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SH-070 - Schwarz und Weiß Teil 1+2

 

Schwarz und Weiß .... (sh-070.zip)
(f/f mast) (195k) (date posted: Tuesday PM, December 21, 1999)

Die 14jährige Sabrina ist nach einem überraschenden Umzug völlig daneben, doch als sie sich am ersten Schultag in der neuen Schule in eine ebenfalls 14jährige verliebt, gerät ihr Leben erst recht aus den Fugen. Doch ihre Freundin und deren Zwillingsschwester sind überaus geschickt im Umgang mit unsicheren Menschen, wie Sabrina am eigenen Leib erfahren wird.


Schwarz und Weiß



Kapitel 1

„Sabrina! Beeilung!"
Die drängende Stimme ihrer Mutter riss die 14jährige Sabrina aus ihrer Erstarrung. Hektisch griff sie nach ihrem Rucksack, rief gleichzeitig: "Ich komme!" und warf noch einen schnellen Blick über ihren Schreibtisch in der Hoffnung, etwas zu finden, was sie vom ersten Schultag in der neuen Schule abhalten würde, bevor sie schließlich tief Luft schöpfte und aus dem Zimmer und durch den Flur in die Küche lief, wo ihre Mutter schon den Tisch abdeckte.
„Nervös?"
„Ja." Sabrina schüttelte zweifelnd den Kopf. "Warum muss ich denn unbedingt auf eine andere Schule, Mutti? Ich hätte doch auch weiter auf die alte gehen können."
„Und täglich über drei Stunden mit dem Bus fahren? Ausgeschlossen."
Sabrina druckste herum. "Das stimmt schon, aber... Na ja, ich meine, Papa hätte mich doch auf seinem Weg zur Arbeit mitnehmen können. Dann hätte ich schon einmal einiges gespart."
„Bienchen!" Ihre Mutter sah sie mitfühlend an. "Es wird in deinem späteren Leben noch oft genug vorkommen, dass du neue Menschen kennen lernst. Je eher du dich daran gewöhnst, um so eher kannst du damit umgehen. Hast du alles?"
„Ja." Sabrina seufzte stumm. "Glaube ich wenigstens. Ich weiß doch überhaupt nicht, was durchgenommen wird, und ich kann schließlich nicht alles mitnehmen. Die Bücher für alle Fächer wiegen doch eine Tonne, und außerdem…"
„Bienchen!" Die Mutter nahm die Tochter in den Arm und führte sie auf den Flur, wo sie ihr ihre Jacke reichte. "Sei doch nicht immer so unsicher. Du bist intelligent und hübsch, du kannst dich gut ausdrücken, und du bist nett angezogen. Warum machst du dir Sorgen?"
„Ich mache mir keine Sorgen." Sabrina wand sich aus dem Griff ihrer Mutter, um in die Jacke zu schlüpfen. "Ich weiß nur, dass meine Freundinnen von früher sich jetzt gerade auf dem kleinen Platz treffen und zur Schule fahren. Aber ich bin nicht dabei."
„Das Leben geht nicht immer so, wie du willst, Bienchen." Frau Evertz zog sich ihren Mantel an, während sie redete. "Jeder Verlust macht Platz für etwas Neues."
„Na toll!" stöhnte Sabrina. "Bauernweisheiten sind genau das, was ich jetzt brauche."
„Das sind keine Bauernweisheiten, sondern wertvolle Erfahrungen, Bienchen. Geh vor."

Sie verließen die Wohnung. Frau Evertz schloss die Tür ab, bevor sie gemeinsam auf den Aufzug warteten.
„Wann hörst du endlich auf, mich Bienchen zu nennen?" Sabrina warf ihrer Mutter einen flehenden Blick zu. "Ich kann doch nichts dafür, dass sich jemand verschrieben hat."
„Ich auch nicht." Frau Evertz strich ihrer Tochter nachsichtig über das volle, dunkelblonde, knapp schulterlange Haar. „Aber Sabrina klingt dennoch viel schöner als Sabina. Bienchen hat sich irgendwie eingebürgert, weil beides ja fast gleich klingt."
„Leider." Sabrina öffnete die Tür des Aufzugs, der inzwischen auf ihrer Etage angehalten hatte, und ließ ihre Mutter vorgehen, dann betrat sie ebenfalls die Kabine. Sie drückte auf "P". „Du lässt mich vor der Schule raus, ja?" sagte Sabrina in einem Ton, der weniger eine Bitte als eine Aufforderung war. „Ich werde immerhin bald 15."
„In einem dreiviertel Jahr", gab ihre Mutter lächelnd zurück. "Ich bringe dich ins Sekretariat, und von dort aus kannst du dann allein weitergehen."
„Bitte nicht!" Sabrina sank in sich zusammen. "Wie sieht das denn aus, wenn meine Mutter mich in die Schule bringt?"
„Verantwortungsvoll."
Der Aufzug hielt im Keller. Sabrina und ihre Mutter verließen den Aufzug, um zu ihrem Auto zu gehen, das nur wenige Schritte entfernt seinen Platz hatte. Sie stiegen ein, schnallten sich an und fuhren los.
„Die Amerikaner lassen ihre Kinder allein zur Schule gehen", versuchte Sabrina erneut, ihre Mutter von der für sie peinlichen Begleitung abzubringen. "Auch am ersten Tag."
„Das können die Amerikaner halten, wie sie wollen. Bienchen, du bist ab heute auf einer Gesamtschule mit über 1 500 Schülern. Ich habe mich schon verlaufen, als ich dich dort angemeldet habe." Sie hielt vor einer roten Ampel und drehte den Kopf zu ihrer Tochter. "Bis ins Sekretariat. Okay?"

