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"Dadurch wurde der Schock abgebaut", fügte Kat hinzu. "Aber da ist er immer noch etwas. Gerade was Lehrer angeht, die uns zu nahe kommen. Wir fangen zwar nicht an, vor Angst zu zittern, aber alles in uns springt auf Alarm, und das könnte für den Lehrer böse enden. Es ist keine Absicht, es ist einfach die Nachwirkung von dieser Sache."
"Danke, Kat. Das ist eine wichtige Information für uns. Ich werde eure neuen Lehrer darüber informieren. Sie werden ganz sicher verstehen, warum sie etwas mehr Abstand halten sollen. Tun sie zwar sowieso, aber manchmal vergessen sie es. Geht mir auch so." Er lächelte leicht. "Herr Summers, gehen Sie mit Kim nicht zu hart ins Gericht."
"Warum sollte ich?" fragte er überrascht. "Sie hat sich gewehrt, als sie angegriffen wurde. Meiner Meinung nach war sie noch viel zu nachsichtig. Der erste freie Schlag ist akzeptiert; das hätte ich unter diesen Umständen auch angeboten. Aber ich hätte schon nach dem zweiten Kontra gegeben."

"Ich wollte es eben auch für Doofe ganz deutlich machen", erklärte Kim geduldig. "Und die meisten haben ihn ja davon abhalten wollen, weiterzumachen."
"Für uns ist die Sache erledigt", meinte auch Frau Summers. "Außer, die Eltern dieses Jungen kommen auf die Idee, Kim anzeigen zu wollen."
"Selbst wenn sie es tun, werden sie keinen Erfolg haben. Harry behauptet dies, Kim und etwa zwölf andere das Gegenteil. Es hätte überhaupt keinen Sinn." Er stand auf.
"Dann danke ich Ihnen allen für Ihr Kommen, und euch dreien wünsche ich viel Spaß und vor allem viel Erfolg in der neuen Klasse."
"Wir haben zu danken", erwiderte Kat herzlich. "Es ist sehr selten, daß wir auf so viel Verständnis stoßen."
"Wer sagt, daß ich das verstehe." Er zwinkerte ihr zu. "Dann auf Wiedersehen."
Er verabschiedete sich von den Eltern, während die drei Mädchen schnell ihre Sachen packten. Kurz darauf hatten sie das Schulgebäude verlassen.
Frau Evertz' erster Kommentar im Freien war, mit Blick auf Kim: "Du armes Ding!"
Kim winkte ab. "Halb so wild. Er hatte Kraft, aber nur die Kraft eines Schlägers. Er hat sich nur auf seine Kraft und auf seinen bulligen Körper verlassen. Von Technik war nichts da."
"Trotzdem." Frau Evertz schüttelte den Kopf. "Ich werde nie verstehen, warum Menschen gewalttätig werden."
"Es ist ja kaum etwas passiert", meinte Kim sachlich. "Die paar Kratzer heilen schnell. Aber wo wir Sie gerade hier haben, Frau Evertz: Möchten Sie und Ihr Mann mit Sabrina am Sonntag um vier Uhr zu uns kommen?"

"Das kommt aber plötzlich!" lachte Frau Evertz überrascht. Sabrina dachte sich ihren Teil; auch Kim hatte wieder dieses versteckte Funkeln im Auge. "Aber nur, wenn wir nicht ungelegen kommen."
"Nicht im geringsten", sagte Frau Summers lächelnd. "Es ist uns eine Freude, die Eltern eines so netten Mädchens wie Sabrina kennenzulernen. Welchen Kuchen bevorzugen Sie: Apfel, Käse oder Kirsch?"
"Was immer Sie gerade da haben", wehrte Frau Evertz ab. "Machen Sie sich bitte keine Umstände."
"Es sind keine Umstände. Dann hole ich eben von jedem etwas."
Herr Summers reichte Frau Evertz die Hand. "Dann bis Sonntag, Frau Evertz. Es war schön, Sie getroffen zu haben."
"Ganz meinerseits. Erlauben Sie mir bitte noch eine Frage: stört es Sie wirklich nicht, daß Sabrina so oft bei Ihnen ißt?"
"Natürlich nicht. Sie kann gerne und oft kommen. So oft sie möchte."
"Sie meint, daß Sabrina bei uns essen tut", grinste seine Frau. Er lachte auf.
"Ach so! Nein, auch das nicht. Tut mir leid; bei Wörtern, die identisch klingen, entscheide ich mich immer für die falsche Bedeutung. Sabrina hilft Kim und Kat ja, dafür kann sie auch gerne bei uns essen."
"Da bin ich ja beruhigt. Dann vielen Dank für die Einladung, und bis Sonntag!"
"Vier Uhr." Frau Summers winkte ihr kurz zu, dann gingen sie und ihr Mann schon zum Auto vor.
"Bis heute abend, Mutti", verabschiedete sich auch Sabrina. "Und danke, daß du nicht böse warst."
"Warum sollte ich böse sein, Bienchen? Du bist da einfach hineingezogen worden. So etwas kommt manchmal vor, und immerhin profitierst du ja auch davon, in eine schönere und ruhigere Klasse zu kommen."
"Genau. Bis heute abend dann."
"Ja, und viel Spaß. Lernt schön."
"Machen wir!" Sie winkte ihrer Mutter kurz zu und lief dann hinter Kim und Kat her, die schon langsam vorgegangen waren und nun Frau Evertz ebenfalls zuwinkten. Wenig später saßen die drei Mädchen im Auto von Herrn Summers, einem 7er BMW, der sie in kürzester Zeit zu dem Summers'schen Wohnsitz brachte. Dort wartete schon das Essen im Backofen: Kartoffelauflauf mit einer Sabrina unbekannten, aber äußerst leckeren Soße.

Nach dem Essen machten sich die Eltern gleich auf den Weg zur Kampfsportschule, während die Mädchen sich an die Hausaufgaben und anschließend an das Nacharbeiten setzten, das sie schon um kurz nach vier beendeten, da sie viel eher als gestern angefangen hatten.
"So!" meinte Kat energisch, als sie ihre Bücher schloß. "Kim, wer von uns macht sie schick?"
"Ich." Kim räumte ihren Stapel Bücher auf die Seite, nahm Sabrinas Hand und stand auf. Mit heftig klopfendem Herzen folgte Sabrina ihr in ihr Zimmer, wo Kim sich sofort auszog und dann einige Sachen aus ihrem Kleiderschrank holte. Sabrina schaute ihr sehr nervös dabei zu, wobei ihr Blick meistens auf Kims festem Po ruhte. Wieder erwachte ihr Unterleib und verlangte etwas, wovor Sabrina Angst hatte. Trotzdem verfolgten ihre Augen Kims Umrisse, glitten über die festen Beine zurück zum Po, hinauf zum Rücken und wieder hinunter zum Po, wo sie die senkrechte, dunkle Linie fixierten. Sabrinas Herz schlug schnell und hart bis zum Hals. "Was möchtest du anziehen?" fragte Kim, deren Kopf halb im Schrank steckte. "Schwarz, Weiß, oder gemischt? Ich hab auch ein paar bunte Sachen. Sag einfach, was du möchtest."
"Dich küssen", flüsterte Sabrina und erschrak im gleichen Moment furchtbar über sich. Sie betete, daß Kim es nicht gehört hatte.
Kim richtete sich auf und kam auf Sabrina zu. "Dann küß mich."
"Nein." Sabrina senkte ihr feuerrotes Gesicht. "Ich - Ich weiß nicht, warum ich das gesagt habe. Es tut mir leid."
"Bienchen." Kim nahm sie zärtlich in die Arme. Sabrina warf ihre Arme um Kims nackten Körper und drückte sich kräftig an sie. So kräftig, als hätte sie Angst, Kim loszulassen und etwas Dummes zu tun.
"Hübsches", flüsterte Kim. "Warum hast du soviel Angst?"
Sabrina schüttelte nur stumm den Kopf. Kim strich ihr langsam über das Haar, dann den Nacken, und schließlich über den Rücken. Sabrina zitterte leicht vor Wonne und Angst.
"Soll ich den Anfang machen?" fragte Kim leise. Sabrina schüttelte den Kopf, dann zuckte sie mit den Schultern, und schließlich nickte sie unmerklich.
"Bienchen", flüsterte Kim. "Ich möchte dich küssen. Möchtest du mich auch küssen?"
"Nein." Sabrina zitterte nun, als würde sie an einer Steckdose hängen. Sie klammerte sich an Kim wie ein Bergsteiger kurz vor dem Absturz.
"Wirklich nicht?" fragte Kim leise, deren Hände nun zärtlich über Sabrinas Po strichen. "Ich würde dich sehr gerne küssen, Hübsches. Ich möchte deine Zunge in meinem Mund haben. Ich möchte dich schmecken, Bienchen."
Sabrinas Atmung ging schwer und schnell. Noch immer klammerte sie sich an Kim wie ein
Ertrinkender an den Rettungsring. Kims Hände legten sich auf ihren Po und drückten ihn sanft. "Ich möchte an deiner Zunge lutschen", flüsterte Kim. "Ich möchte mit meiner Zunge über deine Zähne gleiten und sie spüren. Ich möchte deine hübschen kleinen Zähne lecken. Dann möchte ich meine Zunge in deinen Mund stoßen und dich auslecken."
"Ich kann das nicht!" schluchzte Sabrina. "Ich will es, aber ich kann das nicht! Das gehört sich nicht!"
"Ist doch schon gut, Hübsches." Kim drückte sie zärtlich an sich. "Laß dir Zeit, Bienchen. Ich bin schon glücklich, wenn du bei mir bist."
"Ich auch." Leise weinend klammerte sie sich an Kim. "Ich hab dich sehr gern, Kim. Sehr, sehr, sehr, sehr, sehr."
"Ich habe mich auch in dich verliebt." Kim rieb ihre Wange an Sabrinas Hinterkopf entlang. "Laß dir Zeit, Bienchen. Laß dir die Zeit, die du brauchst. Ich habe dich so lieb, wie du bist."
"Ich dich auch." Sabrina schluchzte auf, als sich Gefühle und Worte ihren Weg freikämpften. "Ich liebe dich auch, Kim."
"Ich dich auch, Sabrina." Sie drückte das weinende Mädchen an sich und streichelte es. "Ich liebe dich auch, Hübsches. Ich weiß nicht, warum, aber ich liebe dich. Schon als ich dich gestern zum ersten Mal gesehen habe. Wein dich aus, Hübsches. Laß alles raus, was dich belastet." Kat kam leise in das Zimmer, so nackt wie Kim, in den Händen ihre Wäsche. Sie schaute fragend auf Kim, die leicht den Kopf schüttelte. Kat nickte bedrückt, legte die Wäsche auf Kims Bett und stellte sich zu den beiden. Sie umarmte Kim und die leise weinende Sabrina gleichzeitig.
"Wir mögen dich, Bienchen", sagte Kat leise. "Hab keine Scheu, offen zu reden. Wir werden dich nicht auslachen, und wir werden uns auch nicht aufregen. Wenn du eine von uns lieber hast, ist das auch nicht schlimm. Deswegen kannst du mit der anderen doch trotzdem befreundet sein."
"Ach, Kat!" schluchzte Sabrina. "Du bist so unwahrscheinlich lieb zu mir, aber -" Sie brach ab und weinte bitterlich.
"Du hast Kim viel lieber als mich", sagte Kat zärtlich, während sie Sabrinas Haar streichelte. "Du reagierst auf sie viel stärker. Na und? Müssen wir zwei deswegen gleich zu Feinden werden?" Sabrina schüttelte verzweifelt den Kopf. "Das kommt mir aber so unfair vor!"
"Unsinn." Kat gab ihr einen leichten Kuß auf den Kopf. "Dein Gefühl spricht nun einmal so und nicht anders. Fertig. Du mußt dich weder dafür entschuldigen noch deswegen traurig sein. Du gehst gleich schön mit Kim einkaufen, und dann kommt ihr zu meiner Blue Hour. Und jetzt reden wir einfach nicht mehr darüber. Kim, gehst du sie waschen?"
"Mit dem größten Vergnügen." Kim führte Sabrina ins Bad am Ende des Flures. Sabrina hielt den Kopf gesenkt. Sie sah unter ihren Haaren hervor, als Kim das Wasser anstellte und einen Waschlappen naß machte.
"Komm her", sagte sie zärtlich. "Einmal Näschen putzen."
Sabrina lachte unter Tränen. "Du kannst mich doch nicht waschen!"

"Wetten?" Sie hob Sabrinas Kopf am Kinn hoch. Als Sabrina ihr in die Augen sah, erschrak sie heftig. Kim ließ deutlich erkennen, was sie für Sabrina empfand.
"So viel?" flüsterte sie erstaunt. Kim nickte mit einem stillen Lächeln.
"Ja, Hübsches. So viel. Komm her." Sie strich Sabrina die Haare aus dem Gesicht und wusch liebevoll ihr Gesicht. Sabrina schloß die Augen und genoß die sanften Berührungen und die angenehm kühle Nässe des Waschlappens.
"Genau", wisperte Kim. "Laß dich verwöhnen, Hübsches. Zuerst machen wir deine Augen sauber." Sie fuhr mit dem Waschlappen über Sabrinas Lider.
"Dann die hübschen roten Bäckchen." Die Wangen waren an der Reihe. Sabrina mußte lächeln.
"Und zum Schluß der süße kleine Schmollmund." Sie zog Sabrinas Lippen mit den Fingern
auseinander. "Wie bei einem Pferd, nur daß deine Zähne viel niedlicher sind. Und fertig!" Sie tupfte mit dem nassen Waschlappen auf Sabrinas Nasenspitze.
"Du bist lieb." Sabrina öffnete die Augen und schaute Kim verliebt an. "Bist du mir nicht böse?" "Warum?" Kim legte den Waschlappen zurück und nahm ein Handtuch, mit dem sie Sabrina vorsichtig abtrocknete. "Bienchen, für dich ist es ungewohnt, deine Gefühle auszudrücken. Genau aus dem Grund liebe ich Hardrock. Der holt jedes kleine Gefühl aus mir heraus, ob ich es will oder nicht. Und wenn ich das Gefühl erst mal erkenne, muß ich es nur noch akzeptieren. Das ist auch etwas, was dir schwerfällt. Aber das ist doch alles nicht deine Schuld, Bienchen. Ich denke, daß deine Mutter daran schuld ist. Sie macht nicht den Eindruck, als würde sie viel Wert auf Gefühle legen. Aber egal. Zusammen schaffen wir das schon." Sabrina spürte einen sanften Kuß auf ihrem Mund. Erschrocken zuckte sie zurück, dann lächelte sie verlegen.
"Hab mich erschreckt", entschuldigte sie sich.
"Schon gut." Kim schaute sie wieder ganz kühl an. "Wenn du jetzt endlich so weit bist, daß wir uns umziehen können..."
"Jetzt laß bloß nicht die Unnahbare raushängen, klar?" erwiderte Sabrina so kalt wie sie nur konnte. "Das imponiert mir nicht mehr."
"Wer sagt, daß ich dir imponieren will? So wichtig bist du nun auch wieder nicht."
"Mit der Meinung stehst du aber ziemlich alleine da."
Kim zuckte gleichgültig mit den Schultern. "Das ist das Los der Weisen."

"Der Weisen?" Sabrina machte dieses Spiel wahnsinnig viel Spaß, nun da sie die Regeln kannte. "Der Verrückten wohl eher."
"Wie kann eine Verrückte beurteilen, ob jemand anders verrückt ist?" erwiderte Kim eiskalt.
"Wie kann eine Verrückte beurteilen, ob sie weise ist?"
"Ha!" Kim klatschte begeistert in die Hände. "Super, Bienchen! Den kannte ich noch nicht. Spitze! Da ist selbst Kat nicht drauf gekommen." Sie drückte Sabrina stürmisch, die sich glücklich an sie schmiegte.
"Hast du mich schon am zweiten Tag matt gesetzt. Erste Sahne, Hübsches."
"Danke." Geschmeichelt sah Sabrina in Kims helle Augen. "Wußtest du wirklich nicht weiter?"
"Nicht auf Anhieb. Jetzt ja, aber nicht in dem Moment, wo du es gesagt hast. Du hast dir eine
Belohnung verdient." Ihre Lippen senkten sich auf die von Sabrina und küßten sie kurz, aber zärtlich. Sabrina schmolz in der liebevollen Sanftheit von Kim, die so ganz im Gegensatz zu ihrer sonstigen Art stand.
"Jetzt los", flüsterte Kim. "Ziehen wir dir was Aufregendes an. Möchtest du den Rock anziehen, den ich gestern anhatte? Den kurzen?"
"Au ja!" Sabrina schaute sie aufgeregt an. "Mit den langen Strümpfen?"
"Und einem Hemd von Kat. Dann siehst du umwerfend aus." "Cool!" Ein paar Minuten später musterte sich Sabrina überwältigt im Spiegel. Der kurze weiße Rock betonte ihre schlanken Beine, wie auch die engen, schenkelhohen Strümpfe. Kats schwarzes Hemd passte besser zu Sabrinas dunkelblondem Haar als das weiße von Kim.
"Ihr steht schwarz besser als weiß", meinte Kim, die Sabrina mit Kat zusammen anschaute.
"Weil ihre Haare auch dunkel sind", stimmte Kat zu. "Aber die Kombination sieht toll aus. Oben schwarz, unten weiß. Morgen probieren wir das mal andersrum. Einfarbig sollte sie nicht sein, das würde ihr nicht stehen."
"Sehe ich genauso. Zu ihr würde aber noch eine dritte Farbe passen. Ein kräftiges Gelb oder Blau oder Grün. Irgend etwas. Das würde noch mehr auflockern."
"Stimmt. Rot würde nicht passen, die Farbe steht ihr nicht. Eher Blau. Gelb nur dann, wenn sie sicherer ist. Im Moment nur Blau."
"Genau." Kim nickte zufrieden. "Blaue Krawatte. Ein tiefes, sattes Königsblau."
"Aber nur zum weißen Hemd. Zum schwarzen eine grüne. Kauf ihr doch gleich zwei."
"Schon notiert. Bienchen, würden deine Eltern ein paar hundert Mark locker machen, um dich
auszustatten?"
"Puh!" Sabrina stieß den Atem aus. "Keine Ahnung. Papa hat ja gerade erst den neuen Job
angenommen... Wieviel sind ein paar hundert?"
"Sagen wir vierhundert", schlug Kat vor. "Dafür kriegen wir schon jede Menge toller Sachen. Nicht topaktuell, aber das sind unsere ja auch nicht. Versuch's einfach mal, Bienchen. Wenn nicht, ist auch nicht schlimm."
"Zeit wär's schon", überlegte Sabrina. "Meine letzten Sachen sind schon ein halbes Jahr her, und jetzt kommen Herbst und Winter... Ich frag heute abend mal."
"Aber vorher sollten wir Sabrina fragen, ob sie das überhaupt will." Kim sah ihre Schwester an. "Wir entscheiden hier einfach, daß sie sich neue Sachen kaufen soll, und wissen nicht einmal, ob sie es will."
"Kim! Welches Mädchen will keine neuen Sachen?"
"Schon richtig, aber wir diktieren ihr die Farben."
"Hallo!" Sabrina winkte den beiden lachend zu. "Darf ich auch mal was sagen?"
"Wo es um deine Kleidung geht?" grinste Kat. "Nein!"
"Vorsicht!" warnte Kim. "Sie hat mich vorhin kaltgestellt. Sie wird langsam fit. Sabrina, würde dir schwarz und weiß überhaupt gefallen?"
"Ja." Sabrina nickte scheu. "Im Moment trage ich viel Grau und Braun. Eben so, wie ich mich fühle. Aber das hier..." Sie sah an sich herunter. "Das sieht einfach geil aus!"
"Du siehst auch zum Verlieben darin aus", lächelte Kim zärtlich. "Wenn du gleich neben mir durch die Stadt gehst, sieht mich keiner mehr an."
"Kim!" Sabrina wurde feuerrot. "Du wirkst doch so viel sicherer als ich."
"Das kommt noch", erwiderte Kim trocken. "Alles nach und nach. Kat bearbeitet dich von innen, ich von außen. Du wirst noch ein paarmal so heulen wie vorhin, aber dann haben wir dich fit. Dann bist du auch sicher. Bereit für die Stadt?"
"Ja!" Sabrinas Augen leuchteten. "Kann ich mir die weiße Jacke von dir leihen?"
"Sicher." Kim schaute sie verliebt an. "Wir nehmen aber eine frische, nicht die mit dem Blut drauf. Dann bist du wirklich ein Hübsches."
Da Sabrina nun auch ihre Buskarte hatte, fuhren die drei mit dem Bus in die Stadt. Dadurch kam Kat zwar fünf Minuten zu spät zu ihrer Arbeit, aber da diese Arbeit erstens freiwillig war und zweitens nicht bezahlt wurde, störte das keinen.
Die Mädchen trennten sich vor dem Treff. Kat lief hinein, Kim und Sabrina gingen weiter in Richtung City, die sie nach wenigen hundert Metern erreichten. Sabrina kannte sich etwas aus, aber bei weitem nicht so gut wie Kim, die Sabrina durch alle möglichen Passagen und Seitenstraßen lotste, bis sie vor einem von außen sehr klein aussehenden CD-Shop standen.
"Hier?" fragte Sabrina wenig begeistert.
"Hier. Drei Meter breit, fünfundzwanzig Meter lang. Kein Scherz." Sie lächelte, als Sabrina die Augen zusammenkniff und durch das Schaufenster starrte.
"Laß uns reingehen, dann siehst du es besser. Es wird dich übrigens niemand beißen." Sie lächelte schelmisch. "Außer mir vielleicht. Ich liebe dich, Bienchen."
Sabrina lächelte verlegen und sah zur Seite.
"Gehen wir rein." Kim nahm ihre Hand und führte sie in das Geschäft, das ein langer, enger Schlauch war. In der Mitte war der Gang, an der rechten und linken Seite standen die ganzen CDs, nur unterbrochen von der Theke, die sich direkt am Eingang befand. Hinten im Laden sortierte jemand einige Hüllen um, wahrscheinlich der Inhaber. Sabrina vermutete auf den ersten Blick Hunderte von CDs, doch ein rascher Überschlag nach dem Zählen der ersten zwei Reihen ließ ihre Schätzung auf knapp zehntausend ansteigen.
"Fünfzehntausend", lächelte Kim, die Sabrina genau beobachtet hatte. "Soviel hat er mindestens vorrätig. Meistens sogar um die achtzehn. Von topaktuell bis uralt. Sagen wir ihm Hallo."
"Wem?" fragte Sabrina nervös. Kim sah sie strafend an.
"Das üben wir gleich noch mal."
Sabrina holte tief Luft und sammelte Kraft. Sie spürte die Sicherheit in sich wachsen, zu ihrem eigenen Erstaunen. Dann war sie soweit.

"Wem gehört das hier?" fragte sie gelassen. Kims Augen schauten sie bewundernd an.
"Einem Wolfgang. Cooler Typ. Besorgt dir jede CD, die du haben willst. Sagen wir ihm Hallo?"
"Klar." Sabrina machte einen Schritt nach vorne, merkte dann, daß sie vorgehen wollte, erschrak über ihren eigenen Mut, vermißte im gleichen Moment ihre Unsicherheit und war nun vollkommen durcheinander. Dieses Gefühl stand jedoch im direkten Gegensatz zu ihrer neuen Sicherheit, die Sabrina um nichts in der Welt wieder hergeben wollte, und wurde somit aus ihrer Gefühlswelt geworfen. Zurück blieb ein Ansturm von Übermut und Stolz, der sie mutig durch den Laden bis zum Inhaber trug, der sie fragend ansah. Er war um die vierzig Jahre alt und etwas übergewichtig, und er hatte ein offenes und freundliches Gesicht.
"Hallo!" grüßte er fröhlich. "Was kann ich für Sie tun?"
Sabrinas Herz begann zu rasen. Diese Begrüßung unterschied sich um Welten von denen, die sie gewohnt war und sich meistens auf ein knappes "Ja?" beschränkten.
"Für mich eigentlich nichts", ritt sie weiter auf der Welle des Mutes. "Meine Freundin sucht einen Haufen CDs für unseren Jugendtreff."
"Verstehe." Sein Blick glitt schnell über Sabrina, die Bewunderung in seinen Augen las. "Das
Mädchen da hinten?"
"Genau." Sabrina lachte ihn an, obwohl ihr Herz bis zum Hals klopfte. "Kim?"
"Komme!" Kim kam angelaufen. "Hey, Wolfgang."
"Kim! Hallo! Ich habe dich gar nicht erkannt."
"War Absicht. Was denkst du von Sabrina? Ganz ehrlich!"
"Ganz ehrlich?" Er sah sich schnell im Laden um. "Atemberaubend und eine Sünde wert."
Sabrina errötete heftig, und Kim lachte leise.
"Das kriegen wir auch noch weg. Wolf, ich suche jede Menge CDs." Sie schob ihm eine Liste zu, die Wolf schnell überflog, während Sabrina in ihrem neuen Glanz badete. Kim lächelte sie zärtlich an, während sie zurück zur Theke schlenderten. Wolf folgte ihnen, den Blick auf Kims Zettel gerichtet.
"Das steckt alles in dir", sagte Kim leise. "Du mußt es nur entdecken, Sabrina."
"Kim?" Wolfs Stimme unterbrach sie. "Das sind doch nur Gruppen. Welche CDs von denen suchst du?"
Kim grinste breit. "Alle."
"Alle." Wolf sah sie ausdruckslos an. "Du möchtest alle CDs von den Gruppen auf deinem Zettel kaufen."
"Antesten, Wolf. Ich hatte gestern ein längeres Gespräch mit einem Typen im Treff, der meinte, dass auch in den Jahren 1970 bis jetzt guter Hardrock gemacht wurde."
"Da hat er auch nicht ganz unrecht", grinste Wolf breit. "Also suchst du neues Material."
"Gut, der Mann!" lachte Kim. "Ganz genau. Was hast du von denen da?"
"Jede Menge. Lauf nicht weg!"
"Auf keinen Fall." Kim schwang sich mit einem Satz auf die Theke. "Komm hoch, Bienchen."
"Ich hab doch einen Rock an!" widersprach Sabrina verlegen.
"Ich weiß. Aber du hast auch wunderschön schlanke Beine. Probier es mal aus. Gibt ein tolles Gefühl im Bauch."
"Meinst du?" Sabrina sah sich unsicher um. Wolfgang kramte jede Menge Hüllen zusammen und war weit weg. Sabrina holte tief Luft und sprang hoch. Gleichzeitig drehte sie sich und landete neben Kim.
"Na also", lächelte diese. "Jetzt lausch mal in dich."
Als erstes spürte Sabrina Scham, weil sie in einem kurzen Rock auf einer hohen Theke saß. Doch unter der Scham war ein aufregendes, lustvolles Gefühl, sich so zu präsentieren.
Das Schamgefühl gewann. Sabrina sprang wieder auf den Boden. Kim lächelte verstehend.
"Ist am Anfang nicht leicht."
"Ist nicht nur das." Sabrina zuckte mit den Schultern. "Wenn ich angegriffen werde, kann ich mich nicht wehren. Da bleib ich lieber stehen."
"Stimmt." Kim verzog ärgerlich das Gesicht. "Da hätte ich dran denken müssen." Mit einem Satz war sie von der Theke herunter und stand neben Sabrina.
"Das wollte ich dich sowieso noch fragen. Dich oder Kat oder deine Mutter. Könnte ich das auch lernen, dieses Kung Fu?"

