurück, die bis zum Rand mit Wasser gefüllt waren. Sie reichten sie Christian und Saskia. Saskia weinte vor Erleichterung, als sie endlich trinken konnte. Der kleine Blumenelf holte ihr noch mal Wasser. Auch die anderen Kinder bediente er, wobei er darauf achtete, dass ihn der Wachsoldat nicht bemerkte. Der brummte nur was von „aufdringlichen Waldhummeln“. Ramonika untersuchte derweil die schweren Eisenfesseln der Kinder. „Ich bekomme die Schlösser nicht auf“, sagte sie bedauernd. „Sie sind mit Hexenmagie verschlossen. Das braucht einen mächtigen Zauber.“ Sie surrte vor Saskias Gesicht auf und ab. „Aber ich werde euch helfen, Menschenkinder. Versprochen. Ihr habt meinem kleinen Bruder das Leben gerettet. Leben gegen Freiheit. Heute Abend komme ich wieder. In der Dunkelheit ist es leichter, Hexenflüche zu brechen. Ich werde mir beim Oberelf unseres Stammes die rechten magischen Zutaten besorgen.“ „Hoffentlich schaffen wir es bis zum Schloss“, jammerte Saskia. „Ist es noch weit?“ „Leider ja liebe Saskia“, entgegnete die Elfe. „Aber du wirst durchhalten, keine Angst. So schwer es auch fällt, du schaffst es. Ich habe ein bisschen Elfenstaub in dein Wasser getan. Das gibt dir Kraft.“ Sie schaute auf Saskias nackte Füße. „Leider hilft eine so winzige Portion nicht gegen deine wunden Knöchel. Armes Menschenmädchen.“ „Wenn ich nur nicht allein und hilflos gefesselt im Wald zurück bleiben muss“, schniefte Saskia. „Wir müssen wegfliegen“, sagte Ramonika. „Wenn es dunkel wird, kehren wir zurück. Bis bald liebe Menschenkinder.“ „Danke für eure Hilfe“, flüsterte Christian. Voll neu erwachter Hoffnung schauten er und Saskia sich an. „Bitte halte durch, Sassi“, bat Christian. „Beim Schloss können wir uns ein bisschen ausruhen.“ „Ich versuchs, Chris“, sagte Saskia leise. Mit äußerster Anstrengung schleppte sie sich weiter den Waldweg entlang.
47. Teil) (für Ramonika)
Im Schloss des Junker van Reep
Der Weg, der endlos durch den Wald führte, wurde immer schlechter und aufgeweichter. Der Schlamm wurde stetig tiefer. „Ist das hier ein Sumpf?“ fragte Christian die anderen Kinder. „Es kommt noch schlimmer“, antwortete ein blondes Mädchen mit Sommersprossen und hellblauen Augen, die voller Tränen standen. „Wir sind mitten im Krokodil-Sumpf. Passt bloß auf, dass ihr keinen einzigen Schritt vom Weg abkommt! Ihr versinkt sonst oder ihr fallt in einen Moortümpel und dann kommen die Waldkrokodile und fressen auch bei lebendigem Leibe auf.“ Der Boden wurde immer unsicherer. Die schwer bepackten Kinder hatten ihre liebe Not. Wegen der schweren eisernen Fußangeln kamen sie kaum noch vorwärts. Anfangs war der Schlamm knöcheltief, dann wurde er fast knietief. Der Soldat trieb die Kinder fluchend an und machte immer wieder rücksichtslos von der Peitsche Gebrauch. Auf die Schmerzensschreie der Kinder gab er nichts. Er hatte selber Angst, das sah man ihm an. Er wollte möglichst schnell wieder auf festen Boden. „Hört dieser Matsch denn nie auf?“ fragte Saskia. Der Schlamm, der unter ihre eisernen Fußfesseln geriet, verstärkte noch die Reibung an der zarten Haut ihrer Gelenke und das tat sehr weh.
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