Sabrina schüttelte entmutigt den Kopf. "Wie soll ich jemals sicher werden, wenn jeder meiner Wünsche andauernd ignoriert wird?"
„Ach, du armes Kind." Ihre Mutter strich ihr über den Kopf. Sabrina wehrte die Berührung mit einem wütenden Kopfschütteln ab.
„Ich finde das wirklich nicht gut!" sagte sie erbost, während ihre Mutter wieder anfuhr. "Ich bin doch kein kleines Kind mehr."

„Dann benimm dich auch nicht so. Was ist denn jetzt?" Sie schaute angestrengt nach vorne, während sie hart auf die Bremse trat.
„Wenn das ein Unfall ist, gehe ich zu Fuß." Mürrisch sah Sabrina aus dem Fenster.
„Es ist ein Unfall, und du gehst nicht zu Fuß." Frau Evertz schaltete den Motor aus. "Ein Abschleppwagen ist schon bei der Arbeit. Zum Glück sind wir noch nicht auf der Hauptstraße. Es geht gleich weiter."

Sabrina spielte ernsthaft mit dem Gedanken, einfach auszusteigen, jedoch reichte ihr Mut dazu nicht aus. Stumm seufzend sank sie in ihren Sitz zurück und wartete darauf, daß der Verkehr wieder floss, während ihre Nervosität wegen der neuen Schule und der neuen Wohnung und ihre Angst wegen der vielen neuen Gesichter, denen sie schon in wenigen Minuten ausgesetzt sein würde, mit jeder Minute wuchsen.
„Warum mussten wir denn ausgerechnet mitten im Schuljahr umziehen?" Frustriert wandte sich Sabrina ihrer Mutter zu. "Hätten wir die drei Wochen bis zu den Herbstferien nicht auch noch warten können?"
Frau Evertz lachte herzlich. „Bienchen! Nun leg endlich ein netteres Gesicht auf. Das hat dein Vater doch ausgiebig erklärt. Seine Beförderung beinhaltete automatisch einen zentralen Wohnsitz. Deswegen mussten wir in die Stadt ziehen. Nun hast du es viel näher zu allen Geschäften."
„Ja, und viel weiter zu meinen alten Freundinnen. Warum werden Kinder bei so etwas nicht gefragt?" Sabrina wurde nicht wütend, nur sehr traurig. „Ich möchte nicht wissen, wie viele Kinder jedes Jahr ihren ganzen Freundeskreis verlieren, nur weil die Eltern umziehen wollen. Und ich wette, dass kein Kind gefragt wird."
„Da könntest du glatt recht haben." Sie ließ den Wagen wieder an und fuhr langsam los, als die Autos vor ihr allmählich in Bewegung gerieten. „Wenn Eltern ihre beruflichen Entscheidungen von ihren Kindern abhängig machen würden, gäbe es wahrscheinlich keine Führungskräfte wie deinen Vater mehr."
„Und warum wohnen wir dann in so einem Silo?" maulte Sabrina. "Verdient er nicht genug Geld für ein Haus, oder was?" Frau Evertz schob die Laune ihrer Tochter vollkommen gerechtfertigt auf deren Nervosität und antwortete deshalb sehr gemäßigt. „Dafür hat er zu spät angefangen, Bienchen. Es geht dich eigentlich nichts an, aber du kommst langsam in das Alter, wo du solche Dinge wissen kannst. Dein Vater hat die Stelle nur bekommen, weil sie dringend besetzt werden musste und kein entsprechend qualifizierter Mitarbeiter zur Hand war. Er ist nicht zu hundert Prozent für die neue Stelle geeignet, aber zu mindestens neunzig Prozent. Was ihm noch fehlt, wird er sich schnell aneignen können." Sie warf ihrer Tochter, die wegen dieser unvermutet freigiebigen Stimmung ihrer Mutter gebannt zuhörte, einen schnellen Seitenblick zu.
"Wenn er sich früher mehr um seine Karriere gekümmert hätte, würden wir heute in einem schönen Häuschen wohnen. Aber er wollte sich immer mehr um die Familie kümmern, Bienchen, und das war für uns alle die beste Entscheidung. Jetzt bist du jedoch alt genug, dir selber das Essen zu machen, und deswegen hat er sich für den Aufstieg entschieden. Wenn er die Stelle in einem Jahr immer noch hat, werden wir uns eine schönere Wohnung oder ein schickes Häuschen suchen. Aber die Wohnung jetzt ist doch auch nicht schlecht, oder? Du hast von deinem Zimmer doch einen schönen Blick auf Bremen."