"Sicher. Du brauchst etwa ein Jahr, bis du dich gegen Typen wie Harry oder Jasmin wehren kannst. Nicht so hart und präzise wie ich heute morgen, aber schon sehr wirkungsvoll. Allerdings mußt du dazu die Einwilligung deiner Eltern haben, Bienchen. Zu dem Kurs gehört eine Versicherung, und das müssen sie alles unterschreiben. Darüber können wir ja am Sonntag mit ihnen reden."
"Das erlauben die nie!" seufzte Sabrina.
"Bienchen. Wo ist dein Selbstvertrauen?"
Sabrina lächelte schief. "In Bierden vergessen."
"Nein. Das wird gerade in Bremen aufgebaut. Wo ist dein Selbstvertrauen?"
Sabrina schaute Kim liebevoll an. "Das baue ich gerade auf."
"Genau. Ich hab dich lieb."
"Ich dich auch, Kim." Sabrina mußte tief einatmen, als eine Welle von Erregung durch ihren Bauch fuhr.
"Geht mir auch so", meinte Kim leise. "Hast du eigentlich was dagegen, wenn Kat und ich dich Bienchen nennen?"
"Nein." Sabrina lächelte herzlich. "Bei euch klingt das richtig schön. Habt ihr auch Kosenamen?"
"Ja. Kitty und Kimmy. Kat ist das englische Wort für Katze, nur eben mit C statt mit K am Anfang, aber das hört man beim Sprechen nicht. Kitty ist das Wort für ein kleines Kätzchen. Kimmy ist einfach nur die Koseform von Kim."
"Kimmy", lächelte Sabrina still. "Wunderschön!"
"Bienchen auch. Ach, die erste Ladung kommt."
Schwerbeladen kam Wolf zurück, stellte einen Stapel von etwa vierzig, fünfzig CD-Hüllen auf die Theke und sah Kim strafend an.
"Wehe, du kaufst nichts!"
"Was dann?" grinste Kim. "Verhaust du mich dann?"
"Nein, das hat wohl schon ein anderer erledigt. Training oder echt?"
"Leider echt."
"Und der Angreifer?"
"Bleibt über Nacht im Krankenhaus. Gebrochene Nase und leichte Gehirnerschütterung."
"Nur eine leichte? Du wirst mir doch nicht alt?"
"Wolf!" Kim lachte fröhlich. "Das war ein 14jähriger Spinner, der glaubte, seine Fäuste beherrschen die Welt. Jetzt kennt er zumindest eine andere Meinung."
"Aha." Wolf lächelte mitfühlend. "Gab's Ärger?"
"Vorher oder nachher?"
"Nachher. Daß es vorher Ärger gab, sehe ich an deinem Gesicht."
"Nein, eigentlich nicht. Er hatte zwei Freischläge, und nach dem dritten wurde ich böse."
"Na schön, gehen wir an die Arbeit. Darf ich was empfehlen?"
"Klar! Du kennst ja meinen Geschmack."
"Eben drum. Fang mit der hier an, die ist relativ neu." Er schob Kim die CD "Reload" von Metallica zu. "Das vierte Stück dürfte genau deine Richtung sein. Die anderen auch, aber das vierte ganz besonders."
"Cool! Hast du zwei Kopfhörer?"
"Sekunde." Er bückte sich und hantierte ein paar Sekunden, dann kam er wieder hoch. "Sechs und Sieben."
"Geil. Danke!" Sie schnappte sich einen Kopfhörer, drehte ihn richtig und setzte ihn Sabrina auf, dann stülpte sie sich den zweiten über. Wolf schob ihr eine Fernbedienung mit Kabel zu. Kim drückte auf die "4". Sekunden später hörten die beiden Mädchen einen anschwellenden Ton, bei dem sich Kims Augen erwartungsvoll weiteten, dann legte Metallica mit "The Unforgiven II" los.

"Wow!" quietschte Kim begeistert, als sie die schweren Rhythmen hörte. Bei den ruhigeren Strophen fieberte sie vor Ungeduld, und als dann der wieder schnelle und harte Refrain einsetzte, schüttelte sie begeistert den Kopf.
"Gekauft! Nächste!"
Das nächste war "Number of the beast" von Iron Maiden. Kim hörte sich etwa zehn Sekunden von jedem Stück der CD an, was Sabrina noch nervöser machte als ein komplettes Lied, dann war sie auch "gekauft." Das gleiche geschah mit den ersten beiden CDs von Cinderella, nämlich "Night Songs" und "Long Cold Winter". Bei AC/DC flippte Kim fast völlig aus. Die Stücke "Let there be rock!" und "Thunderstruck" verursachten ihr eine massive Gänsehaut, ebenso wie "Don't cry" von Guns 'n Roses, obwohl das eher ein Blues war.
"Ist das geil!" jubelte Kim, als ihr Einkauf auf etwa zwanzig CDs angewachsen war. "Das ist ja absolut geile Musik, Kerl! Warum hast du mir das nie verraten?"
"Weil du nie gefragt hast. Du hast dich so festgelegt, daß ich mich gehütet habe, dir etwas zu
empfehlen. Hör in die hier mal rein."
"Black Sabbath? Kenn ich nicht."
Wolf grinste. "Die anderen kanntest du auch nicht."
"Stimmt!" Kim lachte fröhlich. "Hau rein, das Ding!"
"Kim!" warnte Sabrina verzweifelt. "Das sind doch schon über sechshundert Mark!"
"Ich weiß." Kim zwinkerte ihr zu. "Alles noch im grünen Bereich."
Auch Black Sabbath erlitt das gleiche Schicksal wie die anderen: gekauft. Ebenso "Don't fear the reaper" von Blue Öyster Cult, deren kühle Rockmusik Kim sehr entgegen kam, und die ersten zwei CDs von Uriah Heep. Weiter ging es mit Golden Earring "Eight Miles High", und als Wolf mit Billy Idol langsam in Richtung Punk schwenkte, winkte Kim ab.
"Reicht! Das machen wir ein anderes Mal. Wie stehen wir jetzt?"
"Moment." Wolf schnappte sich einen Taschenrechner und tippte jeden Preis an, dann las er das Ergebnis ab. "1.137,65. Sagen wir Elfhundert?" Sabrina wurde blaß.
Kim schüttelte den Kopf. "Nein, mein Limit ist Tausend. Leider. Mehr hat mein Vater mir nicht
gegeben. Das soll ja eine Spende für den Jugendtreff sein." Sie begann, einige CDs auszusortieren.
"Schon klar. Pack sie ein, Kind."
"Danke!" Kim strahlte ihn glücklich an. "Dafür werde ich dich weiter empfehlen."
"Tust du doch sowieso schon." Wolf zog zwei stabile Plastiktüten unter der Theke hervor und begann, die CDs einzupacken.
"Ja, aber seit gestern sind wir auf einer neuen Schule, und ab morgen in einer neuen Klasse."
"Aha. Hat dieser Klassenwechsel was mit deinem Gesicht zu tun?"
"Indirekt. Sabrina und wir sind wegen Umzug in eine total bescheuerte Klasse gekommen, und durch die Prügelei heute morgen hat sich das geklärt."
"Das mußt du mir irgendwann mal genauer erklären", schmunzelte Wolf. "Du brauchst bestimmt eine Quittung, oder?"
"Genau. Danke noch mal für den Rabatt, das ist echt lieb von dir."
"Schon gut, Kim. Du und Kat macht ja beide gute Werbung für mich. So!" Er stellte die beiden
schweren Tüten auf die Theke und schrieb dann die Quittung aus. Sabrina wurde fast grün vor Neid, als sie sah, wie locker Kim sich von den zehn großen blauen Scheinen trennte.
"Kurz nach sechs", meinte Kim nach einem Blick auf die Uhr. "Immer noch viel zu früh."
"Macht Kat immer noch ihre Blue Hour?"
"Was sonst!" seufzte Kim.
"Ja, ja!" seufzte auch Wolf, nur etwas spöttischer. "Blues ist ja so langweilig!"
"Eigentlich nicht, aber mich zieht das runter."
"Der Geschmack dafür kommt noch", meinte Wolf ohne jegliche Arroganz. "Es ist wie mit der Klassik. Viele mögen Beethoven, Mozart, Rachmaninov, Haydn oder Stravinsky, aber den richtigen Frieden findet man eigentlich nur bei Bach. Ähnlich ist es mit der modernen Musik. Ob Techno, Rap, Hiphop oder Hardrock, am Ende landen alle beim Blues."
"Jetzt sag noch, daß auch das Leben ein Blues ist, dann schreie ich."
"Kim", sagte Wolf tiefsinnig. "Das Leben ist der Blues."
"AAAHHH!" kreischte Kim lachend. "Raus hier, Sabrina. Danke noch mal, Wolf. Bis demnächst!"
"Mach's gut. Du auch, Sabrina."
"Ja, danke. Tschüs!"
Sie drängten sich lachend an den übrigen Kunden vorbei und stürmten hinaus.
"Tausend Mark!" Sabrina schüttelte fassungslos den Kopf, als das Lachen nachgelassen hatte. "Einfach so für CDs."
"Langsam!" Kim sah sie vorwurfsvoll an. "Bienchen, das sind nicht meine CDs. Die gehören dem Treff. Ich höre sie mir mit Kat übers Wochenende an, um uns damit vertraut zu machen, und am Montag sind sie weg. Für mich würde Vater niemals so viel Geld freigeben. Nicht für CDs. Hundert Mark mal aus der Reihe, das ja. Aber nicht tausend. Nicht für meine CDs. Die kaufen Kat und ich ganz brav vom Taschengeld, wenn die für uns sind. Ich gebe die hier am Montag Tom, er gibt mir dafür eine Spendenquittung, und die bekommt Vater. Das heißt, er muß für die tausend Mark keine Steuern zahlen. Das ist schon alles."
"Ach so." Sabrina senkte beschämt den Kopf. "Tut mir leid, Kimmy."
"Entschuldige dich nicht so oft, Hübsches." Kim drückte ihr eine Tüte in die Hand und legte dann ihren freien Arm um Sabrinas Taille. "So machen das viele Leute. Ich weiß das auch nur, weil Vater uns das viermal in Ruhe erklärt hat. Wie hat dir die Musik gefallen?"
"Ehrlich? Das meiste war zu schrill und zu laut. Aber einiges hat mir ganz gut gefallen."
"Gleich bekommst du Kats Musik mit. Die wird dir wahrscheinlich mehr zusagen." Kim lächelte zärtlich. "Du bist mehr der Typ für Blues."
"Was ist das eigentlich alles?" wagte Sabrina zu fragen. "Blues, Hardrock..."
"Nur Bezeichnungen für Musikstile. In den Fünfzigern kam der Rock 'n Roll auf, mit Bill Hailey. Es hat was gedauert, bis er sich durchgesetzt hat, aber dann war er fest im Geschäft. Aus seiner Musik hat sich dann so Zeug wie die Rolling Stones entwickelt, die ja schon härtere Musik gemacht haben, aber eben auch der Hardrock. Bei dem zählte anfangs mehr der Protest, wie neue Musik ja immer ein Protest ist. Aber der Hardrock ging gezielt auf Schock. Auf ganz extremes Gefühl. Der rüttelte die Menschen hellwach. Entweder man liebt ihn oder man haßt ihn. Ein Mittelding gibt's da nicht. Die heutige Scheiße kannst du im Hintergrund laufen lassen, aber nicht den Hardrock. Entweder drehst du dabei durch, oder du hörst zu. Beim Blues ist es ähnlich, da haben Wolf und Kat schon recht. Der Blues geht ebenfalls sehr auf die Seele, ist aber mehr der Ausdruck von Trauer und Depression, während der Hardrock mehr Aufruhr und Rebellion repräsentiert. Sprech Kat mal auf den Blues an, wenn wir wieder zu Hause sind, sie kann da viel mehr drüber erzählen."
"Also spielst du nicht nur die Wilde?" fragte Sabrina erstaunt. Kim schüttelte den Kopf.
"Nein, Sabrina. Ich bin so. Ich bin verschlossener als Kat, aber viel aufbrausender. Bei mir muß Gefühl sofort raus. Sie kann sich mehr zusammennehmen als ich. Ich bin wirklich wild und hart." Sie drückte Sabrina leicht an sich. "Aber nicht zu dir, Hübsches."
"Ich weiß." Sabrina lächelte schüchtern. "Weißt du, daß das mit euch wie eine völlig neue Welt ist?"

Kim grinste. "Das ist doch wohl klar. Wir sind schließlich Außerirdische."
Sie bogen lachend um die Ecke und betraten die Straße, die zum Jugendtreff führte, als Kim plötzlich erstarrte.
"O Scheiße!" sagte sie besorgt. "Da ist was passiert."
"Was?" Sabrina folgte ihrem Blick. Direkt vor dem Jugendtreff stand ein Haufen Polizeiwagen, alle mit Blaulicht, und drei Krankenwagen, von denen zwei gerade mit Martinshorn und Blaulicht abfuhren. Sofort rannten die Mädchen los und kamen atemlos vor dem Treff zum Stehen. Ein Beamter der Schutzpolizei hielt sie auf.
"Kein Zutritt", sagte er abweisend.
"Meine Schwester ist da drin", sagte Kim beherrscht. "Ich will da rein!"
"Ja, und meine Oma ist auch da drin. Verschwindet."
Kim platzte. Sie stieß dem Beamten das rechte Knie so hart in den Bauch, daß er wortlos zusammenklappte, schubste ihn zur Seite, nahm die erblaßte Sabrina an die Hand und stürmte in den Treff. Sie entdeckte ihre Schwester sofort.
"Kat!" Entsetzt lief sie auf ihre Schwester zu, deren linker Oberarm von einem blutigen, provisorischen Verband verziert war.
"Kim!" Kat schluchzte auf und warf sich ihrer Schwester an den Hals, dann weinte sie bitterlich. "Kim! Kim!"
"Ist ja gut, Kitty", tröstete Kim sie. "Ich bin ja jetzt bei dir."
"Wer seid ihr?" fuhr eine harte Stimme dazwischen. "Wie seid ihr hier rein gekommen?"
Kims Kopf fuhr herum. Sie entdeckte einen kräftig gebauten Mann Ende Dreißig, der ebenso kalte Augen wie Kim hatte.
"Wer bist du Komiker denn?" gab Kim kalt zurück.
"Degenhart, Kriminalpolizei Bremen, Morddezernat."

"Tut mir leid", entschuldigte sich Kim sofort. "Was ist hier passiert? Warum ist meine Schwester verletzt?"
Sabrina stand völlig verloren da, die Tüten mit den CDs in der Hand, und fühlte sich wie benebelt. Überall liefen Menschen ohne Ziel herum, wie aufgeschreckte Hühner. Aus dem hinteren Zimmer erklang lautes Weinen, gelegentlich erhellte ein Blitzlicht den Raum. Der Beamte entschied, erst einmal Kims Neugier zu befriedigen.
"Ein Verrückter ist hier eingedrungen, hat zwei Menschen erschossen und drei weitere angeschossen, darunter auch deine Schwester, die jedoch nur leicht verletzt ist. Und ganz offenbar hat sie ihn, was ich allerdings noch gar nicht glaube, entwaffnet und bewußtlos geschlagen, obwohl sie schon angeschossen war."
"Wenn Kat sagt, daß es so war, war es auch so." Kim atmete tief durch, um sich zu beruhigen. "Wie geht es dir, Kat?"
"Geht so." Kat zog die Nase hoch. "Du bist eine Schwester! Immer wenn man dich braucht, bist du auf Achse. Ach, Scheiße!" Sie ließ ihren Kopf an Kims Schulter fallen und weinte wieder. "Ist doch gut, Kitty", tröstete Kim sie. "Hast du prima gemacht. Weiß Vater -"
"Ja." Sie zog wieder die Nase hoch. "Er ist unterwegs. Sein Anwalt auch. Für alle Fälle."
"Das ist schon mal sehr gut." Sie sah zu dem Beamten. "Ich bin Kimberley Summers, Kathryns Schwester. Das ist Sabrina Evertz, die mit mir unterwegs war. Wir haben neue CDs für den Treff gekauft."
"Aha. Und wie seid ihr hier rein gekommen?"
Kim blieb ganz cool. "Da war jemand draußen, der uns nicht reinlassen wollte, also sind wir einfach an dem vorbei. Dem geht's im Moment allerdings nicht mehr so gut."
"Das ist ein dummer Scherz", erwiderte Degenhart ausdruckslos.
"Nein, nicht direkt. Ich glaube, ich warte auch besser auf unseren Anwalt."
Degenhart drehte sich wortlos um und ging hinaus. Nach einigen Augenblicken kam er wieder zurück und sah die beiden Schwestern regungslos an. Sabrina wünschte sich sehr weit weg von hier.
"Na gut", meinte Degenhart nach einer längeren Pause. "Lassen wir das erst mal. Kimberley, deine Schwester hat etwas von Kung Fu gefaselt."
"Sie hat nicht gefaselt!" fuhr Kim ihn an, während sie Kat gleichzeitig von ihm wegdrehte. "Kat und ich haben beide den schwarzen Gürtel in Kung Fu."
"Aus dem Sportgeschäft in der Innenstadt. Verstehe. Und ihr seht wohl auch viel fern."
Kim explodierte. "Du Scherzkeks kannst ja deine Leute auf uns loslassen, dann wirst du schon sehen, was wir können oder nicht. Wir sagen jetzt kein Wort mehr."
"Wird wohl auch besser sein." Degenhart drehte sich aufgebracht um. "Günter? Wie sieht's bei dir aus?" rief er in den zweiten Raum.
"Wir brauchen noch etwas Zeit!"
Degenhart wandte sich aufgrund lauter Geräusche zur Tür, durch die in diesem Moment der Polizist flog, den Kim schon rauh angefaßt hatte, und der ziemlich hart auf dem Boden landete. Gleichzeitig hörte Sabrina die aufgebrachte Stimme von Herrn Summers: "Wo sind meine Töchter, verdammt?"


"Hier, Papa!" rief Kim laut. Degenhart sah den bewußtlosen Beamten ohne sichtbare Regung an. Herr Summers kam in den Raum gestürmt, gefolgt von einem Mann Mitte bis Ende Fünfzig in einem teuer aussehenden, perfekt sitzenden Anzug. Gleichzeitig kam der Leiter des Treffs, Thomas Müller, aus dem zweiten Raum nach vorne. Er sah sehr bleich aus, obwohl er unverletzt war. Herr Summers entdeckte seine Töchter und sprang förmlich zu ihnen. "Na bestens", meinte Degenhart trocken. "Da hätten wir ja alle zusammen. Wer kann mir jetzt sagen, was los war? Und wenn möglich so, daß es einigermaßen glaubhaft klingt."
"Das kann ich wohl." Tom schüttelte den Kopf, um wieder klare Gedanken fassen zu können, dann sah er Degenhart an.
"Wir hatten vorgestern einen kleinen Vorfall hier. Ein Mann kam rein und wollte Hasch verkaufen. Die Leute, denen er das angeboten hat, haben ihn höflich, aber nachdrücklich gebeten, zu verschwinden, jedoch ohne jede Gewalt. Sie haben ihm nur klar zu verstehen gegeben, daß er mit seiner Ware hier nicht erwünscht ist. Vor knapp zwanzig Minuten kam der gleiche Mann wieder rein, zog etwa hier" - er deutete auf einen Punkt knapp einen Meter vor der Theke - "seine Pistole und fing ohne ein Wort an, wild in der Gegend herum zu schießen. Kat, das Mädchen hier mit den langen schwarzen Haaren, hat sich sofort auf ihn geworfen und dabei eine Kugel in den Arm bekommen. Sie hat ihm, soweit ich das im Schock mitbekommen habe, den Arm gebrochen, um ihn zu entwaffnen, und ihn dann bewusstlos geschlagen. Das war's eigentlich schon." Seine Stimme kippte fast. "Nur daß jetzt zwei 17jährige Mädchen tot sind."
"Mit Kat meinen Sie Kathryn? Dieses junge Mädchen hier?" Er deutete auf Kat, die inzwischen bei ihrem Vater im Arm lag und von ihm gemeinsam mit Kim getröstet wurde. Der Anwalt hörte noch regungslos zu.
"Genau. Kat und ihre Schwester Kim können Selbstverteidigung. Ohne Kat wären noch mehr tot, nicht nur die beiden." Er sah mit feuchten Augen zu Kat, die ebenso traurig zurückschaute.
"Dieses Kung Fu."
"Irgend so was in der Art. Ich kenne mich da nicht so aus. Auf jeden Fall war es so, daß sie regelrecht über die Theke geflogen ist, den Mann angesprungen hat, wobei sie angeschossen wurde, und ihn durch den Sprung umgerissen hat. Dann war es zu schnell für mich. Jedenfalls hatte sie am Ende seine Pistole in der Hand, und der Mann war bewußtlos."
"Das sieht doch ganz eindeutig nach Notwehr aus", meinte der Anwalt.
"Wenn man davon absieht, daß Kat offenbar nicht direkt bedroht wurde", gab Degenhart kalt zurück. "Herr Müller, Sie wollen mir allen Ernstes weismachen, daß ein kleines Mädchen einen bewaffneten Irren, der wild in die Gegend ballert, besiegt und ihn entwaffnet?"
"Mein Angebot steht!" sagte Kim eisig. "Sie können es annehmen oder es lassen."
Degenhart sah sie einen Moment an, dann nickte er.
"Okay, du kleines Großmaul. Dann komm her."
"Tu ihm nicht weh, Kim!" warnte ihr Vater sie.
"Keine Sorge, Papa."
"Tu mir ruhig weh, Kind", meinte Degenhart gönnerhaft. "Der große Polizist verträgt einiges."
"Nein", lächelte Kim. "Ich werde Sie erschrecken."
Sie hatte noch nicht ganz ausgesprochen, als die Hand des Beamten zu ihrem Kopf fuhr. Viel zu langsam für Kim. Sie fing die Hand in aller Ruhe auf und sah den Beamten an.
"Nicht spielen."
"Na schön." Er ging in Kampfstellung und lachte kurz. "Das ist doch verrückt!"
"Das werden Sie gleich nicht mehr sagen." Auch Kim stellte sich richtig hin. Degenhart wartete einen Moment, dann schlug er mit voller Kraft und sehr schnell zu. Kim riß kurz den Kopf zurück, tat aber sonst nichts. Der Schlag traf ins Leere. Degenhart runzelte die Augenbrauen.
"Greif du an."
"Okay." Kim wartete einen Moment, dann saß ihre Faust auf seinem Solar Plexus. Degenharts schnelle Abwehr kam deutlich zu spät. Er schaute nachdenklich auf Kims Faust.
"Mach mal mit halber Kraft", forderte er sie auf.
"Viertel", bot Kim an.
"Viertel." Er schüttelte den Kopf. "Wenn mein Boß erfährt, daß ich mich mit einem kleinen Mädchen schlage, bin ich entlassen."
"Sehen Sie es als Beweisführung an", meinte der Anwalt trocken.
"Gute Idee. Das kann ich verantworten." Er sah wieder zu Kim. "Leg los."
Kim sah ihm in die Augen. Ihr rechter Fuß hob sich. Sofort war Degenharts Abwehr zur Stelle, doch Kims Fuß war schon längst wieder auf dem Boden, und ihre Faust traf ihn hart am Kinn, genau auf den Punkt. Er fuhr erschrocken zurück.
"Viertel", lächelte Kim.
"Hol mich der Teufel!" brummte Degenhart. "Noch mal."
Diesmal konnte er drei Schläge anbringen, die alle von Kim abgewehrt wurden, dann hatte er ihre Faust am Kehlkopf sitzen. Natürlich ohne Kraft.
Degenhart nickte beeindruckt. "Na schön. Glauben wir den Punkt einfach mal. Schwarzer Gürtel?"

"Wir beide. Aber nur den ersten schwarzen."
"Aha. Sollte für den Hausgebrauch reichen." Er richtete sich kopfschüttelnd auf, wie auch Kim sich wieder gerade stellte. Plötzlich trat Degenhart mit voller Kraft zu, jedoch in der Absicht, im letzten Moment zu stoppen. Kim machte einen unglaublich schnellen Schritt zur Seite und auf ihn zu, wich somit seinem Tritt ohne jede Abwehr aus, hieb ihm ihren Ellbogen so kräftig in den Bauch, daß er es deutlich merkte, und riß ihn mit einem gekonnten Tritt von den Füßen. Anschließend hielt sie ihm grinsend seine Pistole vor die Nase, die sie ihm noch im Fallen aus dem Halfter gezogen hatte. Degenhart bekam Panik. Hektisch griff er nach seiner Waffe und steckte sie zurück.
"Überzeugt", meinte er schwach und kam mit leicht verzerrtem Gesicht auf die Füße. "Wirklich überzeugt. Deine Schwester ist genauso fit?"
"Ja. Wir sind auf dem gleichen Level."
"Okay. Danke fürs Erschrecken. Nimm einem Polizisten nie wieder die Pistole weg, klar?" Er sah Kim ziemlich streng an, doch bei Kim versagte der gewünschte Effekt.
"Sie wollten mir ja nicht glauben", meinte sie lapidar.
Degenhart beachtete sie nicht weiter; sein Selbstvertrauen hatte schon genug gelitten. Er sah zu Kat, die sich offenbar wieder erholt hatte.
"Wie geht es dir?"
"Mein Arm tut weh. Aber sonst geht's."
"Was bitte hat dich auf die Idee gebracht, den Mann anzugreifen?"
Kat zuckte mit der rechten Schulter. "Es war die volle Panik hier", sagte sie leise. "Er hat
geschossen, die Leute haben geschrien, es wußte keiner, was zu tun war, alles rannte durcheinander, und verstecken konnte sich auch keiner. Ich hab nur noch gedacht, daß ich ihm die Waffe wegnehmen muß, und da war's auch schon passiert."
"Hallo!" rief eine fröhliche Stimme dazwischen. "Wiegand vom Stadtanzeiger. Wer hat hier die Leitung?"
"Ich!" bellte Degenhart. "Was ist?"

Ein gutgelaunter junger Mann mit einem Fotografen im Schlepptau kam näher. "Ich dachte, das könnten Sie mir sagen, Herr Degenhart. Ein paar Informationen für die Presse?"
Degenhart riß sich zusammen. Er kannte Wiegand. Er kannte seinen Stil. Und er kannte Wiegands Rache, wenn etwas nicht nach seinen Wünschen lief. Jedes Detail in seinen Artikeln stimmte dann zwar, doch der Schreibstil war so, daß es auf Unfähigkeit und Dummheit der ermittelnden Beamten hinauslief. Natürlich nie den geschriebenen Worten nach; immer nur dem Gefühl nach.
"Also", seufzte er. "Ein bewaffneter Amokläufer ist gegen..." Er sah auf seine Uhr. "Gegen 17:45 in den Jugendtreff an der Adlerstraße gekommen, hat nach Aussagen der Zeugen zwei Menschen erschossen und drei weitere verletzt, zwei davon schwer. Es gelang einem Zeugen, den Mann zu entwaffnen. Da es sich hier bei Zeugen, Opfern und unmittelbar Betroffenen teilweise um Minderjährige handelt, werden vorerst weder Namen herausgegeben noch Fotos gemacht. Dafür wenden Sie sich wie üblich an unsere Pressestelle."
"Schon klar." Wiegand ließ seine fröhliche Miene fallen. "Wie alt waren die Ermordeten?"
"Siebzehn. Zwei Mädchen."
"Scheiße!" Das klang echt. "Und die Verletzten?"
"Ein 16jähriger Junge mit Bauchschuß, ein 15jähriger Junge, dem die Kugel ins Rückenmark
gedrungen ist, und ein 14jähriges Mädchen mit einem glatten Armdurchschuß."
Wiegand sah sich um und entdeckte Kat. "Das bist du?"
"Meine Mandantin macht dazu keine Angabe." Der Anwalt trat vor. "Und wenn ihr Bild in der Zeitung erscheint, werden Sie sich wünschen, niemals Reporter geworden zu sein."
"Schon gut, schon gut!" Wiegand hob beide Hände und trat zurück. "Aber ein paar Fotos von den abgedeckten Leichen werden doch erlaubt sein?"
"Die Spurensicherung ist noch bei der Arbeit", antwortete Degenhart mit hörbarer Verärgerung in der Stimme. "Im Moment leider nicht."
Wiegand seufzte laut. "Und nachher sind sie schon im Sarg. Ich kenne das Spiel."
"Spiel?" Kim brannte wieder eine Sicherung durch. "Sie nennen das ein Spiel, wenn zwei junge Frauen erschossen werden?" Ihre Augen strahlten eine solche Wut aus, daß Wiegand instinktiv zurückwich. "Wenn zwei andere schwer verletzt werden? Das ist nichts als ein Spiel?" "Hey, hey, hey!" rief er nervös. "Kann mir mal jemand diese Furie vom Hals schaffen?" "Die Kamera hat gerade geklickt!" meldete sich Sabrina mit bebender Stimme. "Und vorhin auch ein paar Mal."
Das reichte. Kim drehte durch. Sie sprang aus dem Stand hoch, drehte sich im Flug und trat dem Fotografen so hart vor die Kamera, daß sie nicht nur klirrend zersplitterte, sondern ihr Fuß auch den Fotografen voll am Brustkorb traf. Der klappte auf der Stelle bewußtlos zusammen. Kim bebte vor Zorn.
"Wenn Sie nicht sofort hier verschwinden", sagte sie tödlich leise zu Wiegand, "kann ich für nichts mehr garantieren. Wegen der Kamera wird sich unser Anwalt mit Ihnen in Verbindung setzen. Und jetzt raus!" schrie sie entnervt. Wiegand ergriff die Flucht und ließ seinen bewußtlosen Kollegen liegen, wo er war.
"So ein gottverdammtes Arschloch!" tobte Kim, die völlig außer Rand und Band war. "Wenn ich den noch einmal sehe, schlage ich dem den gottverdammten Schädel ein!" Sie trat wütend und lästerlich fluchend auf die Reste der Kamera ein, bis sie nur noch aus Scherben und Splittern bestand. Degenhart wich vor ihrer Wut zurück, wie auch Kat, ihr Vater und alle anderen. Denn Kim war nicht rot vor Wut, sondern weiß vor Haß.
"Kimmy!" Sabrina trat vor, bebend vor Angst, doch sie spürte instinktiv, daß sie die einzige war, die Kim noch bremsen konnte.
"Kimmy, komm wieder zu dir! Ich bin's, Bienchen!" Sie streckte vorsichtig ihre Arme aus. Kim sah sie voller Haß an, die Lippen zurückgezogen, die Hände zum Zuschlagen bereit, die Atmung ging rasend schnell. Kein schöner Anblick. Degenhart betete für Sabrina. Entweder ging es gut, oder Sabrina war Geschichte. Eine andere Möglichkeit gab es hierbei nicht.
"Kim." Sabrina trat noch einen Schritt näher. "Ganz ruhig, Kimmy. Ist doch alles vorbei. Kat ist kaum was passiert. Komm wieder zu dir, ja? Bitte!"
Kim senkte den Kopf und nickte mehrmals, wobei sie hörbar laut ausatmete.
"Ist okay", sagte sie leise und mit rauher Stimme. "Ist vorbei." Ihr Brustkorb hob und senkte sich wie ein Hammerwerk.
"Kimmy." Sabrina nahm sie leise schluchzend in den Arm. "Tu so etwas nie wieder, ja?"
Kim ließ ihren Kopf an Sabrinas Schulter sinken, von allen Anwesenden besorgt beobachtet, und legte ihre Arme um ihre Freundin.
"Ist vorbei", wiederholte sie atemlos. "Danke, Bienchen."
"War's das jetzt?" fragte Degenhart vorsichtig. "Oder kommt noch mehr?"
Kim schüttelte den Kopf, ohne sich von Sabrina zu trennen. "Das war's. Da ich schon 14 bin, zeige ich mich hiermit selbst an. Wegen Sachbeschädigung und Körperverletzung."
"Komm wieder zu dir, Kind!" sagte Degenhart streng. "Wieso bist du dafür verantwortlich, wenn der Fotograf stolpert und seine Kamera dabei zerbricht? Sabrina, setz deine Freundin irgendwo vorsichtig hin."
Sabrina führte Kim zu einem der Sofas, wobei sie Kim, die sehr wackelig auf den Beinen war, doch ziemlich stützen mußte. Als sie saßen, schaute Kim bedrückt zu ihrem Vater, der bisher kein Wort gesagt hatte.
"Tut mir so leid, Papa", sagte sie mit zitternder Stimme. "Ich hab heute zweimal die Beherrschung verloren. Einmal bei dem Polizist draußen, und jetzt gerade."
"Kim!" Ihr Vater lief schnell zu ihr. "Ich bin auch durchgedreht. Ich habe einen Beamten bewusstlos geschlagen, der mich nicht zu euch lassen wollte, und wenn du den Fotografen nicht geschlagen hättest, hätte ich das getan. Ich war schon auf dem Weg."
"Wirklich?" hauchte Kim mit großen Augen.
"Großes Ehrenwort. Kat muß ins Krankenhaus, Kim. Ihre Wunde ist nur provisorisch behandelt worden, aber sie hat sich wirksam gegen einen Abtransport gewehrt. Sie wollte auf uns warten. Bist du wieder okay?"
Kim nickte matt. "Ja. Können wir mit?"
"Nein. Das heißt, ja, aber jetzt noch nicht. Deine Mutter wollte nach dem Kurs herkommen und dann mit dir ins Krankenhaus fahren. Wahrscheinlich können wir Kat noch heute wieder mit nach Hause nehmen, aber sie muß auf jeden Fall behandelt werden. Laß Sabrina entscheiden, ob sie mitfahren oder lieber nach Hause möchte." Kim nickte. Herr Summers sah zu Sabrina und drückte ihre Hand.
"Danke", sagte er nur. Sabrina lächelte verlegen, als sie verstand, wofür er sich bedankte.
"Ich komme auf jeden Fall mit", versprach sie. "Ich ruf nur eben meine Eltern an."
"Mach das, aber erzähl ihnen nicht zu viel. Zumindest nicht am Telefon."
"Schon klar. Ich paß auf Kim auf."
"Von mir auch danke." Kat war zu ihnen gekommen. Sie strich Sabrina zärtlich über das Haar. "Ich bin bald wieder daheim, Bienchen. Ist nur ein Loch im Arm."
"Das sich sehr böse entzünden kann, wenn du jetzt nicht endlich abhaust." Degenhart sah sie streng an, doch wie bei Kim zeigte der Blick überhaupt keine Wirkung.
"Ist nicht meine erste Verletzung", erwiderte Kat gelassen. "Zwar die schwerste bisher, aber nicht die erste."
"Gut, du bist ein sehr tapferes Mädchen. Ist vermerkt. Und jetzt sei bitte ein vernünftiges Mädchen und zisch endlich ab!"
"Was ist bloß aus der höflichen Polizei geworden?" versuchte Kat zu scherzen. Degenhart reagierte nicht auf den Witz.
"Die liegt bewußtlos in der Ecke. Darüber werden wir noch einmal reden müssen, Herr Summers."
"Mein Mandant hat im Affekt gehandelt", sagte der Anwalt ruhig, "als ihm der Zugang zu seiner angeschossenen minderjährigen Tochter verwehrt wurde. Wie auch meine Mandantin, als ihr der Zugang zu ihrer angeschossenen Schwester verwehrt wurde."
"Ach, hauen Sie doch ab!" Degenhart stieß den Atem aus. "Wir sehen uns alle im Krankenhaus. Im Sankt Josef, in einer Stunde. Ihre Adresse brauche ich noch, Herr Summers."

Während er die Adresse notierte, drückte Sabrina Kat vorsichtig. "Bis gleich, Kitty."
Kat lächelte schwach. "Bis gleich, Bienchen. Bis gleich, Kimmy. Mach dir keine Vorwürfe. Der Idiot hätte dein oder mein Bild todsicher veröffentlicht."
"Deswegen bin ich ja so ausgerastet." Kim sah bedrückt auf. "Aber ich hätte nicht ausrasten dürfen, Kat! Nicht bei meinen Fähigkeiten."
"Na schön, du bist ausgerastet", lächelte Kat. "Vater wollte ausrasten, und ich wollte ihn in kleine Stücke zerlegen. Vergessen wir das einfach. Du warst mal wieder einen Hauch schneller als wir. Außerdem können wir eine Schußverletzung schlecht zu Hause trainieren, nicht wahr?"
"Sind die Damen mit dem Plaudern fertig?" unterbrach Degenhart genervt. "Wäre die verletzte junge Dame jetzt endlich bereit, den Krankenwagen und das Personal in der Ambulanz nicht länger warten zu lassen?"
Kat sah ihm geradewegs in die Augen. "Mein Tag war auch nicht gerade leicht, Herr Degenhart. Trotzdem sollten wir uns bemühen, ein Minimum an Respekt und Höflichkeit beizubehalten."
Degenhart verschluckte eine Verwünschung. "Na schön. Würdest du bitte nach draußen gehen, wo der Krankenwagen auf dich wartet?"
"Mit dem größten Vergnügen", lächelte Kat trotz ihrer schmerzenden Wunde. "Nach Ihnen, bitte." Degenhart sah sie wortlos an, dann drehte er sich um und ging in den zweiten Raum.
"Komm, Kat", sagte ihr Vater belustigt. "Bevor es sich entzündet. Bis später, ihr zwei. Sabrina, hab ein Auge auf Kim."
"Versprochen." Sie stand auf, als Kat und ihr Vater hinausgingen, holte schnell die beiden Tüten mit den CDs und setzte sich wieder zu Kim, die sie gleich in den Arm nahm.
"Du hast es richtig gemacht, Kimmy", sagte sie leise. "Vollkommen richtig. Er wußte, daß er nicht fotografieren durfte, und hat es trotzdem gemacht."
"Aber ich bin durchgedreht!" Kim sah Sabrina verzweifelt an. "Bienchen, weißt du, was passiert, wenn ich durchdrehe? Dann könnte ich töten!"
"Nein!" widersprach Sabrina energisch. "Das könntest du, aber das würdest du nicht. Das hast du gerade eben auch nicht. Du hast seine Kamera kaputt gemacht und ihn schlafen geschickt. Aber du hast ihn nicht umgebracht. Das könntest du zwar, aber das würdest du niemals tun. Nicht du. Ganz sicher nicht."
Kim seufzte laut und sackte in sich zusammen. "Wollten Vater und Kat wirklich auf ihn los?"
"Glaub schon. Ich hab nur auf dich geachtet, aber es sah so aus."
Kim lächelte schwach. "Nicht lügen, Bienchen."
"Na gut." Sabrina erwiderte das Lächeln. "Ich weiß es nicht. Ich habe es nicht gesehen."
"Ich aber. Sie sind alle vor mir zurückgewichen. Alle. Nur du nicht. Hattest du Angst vor mir?"
"Bis in die Haare", gestand Sabrina verlegen. "Aber ich wußte irgendwie, daß du mir nichts tust. Hast du ja auch nicht. Und deswegen würdest du auch niemanden töten. Genau wie Kat. Sie ist angeschossen worden, aber sie hat ihm nur den Arm gebrochen. Ich würde fast drauf wetten, daß sie nicht mal das wollte, sondern daß das durch den Sprung kam."
"Gut möglich." Kim grinste zynisch. "Da tun wir immer so hart und sind doch so weich."
"Ihr seid nicht weich." Sabrina drückte Kim an sich. "Ihr seid auch nicht hart. Ihr seid lieb, und ihr seid entschlossen. Alles zu seiner Zeit. Allerdings... Du hast recht, Kim. Es sind alle zurückgegangen, aber erst, als du auf der Kamera herumgetrampelt bist. Als ich sagte, daß die Kamera geklickt hatte, kamen dein Vater und Kat doch in Bewegung. Also wollten sie auch ausrasten."
Kim nickte nachdenklich, dann mußte sie plötzlich etwas lachen. "Ey, kannst du dir vorstellen, wie wir morgen in der Schule aussehen? Kat mit dem linken Arm in der Schlinge und ich mit dem Veilchen? Der Albers wird 'nen Anfall kriegen!"
Sabrina lachte leise mit. "Das denke ich auch. Zum Glück hat er schon gesehen, wie du aussiehst, sonst würde er denken, ihr habt euch gegenseitig so zugerichtet."
"Wahrscheinlich." Kim sah sich um. "Ob das hier jemals wieder so wird wie früher?"
Sabrina dachte an den gestrigen Tag, an heute, und an morgen.
"Nein", flüsterte sie. "So was bleibt hängen."
Die Mädchen sahen zum zweiten Raum, aus dem in diesem Moment eine Menge Leute kamen. Viele aufgelöste und blasse Jugendliche, zwei Männer, die einen Blechsarg trugen, dahinter weitere zwei Männer mit einem zweiten Sarg, und danach mehrere Leute mit Taschen und Tüten. Sabrina schauderte heftig, als die Särge an ihnen vorbei getragen wurden. Thomas Müller kam zu Kim. "Kim, könntest du ein paar Minuten hier aufpassen? Oder bist du zu fertig?"
"Geht schon, Tom. Warum?"
"Ich muß noch schnell was einkaufen. Heute wird zum ersten und zum hoffentlich letzten Mal etwas Alkohol ausgeschenkt. Bin in zehn Minuten zurück."
"Okay. Dafür bin ich fit genug. Habe ich Hausrecht?"
"Das wollte ich damit sagen." Er lächelte matt. "Sag deiner Schwester allerherzlichsten Dank von uns allen. Laut Polizei hatte er noch fünf Kugeln im Magazin. Sie hat fünf Menschen gerettet. Sechs, wenn man ihre Verletzung abzieht, die garantiert jetzt ein anderer hätte, wenn sie nicht eingegriffen hätte."
"Das werde ich ihr sagen, Tom. Wo ist der Kerl?"
"Schwer bewacht in einem Streifenwagen. Geh bloß nicht hin und rede mit ihm!"
"Nein!" Kim schaute wieder grimmig. "Ich geh hin und mach ihn alle!"
"Das läßt du bleiben!" Degenhart kniete sich vor sie hin. "Noch einmal halte ich nicht meinen Kopf für dich hin. Jetzt Schluß damit. Wie geht es dir?"
"Wieder fit. Was macht der Fotograf?"
"Schläft. Wir haben ihn hinten auf ein Sofa gelegt. Du hast einen ganz schönen Schlag am Leib. War das vorhin wirklich ein viertel Kraft?"
"Nein." Kim grinste dünn. "Zehn Prozent. Mehr erlaubt mein Trainer nicht. Nur im echten Kampf."
"Zehn Prozent. Der Schlag mal zehn..." Er nickte mehrmals. "Doch, das hätte mich umgehauen. Ganz sicher. Wie lange machst du das schon? Oder ihr?"
"Seit acht Jahren. Seit unserem sechsten Geburtstag. Knapp danach. Eine Frage, Herr Degenhart. Als ich auf den Fotografen losgegangen bin, wollten mein Vater und meine Schwester da auch auf ihn los?"
"Ja. Ein ganz sicheres Ja. Dein Vater hatte schon die Handkanten angespitzt, und deine Schwester sah aus wie ein Racheengel. Du warst nur schneller als sie. Verdammt schnell. Wenn du die Schule aus hast und keinen Job findest, kannst du gerne als Ausbilder zu uns kommen."
"Okay." Kim lächelte leicht. "Danke, daß Sie das nicht verfolgen."
"Was denn?" fragte er unschuldig.
"Nichts." Kim holte tief Luft. "Tut mir alles sehr leid. Daß ich so grob und so wütend war."
"Schon vergessen. Wenn ein Mitglied der Familie angegriffen wird, drehen viele Leute durch, aber nur wenige reagieren so gezielt und sicher wie du. Oder wie deine Schwester, als das Chaos hier ausbrach. Und der Fotograf..." Er schaute sich schnell um.
"Du hast das getan", flüsterte er, "was ich tun wollte, aber nicht tun darf. Wiegand und Schuster sind verdammte Leichenfledderer. Keine Sensation ist zu billig, um nicht gedruckt zu werden. Die hätten auch die hier gemachten Bilder veröffentlicht und sich später tausendmal und voller Heuchelei entschuldigt, aber ihre Sensation hätten sie gehabt. Du bist zwar durchgedreht, aber nicht sehr viel. Nur ein ganz kleines bißchen, was ich voll verstehe. Ich lasse einen Beamten hier, der Schuster, wenn er aufwacht, nach draußen bringt. Da deine Freundin gehört hat, wie er hier trotz Verbot fotografiert hat, werden weder er noch Wiegand Ärger machen. Allerdings wird dein Vater die Kamera ersetzen müssen, wenn es hart auf hart geht."
"Das wird er auch. Notfalls bezahle ich die von meinem Sparbuch. Hauptsache, er hat kein Bild von Kat oder von den anderen Jugendlichen. Noch mal danke."

"Schon gut. Bleib bloß auf der guten Seite, hörst du? Ich hab keine Lust, dich oder deine Schwester später mal mit einer Hundertschaft zu jagen, nur weil wir alle Angst vor euch haben."
"Sie müssen keine Angst haben. Auch wenn es nach meinem Ausflippen blöd klingt, aber Kat und ich lehnen Gewalt normalerweise ab."
"Das verstehe ich vielleicht besser als du denkst." Er sah Kim nachdenklich an, als müßte er ihren seelischen Zustand einordnen, dann redete er weiter.
"Ich bin einmal, ein einziges Mal ausgerastet, Kim. Da habe ich gesehen, wie ein kleines Mädchen mitten auf der Straße entführt wurde. Aus den Händen ihrer Eltern heraus. Ich habe die Kleine nur noch schreien hören, und das nächste, was ich weiß, war, daß der Entführer ziemlich verletzt am Boden lag. Dazwischen fehlt mir ein Stück. Gerade mir dürfte so etwas nicht passieren."
"War das die Tochter von Herrn Albers?" fragte Kim neugierig.
"Weiß ich nicht mehr", erwiderte er unbewegt. "Spielt auch keine Rolle. Ist ihm so etwas passiert?"
"Ja, und er ist dem Beamten, der beherzt eingegriffen hat, noch heute dankbar. Die Geschichte hat er uns heute mittag erzählt."
"Beherzt. Aha. Na gut." Er lächelte leicht. "Jedenfalls bin ich jetzt weg. Wir sehen uns um halb acht im Krankenhaus. Sankt Josef."

"Bis gleich, Herr Degenhart." Auch Sabrina verabschiedete sich, dann waren die beiden Mädchen allein in dem verwüsteten Treff, bis auf den Beamten im zweiten Raum. Erst jetzt, wo die vielen Menschen weg waren, sahen sie das ganze Ausmaß der Verwüstung: umgeworfene Sessel und Sofas, umgekippte Tische, verstreute Zigarettenstummel und Asche, zerbrochene Gläser, kleine Kreidekreise auf dem Boden, und stellenweise dunkle, glänzende Flecken im zweiten Raum. Wie hypnotisch davon angezogen stand Sabrina auf und ging vorsichtig hinüber. Dort war, was sie halb erwartet und halb befürchtet hatte: von weißer Kreide nachgezeichnete menschliche Körper, in merkwürdigen Stellungen, und inmitten der Kreide sehr viel Blut. Sabrina würgte, rannte auf die Toilette und übergab sich heftig.



Kapitel 3

Um viertel vor sieben kam Thomas Müller zurück. Sabrina saß leichenblaß und zitternd auf einem Sofa, Kim war dabei, etwas Ordnung zu schaffen, und richtete Sessel, Sofas und Tische wieder auf.
"Kim!" Tom eilte zu ihr, als er sah, wie sie sich abmühte. "Laß das, Kind. Das ist viel zu schwer für dich."
"Einer muß es tun", meinte Kim trocken. "Soll morgen doch wieder gut aussehen."
"Morgen?" Tom sah sie deprimiert an. "Glaubst du wirklich, daß morgen ein einziger Mensch
herkommt?"
"Mindestens fünf." Sie sah ihm tief in die Augen. "Du. Kat. Sabrina. Ich. Herr Wassermann. Fünf. Für den Rest sorge ich schon. Wir haben uns eine Cola aus dem Kühlschrank genommen, ja?"
"Hast du dafür bezahlt?"
"Na sicher!"
"Hol dein Geld zurück. Ich gebe sie aus." Er schaute zu Sabrina. "Was hast du, Kind?"
"Ich war nebenan." Sabrina schüttelte es. Tom verzog das Gesicht.
"Ich weiß, Kind. Tut mir leid, das hätte ich euch sagen sollen."
"Ich wußte ja, was mich erwartet", wisperte Sabrina. "Aber etwas in mir wollte das sehen."
"Und ein anderer Teil in dir ist hochgekommen."
Sabrina nickte traurig. "Ist zwar kein Trost, Kind, aber mir ging das auch so. Nur habe ich noch gesehen, wie... Ach, lassen wir das. Ich hab mich auch übergeben. Mehr als einmal."
"Tom, hör das Mitleid heischen auf." Kim sah ihn kühl an. "Sabrina ist erstens vergeben und zweitens zu jung für dich. Kann die Sauerei hinten weggewischt werden?"

"Ja. Der Staatsanwalt hat es freigegeben; der Fall ist ja praktisch geklärt." Tom schaute sie betroffen an. "Kim, warum sagst du solche Sachen? Du weißt, daß ich nie ein Mädchen in eurem Alter anfassen würde."
Kim funkelte ihn an. "Ich sage das, damit du wach wirst. Damit du mit anfaßt. Bienchen und ich müssen gleich ins Krankenhaus zu Kat; da soll noch mal eine große Vernehmung laufen. Und morgen um fünf will ich hier Ordnung sehen, sonst werde ich sauer und spiele bayerische Volkslieder. Außerdem meldest du morgen früh beim Ordnungsamt an, daß wir von fünf bis sechs Straßenmusik machen. Hast du alles?" Wütend stellte sie ein Sofa wieder auf die Füße.
"Bis fünf Uhr Ordnung, und Straßenmusik von fünf bis sechs." Tom schüttelte den Kopf. "Es wird trotzdem niemand kommen, Kim. Nicht nach dem, was heute passiert ist."
"Möchtest du wetten? Jetzt mach dich nützlich und hol den Staubsauger. Bienchen laß ich nicht eher hinten rein, bevor ich da nicht gewischt habe."
"Macht dir das nichts aus?" fragte Tom baß erstaunt.
"Doch." Kim zuckte mit den Schultern. "Jede Menge sogar. Als ich das gesehen habe, habe ich mir für einen Moment gewünscht, in Amerika zu sein und hier ein Schrotgewehr oder so etwas zu haben, aber dann dachte ich an die ganzen Massaker in den Schulen dort und wurde wieder vernünftig. Es bringt nichts, Waffen zu verbieten oder zu erlauben. Wir müssen dafür sorgen, daß die Leute erkennen, was Waffen anrichten können. Und genau deswegen wird es hier morgen weitergehen, Tom. Das, was heute passiert ist, soll nicht vergessen werden, aber es soll auch nicht vergessen werden, daß der Treff hier ein großartiger Sammelpunkt war, ist und wieder werden wird. Jetzt hol den Staubsauger!"
"Soll ich hier saugen?" bot Sabrina sich an. Kim wuchtete ächzend das nächste Sofa auf die Füße
und nickte.