Da konnte Sabrina nicht widersprechen. Der Blick aus ihrem Zimmer im 18. Stock war in der Tat atemberaubend. Wie Frau Evertz geplant hatte, musste Sabrina diese ganzen Informationen erst einmal verarbeiten und überdenken, und als sie soweit war, dass sie wieder reden konnte, hielt ihre Mutter auch schon vor der Schule an. Der Schulhof war leer. Für einen hoffnungsvollen Moment glaubte Sabrina, dass ein Feiertag sei, doch ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass sie sich wegen des Unfalls auf dem Weg verspätet hatten. 'Na super!' dachte sie deprimiert. 'Neu und zu spät. Perfekter Start.' Sie wandte sich zu ihrer Mutter, um einen allerletzten Versuch zu starten, dass sie doch allein gehen konnte, doch in diesem Moment stieg ihre Mutter bereits aus. Sabrina schluckte einen Fluch herunter und folgte ihr.

Das dreistöckige Schulgebäude war gewaltig. Von der erhöht liegenden Straße aus war eine Anzahl verwinkelter Seitenflügel auszumachen, wie bei einem asymmetrischen Seestern. Der Schulhof selbst grenzte mit der Rückseite an den Haupteingang und mit der linken Seite an einen der Gebäudeflügel, der bis auf einen Freiraum von drei Metern fast bis zur Straße reichte. An der rechten Seite des Schulhofes lag ein von mächtigen Bäumen gesäumter Weg, der zum Sportplatz führte, wie ein Schild verkündete. Rechts und links dieses Weges standen Büsche direkt am Rand des Schulhofes, von einer kleinen Mauer geschützt.

Sabrina atmete tief ein, um ihre flatternden Nerven zu beruhigen. Diese Schule war riesig! Ihre alte hätte wahrscheinlich schon auf den großen Schulhof gepasst. Für einen Moment war sie ihrer Mutter dankbar, dass sie mitkam. Aber nur für einen Moment. Dann siegte das Imagebewusstsein wieder, das 14jährigen Mädchen verbot, von ihren Müttern zur Schule gebracht zu werden. Sie überquerten den etwa siebzig Meter im Quadrat messenden Schulhof und folgten den tatsächlich nicht sehr klaren Hinweistafeln zum Sekretariat, das im ersten Stock untergebracht war. Es war, wie Sabrina mit einem schnellen Blick feststellte, groß, übersichtlich und funktionell eingerichtet. Bei 1.500 Schülerinnen und Schülern war diese Größe jedoch wohl gerechtfertigt.


Die Formalitäten waren schnell geklärt. Sabrina erhielt sogar einen vorgefertigten Stundenplan, in dem die Räume eingetragen waren. Das System hinter den Bezeichnungen durchschaute Sabrina nach einer kurzen Erklärung der ältlichen, freundlichen Dame, die sich um sie kümmerte, zügig. Zusätzlich erhielt sie einen Lehrplan, was in ihrer neuen Klasse bisher durchgesprochen worden war, und eine Lageplan der Schule, nach dem sie sich in den ersten Tagen richten konnte. Auf die Frage, ob sie den Weg zur Klasse selbst finden würde, nickte Sabrina in einem plötzlichen Anfall von Mut, der aus schierem Imagedenken geboren wurde. Sie winkte ihrer Mutter kurz zu, bevor sie sich auf den Weg durch das leere Gebäude machte. Anhand des Lageplans fand sie sich tatsächlich rasch zurecht und stand um exakt zwanzig nach acht vor der Klasse. Fünf Minuten zu spät, jedoch ohne ihre Mutter, und das zählte für Sabrina in diesem Augenblick viel mehr als eine kleine Verspätung an ihrem ersten Tag in der neuen Schule.
Sabrina hatte gerade den Mut gefasst, die Tür zu öffnen, als sie schnelle Schritte näher kommen hörte. Erstaunt schaute sie sich um und entdeckte zwei Mädchen, die genau auf sie zu liefen. Die beiden waren in Sabrinas Alter und ganz offensichtlich Zwillingsschwestern, doch das drückte sich nur in ihren Gesichtern und der Figur aus. Die eine Schwester war von Kopf bis Fuß vollständig schwarz gekleidet, die andere genauso vollständig weiß. Sogar ihre hüftlangen glatten Haare waren schneeweiß, die ihrer Schwester hingegen pechschwarz, jedoch exakt genauso lang. Sabrina hatte so etwas noch nie gesehen. Mit offenem Mund starrte sie die beiden an, die kurz vor ihr stehen blieben.
Die Augen der Schwestern waren von einem klaren, hellen Blau, viel heller als die von Sabrina. Die beiden waren fast auf den Millimeter so groß wie Sabrina, die 1,74 maß. In den Händen trugen die Mädchen gleichartige Zettel wie Sabrina.

„Auch neu hier?" begrüßte sie die Schwestern, in denen sie instinktiv Verbündete vermutete.
„Nein", erwiderte das Mädchen mit den weißen Haaren gelangweilt. „Wir vergessen nur jeden Morgen, wer wir sind und wo wir hin müssen, und dann brauchen wir Hilfe in Form von Notizzetteln."
„Kim!" ermahnte das Mädchen mit den schwarzen Haaren ihre Schwester. „Sei friedlich. Gehen wir lieber rein und bringen es hinter uns."
„Die Wette gilt?"
„Wie immer." Das Mädchen mit den schwarzen Haaren lächelte Sabrina herzlich an. „Kim ist heute morgen etwas knurrig; sie hat das nicht so gemeint. Wir sind heute den ersten Tag hier, wie du. Lass uns vorgehen, dann kriegst du weniger Stress ab."
"Danke!" erwiderte Sabrina erstaunt. "Woher -"
"Später." Kim riss die Tür auf; die Stimme dahinter erstarb im gleichen Moment. Mutig betrat Sabrina das Klassenzimmer hinter den Schwestern und schloss die Tür schnell, aber leise. Sie eilte zum Lehrer, der die drei Mädchen fragend ansah, und reichte ihm gemeinsam mit den Schwestern ihren Zettel.
„Kimberley und Kathryn Summers", murmelte der Lehrer. "Amerikaner?"
„Deutsche", erwiderte Kim kalt. „Seit der Geburt."
„Unsere Eltern kommen allerdings aus Amerika", fügte Kathryn versöhnlich hinzu. „Deswegen wurden auch unsere Vornamen hier anerkannt."
„Ich verstehe. Und Sabrina Evertz." Der Lehrer musterte die drei Mädchen kurz, um sich Gesichter und Namen einzuprägen. "Dann herzlich willkommen an dieser Schule. Setzt euch mal; hinten sind noch einige Plätze frei."

Dankbar und erleichtert huschte Sabrina an den Schülerinnen und Schülern vorbei, deren Blicke einzig und allein auf die Schwestern gerichtet waren, die ihr langsam folgten.
"Schneeweißchen und Kohlenpott", hörte Sabrina eine spöttische Mädchenstimme sagen. Erstaunt drehte sie sich um und entdeckte Kim, die sich vor einem bildhübschen Mädchen auf die Knie fallen ließ.
"Wer immer du auch bist, ich danke dir!" rief Kim pathetisch unter den verwunderten Blicken des Lehrers und der Klasse.
"Wofür?" erwiderte das Mädchen zögernd.
"Ich habe durch dich eine Wette gewonnen." Kim stand mit einem zufriedenen Lächeln auf und drehte sich zu ihrer Schwester, die ihr seufzend einen Zwanzigmarkschein reichte.
"Wette?" fragte der Lehrer überrascht. Kim strahlte ihn an.
"Ja. Ich habe gewettet, daß innerhalb von einer Minute irgendein Idiot eine saudumme Bemerkung über uns macht. Kat hat auf fünf Minuten gesetzt."
"Sie ist kein Idiot", meinte Kathryn nachsichtig und für jeden in der Klasse verständlich. "Kim, wir haben uns doch ausgiebig über das Verhalten von pubertierenden Mädchen mit Minderwertigkeitskomplexen unterhalten. Kinder wie sie brauchen Aufmerksamkeit um jeden Preis, selbst auf Kosten anderer und völlig unbeteiligter Menschen." Sie reichte dem Mädchen, das sie perplex anstarrte, eine Visitenkarte.
"Unser Onkel ist Psychiater", sagte Kat. "Er hat in den Staaten eine Abhandlung über Mädchen wie dich geschrieben. Er kann dir bestimmt helfen. Ruf ihn mal an, aber warte besser nicht zu lange."
Das Mädchen stand aufgebracht auf und setzte zu einer hitzigen Antwort an, als die Stimme des Lehrers dazwischen fuhr.
"Danke für die Vorstellung. Nun setzt euch bitte alle hin. Du auch, Jasmin." Das Mädchen setzte sich wieder, kochte jedoch vor Zorn.
"Dem Geruch ihres Shampoos nach zu urteilen sollte sie Zitrone heißen", meinte Kim ungerührt, die sich einen Stuhl neben Sabrina setzte. Ihre Schwester wählte den Platz zwischen ihr und Sabrina. Der Lehrer öffnete den Mund zu einer sarkastischen Bemerkung, überlegte es sich jedoch sofort anders und musterte die beiden Mädchen ein weiteres Mal.
"Seid ihr nicht die beiden, die einem Lehrer die Nase gebrochen haben?" fragte er dann in einem Ton, als hätte er Angst vor der Antwort. Kim stand auf und erwiderte seinen Blick gelassen.