"Sicher. Sollst auch was tun für deine spendierte Cola."
Zu dritt ging es zügig voran. Sabrina saugte vorne, Kim wischte hinten, Tom stellte die restlichen Möbel auf. Als Jane Summers um viertel nach sieben kam, sah es fast schon wieder so aus wie am Vortag. Nur die vielen Leute fehlten.
"Wie geht's Kat?" war ihre erste Frage, als sie herein kam.
"Gut." Tom ging ihr entgegen. "Sie hat einen glatten Durchschuß im linken Oberarm, was sich schlimm anhört, aber -"
Frau Summers lächelte knapp. "Mir ist schon klar, daß das viel besser als ein Steckschuß ist. Knochen oder Sehnen verletzt?"
"Der Arzt sagt nein. Frau Summers, es tut mir schrecklich leid, was hier passiert ist."
"Warum?" Sabrina erkannte plötzlich den kühlen Blick von Kim wieder. "Haben Sie geschossen?"
"Äh - nein!"
"Also. Welche Schuld soll Sie treffen, Herr Müller? Die, daß Sie Jugendlichen einen gemütlichen Platz geben? Daß Sie sich um die Arbeitslosen kümmern?"
"Also wissen Sie", sagte er fast gekränkt. "Sie reden so wie Ihre Tochter. Sie hat mich die ganze Zeit bearbeitet, daß ich morgen wieder öffnen soll."
"Sicher werden Sie morgen öffnen. Stand das jemals zur Diskussion?"
"Leider ja", meinte Kim. "Er glaubt, daß keiner kommen wird, aber ich will ihm auch nicht verraten, was ich vorhabe, um die Leute anzulocken. Mama, können wir morgen gleich von der Schule aus hierher kommen? Wir haben ja um halb drei Schule aus, und wir könnten uns hier was zu essen holen."
"Will Kat denn noch kommen? Bei ihr würde ich verstehen, wenn sie Angst hat."
"Kat wird kommen", meinte Kim überzeugt. "Sie vor allem. Tom? Ich will den Zweitschlüssel. Ich traue dir nicht."
"Kim!" Tom stieß den Atem aus. "Okay, du hast gewonnen. Ich bin um drei Uhr hier. Wie sonst auch. Okay?"
"Hoffentlich." Kim sah ihn eisig an. "Sonst brauchst du um kurz nach drei eine neue Tür. Also komm nicht zu spät."
"Woher nimmst du bloß die Kraft, Kim?" fragte er leise. Kim lächelte schief.
"Aus der gleichen Quelle wie du bis vorhin, Tom. Aus der Hoffnung. Drei Uhr morgen. Spätestens fünf nach drei. Um sechs nach drei bin ich drin, ob die Tür verschlossen ist oder nicht. Klar?"
"Sehen Sie das genauso, Frau Summers?"
"Absolut. Ich würde nicht einmal die fünf Minuten Kulanz geben. Sie öffnen von drei bis elf, also werden Sie auch morgen um drei öffnen."
"Sabrina?"
"Ich glaube, daß Kim recht hat." Sie stand verlegen auf. "Ich bin ja erst zum zweiten Mal hier, aber ich hab mich gestern auf Anhieb hier wohl gefühlt. Ich würde es weitermachen. Auf jeden Fall. Das hat ja alles einen Sinn hier. Es ist nicht bloß ein Treff, sondern viel mehr, soweit ich mitbekommen habe. Ich finde auch, daß Sie nicht aufgeben dürfen. Es ist zwar etwas Schreckliches passiert, aber gerade deswegen dürfen Sie nicht alles hinschmeißen."
"Ha!" Kim grinste breit. "Der Wassermann wird auch kommen. Und du auch! Bis morgen." Sie gab ihm einen so kräftigen Schlag auf die Schulter, daß er einknickte.
"Das war nur die Warnung", grinste Kim. "Bei der Tür gehe ich noch härter ran. Also sei da!"
"Ich werde da sein." Er rieb sich die Schulter. "Wenn ich morgen nicht krankgeschrieben bin, heißt das."
"Dein Problem", erwiderte Kim ungerührt. "Dann mach ich die Tür auf meine Art auf. Kat und ich kriegen das auch ohne dich hin. Wir wissen ja, wo alles ist. Wir müssen los. Drei Uhr!"
 

Gut zwanzig Minuten später waren sie im Krankenhaus. Sabrina hatte sich wieder einigermaßen erholt und auch ihre Eltern kurz informiert, daß Kat einen kleinen Unfall gehabt hatte, war aber auf die Ursache der Verletzung nicht näher eingegangen. Als sie zur Ambulanz kamen, war Kat, die mit einem frischen Verband um den linken Oberarm auf einem Krankenhausbett saß, in eine heftige Diskussion mit dem Arzt verstrickt.
"Also noch mal", sagte sie gerade wütend, als ihre Mutter, ihre Schwester und Sabrina dazu kamen. "Ich bin Ihre Patientin, und Sie sind mein Arzt. Ungeachtet meines Alters ist es Ihre Pflicht, auf meine Fragen wahrheitsgemäß zu antworten, Herr Dokter Bassler. Ich habe langsam keine Lust mehr, alles vier oder fünf Mal zu fragen. Sind beide Löcher vernäht?"
Der Arzt, ein noch junger Mann Ende Zwanzig, sah Kat etwas zornig an. Ihr Vater und der Anwalt, dessen Namen Sabrina noch immer nicht wußte, hielten sich im Hintergrund.
"Ja, sie sind vernäht."
"Darf ich mit der Wunde Kampfsport betreiben?"
"Natürlich nicht!" erwiderte der Arzt hitzig.
"Darf ich damit zur Schule gehen, wenn ich nicht am Sportunterricht teilnehme?"
"Ja, aber du solltest trotzdem zwei, drei Tage zur Beobachtung hierbleiben."
"Die Fäden sollen in einer Woche gezogen werden?" setzte Kat ungerührt ihr Verhör fort. Der Arzt nickte knapp. "Na also." Kat sah ihn vorwurfsvoll an. "Sie sollten mal langsam von Ihrer Einstellung abkommen, dass Kinder in meinem Alter Gegenstände sind, die man herumschubsen kann. Ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie sich so hervorragend um meine Verletzung gekümmert haben, aber die Versorgung ist vollendet, und ich entlasse mich."
"Das wirst du nicht!" Der Arzt sah so aus, als würde er gleich an die Decke gehen. "Du bist angeschossen worden, Kind! Geht das nicht in deinen Kopf rein?"
"O doch. Das realisiere ich vielleicht besser, als Sie denken. Aber nur, weil ich ein Loch im Fleisch habe, werde ich nicht das kranke Mäuschen spielen und mich bemuttern lassen. Zumindest nicht hier. Jammern und klagen kann ich auch zu Hause, und da habe ich wesentlich mehr Ablenkung als hier. Und zweitens", unterbrach sie den aufgebrachten Einwurf des Arztes, "käme ich, wie Sie gesagt haben, auf die Kinderstation. Sie können mir wirklich glauben, Herr Doktor Bassler, daß ich darauf nicht den geringsten Wert lege." Sabrina sah Herrn Degenhart, den Kripobeamten, näher kommen; auch er war gerade erst eingetroffen.
"Kathryn!" Der Arzt versuchte es mit Drohungen; alles andere war offensichtlich ausgeschöpft. "Die Wunde könnte sich über Nacht entzünden. Dann brauchst du medizinische Versorgung."
"Das ist klar." Kat stand vorsichtig auf. Ihr linker Unterarm ruhte in einer Schlinge, der Oberarm war dick und gründlich verbunden. "Tun wir mal so, als wäre es jetzt halb drei in der Nacht, und ich habe Schmerzen. Ich klingle nach der Schwester. Was würde sie tun? Würde sie sofort ein Ärzteteam rufen, das mein Leben in einer Notoperation rettet? Oder würde sie mir ein Schmerzmittel geben?"

"So etwas Widerspenstiges wie du ist mir noch nicht untergekommen", meinte der Arzt grimmig. "Na schön. Ich schreibe dir ein Schmerzmittel auf, und du kannst nach Hause. Aber wenn du merkst, dass etwas in der Wunde nicht stimmt, dann bist du sofort wieder hier, ist das klar?"
"Klar wie Quellwasser." Kat lächelte leicht. "Nehmen Sie es bitte nicht persönlich, Herr Doktor Bassler. Ich weiß, daß diese Klinik einen guten Ruf hat, aber Sie wissen doch auch, daß eine vertraute, gemütliche Umgebung den Heilungsprozeß beschleunigt. Wie soll ich mich waschen?"
Der Arzt resignierte. "Bis die Fäden gezogen sind, nur baden, ohne den Verband naß zu machen. Nicht duschen. Danach müssen wir sehen, wie die Wunde aussieht. Du bist sicher, daß du klar kommst?"
"Ganz sicher", erwiderte Kat sanft. "Vormittags bin ich mit meiner Schwester und meiner Freundin zusammen in der Schule, nachmittags zu Hause. Es ist immer jemand da. Ich werde mich nicht überanstrengen, sondern ganz ruhig in einer Ecke sitzen und warten, daß ich gesund werde."
"Wäre schön, wenn ich dir das glauben könnte, aber irgendwie tue ich das nicht. Ich schreibe dir eben das Rezept aus."
"Vielen Dank, Herr Doktor." Sie sah ihm nach, bis er in dem kleinen OP war, dann schaute sie Kim, Sabrina und ihre Mutter an. "Hi, Mom!"
"Dir geht es offensichtlich gut", meinte Frau Summers besorgt. Kat nickte.
"Geht so. Es tut etwas weh, aber das wird sich legen."
Frau Summers nickte knapp. "Du hast dich tatsächlich auf einen bewaffneten Amokläufer gestürzt und ihn entwaffnet."
"Zu irgendwas muß das Training doch gut sein", erwiderte Kat trocken. "Ist ja nicht viel passiert."
"Ansichtssache. Trotzdem: Respekt, Kat. Nicht schlecht. Was genau ist passiert?"
"Das ist mein Stichwort." Herr Degenhart trat vor. "Wir beide kennen uns noch nicht. Degenhart, Kripo Bremen. Sie sind...?"
"Die Mutter. Jane Summers. Sehr erfreut."
"Ich auch. Kat, was genau ist passiert? Kannst du dich jetzt besser erinnern?"
"Ja. Jetzt ist alles wieder da." Sie zog ihre Kleidung zurecht; ihr Vater half ihr in die Jacke, was nicht ganz ohne Schmerzen abging.

"Der Typ kam rein. Genaue Uhrzeit weiß ich nicht mehr, aber höchstens zwei Minuten vor meinem Anruf bei Ihnen. Ich kannte den nicht, aber ich hörte, wie jemand an der Bar sagte: 'Nicht der schon wieder!' Der Kerl ging auf die Theke zu, so daß er sowohl den ersten wie auch den zweiten Raum im Blick hatte, dann zog er seine Pistole und schoß völlig wahllos in die Menge. Schnell hintereinander, aber nur in den zweiten, hinteren Raum." Kat schluckte kurz.
"In dem Moment habe ich nur noch reagiert. Ich hörte, wie plötzlich alles in Panik aufschrie, bin auf die Theke gesprungen und habe mich davon abgestoßen. Er hat gesehen, daß ich auf ihn zu flog, hat sich zu mir gedreht und abgedrückt. Ich habe nur gemerkt, daß etwas mit voller Wucht gegen meinen Arm geknallt ist, aber es tat in dem Moment überhaupt nicht weh. Dann bin ich gegen ihn geprallt, er hat die Balance verloren und ist umgekippt. Ich lag natürlich halb auf ihm. Als wir am Boden lagen, sah ich, daß er noch immer seine Waffe hielt, und habe dann instinktiv mit dem Ellbogen zugestoßen. Es hat laut gekracht, er hat aufgeschrien, aber die Waffe war zumindest aus seiner Hand raus. Dann habe ich ihn K.O. geschlagen, die Waffe aufgehoben und erst mal hinter die Theke gelegt, danach habe ich dann Polizei und Krankenwagen gerufen. Das war's auch schon."
"Wo war Herr Müller zu dem Zeitpunkt?"
"Tom?" Sie legte die Stirn in Falten. "Muß ich passen. Weiß ich nicht. Vorne nicht, eher hinten, aber wo genau... Ich weiß es wirklich nicht."
"Was hattest du denn überhaupt hinter der Theke zu suchen?"
"Kim und ich machen täglich den DJ im Treff, jeweils von fünf bis sieben. Einen Tag sie, den anderen Tag ich. Wenn's personell eng wird, übernehmen wir auch den Getränkeausschank und das Spülen. Das läuft ja alles auf freiwilliger Basis im Treff. Keine Ehrenämter oder Angestellte, einfach nur freiwillig."
"Gut, dann ist das klar..." Er machte sich eine kurze Notiz. "Was meint der Arzt zu der Wunde?"
"Daß sie sauber verheilen wird. Gibt zwar eine Narbe, weil ziemlich viel Fleisch durch den Einschuß verbrannt worden ist, aber damit kann ich leben."
"Vor allem, weil es keine Narbe der Dummheit ist." Er schüttelte ungläubig den Kopf. "Ich kann das immer noch nicht fassen. Du bist erst 14?"
"Ja."
"Und du kannst so gut Kung Fu wie deine Schwester Kim?"
"Ja. Wir sind auf dem gleichen Stand. Je nach Tagesform ist mal sie besser und mal ich, aber generell tut sich das nicht viel."
"Aha. Nicht viel. Na gut." Er steckte seinen kleinen Block zurück in die Jacke.
"Kat, der Amokschütze hatte noch fünf Kugeln in seinem Magazin. Es wird dich vielleicht trösten, dass du somit fünf Leute gerettet hast. Sogar sechs, wenn man die Kugel mitzählt, die du abbekommen hast."

"Aber zwei sind tot", sagte Kat traurig. "Zwei Mädchen, die wir zwar nur flüchtig, aber trotzdem gekannt haben."
"Wer denn?" fragte Kim betroffen.
"Die Jessica Meier, und die Angelika Hoffmann. Beide von unserer alten Schule."
"Mist." Kims Augen füllten sich mit Tränen. Sie wandte sich schnell ab.
"Wie geht es den beiden Jungs?" fragte Kat, auch mit nassen Augen.
"Der mit dem Bauchschuß ist außer Lebensgefahr, aber noch auf der Intensivstation. Der andere... Die Ärzte operieren noch, aber er wird wahrscheinlich den Rest seines Lebens im Rollstuhl sitzen. Vollständige Lähmung ab der Hüfte. Die Kugel hat die ganzen Nerven in der Wirbelsäule durchschlagen."
"Das darf nicht wahr sein!" Kat sah ihn aufgebracht an. "Und warum das alles? Hat dieser durchgeknallte Idiot gesagt, warum er das gemacht hat?"
"Ja." Degenhart sah sie fest an. "Jemand hat es ihm befohlen. Irgendeine Stimme hat ihm gesagt, er muß in den Treff gehen und Leute erschießen. Er wird gerade verhört. Entweder spielt er verrückt oder er ist es, aber das werden wir herausfinden. Aber wie auch immer, er wird auf jeden Fall wegen zweifachen Mordes und dreifachen Mordversuchs angeklagt werden, sofern die anderen beiden Verletzten am Leben bleiben." Er wandte sich zu ihrem Vater, als in diesem Moment eine Schwester herauskam und Kat das Rezept in die Hand drückte. Kat bedankte sich, Degenhart wartete, bis die Schwester wieder in dem OP war, dann redete er weiter.

"Nun zu Ihnen, Herr Summers. Der Beamte, der sowohl von Ihrer Tochter als auch von Ihnen angegriffen worden ist, will Anzeige gegen Sie beide erstatten. Wegen Körperverletzung und Widerstand gegen die Staatsgewalt. Sie beide sind seinen Aufforderungen nicht nachgekommen. Was ist Ihre Meinung dazu?"
"Ich erhielt einen Anruf von meiner Tochter Kathryn", antwortete er ruhig. "Sie sagte, daß sie angeschossen, jedoch nicht schwer verletzt worden sei. Daraufhin habe ich mich sofort ins Auto gesetzt und bin zum Treff gefahren. Ich habe dem Beamten, der übrigens äußerst unfreundlich war, erklärt, daß meine Tochter in dem Treff ist und zu den Opfern gehört. Er erwiderte nur, daß ich verschwinden soll. Ich habe es ein zweites Mal versucht und ihm auch meinen Namen genannt, aber er machte nur eine Drohgebärde in Richtung seiner Waffe." Er zuckte mit den Schultern.
"Ich hatte keine Lust, noch länger mit ihm zu diskutieren, eben weil meine 14jährige Tochter angeschossen wurde, also habe ich ihn aus dem Weg geräumt."
"Das habe ich gesehen. Er kam ziemlich schnell in den Treff, allerdings mehr waagerecht als senkrecht, und war wohl offenbar schon in der Luft bewußtlos."
"Kann gut sein. Ich habe mich um ihn nicht weiter gekümmert."
"Und bei dir, Kim?"
"Fast genauso. Als Sabrina und ich vom Einkaufen zurück kamen, haben wir die ganzen Polizeiwagen und Krankenwagen vor dem Treff gesehen. Zwei fuhren gerade ab. Wir sind dann sofort zum Eingang gerannt. Ich habe dem Typ gesagt, daß meine Schwester da drin sei, und er meinte, daß seine Oma auch da drin sei und daß wir verschwinden sollen. Da hab ich mir eben den Weg frei gemacht."
"Wir werden uns natürlich bei dem Beamten entschuldigen", sagte Herr Summers. "Seine Drohung mit der Anzeige hat nichts damit zu tun; das hatte ich sowieso vor. Allerdings sollte er abwägen, ob er wirklich die Angehörigen von angeschossenen Kindern wegschicken darf, ohne sich über ihre Identität vergewissert zu haben. Er zeigte einen bemerkenswerten Mangel an Kooperationsbereitschaft. Selbst wenn ich die Umstände zugrunde lege, warum er vor der Tür stand, muß doch sichergestellt sein, dass sowohl Eltern wie auch Verwandte von Tatopfern Zugang zu dem Opfer bekommen. Er jedoch hat sich nicht einmal die Mühe gemacht, herauszufinden, ob ich die Wahrheit sage. Seine Argumentation beschränkte sich auf: Verschwinden Sie!"
"Wie bei mir", stimmte Kim ruhig zu. "Ich sagte ihm, daß meine Schwester in dem Treff sei, aber er war direkt anti."
"Er war was?"
"Anti. Gegen alles eingestellt, was ich sagte. Nichts geglaubt. Nur abgeblockt. Und ich hab mir halt Sorgen um Kat gemacht. Ich wußte doch gar nicht, was da passiert war. Da noch nicht." Ihre Augen wurden eisig. "Wenn ich jedoch gewußt hätte, daß sie angeschossen wurde, hätte er jetzt noch immer Probleme mit seinem Magen. Den hätte ich ihm nämlich um die Wirbelsäule gewickelt!"
"Kim." Der Anwalt meldete sich sehr sanft.
"Ist schon okay. Er ist ja nicht verletzt worden. Nicht schlimm zumindest."
"Im Gegensatz zu dir, obwohl du überhaupt nicht da warst, als die Schießerei passierte." Degenhart musterte Kims Gesicht. "Woher hast du das Veilchen und die Wunde an der Wange?"
"Von einem Schüler aus meiner alten Klasse. Der hat mich heute morgen überfallen."
"Dich überfallen?" Degenhart riß die Augen auf. "War das der Sohn von Bruce Lee?"
"Nein." Kim lächelte geduldig. "Wegen einer Auseinandersetzung gestern habe ich ihm zwei Freischläge erlaubt, erst nach dem dritten habe ich mich gewehrt."
"Okay." Er winkte ungeduldig ab und wandte sich wieder an ihre Eltern. "Jetzt verraten Sie beide mir noch, woher ich Sie kenne, dann können Sie alle nach Hause gehen."

"Wir haben Durchschnittsgesichter", meinte Frau Summers lapidar. "So etwas wie uns sieht man ziemlich oft. Wir sind uns jedenfalls noch nie begegnet, Herr Degenhart. Ganz sicher. Nicht bewußt."
"Mag sein, nur..." Seine Finger trommelten gegen seinen Oberschenkel. "Können Sie beide auch Kung Fu?"
"Mein Mann ist Trainer für Kung Fu, ich für Judo und die ersten zwei Jahre Karate."
"Dann ist klar, woher die Mädchen das haben. Was machen Sie eigentlich, wenn die beiden eine Tracht Prügel verdient haben?"
"Wir warten, bis sie schlafen, binden sie schnell fest und verhauen sie erst dann."
"So etwas dachte ich mir schon fast. Haben Sie Verbindungen nach München oder Hollywood?"
"In der Tat." Herr Summers lächelte. "Sie haben ein gutes Gedächtnis, Herr Degenhart. Meine Frau und ich haben bis vor zwei Jahren Actionfilme gedreht. Das behandeln Sie bitte vertraulich."
"Daher!" Degenhart lachte erleichtert auf. "Ich wußte, daß ich Ihr Bild irgendwo gesehen habe. Kein Steckbrief, aber ein öffentlicher Aushang. Jetzt ist das klar. Sind Sie so gut wie in den Filmen?"
"Nein." Er zuckte mit den Schultern. "Wenn wir hier gegen Wände laufen, bleiben die heil, aber wir gehen kaputt. Im Film ist es umgekehrt."
"Aber gegen Ihre Töchter können Sie sich noch wehren?"
"Meistens. Und das ist ehrlich gemeint. Noch habe ich sie im Griff, aber nicht mehr lange." Er drückte die beiden Mädchen wegen Kats Verletzung vorsichtig an sich. "Sie geben uns allerdings nur äußerst selten einen Grund, richtig böse auf sie zu sein."
"Das kann ich wirklich nur hoffen!" stieß Degenhart hervor. "Wenn ich daran denke, Kim oder Kat verhaften zu müssen, oder sogar beide... Lieber nicht. Gut, das war's von meiner Seite. Es wird natürlich zu einer Verhandlung kommen, bei der Kat auf jeden Fall anwesend sein muß. Einmal als Zeugin, aber auch, weil sie den Amokschützen entwaffnet hat. Das wird zwar im ersten Moment niemand glauben, aber der Staatsanwalt kennt sich sehr gut mit Kampfsport aus."
"Ich weiß", meinte Herr Summers trocken. "Jens nimmt bei mir Unterricht."
"Aha." Degenhart zuckte mit keiner Miene. "Dann wird Kats Glaubwürdigkeit wohl nicht angezweifelt werden. Kat, du bist unglaublich leichtsinnig gewesen. Und unglaublich mutig."
"Und viel zu langsam." Sie sah ihn mit nassen Augen an. "Ich hab gesehen, wie er die Pistole gezogen hat, aber ich konnte es einfach nicht glauben. Wenn ich eher reagiert hätte, könnten die beiden vielleicht noch leben."
"Das ist doch Bullshit!" ereiferte sich Degenhart. "Kind! Zur Hölle noch mal, du bist mitten in einem gemütlichen, ruhigen Jugendtreff und sorgst für die Musik, und da kommt jemand rein und ballert los. Verflucht, Kat, selbst ein Bulle wie ich hätte im ersten Moment nur ungläubig gestarrt. Du hast nicht zu spät reagiert, Kat. Du hast sogar fünf Menschen gerettet! Fünf Menschen, auf die er wegen deines Mutes nicht schießen konnte. Typen wie der ballern das ganze Magazin leer. Mach dir das mal klar!"
"Glauben Sie?" fragte Kat kleinlaut.
"Nein, das weiß ich. Kat, das hier ist Bremen, nicht Hintertupfing, wo sich Fuchs und Hase vor dem Schlafengehen noch ein Küßchen geben. Ich habe leider viel zu oft gesehen, daß Typen wie der durchdrehen und ganze Familien oder Kneipen förmlich ausrotten. Du hast nicht zu spät reagiert. Du hast im Gegenteil verdammt mutig und tapfer reagiert." Er legte seine Hand an ihren Hinterkopf und drückte kurz, dann ließ er sie los. Kat lächelte tapfer.
"Na gut", meinte sie. "Ich mache mir aber trotzdem Vorwürfe."
"Soll ich dir was verraten?" Degenhart sah sie ernst an. "Wenn ich zu einem Mord oder schweren Überfall gerufen werde, mache ich mir auch Vorwürfe, daß ich nicht da war, als es passiert ist."
"Aber das geht doch gar nicht!" erwiderte Kat erstaunt. "Sie können doch nicht überall gleichzeitig sein!"
"Richtig, Kat. Genau das meine ich. Denk da mal drüber nach. Bestimmte Dinge passieren leider, und nur durch dich ist ein noch viel größerer Schaden verhindert worden. Wenn du nicht da gewesen wärst oder überhaupt nicht reagiert hättest, wären jetzt mehr Menschen tot. So einfach ist das. Von jemandem wie mir wird erwartet, daß er sich todesmutig auf einen schießenden Irren wirft, aber niemand erwartet das von einem Mädchen wie dir. Niemand! Kapiert?"
"Kapiert." Sie stieß den Atem aus. "Sie haben ja irgendwo recht."
"Nicht nur irgendwo, sondern ganz sicher. Frag deine Eltern mal, wie viel Jugendliche sie in ihren Kursen haben und wie viele davon so etwas getan hätten wie du. Ich bin ziemlich sicher, dass die Antwort 'Null' lauten wird."
Kat sah fragend zu ihren Eltern, die beide nickten.
"Stimmt, Kitty", sagte ihre Mutter. "Ich habe fünf oder sechs in deinem Alter, die recht fit sind, aber eben nur in der Halle. Draußen... Da würden sie mehr mit Angst reagieren als mit Tat."
Ihr Vater stimmte zu. "Bei mir auch. Ich habe viele Kinder, die in einer Schlägerei bestehen würden, aber sich gegen einen bewaffneten Mann wehren, der noch dazu nicht direkt vor ihnen steht... Nein."
Kats Gesicht hellte sich etwas auf. Nachdenklich schmiegte sie sich an ihren Vater, während ihre Mutter ihr über das Haar strich.
"Gut." Degenhart sah die Eltern an. "Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen noch einen Psychologen vorbei schicken, der sich mit Kat unterhalten wird. Ich kann nicht sagen, daß Kat unter Schock steht, aber es war ein immerhin nicht gerade alltägliches Ereignis, das sie erlebt hat."
"Danke", erwiderte Kat, "aber das ist nicht nötig. Durch den Kampfsport haben Kim und ich etwas stärkere Nerven als der Rest. Ich werde noch viel mit meinen Eltern darüber reden, und dann ist es raus."
"Das ist auch ein Weg", stimmte Degenhart zögernd zu. "Na schön. Dann sehen wir uns spätestens
bei der Verhandlung. Die wird in etwa einem halben oder dreiviertel Jahr stattfinden. Machen Sie's gut. Du vor allem, Kat. Und du, Kim, bleib sauber."
"Immer." Sie schenkte ihm ihrem kühlsten Blick, den er mit einem ironischen Lächeln quittierte. Er nickte kurz in die Runde und verschwand.
"So." Herr Summers sah sich um. "Kat ist versorgt, Kim ist kaltschnäuzig wie eh und je, bleibt nur Sabrina. Wie geht es dir?"
"Ich zittere." Sabrina lächelte dünn. "Aber es geht."
"Dann komm noch mit zu uns", bat Kat. "Bitte! Wir reden über alles, und dann geht's uns allen besser. Außerdem bekomme ich langsam Hunger. Oder willst du nach Hause, Bienchen?"
"Ja." Sabrina seufzte. "Das möchte ich schon. Aber wenn meine Eltern erfahren, was passiert ist, erlauben sie mir nie wieder, die Wohnung zu verlassen. Ich komme mit. Mit ihnen könnte ich sowieso nicht so gut reden wie mit euch." Sie lächelte verlegen.
"Sabrina, komm mal her." Frau Summers streckte die Arme aus. Sabrina flog hinein und weinte übergangslos. Der Schock, die Angst und das Entsetzen lösten sich und flossen hinaus. Frau Summers hielt sie fest und wiegte sie sanft, bis Sabrina sich ausgeweint und wieder gefangen hatte.
"Und jetzt geht's schon viel besser, nicht wahr?" lächelte sie. Sabrina nickte verlegen.
"Ja, danke. Das war wohl nötig."
"Sicher war es das." Herr Summers schaute sie mitfühlend an. "Sabrina, wir vier kennen Gewalt. Du nicht. Es ist doch völlig normal, daß dich das viel mehr mitnimmt als uns. Aber wenn es dir ein Trost ist: Auch meine Frau und ich waren fertig mit den Nerven, als Kat angerufen hatte. Dafür sind wir viel zu sehr Eltern als nur Trainer. Und jetzt auf. Ich brauche ein Bier." Er sah grinsend zu Sabrina und legte seinen schwersten amerikanischen Akzent auf.
"That's why we live here: wegen das deutscher Bier!"

Eine Stunde später saßen sie zu fünft im Wohnzimmer der Familie Summers, das sehr gemütlich, wenn auch etwas zu modern für Sabrinas Geschmack eingerichtet war. Die Eltern hatten es mit einer Sitzgruppe aus dunklem Leder ausgestattet, die nur aus einzelnen Elementen bestand und in ihrem Fall zu einem "U" angeordnet war. Die Schrankwand und der Tisch bestanden aus schwarzem, auf Hochglanz poliertem Holz, die Tischbeine und Streben der Schrankwand aus blitzendem Chrom. Sabrina fand das etwas kalt, doch die Lederelemente waren äußerst bequem und komfortabel. Kat saß auf einem Sessel und redete, redete, redete. Ihre Eltern hörten ihr schweigend zu, ohne jemals eine Frage zu stellen oder sie zu unterbrechen. Kim und Sabrina hatten sich etwas von Kims Eltern abseits niedergelassen, wobei Kim Sabrina im Arm hielt, was Sabrina zwar peinlich war, Kims Eltern aber nicht zu stören schien. Wieder und wieder erzählte Kat von dem Vorfall, und mit jedem Mal fielen ihr mehr Details ein, bis sie schließlich das ganze Bild vor Augen hatte.
In dem Moment setzte der Schock ein.
Kat begann, heftig zu zittern, und sofort waren ihre Eltern bei ihr und fingen sie auf. Kat weinte und schluchzte so hemmungslos wie Sabrina vorher, schrie sogar manchmal laut, als ihr richtig bewusst wurde, daß zwei Mädchen, die sie gekannt hatte, nun tot waren, schlug vor Wut und Frust auf ihre Eltern ein und brach schließlich weinend zusammen.
"Das war's", sagte Kim leise zu der ängstlich zuschauenden Sabrina. "Jetzt ist es draußen. Morgen wird sie wieder ganz die alte sein."
"Macht ihr das immer so?" wisperte Sabrina.
"Ja." Kim fuhr zärtlich durch Sabrinas Haare. "Damals, als der Lehrer uns so betatscht hatte, auch. Die Schule wollte Kat und mich gleich zu einer Therapie schicken, aber wir haben das an einem Wochenende hier unter uns geklärt. Erst Kat, dann ich. Sie am Samstag, ich am Sonntag. Ich vertrage etwas mehr Schocks als Kat, deswegen fing sie an. Das haben wir von Vater gelernt, Hübsches. Daß man viel über etwas Unangenehmes reden muß. Zuerst wird das ganz deutlich und steigt auf, dann platzt es und ist weg."
"Aha." Sabrina sah zu, wie Herr Summers Kat vorsichtig auf den Arm nahm und in ihr Zimmer trug. Frau Summers setzte sich zu Sabrina und Kim. Sabrina wollte sich schnell aufrichten, doch Kim hielt sie fest.
"Kat geht ins Bett", sagte sie sachlich. "Morgen ist sie wieder fit. Was ist mit dir, Sabrina? Gibt es etwas, worüber du reden möchtest?"
"Nein." Sabrina lächelte verlegen. "Das wäre so viel, daß ich bis Sonntag abend durchreden würde."
"Kat und ich kümmern uns um sie", meinte Kim. "Wir sind schon mittendrin. "Gut." Sie strich Sabrina kurz durch das Haar. "War kein leichter Tag für dich, nicht wahr?"
"Nein. Aber das Schlimmste habe ich gar nicht gesehen."
"Sei froh." Frau Summers seufzte leise. "Ich finde es sehr traurig, daß Kat die toten Mädchen und die verletzten Jungen gesehen hat, aber alles hat irgendwo einen Sinn, auch wenn wir den zur Zeit nicht sehen oder verstehen. Es ist gleich halb zehn. Soll ich dich nach Hause fahren?"
Sabrina erschrak. "So spät schon?"
"Leider." Kim zuckte mit den Achseln. "Dann hoch mit dir, du hast dich lange genug ausgeruht."
"Klar, jetzt bin ich wieder schuld. Wer sonst." Sie lächelte Kim an und stand auf. "Kann ich Kat noch gute Nacht sagen?"
"Besser nicht, Sabrina. Ihr Vater legt sie nur hin und läßt sie dann in Ruhe. Da kommt er ja schon."
"Sofort eingeschlafen", meinte Herr Summers lächelnd. "Wie ein Baby. Wie machen wir das in der nächsten Zeit mit ihr?"
"Ich werde sie baden", bot sich Kim an. "Morgen früh wasche ich sie am Waschbecken, und abends stecke ich sie in die Wanne. Beim Anziehen helfe ich ihr auch."
"Prima, Kim. Danke." Herr Summers sah Sabrina an. "Du mußt langsam nach Hause, nicht wahr? Soll nicht heißen, daß wir dich loswerden wollen."
"Bin schon auf dem Weg", lächelte Sabrina. "Wo sind meine Schulsachen, Kim? Irgendwie habe ich den Überblick verloren."
"Noch im Arbeitszimmer. Willst du die Klamotten anlassen oder deine anziehen?"
"Ach ja!" Erschrocken sah Sabrina an sich herunter. Sie trug noch immer Kims Rock und Strümpfe und Kats Hemd. "Ich ziehe mich schnell um. Die liegen bei dir, nicht?"
"Genau."
"Du könntest sie anlassen", schlug Frau Summers vor. "Dann sehen deine Eltern, daß du langsam erwachsen wirst."
"Sie würden einen Herzinfarkt bekommen", seufzte Sabrina. "Röcke darf ich nur tragen, wenn sie das Knie bedecken."
"Deine Knie sind doch bedeckt", schmunzelte sie. "Aber ich verstehe, was du sagen willst. Trotzdem siehst du sehr gut darin aus."
"Danke. Ich geh mich eben umziehen." Sie flüchtete förmlich.
"Ziemlich scheu", meinte Herr Summers nachdenklich. "Bei der Mutter kein Wunder. Sie hat sich nicht besonders verstellen können, als wir sie eingeladen haben."
"Sabrina hat keine Schuld an ihren Eltern", wandte seine Frau ein. "Eher umgekehrt."
"Das wollte ich damit ausdrücken. Ihr kommt mit ihr aus, Kim?"
"Mehr als das, Papa. Wir verstehen uns bombig."
"Gut. Endlich mal eine richtige Freundin. Gibt's Streit zwischen Kat und dir wegen ihr?"
"Nein. Das erstaunt uns selber. Wir teilen sie. Wenn Kat den DJ macht, rede ich mit ihr, und wenn ich den DJ mache, ist Kat bei ihr. Klappt ganz gut."
"Freut mich." Er fuhr Kim kurz über den Kopf und sah dann zu seiner Frau. "Was glaubst du? Wird der Cop uns anzeigen?"
"Nein. Degenhart wird ihm das ausreden und ihn ins Gebet nehmen. Daß er dem Vater eines angeschossenen Mädchens den Zugang verwehrt hat, hat Degenhart sehr aufgeregt, obwohl er sich nichts hat anmerken lassen. Aber seine Augen haben ihn verraten."
"Da habe ich nicht drauf geachtet. Er ist auch ein Cop, und auf die war ich vorhin nicht gut zu sprechen."
"Verständlich. Wenn ich an deiner Stelle gewesen wäre, hätte ich ihn flach auf den Boden genagelt, Cop hin oder her. Egal. Kim, auf Kats Nachttisch liegen ihre Schmerztabletten. Achtest du bitte darauf, daß sie die morgen früh einsteckt? Nur für alle Fälle."
"Sicher. Woran merke ich, daß sich ihre Wunde entzündet?"
"Am Fieber. Ihr wird heiß werden, und sie wird unkonzentriert und müde. Wenn das bis Samstag nicht passiert, kommt es gar nicht mehr. Diese Nacht und der Tag morgen sind kritisch."
"Werde ich drauf achten." Sie schaute ihren Vater an. "Papa, könntest du Bienchens Eltern am Sonntag etwas beeinflussen? Sie möchte auch gerne Kung Fu lernen, meint aber, daß ihre Eltern ihr das nie erlauben werden."
"Ich kann es versuchen. Das würde ihr auf jeden Fall helfen, sicherer zu werden. Das Mädchen ist verdammt unsicher, wenn ihr mich fragt."
"Tut aber keiner, weil das jeder sehen kann." Seine Frau schmiegte sich an ihn, er schnitt ihr eine Grimasse. "Überreden wir sie nicht. Sagen wir es ihnen nicht einmal. Sie könnte ja anfangs bei uns trainieren. Das Grundtraining mit Kim und Kat. Da wird sie schnell feststellen, ob es ihr Spaß macht oder nicht, und sie wirft auch kein Geld aus dem Fenster. Sie kann einen Anzug von Kat oder Kim geliehen haben. Einen weißen Gürtel müßten wir auch noch finden. Wenn sie es dann wirklich will, kann sie ihren Eltern besser gegenüber treten als jetzt."
"Einverstanden. Kat wird am Montag wieder trainieren wollen, Jane. Was wirst du tun?"
"Das, was sie schon immer lernen wollte: einhändig kämpfen. Vielleicht basteln wir neue Abwehren zusammen."
"Klingt gut. Achtet aber bitte darauf, daß sie den Arm nicht belastet. Das wäre für den Arzt ein guter Grund, Kat in der Klinik zu behalten, und wie sie darauf reagiert, haben wir vorhin erlebt."
"Das ist mir klar", lächelte Frau Summers. "Ich werde mit Kat trainieren, Kim kann sich um Sabrina kümmern und ihr die Grundtechniken zeigen. Dave, könntest du Sabrina vielleicht nach Hause bringen? Ich wollte mit Kim noch etwas besprechen."
"Sicher. Worum geht es?"
"Frauenkram."
"Schon kapiert. Geht mich also nichts an."
"Genau." Sie drückten sich lachend. Kim sah ihnen lächelnd zu; sie ahnte schon halb, was ihre Mutter wollte.
Ein paar Minuten später war Sabrina mit Herrn Summers unterwegs nach Hause. Frau Summers setzte sich neben Kim und schaute sie gespielt böse an.
"Wir wollten doch über alles reden, Kimmy. Also rede."
"Ach, Mama!" Kim ließ sich lachend gegen sie fallen. "Das ist sehr schwer. Weil ich nicht weiß, wie ihr reagiert."
"Du weißt, wie ich reagiere, wenn du etwas verschweigst. Also mach den Mund auf."
"Na gut." Kim sammelte ihren Mut.
"Bienchen. Ich weiß nicht, wieso und warum, aber wir - wir empfinden sehr viel füreinander. Vom ersten Moment an, als wir uns gesehen haben."
"Mehr als Freundschaft?"
"Sehr viel mehr." Kim schaute sie ratlos an. "Bei ihr genauso, Mama. Sie hat jedoch zusätzlich noch das Problem, daß sie es nur sehr schwer akzeptiert."
"Und warum akzeptierst du das so schnell? Ihr wolltet doch auch eher Freunde als Freundinnen. Gerade in dem Alter jetzt."
"Ja, das ist das Merkwürdige daran, Mama. Ich habe sie gesehen, und es hat gefunkt. Sofort und tief. Und es kam mir keinen einzigen Moment falsch vor. Ich habe gemerkt, daß es bei ihr ähnlich aussieht, daß sie aber viel mehr Probleme damit hat. Deswegen habe ich sie besonders kalt behandelt, doch sie durchschaut mich viel zu schnell. Schneller als jeder andere vorher. Sie ist gleich an meinen Kern gekommen. Und sie hat mir, bevor wir in die Stadt gefahren sind, schon so Kontra gegeben, daß selbst mir für einen Moment nichts mehr eingefallen ist."
"Hm." Sie sah Kim forschend an. "Was denkt Kat darüber?"
"Wir haben noch nicht richtig darüber gesprochen, aber sie sagte, daß Sabrina und sie trotzdem befreundet sein können. Und sie meinte es auch so."
"Na gut. Ich verstehe, warum du das für dich behalten wolltest. Ich finde, sie ist ein nettes Mädchen, aber das sind Millionen andere auch. Andererseits liebe ich deinen Vater wahnsinnig, während die meisten seine kühle Art nicht ausstehen können." Sie lächelte gemein. "Aber du wolltest ja sowieso immer ein Junge sein. Nun leb auch damit."
"Mama!" Kim drückte sie lachend. "Das wollte ich mit vier Jahren! Jetzt doch nicht mehr. Ich find's toll, ein Mädchen zu sein. Also hast du nichts dagegen?"
"Komm mal zu mir." Sie zog Kim auf ihren Schoß und drückte sie herzlich.
"Ich verrate dir mal etwas über deine Mutter, diese Jane Harris, wie sie vor ihrer Heirat hieß. Jane liebte es, verrückte Sachen zu tun. Sie ist nachts aufgestanden und im Mondschein spazierengegangen. Zuerst alleine, später dann mit einem Jungen aus der Nachbarschaft. Wir sind nachts schwimmen gegangen. Natürlich nackt; es sollte ja spannend sein."
"Wie alt wart ihr da?" fragte Kim aufgeregt. Frau Summers grinste breit.
"Neun. Mit zehn sind wir durch die ganze Stadt gezogen und haben Unfug angestellt. Wir sind wie verrückt auf diesem Kabel herumgesprungen, mit dem bei der Tankstelle die Ankunft eines Wagens angekündigt wurde. Der Besitzer war schon soweit, den Hund auf uns zu hetzen. In der Eisdiele haben wir so getan, als wären wir am Nordpol, und vor uns hin gezittert. Nur Unfug. Mit zwölf hatte ich eine Freundin, die mir - bestimmte Dinge gezeigt hat, die man sonst nur mit einem Jungen macht. Du verstehst? Das war für mich eine tolle Zeit. Ich habe nie gedacht, daß ich lesbisch sein könnte. War ich auch nicht. Nur für eine gewisse Zeit, die mir sehr viel Freude gemacht hat. Dadurch konnte ich mit meinem ersten richtigen Freund sehr viel sicherer umgehen, weil ich schon viele Dinge wußte und kannte. Beantwortet das deine Frage?"
"Ja!" Sie drückte ihre Mutter stürmisch. "Danke, Mama!"
"Gern geschehen. Sei Vater gegenüber aber bitte nicht so deutlich, ja? Als Sabrina vorhin bei dir im Arm lag, hat ihn nur die Sorge um Kat davon abgehalten, darüber nachzudenken. Er ist zwar mit vielen Dingen, die in dem prüden Amerika üblich sind, nicht einverstanden, aber gleichgeschlechtliche Partnerschaften gehen ihm vollkommen gegen den Strich."
"Aber wir haben doch nur so wenig Zeit", sagte Kim leise. "In der Schule geht nichts. Bei den Hausaufgaben nur sehr, sehr wenig. Anschließend sind wir im Treff. Dann essen wir. Wir trainieren. Wir haben doch nur ein paar Minuten am Tag für uns. Und wenn wir mit dem Aufholen fertig sind... Na gut, dann haben wir vielleicht mehr Zeit, aber viel ist das immer noch nicht."
"Du wirst es schon richtig machen, Kimmy. Und gib vor allem Sabrina Zeit, mit ihren Gefühlen klarzukommen. Du mußt dich entscheiden, was wichtiger ist: ihr Gefühl oder ihre Unsicherheit. Beides gleichzeitig könnte zu Konflikten führen."
"Das habe ich schon gemerkt." Kim nickte nachdenklich. "Doch, das war deutlich. Sie muß erst sicherer werden, damit sie mit ihren Gefühlen umgehen kann."

"Genau. Nun geh duschen, Kimmy. Laß deine Tür und die von Kat auf, wenn du schlafen gehst, damit du sie hörst, wenn was sein sollte."
"Mach ich. Danke, Mama."
Sabrina und Herr Summers hatten ein noch intensiveres Gespräch.
"Na?" fragte er, als sie auf der Hauptstraße waren. "Hat Kim dich etwas trösten können?"
"Sogar etwas mehr", gestand Sabrina verlegen. "Das war alles so furchtbar heute."
"Leider ja", seufzte er. "Viele Menschen lehnen Gewalt ab, weil sie Angst davor haben, selber einmal das Opfer von Gewalt zu werden, aber dennoch ist sie rings um uns herum. Kim sagt, du würdest auch gerne Kung Fu lernen?"
"Ja. Um etwas sicherer zu werden."
"Das schaffst du damit nicht", erwiderte er kühl. "Dir kommt es doch mehr darauf an, jemanden zu verprügeln."
"Ist doch gar nicht wahr!" Sabrina starrte ihn überrascht an. "Wie kommen Sie denn auf so was?"
"Weil ich dir das an der Nasenspitze ansehe, Sabrina. Du hast jetzt gesehen, wie schnell man einen Menschen umnieten kann. Nur mit Händen und Füßen. Das macht natürlich Eindruck auf jemand, der so unsicher ist wie du. Viele Menschen in deiner Situation glauben, wenn sie Kampfsport lernen, dass sie dann die Herren der Welt sind."
"Jetzt habe ich genug!" explodierte Sabrina, was sie selber am meisten überraschte. "Herr Summers, Sie sind völlig auf dem Holzweg. Aber total! Ja, ich habe gesehen, wie jemandem die Nase gebrochen wurde, und ich hätte beinahe auf die Straße gekotzt, als der wie ein Schwein blutete. Ich habe aber auch gesehen, mit welcher Sicherheit Kim und Kat durch alle möglichen Probleme gehen, und ich weiß, daß diese Sicherheit aus dem Wissen kommt, alles bestehen zu können. Alles! Auch Gewalt, wenn's sein muß. Deswegen bin ich ja so unsicher, verdammt!" Sie begann zu weinen, hielt die Tränen jedoch sofort zurück.
"Ich lasse mich von allem möglichen aus der Ruhe bringen", setzte sie ihre Rede beherrscht fort. "Von einem schiefen Blick bis hin zu einer gezeigten Faust. Eben weil ich weiß, daß ich Gewalt hilflos ausgeliefert bin. Und gerade weil ich weiß, daß ein Streit oft zu Gewalt ausartet, haue ich direkt ab, wenn es zum Streit kommt. Ich will mich nicht prügeln. Ich will nur sicher sein, verdammt noch mal!"

"Wir beginnen Montag abend, nach dem Abendessen." Er lächelte, als Sabrina ihn fassungslos ansah. "Du kannst einen Anzug von Kim anziehen. Jane - also meine Frau - wird dir mit Kim zusammen die Grundlagen zeigen, und wenn es dir nach ein paar Wochen immer noch gefällt, dann redest du mit deinen Eltern, daß sie dich bei uns in der Schule anmelden. Der nächste Kurs beginnt Anfang Februar. Es kostet im Monat einhundert Mark, inklusive Versicherung. Anzug und Prüfungsgebühren kommen extra. Ein Anzug kostet von achtzig bis zweihundert Mark. Bei uns in der Schule hängen allerdings oft Angebote von Leuten, die ihren gebrauchten für zwanzig oder dreißig Mark verkaufen. Bei deiner Figur paßt dir der einer schlanken Frau. Größe 36 höchstens."
"Das war ein Test!" Sabrina starrte ihn verblüfft an. "Das war ein Test!"
"Schlaues Kind." Er zwinkerte ihr zu. "Wir sorgen eben dafür, daß wir keine Schläger aufnehmen, und viele erkennen wir schon beim ersten Gespräch. Einverstanden?"
"O ja!" Sabrina nickte heftig. "Vielen, vielen Dank! Trainieren wir dann bei Ihnen zu Hause?"
"Natürlich. Jane - Ach, paß auf, Sabrina. Du kannst meine Frau und mich ruhig beim Vornamen nennen. Sie ist Jane, ich bin David. Jane trainiert gerne mit den Mädchen, weil sie so sehen kann, was den Tag über passiert ist. Wenn Kim oder Kat Ärger gehabt haben, drückt sich das in ihrem Kampf aus. So haben wir die zwei wenigstens etwas unter Kontrolle. Warum bist du unsicher?"
"Weil mir keiner was zutraut", erwiderte sie leise. "Bis auf Kim und Kat. Und Sie und Ihre Frau. Weil mir keiner beigebracht hat, wie man richtig diskutiert."
"Und weil du bei Diskussionen mit deinen Eltern immer verlierst, wenn es um deine Wünsche geht, nicht wahr?"
"Ja! Woher wissen Sie das?"
"Weil ich ähnliche Eltern hatte, Sabrina." Er bremste hart, als ein Wagen aus der Seitenstraße ihm die Vorfahrt nahm. Gleichzeitig schoß sein rechter Arm zu Sabrina und drückte gegen ihre Schultern, um sie abzustützen. Sabrina erschrak, als sie spürte, daß der nicht besonders kräftig aussehende Arm hart wie Eisen war. Herr Summers schaute dem Wagen kühl hinterher, nahm seinen Arm weg und fuhr weiter.

"Meine Eltern haben mich allerdings geprügelt, von morgens bis abends", redete er ungerührt weiter. "Manchmal auch nachts. Deswegen bin ich mit 15 von zu Hause abgehauen. Was eine Familie ist, weiß ich erst durch Jane, Kim und Kat. Und warum ein Schläger Kampfsport lernen will, weiß ich aus eigener Erfahrung. Das haben mir die Mönche jedoch sehr schnell ausgetrieben. Sie haben mir einen11jährigen Jungen gegeben, den ich verprügeln sollte. Glaubst du, ich hätte den auch nur berühren können? Diese kleine Ratte war so flink, daß der mich ausgelacht hat, als ich versucht habe, ihn zu treffen. Ich geriet mehr und mehr in Wut, bis ich plötzlich ausgerastet bin. Ich muß ziemlich durchgedreht haben. Irgendwann wurde mein Kopf wieder klar. Ich saß völlig ausgepumpt auf dem Boden, und der kleine Junge saß gänzlich unverletzt vor mir. Er schaute mich nur an. Mehr nicht. Jeder sagt, daß chinesische Augen kein Gefühl ausdrücken können, aber sie können es, Sabrina. Mehr als deutlich. Der Junge, dieser kleine, 11jährige Junge, hatte Mitleid mit mir. Das hat mir mehr weh getan als alles andere. Von da an ging's vorwärts. Heute raste ich nur noch aus, wenn jemand meine Familie bedroht, weil sie mir wichtiger als alles andere ist."
"Deswegen auch das vorhin?"
"Richtig. Normalerweise höre ich auf die Polizei, selbst unter großem Streß, aber ich hatte nur noch Kat und ihre Schußwunde im Kopf. Es war gut, daß dieser Verrückte schon weg war. Wenn ich den gesehen hätte..." Er schüttelte den Kopf. "Das wäre überhaupt nicht gut ausgegangen."
"Für ihn?"
"Das sowieso, aber mehr für uns. Kim und Kat haben schon sehr wenig von ihren Eltern; da muß nicht einer noch im Gefängnis sitzen."
"Verstehe." Sabrina lächelte schief. "Als ich Kat gesehen habe und ihren verletzten Arm, da war ich wie gelähmt. Und gleichzeitig wütend. Und total neben mir. Alles in mir zitterte, und ich wollte in alle Richtungen gleichzeitig gehen."
Herr Summers nickte grinsend. "Panik. Kenne ich. Hatte ich früher auch oft genug. Sag mal, irgendwo hier muß ich abbiegen, oder?"
Sabrina sah sich um und wurde rot. "Ja, eine Straße zurück, dann links rein. Ich hab nicht aufgepaßt; tut mir leid."
"Kein Problem."
Wenig später hielt er vor dem Hochhaus, in dem Sabrina wohnte. "18. Stock?" sagte er anerkennend, als er das Haus musterte. "Da mußt du einen tollen Blick haben."
Sabrina lachte fröhlich. "Ich bin ja kaum zu Hause. Aber stimmt schon. Nachts ist das toll. Wenn ich mitten in der Nacht auf Toilette muß, sitz ich anschließend noch gerne etwas auf der Fensterbank und schaue raus. Selbst um drei Uhr morgens ist noch viel Licht. Danke fürs Bringen."
"Gern geschehen. Denk dran, Sabrina: die Sicherheit liegt in dir. Du musst sie nur entdecken. Jeder hat sie, auch du."
Sabrina lächelte herzlich. "Danke. Bis spätestens Sonntag."
"Mach's gut, Sabrina." Er wartete, bis sie im Haus war, dann fuhr er zügig zurück nach Hause.
Sabrina wurde natürlich gleich ins Kreuzverhör genommen, warum Kat einen Unfall gehabt hatte. Wie abgesprochen, erzählte sie etwas von einem dicken Muskelfaserriß, den ihre Eltern auch sofort glaubten. Sie bedauerten Kat tüchtig, stellten sicher, daß es trotzdem bei der Einladung für Sonntag blieb, und redeten dann noch etwas mit Sabrina wegen der neuen Klasse, bis sie gegen halb elf todmüde und erschöpft ins Bett fiel.
Am nächsten Morgen warteten Kat und Kim auf sie wie gestern an der Bushaltestelle, an der sie alle umsteigen mußten. Kat war schon wieder richtig gut drauf.
"Eine Nacht Tiefschlaf heilt alle Wunden", meinte sie grinsend, als sie Sabrina drückte. "Und bei dir?"
"Eine ähnliche Therapie." Sabrina zwinkerte ihr zu und wandte sich dann zu Kim. "Morgen, Kim."
"Morgen." Kim hatte wieder ihren kalten Blick angelegt. "Bereit für einen zweiten Versuch?"
Sabrina las in der Tiefe von Kims Augen, was sie meinte. Wieder begann ihr Herz zu rasen.
"Jederzeit. Schlimmer als gestern kann's wohl kaum werden."
Kim registrierte den Doppelsinn. "Beim zweiten Mal geht's meistens besser." Sie schwenkte wieder auf klare Rede. "Die neue Klasse soll ja auch viel ruhiger sein."
"Will ich hoffen." Kat sah sich prüfend um. "Können wir heute einen Bus später nehmen? Ich möchte nicht unbedingt einen Rucksack in die Wunde bekommen, und einen Ellbogen schon gar nicht."
"Kein Problem." Kim sah wieder zu Sabrina. "Vater sagte, du trainierst ab Montag mit uns?"
"Ja", grinste Sabrina mutig. "Damit du endlich mal Konkurrenz bekommst."
Kim stieß den Atem aus. "Du gehst mir auf die Nerven!" Wütend drehte sie sich weg. Sabrina erschrak und sah zu Kat, doch die grinste breit.
"Matt!"
"Was?"