"Nein, das war nur ich."
"Ich hoffe sehr, daß ihr an dieser Schule ein anderes Verhalten an den Tag legt", warnte er Kim.
"Das hängt nicht von uns ab", gab sie kühl zurück. "Wenn mir jemand unter den Rock faßt, schlage ich zu, ob es nun ein Lehrer oder ein Schüler ist." Sie sah kurz zu Jasmin, die noch immer vor Wut kochte. "Oder eine lesbische Schülerin."
"Schluß!" Kathryn zog ihre Schwester zurück auf den Stuhl, während sie zum Lehrer sah.
"Es sind leider nur Halbwahrheiten bekannt geworden", erklärte sie dann. "Tatsache ist jedoch, dass Kim und ich von einem Lehrer sexuell belästigt worden sind. Sie hat sich nur schneller gewehrt als ich. Und um es von Anfang an klarzustellen, sind wir auch nicht von der Schule geflogen, sondern unsere Eltern wollten uns nicht mehr dort lassen. Wir haben auf eine Anzeige verzichtet, weil uns zugesagt wurde, daß der Lehrer versetzt wird. Allerdings gebe ich Kim recht. Wenn uns jemand auf diese Art zu nahe kommt, wehren wir uns. Egal, wer das ist."
"Die gehören doch auf die Sonderschule", meinte Jasmin ungläubig.
"Sicher!" höhnte Kim. "Du würdest viel eher die Beine breitmachen und auf gute Noten hoffen."
Jasmin sprang mit hochrotem Gesicht auf. "Ich polier dir gleich -"
"Jasmin!" Auch der Lehrer war ziemlich dunkel im Gesicht. "Du entschuldigst dich für deine letzte Bemerkung."
"Nein!" Jasmin zitterte vor Wut. "Die sollen sich bei mir entschuldigen!"
"Geschenkt." Kim winkte gelangweilt ab. "Jemand wie diese Jasmin hat nicht genug Durchblick, um uns beleidigen zu können."
"Dann nehmt jedenfalls meine Entschuldigung an", meinte der Lehrer, der sich wieder gefangen hatte.
"Von der ganzen Vorgeschichte habe ich tatsächlich nichts gehört. An dieser Schule wird so etwas jedenfalls nicht vorkommen."
"Das wurde von der letzten auch -" begann Kim, wurde jedoch gleich von Kat unterbrochen.
"Und wir entschuldigen uns für unsere Worte Jasmin gegenüber", sagte sie mit einem leisen Lächeln. „Es ist nur so, daß wir einen derart unqualifizierten Auftritt erwartet und entsprechend vorgesorgt haben."
Sabrina, die der ganzen Szene mit wachsender Besorgnis zugesehen hatte, entdeckte für einen winzigen Moment Bewunderung in den Augen des Lehrers, bevor sie von Entschlossenheit abgelöst wurde.
"Nun gut", meinte er. "Fangen wir einfach noch mal neu an. Mein Name ist Albers. Ich bin der Klassenlehrer. Bevor ihr herein kamt, hatten wir gerade die Möglichkeit angesprochen, hier in der Schule zu Mittag zu essen. Die Kantine öffnet heute zum ersten Mal; ihr seid also zu einem guten Zeitpunkt auf diese Schule gekommen."
Er redete weiter, und allmählich beruhigten sich die erhitzten Gemüter wieder. Sabrina registrierte jedoch besorgt, daß Jasmin sie in den wütenden Blick einschloß, mit dem sie die beiden Schwestern musterte.
"Tut mir leid", hörte Sabrina Kat leise sagen. "Die Klasse denkt jetzt, du gehörst zu uns."
"Schon in Ordnung", erwiderte Sabrina flüsternd. "Wenn alle so sind wie diese Jasmin..." Sie zuckte mit den Schultern. Kat lächelte hintergründig.
"Sind sie. Nichts ist schlimmer als die Neue zu sein. Damit stehst du von Anfang an auf verlorenem Posten. Laß uns nachher weiterreden, ja?"
"Gerne." Sabrina lächelte Kat zu, dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf Herrn Albers, der sich, wie Sabrina erleichtert feststellte, bereits bekanntem Stoff zuwandte. Das hatte sie schon vor zwei Wochen auf ihrer alten Schule durchgenommen. In der ersten großen Pause trat das ein, was Sabrina die letzten beiden Schulstunden über schon erwartet hatte: Jasmin kam auf sie und die Schwestern zu, noch bevor der Lehrer die Klasse richtig verlassen hatte. In ihrem Schlepptau folgten sieben, acht andere Leute aus der Klasse, und keiner schaute besonders freundlich drein.
"Jetzt zu uns", bedrohte Jasmin die beiden. "Euch ist doch wohl klar, daß ihr hier keine Chance mehr habt?"
"Wer braucht Chancen?" meinte Kim gelangweilt, während sie ein großes Brot mit Fleischwurst aus ihrem Rucksack heraus holte. "Philosophen wie Nietzsche sind der Meinung, daß sich Chancen nicht einfach bieten, sondern von erfolgreichen Menschen gemacht werden." Sie musterte Jasmin abfällig von oben bis unten.
"Aber das dürfte dein Niveau bei weitem übersteigen. Bist du schon bei Asterix, oder liest du immer noch Micky Maus?"