Kat lachte fröhlich. "Kims nächste Antwort auf deine Bemerkung wäre eine Beleidigung gewesen, und die hätte nicht mehr gepaßt, weil sie nicht mehr freundschaftlich gewesen wäre. Du hast sie matt gesetzt, Sabrina. In einem Zug. Nicht schlecht."
"Könntet ihr vielleicht mal etwas leiser sein?" knurrte Kim. "Einige versuchen hier zu lernen."
"Ja, wie sie sich verbal wehren können", lachte Kat ausgelassen. "Komm wieder zu uns, Kim. Dreh dich um."
"Nein, danke. Hier ist der Straßenteer schöner." Kims Stimme hätte selbst im Hochsommer jeden vor Kälte erschauern lassen. Kat zwinkerte Sabrina zu.
"Schöner als Sabrina und deine eigene Schwester?"
"Auf jeden Fall interessanter." Kim drehte sich wieder um, ihr Blick fiel auf Sabrina und drückte große Bewunderung aus. "Nicht schlecht, Sabrina. Gar nicht mal schlecht. Weißt du, daß du heute schon sehr viel sicherer wirkst als noch vorgestern?"
"Ich fühle mich auch viel stärker", gab sie - im Gegensatz zum Inhalt ihres Satzes - schüchtern zu. Genau deswegen mußten Kat und Kim breit grinsen.
"Das hörte sich aber wie die alte Sabrina an." Kim klopfte ihr auf die Schulter. "Das kommt alles noch. Vorsicht, Kat!"
Sie hielt ihrem Arm schützend vor Kats verletztem Arm, als der erste Bus zur Schule kam und alles nach vorne drängte. Wenig später war es schon viel leerer auf dem Bussteig, doch von den anderen Steigen und über die Straße kamen durchgehend Schülerinnen und Schüler auf ihre Haltestelle zu.
"Danke." Kat drückte Kims Hand. "Da habe ich gar nicht drauf geachtet."
"Habe ich gemerkt." Sie sah Kat kritisch an. "Bist du wirklich in Ordnung?"
Kat seufzte. "Nein. Die Schmerzmittel benebeln ganz schön. Ich hab eine lange Leitung und kann nicht besonders klar denken. Aber ich komme durch den Tag. Bestimmt."
"Sag, wenn's nicht mehr geht. Nicht jeder Schüler hat eine so perfekte Entschuldigung wie du."
"Wird schon gehen."
Ein weiterer Bus kam, der wieder sehr viele Kinder und Jugendliche nach draußen entließ. Kat seufzte stumm.
"Hat keinen Sinn, Kim. Wir nehmen den nächsten. Wir haben um acht Uhr einen Termin."
"Ich weiß." Kim legte ihren Kampfblick an. "Sabrina, du gehst vor. Wir nehmen Kat in die Mitte. Sieh zu, daß sie in der Ecke stehen kann, ziemlich geschützt."
"Geht klar."
"Was?" Kim fuhr zu Sabrina herum, die etwas erschrak.
"Was denn?"
Kim schüttelte den Kopf. "Kat, hast du das auch gerade gehört?"
"Ja." Kat lächelte herzlich. "Das kam richtig sicher und selbstbewußt. Weiter so, Bienchen."
"Du bist verletzt", sagte Sabrina schlicht. "Der Gedanke, daß dir jemand weh tut, tut mir auch weh. Ich passe auf."
Kats Blick wurde ganz weich. "Das ist das Liebste, was ich jemals von einer Freundin gehört habe. Danke, Sabrina."
"Da kommt er." Kim sah zur Straße, auf der ein Bus auf sie zu fuhr. Die drei Mädchen stellten sich auf. Als er hielt und die Türen sich öffneten, preschte Sabrina vor. Kat hielt sich mit dem gesunden Arm an ihrer Jacke fest, Kim stützte sie auf den Stufen. Zwei Sekunden später hatten sie Kat sicher in die Ecke gepackt, der verletzte Arm wurde von Kim abgeschirmt. Der Bus füllte sich genauso schnell wie der gestrige.
"Geschafft. Gut gemacht." Kim lächelte Sabrina an. "Du hast ja richtig Power in dir."
"Ich kann mich halt gut tarnen", gab sich Sabrina geheimnisvoll.
"Das Gefühl habe ich auch. Wer bist du wirklich? Catwoman? Supergirl?"
"Eher Wonderwoman", lächelte Kat. "Kim, sie kennt sich in der Szene nicht aus."
"Ist das mein Problem?" erwiderte Kim kühl. "Sie hat ja mit Tarnung angefangen."
"Nun werd nicht gleich sauer. Was hast du jetzt?"
"Ach!" Kim sah sich wütend um. "Mir geht nur diese Rücksichtslosigkeit auf die Nerven. Jeder kann doch sehen, daß du den Arm in der Schlinge trägst, aber keiner kümmert sich darum."
"Doch", widersprach Kat. "Ihr beide."
Das löste Kims Ärger auf.
"Hast ja recht", sagte sie ruhiger. "Tut mir leid, Bienchen. Ich wollte dich nicht anfahren."
"Kannst du ohne Führerschein auch gar nicht", lächelte Sabrina. "Ist schon gut, Kim. Ich mache mir auch Gedanken."
"Siehst du deswegen so verkrampft im Gesicht aus?"
"Nein, das kommt von dem Bonbon, das du mir gegeben hast. So was schmeckt dir?"
"Nein, damit schrecke ich Leute ab und halte sie von mir fern."
"Äh -" Sabrina lachte auf. "Nein. Verloren."
"Gut." Kim lächelte gemein. "War auch nicht einfach, weil ich das auf mich bezogen habe. Wenn du über andere lästerst, fällt es leicht, zu kontern, aber nicht, wenn du über dich selber lästerst. Das blockiert andere im ersten Moment."
"Ja!" lachte Sabrina. "Genau so! Ich wußte nicht mehr, was ich denken sollte. Da war nichts mehr."
"So kennen wir dich." Kim drückte sie leicht. "Das war jetzt eine Beleidigung, aber bei Freunden nur eine böse Stichelei."
"Ja, so kennen wir dich." Sabrina sah Kim direkt in die hellen blauen Augen und hielt den Blick.
"Wobei ich noch nicht so ganz genau weiß, wer besser dran ist: deine Freunde oder deine Feinde."
"Na, meine - Äh... Mist!" Kim lachte hell. "Alles alle da oben. Respekt, Sabrina. Zweimal an einem Morgen. Jetzt muß ich langsam mal wieder loslegen und trainieren."
"Wie wäre es mit nachher?" schlug Sabrina mit heftig schlagendem Herzen vor. "Da ziehen wir uns ein paar Minuten zurück und üben."
"Das klingt nach einer wirklich guten Idee." Ihre Augen tauchten in die von Sabrina ein. "Nach einer sehr guten Idee. Weißt du schon, wer beginnt?"
"Du kriegst den ersten Schlag", antwortete Sabrina aufgeregt. "Und ich kontere."
"Einverstanden. Hoffentlich kippst du nicht gleich um."
"Keine Sorge. Ich bin zwar nicht so fit wie du, aber wenn's drauf ankommt, habe ich einiges drauf."
"Wir werden sehen." Kim spürte in sich die gleiche wilde Erregung wie Sabrina. "Nachher im Treff?"
"Als erstes im Treff."
"Die Schule kommt gleich", unterbrach Kat sie. "Wir gehen als letzte raus."
"Geht klar." Kim sah Sabrina noch einen Moment an, dann löste sie den Blick. "Irgendwie freue ich mich auf den Tag heute."
"Klar", lächelte Kat. "Neue Klasse, Treff eröffnen... Was genau hast du da eigentlich vor?"
"Was geheimes." Kim sah sie kalt an. "Jeder Versuch, mir dieses Geheimnis entreißen zu wollen, wird mit dem Tod bestraft."
"Dann sag's wenigstens mir!" bettelte Sabrina ganz lieb.
"Okay. Ich werde was geheimes machen."
"Danke!" lachte Sabrina. "Jetzt kenn ich das Geheimnis!"
"Au weia!" stöhnte Kat. "War ich in dem Alter auch so?"
Der Bus hielt an der Haltestelle vor der Schule. Kat, Kim und Sabrina gingen als letzte hinaus.
"Wann habt ihr eigentlich Geburtstag?" fragte Sabrina, als sie zur Schule gingen.
"Im Juli. Am 16."
"Nein!" Sabrina blieb wie vom Blitz getroffen stehen. "Ich auch!"
"Was?" Nun erstarrten Kim und Kat. "Auch 1984?"
"Ja!"
Die drei starrten sich wechselseitig an. Kat faßte sich als erste.
"Na gut. Das erklärt, warum wir uns so gut verstehen. Sabrina, weißt du die Uhrzeit, zu der du geboren bist?"
"Nein, aber das müßten meine Eltern wissen. Wißt ihr eure?"
"Ja. Über die Zeit reden wir am Sonntag noch mal." Kat schüttelte den Kopf. "Ist ja cool. Bringen wir jetzt erst mal den Anmeldekram hinter uns."

Punkt acht Uhr betraten die drei Mädchen das Sekretariat. Wie schon vorgestern bekamen sie einen Stundenplan, eine Aufstellung, was bisher in der Klasse durchgenommen worden war, und je einen Zettel für den Lehrer, der damit ihre Daten ins Klassenbuch eintragen konnte. Kats Armschlinge löste zwar Erstaunen aus, aber "Muskelfaserriß" kannte und akzeptierte jeder ohne weitere Rückfragen. Zumindest bis ein sehr streng aussehender Mann Anfang Vierzig aus dem Nebenzimmer kam. Trotz des nicht hohen Alters hatte er schon viele graue Haare. Er war eher schmächtig, doch seine imposante Ausstrahlung machte das mehr als wett. "Habe ich doch richtig gehört", meinte er, während er zu den Mädchen trat. "Ich bin Direktor Roberts.
Kathryn Summers! Das war unglaublich tapfer von dir. Wie geht's deinem Arm?"
"Tut etwas weh", lächelte sie verlegen. "Aber ich wollte den ersten Tag in der neuen Klasse nicht versäumen. Woher -"
"Pst!" Er lächelte, was ihn plötzlich sehr jungenhaft wirken ließ. "Das bleibt unser Geheimnis. Ich würde nie verraten, daß Thomas Müller und ich gute Freunde sind. Außerdem geht euch das überhaupt nichts an, daß Armin Degenhart und ich in der gleichen Kneipe Darts spielen. Ich denke, Herr Albers hatte recht mit seiner Beurteilung. Und du bist Kimberley?" Er musterte Kims Gesicht.
"Ich habe noch gestern ein Schreiben an die Eltern von Harald aufsetzen lassen. Das war genau der eine Vorfall zuviel. Es wäre noch zu akzeptieren, wenn er sich mit Jungen prügelt, obwohl ich selbst das verurteile, aber einen brutalen Übergriff gegen ein Mädchen... Er kann sich nach einer anderen Schule umsehen. Tut's weh?"
"Nein", lächelte Kim. "Ihm tut's heute wohl mehr weh als mir."
"Das kann ich mir sehr gut vorstellen. Herr Albers hat mir von den beiden Gesprächen berichtet. Die 9b wird euch bestimmt gefallen." Er lächelte herzlich. "Was ist mit dem Jugendtreff?"
"Den machen wir um drei ganz normal auf", antwortete Kim bestimmt. "Tom wollte zwar nicht, aber ich mache notfalls auch ohne ihn auf."

"Das hat er erzählt. Und auch, welchen Schlüssel du benutzen willst. Würdest du das wirklich tun?"
"Ja, Herr Direktor." Kim sah ihn entschlossen an. "Tom hat den Laden hochgebracht, und auch wenn das gestern ein furchtbares Erlebnis war, kann er nicht einfach das Handtuch werfen. Die Jugendlichen brauchen den Treff und die Vermittlung von Arbeitsstellen. Das muß weiterlaufen!"
"Warum interessiert dich das so?" fragte er beiläufig. "Mit eurem Wissen und eurer Intelligenz würdet ihr doch auch so gute Stellen bekommen, ohne den Treff."
"Es sind aber nicht alle so wie wir", erwiderte Kim ruhig. "Viele haben Probleme zu Hause und können deswegen nicht in Ruhe lernen und bekommen schlechte Noten, obwohl sie mehr auf dem Kasten haben, als die Noten effektiv aussagen. Viele werden von Eltern oder sogenannten Freunden in Berufe gedrängt, die sie gar nicht wollen und in denen sie langsam aber sicher vor die Hunde gehen. Der Treff ist wichtig! Nur weil Kat und ich vielleicht bessere Noten haben, ist das noch lange kein Grund für uns, die Augen zu verschließen."

"Kreuzritter", lächelte Herr Roberts. "Gestern morgen war ich noch anderer Meinung, aber jetzt bin ich froh, euch an dieser Schule zu haben. Kathryn, Kim hat Herrn Albers gegenüber erwähnt, daß du an deiner alten Schule eine Initiative gegen Gewalt an Schulen aufgebaut hast?"
"Da hat er Kim nicht ganz korrekt zitiert", erwiderte Kat. "Ich habe in einer Gruppe mitgearbeitet, die sich zum Ziel gesetzt hat, mehrere Leute als Unterstützung der Lehrer bei der Pausenaufsicht heranzubilden. Außerdem sollten diese Leute als Schlichter bei Streitfragen fungieren. Ähnliche Projekte gibt es an mehr und mehr Schulen, und es gibt an wirklich jeder Schule viele Schülerinnen und Schüler, die von ihrer Persönlichkeit her für diese Rollen qualifiziert sind." Sie lächelte.
"Unsere Ini hieß 'S.O.S.'. Die Abkürzung für: Schüler ohne Schule. Das Symbol war ein großes Gebäude, das von einer Faust zertrümmert wird."

Herr Roberts zog die Augenbrauen hoch. "Ein sehr treffendes Symbol. Hatte das großen Zuspruch?"
"O ja!" lächelte Kat. "Die Lehrer hatten zu dem Zeitpunkt, wo Kim und ich die Schule verließen, so viel Unterstützung, daß sie nichts mehr zu tun hatten, sondern ihre Pause auch genießen konnten. Auf dem Schulhof gab es pro Pause etwa zehn Personen, die die Augen offenhielten, und weitere Gruppen gingen die Toiletten und Kellergänge ab, um Sachen wie Drogenhandel oder Schlägereien aufzudecken und zu beenden. Diese Gruppen waren mit drei oder vier Leuten bestückt, nur für alle Fälle. Der Zulauf war so groß, daß jeder nur einmal in der Woche drankam, und alle waren sehr motiviert bei der Sache. Es lief im übrigen gewaltfrei ab. Es wurde immer versucht, mit Worten zu schlichten, was auch immer klappte, weil versucht wurde, einen Kompromiß zu finden, mit dem beide Streithähne leben konnten."
"Hast du auch dabei mitgemacht, Kimberley?"
"Sicher", schmunzelte Kim. "Ich war allerdings bei der Patrouille, wie wir das genannt haben. Ich war im Keller unterwegs, wo zum Teil sogar Waffen wie Messer und speziell präparierte Baseballschläger verkauft wurden. Obwohl wir Zwillinge sind, ist Kat besser im Planen. Sie kann besser mit Leuten umgehen."
"Sehr interessant. Hättet ihr etwas dagegen, wenn wir diese Dinge mal in aller Ruhe besprechen? Es wäre schön, wenn wir an dieser Schule auch so etwas hätten."
"Ganz im Gegenteil", sagte Kat erfreut. "Nach dem, was wir in den letzten zwei Tagen hier erlebt und gesehen haben, wäre es an der Zeit, daß auch hier so etwas aufgebaut würde. Keine Kritik!"
"Ich weiß. Wenn ihr diese Erfahrungen hinter euch habt, wißt ihr auch, daß die Lehrer erstens nicht überall sein können und sie zweitens nur wenig Erfahrung haben, gewalttätige Konflikte zu lösen. Es ist zwar ein Teil des Pädagogikstudiums, aber leider nur ein kleiner Teil. Es wird sich viel zu viel auf den gesunden Menschenverstand verlassen, der auch bei Lehrern nach vier oder sechs anstrengenden Stunden schon mal leiden kann."
"Genau deswegen gibt es diese Gruppen", stimmte Kat ruhig zu. "Weil Lehrer Menschen sind und auch nur Nerven haben. Und bevor eine ganze Klasse unter einem gereizten Lehrer leiden muß, der von wütenden Schülern sowieso als Feind empfunden wird, ist es besser, die Lösung den Leuten zu überlassen, die das Problem auch verursachen: den Schülern."
"Gut gesagt, Kathryn. Und genau den Punkt getroffen. Gut! Dann würde ich sagen, ich spreche euch noch einmal darauf an. Sabrina, du bist bei diesem Gespräch etwas außen vor geblieben, aber nach dem, was ich über dich gehört habe, könntest du mit deiner sehr friedfertigen und vorsichtigen Art auch bei der Planung teilnehmen. Kathryn und Kimberley sind durch ihre Kenntnisse der Selbstverteidigung und ihrer Erfahrung für diese Aufgabe prädestiniert, aber es wäre ja möglich, dass sie manchmal eine Art - Bremse brauchen." Er lächelte listig. "Du könntest gut diese Bremse sein."
"Mehr, als Sie ahnen", sagte Kim inbrünstig. "Viel mehr, als Sie ahnen. Sabrina muß auf jeden Fall dabei sein. Sie sieht immer beide Seiten und blickt durch, auch wenn sie nach außen etwas still ist."
"Schön. Dann ab mit euch in eure neue Klasse, in der ihr euch viel wohler fühlen werdet."
"Danke!" Glücklich eilten die drei hinaus.
"Super!" jubelte Kim leise. "Gestern noch Schulfeind Nummer Eins, heute der Liebling vom Direx. Ist Schule nicht geil?"
"Ist schon lustig", grinste Kat. "Das zeigt aber wieder mal, wie sehr Menschen nach dem ersten Eindruck gehen, der weiß Gott oft genug sehr oberflächlich ist. Bienchen, hättest du Lust, an so einem Projekt mitzumachen? Frieden in die Schule zu bringen?"
"O ja!" seufzte Sabrina. "Das käme mir sehr entgegen."
"Und es würde dir auch viel Sicherheit geben", sagte Kim ernst. "Innerlich. Aber erst mal muß Kats Arm wieder fit sein. Gehen wir noch was raus oder gleich hoch?"
"Gehen wir hoch; ich möchte mich setzen." Kat lächelte dünn. "Herr Doktor, wenn ich schlafe, dann geht's."
"Dann los. Sollen wir dich tragen?"
"Wage es nicht!" lachte Kat.
Wenig später waren sie vor der Tür zu ihrem neuen Klassenraum angelangt. Auf dem Flur standen schon mehrere Jungen und Mädchen.
"Ist noch zu", meinte ein Junge aufmerksam, als Kim zur Tür ging.
"Danke." Sie lächelte ihm kurz zu. Das war schon ein ganz anderer Empfang als gestern.
"Seid ihr neu?" fragte ein Mädchen.
"Ja. Und nein. Sabrina, erklär du das."
"Okay." Sabrina sah das Mädchen an. "Ich bin Sabrina, und du?"
"Nicole."
"Hi. Kim und Kat haben die Schule gewechselt, ich bin mit den Eltern aus einem Vorort in die Stadt gezogen. Und wir drei waren gestern und vorgestern in der 9d, sind aber jetzt in die 9b versetzt worden."
"Da könnt ihr nur drüber glücklich sein!" meinte Nicole ernst.
"Aber todsicher." Der Junge, der Kim auf die verschlossene Tür aufmerksam gemacht hatte, stimmte entschieden zu. "Ich bin Paul. Alle Witze, die es über meinen Namen gibt, habe ich schon gehört."
"Kein Witz." Kat sah ihn lächelnd an. "Du hast dir deinen Namen genauso wenig ausgesucht wie wir unsere. Ich bin Kat, meine Schwester heißt Kim. Das sind die Kurzformen von Kathryn und Kimberley."
"Kommt ihr aus Amerika?"
"Unsere Eltern. Wir sind Deutsche, trotz der Namen. Ist die 9d tatsächlich so schlimm?"
"Ein Haufen von Schlägern." Paul schüttelte den Kopf. "Und so, wie ihr zwei ausseht, scheint ihr schon mit denen Bekanntschaft geschlossen zu haben."
"Paul!" stöhnte ein anderer Junge. "Guten Morgen! Die mit den weißen Haaren ist die, die den Harry ins Krankenhaus gebracht hat."
"Morgen, Sven!" rief Paul überrascht. "Bist du schon lange hier? Hast Frühstück dabei?"
Alles lachte. Sabrina, Kat und Kim schauten sich kurz, aber erleichtert an. Dieser Haufen war tatsächlich sehr viel besser als der aus der 9d.
Um viertel nach acht kam der Lehrer, der den Raum aufschloß. Kim, Kat und Sabrina warteten, bis alle anderen drin waren, dann gingen sie hinein und gleich zum Lehrer, der sie freundlich begrüßte und ihre Zettel entgegennahm.
"Wer von euch ist wer?" fragte er die Schwestern.
"Kat ist die in Schwarz, und ich bin Kim."
"Danke. Wie wollt ihr angeredet werden? Mit dem vollen Namen oder der Kurzform?"
"Kurzform reicht völlig aus", lächelte Kat.
"Okay. Was ist mit deinem Arm?"
"Muskelfaserriß. Halb so wild."
"Aha." Er lächelte mitfühlend und sah zu Kim. "Und du hast dich mit Harry angelegt?"
"Er wollte es ja so", erwiderte Kim trocken.
"Tja", meinte der Lehrer mit belustigt schimmernden Augen. "Jeder macht mal einen Fehler. Wenn ich nicht Lehrer wäre, würde ich jetzt sagen, daß diese Lektion für ihn längst überfällig war, aber da ich Lehrer bin, darf ich es nicht sagen und werde es also auch nicht sagen." Jeder in der Klasse lachte laut.
"Ich bin sehr gut im Überhören von nicht gesagten Sätzen", gab Kim mit einem leisen Lächeln zurück.
"Schön. Dann setzt euch. Wollt ihr drei zusammen sitzen?"
"Wenn es geht, ja."
"Dann kommt her!" rief ein Mädchen.
"Danke, Angela", sagte der Lehrer. Angela packte ihre Sachen und rutschte einen Platz weiter, während die drei schnell zu ihren neuen Plätzen gingen. Der Lehrer wartete, bis alle saßen und zumindest Hefte und Stifte ausgepackt hatten, dann begann er.
"Ich heiße Norbert. Das ist tatsächlich mein Nachname, und niemand ist darüber unglücklicher als ich." Er schien, wie Kat erleichtert feststellte, zur lustigen Sorte zu gehören. "Ich begrüße euch herzlich im Kreis dieser kleinen Gemeinschaft und hoffe -"
Die Tür wurde aufgerissen, und ein Mädchen kam atemlos hereingestürzt.
"Ich hab etwas verschlafen", entschuldigte sie sich.
"Keim Problem, Monika. Du hast nur die Ankunft von drei neuen Schülerinnen verpaßt."
"Ja?" Das Mädchen sah sich um, entdeckte Kim und Kat, und flippte aus.
"Kat!" Sie schluchzte auf, rannte unter den erstaunten bis fassungslosen Blicken quer durch den Raum auf Kat zu, umarmte sie und weinte. Selbst Kat wußte mit dieser plötzlichen Ehre nichts anzufangen.
"Offenbar gibt es doch noch Großfamilien", meinte Herr Norbert trocken, was einen weiteren Lacher verursachte. "Monika?"
Das Mädchen riß sich zusammen und richtete sich auf. "Tut mir leid", sagte sie mit bebender Stimme. "Kat hat gestern abend mein Leben gerettet. Dieser Irre zielte schon auf mich, als Kat ihn ansprang und umhaute."
"Du warst auch im Treff?" rief Kat perplex. "Ich hab dich gar nicht gesehen!"
"Du hattest ja auch jede Menge anderes zu tun. Was macht dein Arm?"
"Geht wieder."
"Monika?" Herr Norbert wurde etwas lauter, blieb jedoch höflich. "Was genau ist bitte los?"
"Also." Das Mädchen sammelte sich, was ihm offensichtlich nicht so ganz leicht fiel. "Gestern abend kam ein total Irrer in den Jugendtreff, hat zwei Leute erschossen und zwei weitere schwer verletzt. Und gerade als er auf mich zielte, hat Kat ihn angesprungen und bewußtlos geschlagen. Allerdings wurde sie dabei angeschossen. In den linken Arm. Ohne sie wäre ich jetzt auch tot oder im Krankenhaus."
"Du bist das!" Herrn Norbert fielen vor Schreck glatt die drei Zettel der Mädchen aus der Hand. "In der Zeitung stand, daß 'ein in Nahkampf geschultes Mädchen den Amokschützen entwaffnet und überwältigt' hat. Das bist du?"
"Ja." Kat nickte verlegen. "Ich wollte eigentlich nicht, daß das bekannt wird, aber das mußte ja wohl früher oder später herauskommen. Schon gut, Monika", sagte sie schnell, als Monika erschrak. "Spätestens heute nachmittag im Treff wäre das sowieso passiert. Ich bin froh, daß du noch lebst."
"Frag mich mal!" Sie fing wieder an, zu weinen, fing sich aber gleich wieder. "Danke, Kat!"
"Na toll." Herrn Norberts laute Stimme übertönte das erstaunte und erregte Gemurmel in der Klasse. "Monika, fühlst du dich wirklich fit genug für die Schule?"
"Ja." Das Mädchen nickte schnell. "Zu Hause brüte ich doch nur vor mich hin."
"Na gut. Kat, was war das mit dem Muskelfaserriß?"
Kat grinste. "Bisher hat es jeder geglaubt."
"Findest du das gut, deinen neuen Lehrer gleich in der ersten Minute anzulügen?" Lautes Lachen der Klasse wies Kat darauf hin, wie er das meinte.
"Sicher!" erwiderte sie munter. "Da die Ermittlungen noch laufen, darf ich als Hauptzeugin keine Details über den Fall bekanntgeben." Auch dieser Satz erntete Gelächter.
"Na schön." Er wartete, bis es wieder ruhig war, dann wurde er sehr ernst. "Du bist also angeschossen worden. Schlimm?"
"Glatter Durchschuß", antwortete Kat verlegen. "Tut etwas weh, aber ich wollte nicht den ersten Tag hier versäumen."
"Monika und du solltet zu Hause und im Bett sein." Er schüttelte den Kopf. "Na gut. In welchem Nahkampf bist du geschult?"
"Kung Fu."
"Wie geschult?"
"Schwarzer Gürtel."
"Deine Schwester auch?"
"Ja."
"Dann verstehe ich das auch mit Harry. Wieder zwei Schülerinnen, die ich nicht anschreien darf, ohnemein Leben zu riskieren. Blöder Job." Das laute Lachen löste Kats Verlegenheit und die Spannung.
"Allerdings", sagte er schmunzelnd, als wieder Ruhe herrschte, "habe ich schon gehört, daß ihr drei dramatische Auftritte liebt. Dieser hier jedoch dürfte kaum mehr zu überbieten sein. Kat, wenn es dir mies geht, melde dich bitte sofort. Ich persönlich würde dich sofort nach Hause schicken. Dich übrigens auch, Monika. Aber wenn ihr meint, ihr steht das durch, soll es mir recht sein. Habt ihr drei den Lehrplan vorliegen?"
"Ja." Kim nickte. "Sabrina und wir arbeiten zusammen, um die Lücken aufzuarbeiten. In einem Monat sollten wir in jedem Fach den Anschluß geschafft haben. Soweit wir gesehen haben, entspricht der Stand dieser Klasse in etwa dem, den auch unsere vorherige hatte. Etwas weiter, aber nicht viel."
"Das kommt genau hin. Sprecht bitte am Ende jeder Stunde eure Lehrer an, was ungefähr in den nächsten Klassenarbeiten drankommt, dann könnt ihr schon mal Schwerpunkte setzen. Damit kommen wir mal zu den langweiligeren Dingen wie Unterricht."
"Darf ich vorher bitte noch etwas sagen?" bat Kat.
"Sicher."
"Danke." Sie stand auf und sah sich um. Alle sahen sie gespannt an. "Ich bin eine ganz normale Schülerin wie alle anderen auch", begann sie. "Heute morgen, als ich über das nachgedacht habe, was ich gestern gemacht hatte, kam das große Zittern. Nur weil ich Kung Fu kann, habe ich gestern reagiert anstatt abzutauchen. Ich will damit nur sagen, daß ich weder ein Held noch sonst was bin. Bitte behandelt mich ganz normal. Meine Schwester und Sabrina auch. Sie kamen erst kurz nach der Schießerei an und haben das ganze Chaos noch mitbekommen. In der Zeitung wird der Irre kurz und trocken als Amokschütze beschrieben. Monika und ich waren aber mittendrin und haben alles mitbekommen. Wir haben die Schüsse und die Schreie gehört, wir haben die beiden toten Mädchen und die angeschossenen Jungen gesehen. Und natürlich das ganze Blut. Ich kann nur sagen, daß es entsetzlich war." Monika schluchzte auf; auch Kat hatte mit den Tränen zu kämpfen.
"Aber", sagte sie mit erhobener Stimme, "das war gestern. Sabrina und Kim haben gestern Abend mit Tom, dem Leiter des Treffs, wieder alles in Ordnung gebracht. Sie haben aufgeräumt, alles sauber gewischt und gesaugt. Der Treff macht heute wie sonst auch um drei Uhr auf. Sabrina, Kim und ich werden ab drei Uhr dort sein und unser Programm durchziehen. Ich weiß nicht, wer kommt oder ob überhaupt jemand kommt. Die Leute, die gestern dabei waren, werden wahrscheinlich nicht mehr kommen. Das verstehe ich sehr gut. Ich bekomme auch Krämpfe im Bauch, wenn ich daran denke, in sieben Stunden dort zu sein. Aber wenn wir jetzt aufgeben und nicht mehr hingehen, hat dieser Irre nachträglich sein Ziel erreicht. Der Treff ist für Jugendliche wie uns gemacht. Und genau dazu werden Sabrina, Kim und ich ihn wieder machen. Tom wollte gestern alles hinschmeißen, aber Sabrina und Kim haben ihn überredet, heute wieder zu öffnen. Deshalb meine Bitte an euch: sagt allen auf der Schule, die ihr kennt, Bescheid. Der Treff muß weiterlaufen! Die Vermittlung von arbeitslosen Jugendlichen muß weiterlaufen! Vielleicht stehen wir alle in zwei Jahren auf der Straße und wären dann heilfroh, wenn es diesen Treff noch gäbe. Wir haben die Wahl, unserer Angst vor Gewalt nachzugeben oder gegen sie anzugehen. Sabrina, Kim und ich werden dagegen angehen, und wir hoffen inständig, dass auch viele andere dagegen angehen. So viele wie möglich. Danke."
Herr Norbert war der erste, der ihr applaudierte, doch das war nur einen Sekundenbruchteil vor allen anderen, die mit den Knöcheln auf die Tische schlugen. Kat setzte sich mit einem verlegenen Lächeln und schloss die Augen, als die Wunde in ihrem Arm wieder heftig pochte.
"Drei Uhr?" fragte Herr Norbert, als es ruhig geworden war.
"Drei Uhr", erwiderte Kim.
"Ich werde da sein. Ich werde auch gleich in der Pause alle anderen Lehrer informieren. Ist das okay, Kat? Ich meine, wenn wir alten Knacker dahin kommen?"
"Ausnahmsweise!" lachte Kat erleichtert. "Das wäre so toll, Herr Norbert!"
"Ich weiß, dass ich toll bin, aber trotzdem danke." Er lächelte ihr zu.
"So!" rief er dann laut. "An die Bücher!"
Nach diesem Einstand hatte Kat natürlich keine Chance mehr, unerkannt zu bleiben. Doch auch ohne diese Einführung durch Monika wurde sie von einigen anderen Schülern, die gestern den Amoklauf miterlebt hatten, dankend angesprochen, so dass sich ihr Bekanntheitsgrad bis zum Ende des Schultages in ungeahnte Höhen geschraubt hatte. Ihre kleine Rede vor der Klasse wurde von Herrn Norbert im Lehrerzimmer wiedergegeben und stieß dort auf sehr gute Resonanz. Viele Lehrerinnen und Lehrer entschlossen sich spontan, ein Vorbild zu geben und in den Treff zu gehen, und sie informierten auch ihre Klassen darüber, daß der Jugendtreff ganz normal weiterlaufen würde. Natürlich hatten viele Jugendliche Angst, den Schauplatz eines brutalen Verbrechens aufzusuchen; es bestand immerhin die Möglichkeit, daß sich so etwas wiederholen würde. Viele Schülerinnen und Schüler erwähnten außerdem, daß die Eltern ihnen den Besuch des Treffs verboten hätten, doch es gab immer noch genügend, die sich vornahmen, mal vorbeizuschauen.