Sabrina räumte hastig ihre Sachen beiseite, als Jasmin ihre Hände zu Fäusten ballte.
"Ich verstehe." Kim packte ungerührt ihr Brot aus. "Du möchtest diese Diskussion lieber auf einer Ebene vollziehen, auf der du dich uns überlegen fühlst."
"Heb dir das Gewäsch für die Predigt auf!" Jasmin holte aus und schlug wütend zu, doch ihre Faust ging ins Leere: Kim drehte nur etwas den Kopf beiseite und wich so dem Schlag aus.
"Laß es lieber." Kat sah Jasmin eindringlich an. "Tu uns und dir den Gefallen und kümmere dich nicht weiter um uns." Auch sie packte ihr Butterbrot aus und sah zu Sabrina. "Kommst du mit oder bleibst du hier?"
Noch bevor Sabrina antworten konnte, schlug Jasmin in Richtung von Kats Kopf. Dann sah Sabrina nur noch eine schnelle Bewegung, an deren Ende Kat die Hand von Jasmin hielt und sie so verdrehte, daß Jasmin mit einem gequälten Laut zu Boden sank. Kat ließ sie los und sah die Gruppe an, die alle Anzeichen von Gewaltbereitschaft zeigte.
"Unsere Eltern sind Trainer im Kampfsport", sagte Kim zu den Leuten. "Laßt uns einfach in Ruhe. Wir werden niemals Streit anfangen, aber wir werden ihn auf jeden Fall immer beenden."
"Du spuckst ziemlich große Töne." Eine Tonne von Schüler, fast 1,80 groß und mindestens 90 Kilogramm schwer, walzte auf Kim zu. "Leg dich doch mal mit mir an."
"Okay."
Kim ließ ihr Brot auf den Tisch fallen, hechtete im gleichen Moment über den Tisch auf den unglaublich massiven und muskulösen Schüler zu, der sie mit erhobenen Händen erwartete, tauchte blitzschnell unter seinem Angriff weg, packte ihm zwischen die Beine und drückte mit aller Kraft zu. Der Junge quietschte vor Schmerz wie ein Schwein. Kim hebelte seine Beine mit einem kräftigen Tritt vor die Waden aus und wartete, bis er auf den Boden gefallen war, dann schaute sie die anderen Schüler an. "Wer möchte jetzt?"
"Das ist doch Zeitverschwendung." Kat sah die Menge an. "Kim und ich tragen beide den schwarzen Gürtel. Laßt uns einfach in Ruhe." Sie und Kim nahmen Sabrina, die überhaupt nicht wußte, was sie nun machen sollte, in die Mitte und gingen mit ihr gemeinsam los. Die Menge teilte sich vor ihnen. "Weichlinge!" spie Kim verächtlich aus, als sie auf dem Flur waren. "Angeber! Immer nur Spaß auf Kosten anderer. Wie blöd können Menschen eigentlich noch sein?" "Du hast leider recht", seufzte Kat. "Wir sollten zurück in unser Raumschiff gehen und melden, dass es hier kein intelligentes Leben gibt."
"Ihr seid Außerirdische?" Sabrina sah die Schwestern entsetzt an. Erst als die beiden breit grinsten, merkte Sabrina, daß sie ihnen auf den Leim gegangen war.
"Mann!" stieß sie lachend aus. "Im Moment würde ich euch alles glauben!"
"Dann wirst du uns auch das hier glauben." Kat sah Sabrina ernst an. "Du gehörst jetzt zu uns, ob du das willst oder nicht. Wir sind gemeinsam in die Klasse gegangen und wir sitzen nebeneinander. Du hast nach der Pause die Chance, dich von uns weg zu setzen. Bleibst du neben uns, bist du automatisch ihr Feind. Wie wir. Und wenn du diese Chance nicht nutzt", stimmte Kim mindestens ebenso ernst zu, "ist es vorbei. Die feindselige Stimmung richtet sich im Moment gegen uns und dich, aber primär gegen uns. Bleibst du bei uns, ist es vorbei." "Die Entscheidung ist doch schon gefallen." Sabrina verzog kurz das Gesicht und merkte erst dann, daß diese Geste möglicherweise eine Beleidigung sein könnte, doch die Schwestern ließen sich nichts anmerken.