Um halb drei, bei Schulschluß, war Kat so ziemlich am Ende ihrer Kraft. Ihre Wunde spannte, klopfte, brannte und hämmerte wie verrückt, und ihr Gesicht war ziemlich blaß, doch sie hielt durch. "Ich kann mich im Treff auf ein Sofa hauen", meinte sie, als Kim ihr empfahl, nach Hause zu fahren. "Ob ich zu Hause liege oder im Treff, ist doch egal, Kimmy. Außerdem muß ich kommen! Ich kann doch nicht groß rumtönen und dann einen Rückzieher machen. Ich weiß nicht, ob jemand kommt, aber wenn jemand kommt und mich nicht findet, habe ich verloren. Dann glaubt mir nie wieder jemand etwas."
Dem mußte Kim sich geschlagen geben.
Da Kat nach den sieben Schulstunden sehr schwach auf den Beinen war, rief Kim ein Taxi, das sie pünktlich um fünf vor drei vor dem Treff absetzte. Als sie ausstieg, sah Sabrina sie feuerrot werden, denn sie wurde von den vielen wartenden Menschen mit Beifall begrüßt. Thomas Müller überreichte ihr lächelnd den Schlüssel zum Treff, damit sie ihn öffnen konnte. Sie stieg die zwei Stufen zur Tür hinauf und drehte sich zu den etwa sechzig, siebzig Erwachsenen und Jugendlichen um.
"Ich möchte mich ganz herzlich bei allen, die jetzt hier sind, bedanken", sagte sie gerührt. "Manche mögen es verrückt nennen, daß wir den Treff einen Tag nach zwei Morden wieder öffnen, aber wir nennen es Gegenwehr. Wir wehren uns dagegen, uns von Gewalt unterkriegen zu lassen. Unser tiefstes Mitgefühl gilt den Angehörigen der Opfer, doch unsere Augen sind auf die Zukunft aller Jugendlichen gerichtet." Sie holte tief Luft.
"Der Jugendtreff Adlerstraße", rief sie begeistert, "mit Beratung und Vermittlung der arbeitslosen Jugendlichen ist geöffnet!" Sie schloß schnell die Tür auf und öffnete sie, begleitet von lautem Beifall.
"Na also!" lächelte Kim zufrieden. "Rein mit dir, Bienchen. Machst du den Ausschank? Pro Glas fünfzig Pfennig, egal was."
"Gerne."
Die Menge strömte hinein. Tom schaltete die Sicherungen ein, das Licht ging an. Kat schleppte sich zu einem Sofa an der Grenze zum zweiten Raum und fiel abgekämpft hinein. Kim und Sabrina gingen gleich hinter die Theke. Kim zeigte Sabrina kurz, wo alles stand, dann kümmerte sie sich um die Musik, die heute wesentlich leiser als sonst war. Sabrina hatte vom ersten Moment an sehr viel zu tun, und nach der ersten Panik kam sie gut klar. Kim schaute gelegentlich nach ihr, doch Sabrina hatte es, von verständlicher Nervosität wegen der vielen Menschen, mit denen sie zu tun hatte, gut im Griff. Nach der ersten Aufregung aller Menschen normalisierte sich der Treff wieder schnell.
Kat hatte eine weitere Tablette eingenommen und für ein paar Minuten die Augen geschlossen; danach ging es ihr besser. Sie setzte sich aufrecht hin, öffnete die Augen und sah direkt auf Tom, der sie vorwurfsvoll anschaute. Neben ihm standen Direktor Roberts und Herr Degenhart.
"Hier, meine Herren", dozierte Tom in bester Professorenmanie, "haben wir das perfekte Beispiel einer Fanatikerin. Trotz schwerer Verletzung unnachgiebig hart zu sich selbst und ihren Zielen verschworen."
"Tom?" sagte Kat ganz lieb.
"Ja, Kat?"
"Klappe!"
Nach dem pflichtgemäßen Lachen wurde Tom ernst. "Kat, du gehörst ins Bett."
"Ich weiß, Tom", entgegnete sie ernst. "Aber das kann ich auch heute abend noch. Ich habe schon Kim gesagt, daß ich nicht in der Schule so reden und dann hier nicht auftauchen kann. Tu einfach so, als wäre ich nicht da."
"Leider verstößt sie nicht gegen Gesetze", meinte Herr Degenhart mit deutlichem Bedauern. "Nur gegen die Vernunft, aber deswegen kann ich sie nicht verhaften."
"Wie schade!" lachte Kat. "Haben Sie keine Verbrecher zu jagen?"
"Im Moment nicht. Eine Verrückte hat gestern schon einen erlegt, dadurch habe ich heute etwas Freizeit."
"Aha." Kat sah ihn spöttisch an. "Darf ich raten, wer diese Verrückte ist?"
"Besser nicht. Da kommst du sowieso nicht drauf." Er schüttelte den Kopf. "Was macht dein Arm?"
"Brennt und klopft wie Hölle, aber das hat der Arzt mir gestern schon gesagt. Morgen wird auch noch mal schlimm, dann ist das Gröbste vorbei. Hat Ihr Vogel gesungen?"
"Nein, der Vogel hat sich im Käfig erhängt."
"Wie bitte?"
"Ja." Er setzte sich neben sie. "Daß sich jemand mit der eigenen Jeanshose aufhängt, habe ich auch noch nicht erlebt, aber er hat es geschafft. Heute morgen war er mausetot. Damit hat sich eine Verhandlung erübrigt."
"Ich kann nicht sagen, daß ich darüber sehr traurig bin", sagte Kat offen. "Ganz im Gegenteil."
"Verständlich, aber ich persönlich sehe es lieber, Verbrecher für ihre Taten zu bestrafen, als daß sie sich selbst richten."
"Herr Degenhart", sagte Kat sanft. "Mir ist vollkommen bewußt, daß unser Strafvollzug auf Wiedereingliederung aufgebaut ist. Auf Rehabilitation. Aber wenn ich höre und lese, wie viele Wiederholungstäter es gibt und wie viele Menschen leiden und sterben müssen, weil es Wiederholungstäter gibt, die von ihrer zugewiesenen Strafe aufgrund guter Führung nur einen Teil im Gefängnis verbringen, bevor sie wieder freigelassen werden, dann bekomme ich erhebliche Zweifel an diesem Rechtssystem."
"Weißt du", erwiderte er ruhig, "mir wäre viel lieber, du wärst nur eine Kampfsportlerin. Daß du auch noch intelligent bist, macht es mir nicht gerade leicht, mit dir zu diskutieren. Vor allem, wenn meine Gegenargumente nur Ideale und Ziele unseres Rechtsstaates anstatt Fakten sind, auf denen jedoch unser Staat und alle darin enthaltenen Systeme aufbauen."
"Kann ich mir denken. Ich will auch nicht mit Ihnen streiten, dazu fühle ich mich nicht fit genug. Ich weiß nur, daß ich gestern zwei Mädchen sterben gesehen habe. Wenn ich jetzt höre, daß der Täter sich selbst umgebracht hat, fühle ich eine gewisse Befriedigung. Normalerweise würde ich genau Ihre Seite vertreten, aber nicht heute. Nicht, nachdem das von gestern noch so frisch ist, und nicht bei diesem Irren, der nicht einmal ein nachvollziehbares Motiv hat, wie abartig es auch sein mag. Tom? Dürfte ich dich bitten, mir ein Glas Cola zu holen? Ich bin doch mehr kaputt, als ich dachte. Meine Beine sind total weich."
"Sicher, Kat." Er stand schnell auf und winkte ab, als sie ihm Geld geben wollte.
"Danke!" rief sie ihm hinterher.
"Ich bin eigentlich nur gekommen", meinte Degenhart, "um dir meine Bewunderung für deinen Mut auszudrücken, Kat. Genau wie Kim und Sabrina, die ja auch noch viel mitbekommen haben. Daß ihr euch so für den Treff einsetzt, ist wirklich bewundernswert."
"Danke", lächelte Kim verlegen. "Ist hinten viel los?"
"Jede Menge", antwortete ihr Schuldirektor. "Der Mann vom Arbeitsamt kann sich vor lauter Arbeit kaum einen Schluck Wasser gönnen."
"Prima!" stieß Kat erleichtert hervor. Sie ließ den Blick durch den gut gefüllten Raum gleiten. "Und hier ist auch wieder normal. Dann hat sich das alles gelohnt."
"Ich habe euch total falsch eingeschätzt." Ihr Direktor setzte sich ihr gegenüber hin. "Und dafür wollte ich mich entschuldigen. Kat, kurz vor eurem Wechsel auf unsere Schule hatte ich euch in die Gruppe der Unruhestifter eingeordnet. Ich ging davon aus, daß ihr mit der Sache mehr zu tun hattet, als ihr gesagt habt, eben weil ihr keine Anzeige erstattet habt."
"Anzeige?" Degenhart wurde hellhörig. "Worum geht's?"
"Danke, Tom." Kat trank einen großen Schluck der kalten Cola, die der Leiter des Treffs ihr in diesem Moment in die Hand drückte.
"Kim und ich", antwortete sie dann Degenhart seelenruhig, "wurden auf der alten Schule von einem Lehrer ziemlich grob im Intimbereich angefasst. Kim hat ihn verprügelt. Außerdem ist er inzwischen versetzt und seine neuen Vorgesetzten über seine - Vorliebe informiert worden. Das reicht als Strafe."
"O nein!" Degenhart schüttelte den Kopf. "Wie heißt der Lehrer?"
Kat sah ihn nur kurz an und blickte dann wieder auf Herrn Roberts. "Und weiter?"
"Das war es eigentlich schon." Er schaute besorgt zu Degenhart, der langsam rot anlief. "Kat, bei jährlich mehr als zweihundert neuen Schülern in allen Bereichen können wir nur nach dem urteilen, was wir anhand der Zeugnisse und sonstigen Unterlagen herausfinden. Bei euch beiden haben wir total daneben gelegen. Wie sehr ihr euch engagiert, stand nirgendwo."

"Die alte Schule war sehr gut im Verschweigen", lächelte Kat. "Sie werden bei Harry bestimmt auch nicht haarklein ins Zeugnis schreiben, warum er von der Schule geflogen ist."
Roberts nickte bekümmert. "Richtig. Nur dass es bei euch beiden wichtig gewesen wäre, etwas ausführlicher zu sein."
"Ich warte!" fiel Degenhart unterkühlt ein.
"Herr Degenhart." Kat wandte sich ihm zu.
"Bitte nicht!" lachte dieser. "Fang nicht so an, Kat. Ich will den Namen haben!"
"Wenn bei Ihnen eine Anzeige wegen einer Straftat vorliegt", sagte Kat ungerührt, "sind Sie verpflichtet, dieser nachzugehen. Bei Kim und mir kam es zu keinem Verbrechen, sondern nur zu einer Berührung, die Kim erfolgreich abgewehrt hat und die noch nicht einmal auf der Haut, sondern nur durch Stoff hindurch erfolgte. Keiner von uns ist etwas passiert, also besteht für Sie auch kein Grund, sich so zu ereifern."
"Jörg!" seufzte Degenhart. "Kannst du die nicht irgendwo in deiner Schule einsperren? Ich darf sie nicht mal eine Nacht in U-Haft nehmen."
"Wie geht es dem Beamten?" fragte Kat, nachdem das Lachen verklungen war.
"Warum sollte ich dir noch etwas verraten?" knurrte Degenhart brummig.
"Weil ich ein neugieriges Mädchen bin, das ganz lieb fragt."
"Du bist -" Degenhart atmete tief durch. "Nein, ich sage es nicht. Dem Beamten geht es gut. Er wird deinen Vater und deine Schwester nicht anzeigen. Dafür solltet ihr euch bei ihm bedanken."
"Nicht bei Ihnen?" fragte Kat unschuldig. "Ich habe das ganz sichere Gefühl, dass wir Ihnen Danke sagen müssen."
Degenhart gab auf. "Da will man jemandem gratulieren und wird fertig gemacht", brummte er. "Ich muss los."
"Eine Frage noch", bat Kat ihn schnell. "Dürfte ich einmal Ihre Pistole sehen?"
Degenhart sah sie forschend an, dann nickte er. Er holte die Waffe heraus, entlud sie und gab sie Kat. Sie wog das schwere Metall in der Hand und drehte die Pistole hin und her.
"Kalt", sagte sie leise. "Unpersönlich. Kein Kontakt zum Gegner. Distanz."
"Das ist schon seit Pfeil und Bogen so", stimmte Degenhart, der Kats Gedankenrichtung erahnte, zu. "Dadurch wird das Töten einfacher, Kat. Du krümmst einen Finger, und irgendwo da hinten oder da vorne fällt jemand tot um."

"Furchtbar." Sie schauderte und gab ihm die Waffe zurück. "Wenn ich im Kampf jemanden treffe, spüre ich das Fleisch und die Knochen, und so weiß ich, wie hart ich schlagen muss, um ihn kampfunfähig zu machen, aber damit... Damit geht das Verhältnis zum Leben doch total verloren!"
"Richtig, Kat. Leider. Das Leben wird reduziert auf eine kleine Bewegung eines Fingers. Die perfekte Waffe für Feiglinge und skrupellose Menschen."
"Und welche Gruppe bilden Sie? Also die Polizei?"
"Wie du vorhin schon treffend sagtest: Gegenwehr." Er drückte kurz ihre Schulter. "Ich muß wirklich los. Mach's gut, und gute Besserung."
"Danke, Herr Degenhart. Passen Sie auf sich auf."
Er grinste ironisch. "Pass lieber du auf dich auf. Ich weiß normalerweise, was ich tue. Tschüs, Jörg. Viel Erfolg, Herr Müller." Er eilte hinaus.
"Den hast du schwer beeindruckt", lächelte Tom. "Uns allerdings auch. Ich kümmere mich mal um Sabrina; sie ackert wie ein Ochse an der Bar."
"Danke, Tom. Das ist lieb."
Roberts holte sich auch ein Glas Cola und setzte sich neben Kat. "Wie ist die neue Klasse?"
"Wesentlich kultivierter", antwortete Kat spontan. "Wesentlich! Wir fühlen uns da schon richtig wohl."
"Herr Norbert hat mir von deiner kleinen Ansprache heute morgen berichtet. Beeindruckend."
"Ich will niemanden beeindrucken", widersprach Kat leise. "Ich will auch keinem imponieren. Ich finde nur, dass sich viel zu viele Menschen von Gewalt erschrecken lassen."
"Was sollen sie machen, Kat?" fragte er eindringlich. "Was soll zum Beispiel jemand wie ich machen, wenn er überfallen wird? Ich schaffe es gerade, eine Fliege vor meiner Nase zu verjagen. Wenn ich ein Messer auf mich gerichtet sehe, werde ich leichenblass, und bei einer Pistole würde ich schon vor dem Schuss tot umfallen. Ich übertreibe jetzt bewusst. Aber ich könnte mich nicht mal gegen einen Harry zur Wehr setzen. Nicht gezielt."

"Ich weiß." Kat sah ihn bedrückt an. "Aber gerade deswegen finde ich es so wichtig, dass es Treffs wie diesen hier gibt. Wo Leuten gezeigt wird, dass es auch Gemeinschaften gibt, die ohne Gewalt auskommen. Wo niemand der große Superstar ist, weil er einem anderen irgendwas möglichst schmerzhaft gebrochen hat."
"Und das, Kat, ist ehrlich gesagt der Punkt, wo ich dich und deine Schwester nicht verstehe. Euren Worten und euren Taten nach seid ihr Anhänger des gewaltfreien Lebens. Trotzdem seid ihr ausgebildet genug, um selbst Armin - Herrn Degenhart zu besiegen. Er war gestern ganz schön fertig, weil ihn ein kleines Mädchen, wie er gesagt hat, im richtigen Kampf besiegen würde. Wie paßt das zusammen, Kat? Wo ist da die Logik?"
"Im Kampfsport selbst", lächelte sie. "Vielleicht wissen Sie, daß sich alle Kampfsportarten von chinesischen Mönchen abgeleitet haben, denen es per kaiserlichem Erlaß verboten war, Waffen zu tragen. So hoffte der kaiserliche Hof, gegebenenfalls auch die Religion kontrollieren zu können. Den Mönchen war dieser Hintergrund natürlich vollkommen klar; daher begannen sie, sich selbst zu Waffen zu machen. Denn schließlich konnte niemandem verboten werden, seine eigenen Hände und Füße mitzunehmen." Roberts lächelte höflich; das kannte er.
"Aus diesem Hintergrund heraus haben sich alle Kampftechniken entwickelt. Kung Fu legt neben der Effektivität des Angriffs und der Verteidigung auch Wert darauf, ästhetisch zu sein. Es ist fast wie ein Tanz. Ein Tanz, bei dem die eigene Mitte gesucht wird, Herr Direktor. Die Mitte des Ich. Wer diese Mitte gefunden hat, ruht in der eigenen Kraft. Und genau das ist der Punkt. Sei es nun Kung Fu, Karate, Judo oder Aikido oder was auch immer; es kommt einzig und allein darauf an, die eigene Mitte zu finden. Heutzutage hat die Farbe der Gürtel nur noch eine kraftmäßige Wertung, zumindest in der Öffentlichkeit. Wer den schwarzen Gürtel trägt, gilt automatisch als unbesiegbar, obwohl das natürlich auch Unsinn ist. Ursprünglich waren die Farben der Gürtel jedoch ein Gradmesser für die innere Reife. Wer den schwarzen Gürtel trug, hatte die Suche nach der Mitte vollendet. Er war ein Mönch. Sich seiner selbst bewußt und in sich ruhend. So paßt das zusammen, Herr Direktor. Welchen Kampfsport auch immer man ausübt, im Grunde sucht man sich selbst. Sein eigenes Ich."
"Das wußte ich tatsächlich nicht!" Roberts hatte ihr sehr interessiert zugehört. "Also wenn deine Schwester und du den schwarzen Gürtel tragt, bedeutet das nicht, daß ihr jeden verhauen könnt, sondern daß ihr Mönche seid?"