"Es ist halb so wild", meinte Kat begütigend. "Das ist unsere achte Schule, Sabrina. Durch die Berufe unserer Eltern mußten wir sehr oft umziehen und kennen dieses Spiel. Die Stimmung wird sich in zwei, drei Monaten gelegt haben und die Leute, die mehr Wert auf Vernunft als auf Äußeres legen, kristallisieren sich langsam heraus."
Sabrina sah die Schwestern bewundernd an. "Ihr habt eine unglaublich gute Ausdrucksweise." "Alles Übung." Kim biß herzhaft in ihr Brot und sprach mit vollem Mund weiter. "Es hilft dir in gewissen Situationen wie der gerade mit dem Albers. Aber wenn's sein muß, können wir auch ganz normal reden."
Kat sah Sabrina mit listig funkelnden Augen. "Ey, die Jasmin ist doch eine voll abgenutzte Braut, nech? Was die im Kopf hat, lassen die Kühe hinten auf die Wiese fallen." "Kat!" schimpfte Kim mit vollem Mund, während sich Sabrina vor Lachen bog. "Ich esse gerade!" "Tut mir leid", entschuldigte Kat sich fröhlich. "Aber du hast wenigstens kein Nutella drauf." "Ich polier dir gleich -" imitierte Kim Jasmin perfekt. Sabrina hielt sich den Bauch, der vor Lachen schon fast schmerzte. Kat sah forschend über den voll gefüllten Schulhof, den sie in diesem Moment betraten.
"Ärger", meinte sie lakonisch.
"Schon gesehen." Kim biß ein weiteres Mal in ihr Brot. "Aber sie diskutieren noch, wer den Anfang macht. Das endet wieder im Vakuum." "Wahrscheinlich." Kat schaute auf Sabrina, die von dem kurzen Wortwechsel nichts mitbekommen hatte. Sie lachte noch über Kims Parodie. "Du bist ja einfach glücklich zu machen", sagte Kat schmunzelnd, als Sabrina allmählich wieder zu Atem kam. Sabrina holte ein Taschentuch aus ihrer Jacke und wischte sich die Augen. "Ich hatte in letzter Zeit nicht viel zu lachen", entschuldigte sie sich mit einem Kichern in der Stimme."Ihr könnt Kung Fu oder so was?" "Genau." Kim und Kat tauschten einen kurzen Blick, nach dem Kat das Gespräch fortsetzte. "Vater ist Trainer für Kung Fu, Mutter für Judo. Vater hat den achten Dan, also den achten schwarzen Gürtel, Mutter den dritten. Kim und ich sind gerade beim ersten Dan angelangt. Vater gehört zu den wenigen Menschen, die im Shaolintempel ausgebildet worden sind."
"Verstehe ich nicht." Sabrina sah das schwarzhaarige Mädchen an. "Wieso mußtet ihr dann so oft umziehen?" "Wegen Vater", antwortete Kat. "Er gehörte lange Zeit einem Trainerverband an und mußte dahin, wo Trainer gebraucht wurden. Vor zwei Jahren hat er sich mit Mutter eine Kampfsportschule hier in Bremen gekauft, und seitdem haben wir Ruhe vor Umzügen." "Das tut mir leid", erwiderte Sabrina betroffen. "Halb so wild." Kat lächelte leicht. "Jede Kampfschule wußte natürlich, wer unser Vater ist, und so wurden wir besonders hart rangenommen. Wir haben mit sechs Jahren angefangen, und jetzt mit 14 sind wir richtig fit. Soll keine Angabe sein, Sabrina, aber du hast ja gesehen, wie schnell so etwas eskaliert. Und zum Schwanz einziehen sind weder Kim noch ich der Typ."