"Shaolin-Mönche, die in sich ruhen. Genau. Daher kommt unsere Stärke, Herr Direktor, wenn ich das mal so prahlerisch sagen darf. Unsere Ruhe, unsere Kraft, unsere Zuversicht. Aus uns selbst. Aus dem Kern, den wir durch den langen Weg zum schwarzen Gürtel gefunden haben. Die Kampftechnik war gewissermaßen nur ein Nebenprodukt, denn je näher man sich selbst kam, um so perfekter und vollendeter wurden die Bewegungen, weil sich mehr und mehr vom eigenen Ich in den Bewegungen ausdrückte. Nehmen Sie sich als Beispiel. Sie haben einen schmächtigen Körper, aber eine enorme Ausstrahlung. Denken Sie jetzt bloß nicht, daß ich mich einschmeicheln will."
"Keine Sorge", lachte Roberts. "Ich ahne schon, worauf du hinauswillst."
"Gut. Ihre Ausstrahlung beruht auf Ihrer Sicherheit, mit allen Problemen, die in der Schule auftreten, fertig zu werden. Sie so zu lösen, wie es für alle am besten ist. Außerhalb der Schule ist diese Ausstrahlung verschwunden. Jetzt zum Beispiel spüre ich sie nicht. Das bedeutet, daß Sie außerhalb der Schule nicht sicher sind. Das wiederum soll jetzt keine Kritik sein. Hätten Sie die Suche nach Ihrem Ich vollendet, wären Sie innerhalb und außerhalb der Schule gleichermaßen stark und sicher. Anders gesagt, würden Sie im Moment innerhalb der Schule einen formschönen Tanz vollführen, außerhalb der Schule würden Sie ungelenk herumzappeln. Nur als Beispiel."
"Faszinierend." Er trank einen Schluck von seiner Cola, ohne seinen Blick von Kat zu lösen. "Du bist 14? Wirklich?"
"Ja!" lachte sie verlegen. "Aber unser Vater ist ein richtiger Shaolin-Mönch. Zwar ein amerikanischer, aber er darf diesen Titel tragen. Von ihm wissen wir das alles, und aus eigener Erfahrung natürlich auch viel."
"Äußerst faszinierend. Das wußte ich wirklich nicht, Kat. Ich war tatsächlich der Meinung, daß der Gürtel ein Maß der Kampfkraft ist. Je dunkler, desto Aua, wie Herr Degenhart sagt. Doch das, was du jetzt erzählt hast, läßt das alles in einem ganz anderen Licht erscheinen. Also muß man vor ausgebildeten Kämpfern keine Angst haben?"
"Ja und nein. Es hängt davon ab, aus welchen Motiven heraus sie den Kampfsport ausüben. Bei Kim und mir war das so, daß wir unseren Eltern nacheifern wollten. Vater und Mutter sind beide Schwarzgurte und arbeiten als Trainer. Irgendwann kam der Punkt, wo wir merkten, daß wir durch das Kung Fu selbstsicherer wurden, und vor etwa zwei Jahren, als wir hier nach Bremen gezogen sind, haben sie begonnen, uns die ganzen Hintergründe zu erklären. Andererseits gibt es genügend Leute, die das Kämpfen nur lernen, um sich zu prügeln. Wie überall ist das Instrument das Mittel zum Zweck. Man kann es zum einen wie zum anderen benutzen. So, wie es Lehrer gibt, denen es Freude macht, zu unterrichten, so gibt es auch andere, die ihre Position für ihre ureigensten Zwecke und Motive benutzen."
"Das ist ein guter, wenn auch schlimmer Vergleich. Aber du weißt, wovon du redest. Ich leider auch. Was würdest du verändern, Kat?"
"Das Denken der Menschen", erwiderte sie ohne zu zögern. "Ich würde, wenn ich es könnte, den Egoismus gegen den Altruismus austauschen. Neid gegen Güte. Haß gegen Liebe. Aber das geht nicht. Nicht auf einen Schlag. Nur Stück für Stück, und auch nur Mensch für Mensch."
"Hat deine Schwester ähnliche Ansichten?"
"Identische. Nur drückt sie das anders aus. Ich bin mehr der gelassene Typ, Kim ist der aktivere Typ. Ich bin Verstand, sie ist Gefühl. Ich bin Wasser, sie ist Feuer. Wo ich manchmal zehn Minuten brauche, um etwas zu erklären, knallt sie das in zwanzig Sekunden auf den Tisch. Aber vom Denken und Empfinden her sind wir so gut wie identisch. Und selbst die genannten Unterschiede sind eigentlich nur graduell. Nicht so deutlich wie bei anderen, unterschiedlichen Menschen."
"Streitet ihr euch?"
"O ja!" lachte Kat. "Oft genug. Aber ohne uns zu prügeln. Wir diskutieren sehr oft und nehmen nurzum Spaß auch mal völlig gegensätzliche Standpunkte ein. In der einen Minute ist sie Pro und ich Kontra, in der nächsten Minute tauschen wir und müssen nun die andere Seite verteidigen. Das macht uns sehr viel Spaß."
"Und es verwirrt andere Leute, nicht wahr?" fragte Roberts mit einem listigen Lächeln, das Kat erwiderte.
"Das ist manchmal ein nicht ungewollter Begleiteffekt."
"Dachte ich mir schon fast. Und euch haben wir in die 9d gesteckt. Das ist beinahe so, als würde man Aristoteles zu einer Ausbildung als Klempner zwingen."
"Es ist ja gutgegangen", schmunzelte Kat. "Die zwei Tage waren - ja, interessant. Müssen wir jetzt damit rechnen, in die 9a zu kommen?"
"Nein." Er sah sie scharf an. "Wie kommst du darauf?"
"Reiner Instinkt. A, B, C, D... Schüler interpretieren manchmal ein System in logische Aufbauten hinein."
"Wie zum Beispiel die Abstufung nach Intelligenz?"
"Das wäre ein mögliches System, ja."
"Ich bekomme jetzt gerade ein Warnsignal von meinem Instinkt", sagte Roberts langsam. "Es warnt mich davor, noch länger und tiefgehender mit dir über dieses Thema zu reden."
Kat lachte leise. "Ich bin ja schon still. Bleiben Sie noch etwas? Meine Cola ist alle."
"Ich komme mit. Ich wollte Kim noch etwas fragen."
Sie gingen zur Bar, wo sie sich trennten. Kat redete etwas mit Sabrina, die inzwischen sicher genug war, um mit den Leuten, die sich ein Getränk kauften, auch ein paar Worte zu wechseln, während Roberts sich zu Kim stellte.
"Coole Musik", meinte er anerkennend. Kim schaute ihn mit etwas Spott im Blick an.
"Das glaube ich Ihnen erst, wenn Sie sagen, daß Sie die auch zu Hause hören."
"Äh - eher selten." Sie lachten.
"Sie gefällt mir schon", sagte er dann, "allerdings finde ich sie auch ziemlich hart. Provozierend."
"Genau deswegen gefällt sie mir, Herr Direktor. Ich gehe mal davon aus, daß ich wegen meines Musikgeschmacks nicht von der Schule fliegen kann. Hardrock ist so wie ich. Direkt, offen, knallhart."
"So schätzt du dich ein?"
"Nein, so bin ich."
"Also ganz anders als deine Schwester."
"Nein." Sie beugte sich mit einem etwas spöttischen Lächeln vor. "Hoffentlich haben Sie nach Kats Psychoanalyse noch genügend Kapazität für meine frei. Kat und ich sind nur in wenigen Punkten unterschiedlich. Sie ist konziliant, ich bin provokativ. Sie kann etwas logischer denken, ich erfasse eher intuitiv. Aber davon abgesehen sind wir fast identisch. Einstellungen, Vorlieben, Interessen. Nur aufgrund dieser kleinen Unterschiede bevorzugt Kat den Blues, ich den Hardrock. Trotzdem hört sie meine Musik gerne, wie ich ihre gerne höre, auch wenn ich es immer abstreite."
"Man kann wirklich nicht sagen, daß du dich verstellst", lachte Roberts leise. "Kennst du dich bei den Hintergründen des Kampfsports so gut wie deine Schwester aus?"
"Ja. Was möchten Sie wissen?"
"Warum du das tust."
"Kung Fu? Um herauszufinden, wer ich bin. Um an die Grenzen meines Könnens zu gelangen. An die Grenzen meines Ichs."
"Wann greift ihr zu eurem Können? Also ab welcher Stufe des Angriffs?"
"Beim körperlichen Angriff. Und auch da erst nach dem zweiten Schlag. Nach dem ersten bieten wir immer noch an, es jetzt gut sein zu lassen, erst dann wehren wir uns. Und auch dann nur so, wie es angemessen ist."
"Geht ihr nicht einfach weg?"
"Das ist eine Stufe, die schon weit vorher passiert, Herr Direktor. Ich rede davon, wenn ein Kampf nicht mehr zu vermeiden ist. Es gibt genug Leute, die uns festhalten oder einkreisen und zum Kampf zwingen." Sie zuckte mit den Achseln. "Dann können sie ihn haben. Wir stecken einen Schlag ein, um den Leuten Gelegenheit zu geben, nachzudenken. Ein Schlag von einem Schüler ist nichts. Nichts im Vergleich zu dem, was wir im Training mit unseren Eltern einstecken. Das Training zielt unter anderem darauf ab, den Schmerz zu ignorieren. Für eine Zeit jedenfalls. Erst nach dem Kampf erlauben wir dem Schmerz, zu kommen."
"Ich verstehe." Er sah Kim direkt in die Augen und versuchte, ihr seinen Willen aufzuzwingen. Im gleichen Moment flammte eine so große und überwältigende Kraft in Kims Blick auf, daß er erschrak. Kim lächelte.
"Genau so. Entweder jemand kapiert, was hinter diesem Blick steht, und geht, oder er zieht es durch."
"Woher kommt diese Kraft?" fragte er doch einigermaßen erschüttert.
"Aus der Sicherheit, zu gewinnen. Wenn mein Gegner es schafft, diese Sicherheit zu durchbrechen, habe ich verloren, schon bevor der Kampf überhaupt richtig begonnen hat. Leider sind viele in unserem Alter nicht in der Lage, diesen Blick richtig zu interpretieren. Wie Harry verlassen sie sich nur auf die körperliche, aber niemals auf die geistige Kraft."

"Aha." Er hatte sich wieder gefangen, nun sah er Kim forschend an. "Also gewinnt der Geist den Kampf, nicht der Körper?"
"Ganz genau. Der Körper ist nur ein Instrument, jedoch vom Geist gesteuert. Wenn ich daran denke, zu verlieren, verliere ich auch, weil jede meiner Bewegungen von Angst und Unsicherheit begleitet sein wird. Denke ich hingegen, zu gewinnen, schlägt sich das auch in jeder Bewegung nieder, die dann eben sicher, kraftvoll und präzise sein wird."
"Ich verstehe. Diese feinen Unterschiede zwischen Kat und dir... Habt ihr die absichtlich verstärkt?"
"Sehr gut!" Kim hob anerkennend die Augenbrauen. "Da ist bisher niemand drauf gekommen. Richtig, Herr Direktor. Das haben wir." Sie beugte sich noch weiter vor und flüsterte: "Unsere Eltern - und das behalten Sie bitte für sich! - waren bis vor zwei Jahren aktive und sehr bekannte Schauspieler. Hauptdarsteller in Actionfilmen. Wir hatten meistens nur Freunde, die sich über uns an unsere Eltern heranmachen wollten. Jäger und Sammler." Sie zog sich wieder zurück.
"Daher kam das", sagte sie in nun normaler Lautstärke. "Kat war immer viel zu höflich mit denen, wie ich fand, und seitdem bin ich sozusagen der Puffer, an dem die anderen erst mal zum Stehen kommen. Somit hat Kat auch ihre Ruhe."
"Das war mir unbekannt!" Er sah sie erstaunt an. "Dann wird mir allerdings vieles klar. Ich kenne ein paar Kinder von - von Menschen wie euren Eltern, und sie alle leiden ziemlich darunter."
"Genau deswegen", lächelte Kim. "Sabrina ist seit - ja, seit fast drei Jahren die erste richtige Freundin für uns. Ihr sind unsere Eltern völlig egal, also in diesem Sinn. Für sie sind es einfach nur unsere Eltern, mit denen sie gut auskommt."
"Würdest du jemals richtig ausrasten?"
Kim holte tief Luft und stieß sie laut aus. "Leider ja. Gestern das erste Mal. Hier im Treff. Kat war angeschossen, die Polizei wuselte herum, aus dem zweiten Raum kam Weinen und Heulen, Sabrina und ich waren völlig fertig wegen Kat, und da kam auch noch ein Reporter, der unbedingt die toten Mädchen fotografieren wollte. Als Sabrina dann mitbekam, daß der trotz Verbot von Herrn Degenhart Fotos von Kat, mir und den anderen hier machte, bin ich durchgedreht. Ich habe dessen Kamera zerstört und ihn mit dem gleichen Tritt bewußtlos getreten, so hart war das. Danach habe ich die Kamera in tausend Stücke zertrampelt."
"Das hat Herr Degenhart mir erzählt", sagte Roberts nachdenklich. "Auch, daß sich keiner traute, dich aufzuhalten. Selbst er nicht. Er hat zwar gesagt, daß du sehr gute Gründe für dieses Durchdrehen gehabt hattest, aber welche, sagte er nicht. Jetzt leuchtet mir das ein." Er schüttelte seinen Kopf. "Ich denke nicht, daß du durchgedreht bist, Kim. Wenn einem Mitglied meiner Familie so etwas passiert wäre wie deiner Schwester, und dann würde auch noch ein penetranter Reporter ankommen...Gut, ich könnte ihn niemals so behandeln wie du es getan hast, aber ich würde auch durchdrehen. Ganz bestimmt."
"Das sagt mir jeder." Kim sah ihn traurig an. "Das ändert aber nichts daran, daß ich aufgrund meiner Fähigkeit einfach nicht ausrasten darf!"
"Ja, das ist die Theorie", erwiderte er ernst. "Aber, Kim, jeder Mensch kann nur ein gewisses Maß an Streß ertragen. Du und deine Schwester ertragt sehr viel, aber irgendwann ist auch bei euch Schluß. Und einen größeren Streß als den vorsätzlichen Angriff auf ein Familienmitglied kann ich mir kaum vorstellen. Gut, du bist ausgerastet, aber das ist meiner Meinung nach - und nach der von Herrn Degenhart, der auch kurz vorm Platzen stand - eine ganz normale und verständliche Reaktion. Wirklich. Außerdem hast du nicht getobt, sondern du hast dich auf die Kamera konzentriert, wie er sagt. Daß der Fotograf direkt hinter der Kamera war, war halt Pech für ihn."
"Pech!" Kim lachte bedrückt. "Also Sie glauben, ich müßte mir nichts vorwerfen?"
"Nein, Kim. Absolut nicht. Die Presse nimmt sich sowieso viel heraus, was gezwungenermaßen akzeptiert wird, aber sich auf tote und verletzte Kinder zu stürzen, nur um Geld zu verdienen... Da setzt auch mein Verständnis und meine Toleranz aus."
"Danke. Das hat geholfen." Kims Augen wurden tatsächlich feucht, und das verriet Roberts, daß es sie tatsächlich sehr belastete, was wiederum seine neuen Ansichten über die beiden Schwestern festigte.
"Freut mich." Er zwinkerte ihr zu. "Lehrer sind nicht immer Feinde."
"Das", lachte Kim fröhlich, "beginne ich auch langsam zu ahnen."
In diesem Moment kam Thomas Müller zu ihnen. "Kim, Kat hat gerade gesagt, daß ihr noch gar nichts gegessen habt. Möchtet du und Sabrina auch Currywurst mit Pommes?"
"O ja!" seufzte Kim. "Hunger! Warte." Sie griff unter der Theke nach ihrem Geld, doch Tom winkte ab.
"Laß bloß dein Geld stecken!" Er wandte sich zu Roberts. "Sie hat gestern den zweiten Raum gewischt."
Roberts erschrak. "Den mit -"
"Genau den. Kalt wie eine Hundeschnauze, diese Göre."
"Hey!" Kim funkelte ihn an. "Noch ein Wort, und du sitzt auf der Straße, ist das klar? Du hast bisher nicht mein Hausrecht widerrufen. Also Vorsicht!"
"Das Hausrecht ist hiermit widerrufen. Ab sofort."
"Verloren!" Kim grinste ihn frech an. "Hättest du gleich 'Widerruf' gesagt, müßte ich auf dich hören, aber dein erstes Wort war: 'das'. Danke fürs Einladen, Tom."

"Kim!" Er griff mit beiden Händen nach ihrer Hand und drückte sie kräftig. "Ohne euch würde ich jetzt zu Hause sitzen und vor Selbstmitleid zerfließen. Was ihr getan habt, kann ich nie wieder gut machen. Kat hält den Irren auf, und du und Sabrina überredet mich, weiter zu machen, was ich ohne eure Worte niemals getan hätte."
Kim verzog das Gesicht. "Ist jetzt bald mal Schluß mit diesen uralten Geschichten, die keinen mehr interessieren? Wolltest du nicht was zu essen holen?"
"Stimmt." Er ließ Kims Hand los. "Paßt du hier etwas auf?"
"Habe ich Hausrecht?" grinste Kim.
"Ja, du kleines Biest. Bis ich wiederkomme. Bei dir muß man ja tierisch aufpassen. Bis gleich."
"Danke, Tom." Sie sah ihm lächelnd nach. "Weich, aber lieb."
"Warum willst du Hausrecht haben?" fragte Roberts neugierig.
"Weil ich nur dann Leute, die Ärger machen wollen, vor die Tür setzen darf." Kim zuckte mit den Schultern. "Ist zwar bisher noch nicht vorgekommen, aber ich sichere mich da lieber ab. Gerade wegen Tom, weil er ja bei der Stadt arbeitet. Ohne Hausrecht könnte ihm im Streitfall ein Strick gedreht werden. Möchten Sie eine Cola? Ich gebe eine aus."
"Danke. Ist das jetzt Bestechung?"
Kims Augen schimmerten vor Spaß. "Wenn Sie sich mit fünfzig Pfennig bestechen lassen..."
Roberts lachte. "Was hätte Kat geantwortet?"
"Kat? Hmm... Wahrscheinlich: Jeder Mensch hat zwar seinen Preis, aber daß Ihrer so weit unten angesiedelt ist, überrascht mich jetzt doch sehr."
"Nicht schlecht." Roberts schüttelte lachend den Kopf.
"Moment, bitte." Kim ging schnell die paar Schritte zu Sabrina, besorgte ein Glas Cola und kam damit dann zurück.
"Danke, Kim. Wie seid ihr an Sabrina gekommen, wenn ich fragen darf? Sie ist doch auf den ersten Blick überhaupt nicht zu eurer Linie passend?"
"Nur durch Zufall. Wir haben uns vorgestern alle vor der Tür zur 9d getroffen. Sie hatte ziemlich viel Hemmungen, hineinzugehen, und so haben wir uns einfach vorgedrängt." Sie lächelte gemein. "Immerhin wissen Kat und ich, daß wir durch unser gegensätzliches Aussehen schnell alle Blicke auf uns ziehen, und somit hatte Sabrina etwas mehr Ruhe. Als es dann allerdings gleich zu den Konflikten kam, hatten wir ihr angeboten, sich schnell wieder von uns zu distanzieren, damit sie nicht auch noch etwas abbekommt, aber das wollte sie nicht. Sie hatte auch kein Vertrauen zu dem Volk. Verzeihung, zu den Leuten in der Klasse."
"Schon gut." Er unterdrückte ein Schmunzeln. "Behalt jetzt du das für dich, aber die 9d wird intern bei uns noch ganz anders genannt."
"Wie, will ich gar nicht wissen", sagte Kim ernst. "Wir sind alle froh über den Wechsel. Schon der Empfang heute morgen war total anders. Neugierig, aber freundlich und nett. Das tat mal richtig gut."
"Pause!" Sabrina kam keuchend an und ließ sich mit einer übertriebenen Geste gegen Kim fallen. "Das ist ja echt Arbeit!"
"Du bist halt nichts gewohnt", meinte Kim schnippisch.
"Doch, aber nicht solche Sklaventreiber wie dich. Kim, der erste Kasten Cola ist alle. Ich habe die restlichen acht Flaschen daraus in den Kühlschrank gelegt."
"Das reicht bis gleich." Kim sah abschätzend durch den Raum. "Doch. Tom kommt gleich wieder, der kann dann einen neuen von nebenan holen."
"Okay. Ich verschwinde mal kurz."
"Aber Hände waschen!" grinste Kim. Sabrina sah sie einen Moment an, ergriff dann ihre langen, weißen Haare in zwei Strängen und machte aus den zwei dicken Strähnen einen Knoten, genau vor Kims Mund, dann eilte sie grinsend davon.
"Die macht mich fertig." Lachend strich Kim ihre Haare wieder glatt. "Warum ist Sabrina in die 9d gekommen? Wegen ihres Umzugs?"
"Ganz recht. Weil wir mit euch drei die Klassenstärke der 9d den anderen drei Klassen angepasst hätten. Tom sagte, du hättest noch etwas ganz geheimes vor?"
"Hat sich erledigt. Dadurch, daß Kat heute morgen von einem Mädchen erkannt worden ist, und durch ihre Ansprache, von der wiederum ich nichts wußte, sind so viele Leute gekommen, daß es nicht mehr nötig ist. Ich wollte die dicken Lautsprecher draußen vor der Tür aufbauen und eine flammende Rede halten." Sie grinste breit. "So laut, daß man es bis zur Geschäftsstraße gehört hätte. Und dann hätte ich mit meiner besten Musik losgelegt."
"Das hättest du wirklich getan?"
"Ja." Sie sah ihn ernst an. "Wie gesagt, Kat kann sich besser ausdrücken als ich. Ich kann auch so reden wie sie, aber ich muß mich dazu immer erst drauf einstellen. Sie hat jedoch genau das gesagt, was ich auch denke, Herr Direktor. Dieser Treff ist zu wichtig für uns Jugendliche. Es gibt noch viele weitere in Bremen, aber jeder einzelne ist wichtig. Wir können auf keinen einzigen verzichten. Nicht wegen Gewalt. Wir wollten den Leuten zeigen, daß wir uns nicht abschrecken lassen, und dank Ihrer Hilfe und der aller Lehrer ist es wieder so voll wie gestern. Ich vermisse zwar viele Gesichter, aber das war uns schon heute morgen klar."
"Also doch Kreuzritter", schmunzelte Roberts. "Wann werden bei Kat die Fäden gezogen?"
"Nächsten Freitag, dann kann sie sich das Wochenende über noch erholen. Der Arzt sagte zwar Donnerstag, aber dann würde sie eventuell einen Tag fehlen, weil die Wunde anschließend wieder ziemlich weh tun soll."
"Ist klar. Sollen wir vier uns dann Montag in einer Woche mal zusammensetzen? Vielleicht hier?"
"Das können wir gerne machen. Sehr gerne. Wir können uns dann nebenan hinsetzen, da ist es nicht so laut. Wir sind ab fünf Uhr hier."
"Gute Zeit. Stört es euch, wenn Herr Albers teilnimmt? Als Vertrauenslehrer zeigt er sich sehr interessiert an diesem Projekt."
"Ganz im Gegenteil. Nach dem ersten Ausbruch wurde er ja ganz vernünftig."
"Hast du ihm den übelgenommen?"
"Nein. Ich bin so oft Intoleranz begegnet, daß es mich nicht mehr stört. Nur weil Kat und ich Kung Fu machen, werden wir oft als Schläger, Rocker oder Rowdys gebrandmarkt. Meistens von Leuten ohne Sinn und Verstand." Sie sah ihn kühl an. "Und da schließe ich auch Lehrer nicht aus. Ich breche dann regelmäßig das Gespräch ab. Alles andere hat keinen Sinn."
"Hast du Respekt?"
"Ja. Vor Menschen, die ihren Kopf zum Denken benutzen. Die auch mal versuchen, die andere Seite zu sehen. Die bereit sind, neue Informationen aufzunehmen und dazuzulernen. So wie Herr Albers nach seinem Ausbruch, und so wie Sie."
"Du bist wirklich offen und direkt", schmunzelte er. "Entweder man ist permanent wütend auf dich, oder man nimmt dich so, wie du bist."
"Ich würde das zweite empfehlen", meinte Kim trocken. "Ich werde mich vorläufig nicht ändern."
"Hast du keine Angst, daß dir dein Wesen später mal im Weg sein könnte?"
"Nein." Sie wechselte die abgelaufene CD aus und redete derweil weiter.
"Mein Plan steht fest. Abitur, Sportstudium, zwei oder drei Jahre Shaolintempel, den ich wegen meines Vaters ohne Anmeldung aufsuchen darf, und dann als Sportlehrerin arbeiten. Abends als Trainerin."
"Und Kat?"
"Fast das gleiche. Abitur, aber dann will sie Musik studieren. In den Tempel wollen wir gemeinsam gehen, und sie will als Musiklehrerin arbeiten."
"Spielt sie ein Instrument?"
"Noch nicht." Kim beugte sich vor und flüsterte: "Sie wünscht sich eine E-Gitarre, und die schenken Vater und Mutter ihr zu Weihnachten. Mit Verstärker, Unterricht und allem Drum und Dran."
"Aha. Und was bekommst du?"
"Das müssen Sie Kat fragen", grinste sie. "Gewünscht habe ich mir jedenfalls das gleiche."
"Dann ist die Band ja fast komplett", lachte Roberts. "Spielt Sabrina auch ein Instrument?"
"Keine Ahnung!" Kim zuckte mit den Schultern. "Es ist so viel passiert in den letzten zwei Tagen, dass wir noch gar nicht richtig dazu gekommen sind, uns über private Dinge zu unterhalten." Sie sah Sabrina, die gerade zurückkam. "Bienchen, spielst du ein Instrument?"
"Ja!" lachte Sabrina. "Nervensäge. Nein, ich spiele etwas Querflöte, aber erst seit Weihnachten, und seit einem Monat habe ich die auch nicht mehr angefaßt. Seit ich wußte, daß wir umziehen. Da hatte ich auf nichts mehr Lust."
"Schade." Kims Gesicht verzog sich. "Ich meine, ist natürlich schön für dich, aber Rockmusik und Querflöte... Das paßt nicht."
"Und wie das paßt!" Roberts beugte sich vor. "Kennst du Jethro Tull?"
"Nein. Wer ist das?"
"Eine Rockgruppe der Siebziger. Kein direkter Hardrock, aber schon härter als der Durchschnitt, dabei sehr melodisch und eindrucksvoll. Die Querflöte hat den Klang der Gruppe bestimmt, so daß man sie noch heute erkennt."
"Aha?" Kim beugte sich interessiert vor. "Jethro Tull?"
"Genau. Das ist zum Beispiel Musik, die ich sehr gerne höre. Genau wie Emerson, Lake & Palmeroder deren deutscher Ableger Triumvirat. Elektronische Rockmusik. War damals etwas völlig Neues."
"Stop!" Kim suchte panisch nach einem Stück Papier. Sie fand schließlich einen Notizblock und einen Stift. "Noch mal, bitte."
Sie notierte sich die Namen, anschließend sah Roberts auf die Uhr.
"Ich muß langsam los, Kim. Es war wirklich sehr interessant und lehrreich, mich mit euch zu unterhalten. Ihr habt Ansichten, die weit über eure Altersgruppe hinausgehen. Bleibt so."
"Auf jeden Fall." Kim lächelte verschmitzt. "Daß Sie sich für Ihre Fehleinschätzung entschuldigen, habe ich persönlich bei einem Schulleiter auch noch nicht erlebt. Bleiben Sie so."
"Ich versuch's." Lachend klopfte er auf die Theke. "Mach's gut, Sabrina. Wir sehen uns alle spätestens übernächsten Montag." Er winkte kurz und ging zu einigen anderen Lehrern, die im Kreis zusammenstanden, um sich zu verabschieden.
"Montag?" Sabrina sah fragend zu Kim.
"Montag in einer Woche. Da wollen wir uns hier zusammensetzen, um über diese Ini zu reden."
"Cool!"
Kim seufzte. "Es tut mir so leid, Bienchen. Ich dachte, es würde noch völlig leer sein, wenn wir kommen. Jetzt konnten wir gar nicht üben."
"Das läuft uns ja nicht weg." Sabrina lächelte schüchtern. "Je länger ich drauf warten muß, um so mehr will ich es."
"Dann warten wir noch bis nächste Woche." Kim zwinkerte ihr zu. "Okay?"
"Nein", erwiderte Sabrina entschlossen. "Das schaffen wir heute noch. Bestimmt."
Kim schaute sie einen Moment voller Zärtlichkeit an, dann nickte sie.
"Ja. Ich rufe Mama an, daß wir länger hierbleiben. Nein, ich sage es ihr, wenn sie kommt. Sie kann Kat mitnehmen. Training fällt heute und morgen eh aus, weil Mama für den echten Kampf nicht fit genug ist, und alleine hab ich auch keine Lust. Sobald sie weg sind, gehen wir zwei raus und laufen was."
"Und ich rufe zu Hause an und frage, ob ich etwas später nach Hause kommen kann." Sabrinas Augen leuchteten vor Erwartung.
"So machen wir das. Das Telefon steht hier in der Ecke."
Sabrina lief zum Telefon und griff nach dem Hörer, derweil kümmerte sich Kim um den Ausschank. Keine drei Minuten später kam Sabrina freudestrahlend zurück.
"Elf Uhr! Und sie holt mich von euch ab."
"Geil!" jubelte Kim. "Dann machen wir das ganz anders, Bienchen. Wir fahren mit Mama zurück, essen was und gehen dann in mein Zimmer. Ja?"
"Ja!" Sabrina nickte aufgeregt. "Weißt du was, Kimmy? Ich weiß nicht mal, wie dein Zimmer aussieht. Als wir gestern da drin waren, habe ich nur auf dich gesehen."
"Viel mehr als dich werde ich mir heute abend auch nicht ansehen", sagte Kim leise. "Wir sehen zu, daß sich Mama mit Kat beschäftigt, dann haben wir viel Zeit für uns."
"Ich kann's kaum mehr erwarten." Sabrina atmete heftig ein und aus, als Erregung und Vorfreude aufstiegen.
Zwanzig Minuten später saßen Sabrina, Kat und Kim in der kleinen Küche, die normalerweise verschlossen war, und aßen ihre Currywurst. Danach ging es Kat schon deutlich besser.
"Das war nötig", sagte sie lächelnd. "Soll ich Tom sagen, daß ihr noch etwas braucht, bis ihr fertig seid?"
 

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