"Was an sich schon unmöglich ist", wandte Kim ein. "Wir sind schließlich Mädchen."
"Darf ich euch was fragen", sagte Sabrina, ohne das Wortspiel mitbekommen zu haben, "ohne daß ihr mir an die Kehle springt?"
"Nein." Kim lächelte, was bei ihr nur die Andeutung eines Lächelns war. "Ich verrate es dir so. Kat ist die Sanfte, ich die Wilde. Das ist schon seit unserer Geburt so. Ich hatte früher auch schwarze Haare wie Kat, bis ich mit zwölf auf die glorreiche Idee kam, sie weißblond zu tönen. Leider hatte ich mich wegen der beschissenen Beleuchtung im Geschäft vergriffen, und sie waren nach dem Tönen plötzlich schneeweiß."
"Nach dem ersten Schock", sagte Kat grinsend, "fanden wir beide das total cool. Und so haben wir uns entschlossen, zukünftig als geteilter Domino zu gehen."
"Als was?"
"Geteilter Domino. Domino ist eine Figur aus der italienischen Theatergeschichte, nur in Schwarz und Weiß gekleidet. Kim und ich haben uns damals dazu entschlossen, künftig nur noch in Schwarz und Weiß zu gehen."
"Und eure Eltern?" fragte Sabrina atemlos.
"Die waren begeistert." Kat verzog das Gesicht. "Es hat Wochen gedauert, sie an Kims Haare zu gewöhnen, und Monate, bis sie schließlich das Geld für neue Kleidung frei gaben. Aber heute finden sie es auch cool." Sie zwinkerte Sabrina zu. "So können sie uns besser auseinander halten."

"Die Wilde und die Sanfte." Sabrina sah staunend von einer Schwester zur anderen. "Vom Aussehen her würde ich darauf wetten, daß Kim die Sanfte ist."
"Das ist der Trick dabei", erwiderte Kat mit einem leisen Lachen. "Jemand, der nur nach dem Aussehen geht, wendet sich immer zuerst an Kim, und sie läßt ihn kalt auflaufen."
"Was gemein!" lachte Sabrina. "Da habt ihr bestimmt sehr viele Freunde."
Kat lächelte wissend. "Natürlich. Millionen. Deswegen nehmen wir auch keine neuen mehr an." Sabrina verstand den Scherz als solchen. "Bei mir ist es ähnlich", seufzte sie. "Mein Vater entscheidet von heute auf morgen, eine neue Position anzunehmen, und wir ziehen um. Wurdet ihr jemals gefragt, ob ihr umziehen wolltet?"
"Jetzt mach dich nicht lächerlich." Kim sah sie vorwurfsvoll an. Sabrina nickte bedrückt; sie war schon an dem Punkt, Kims kühle Art nicht mehr persönlich zu nehmen. Außerdem mochte sie diese Kim irgendwie sehr.
"Ich auch nicht. Anstatt mich mit meinen alten Freundinnen zu treffen darf ich jetzt aus meinem Fenster im 18. Stock auf Bremen herab sehen."
"Tja..." Kat sah Kim kurz an, die knapp nickte. "Eine Freundin könnten wir gerade noch unterbringen. Wenn du möchtest, heißt das."
"Wenn ich zu euch passe..." Sabrina schaute voller Hoffnung und gleichzeitig voller Sorge auf Kat. "Ihr seid so viel sicherer als ich, und -"
"Mach dir mal nicht ins Hemd." Kim sah sie streng an. "Wir sind sicher, weil wir immer viel alleine waren und vieles alleine klären mußten. Kat, lad du sie ein. Wenn ich das mache, ist mein schlechter Ruf im Arsch."

Kat lachte hell. "Sabrina, hast du Lust, nach der Schule mit zu uns zu kommen? Wir könnten zusammen essen und uns durch den Lehrplan von dieser Schule wühlen." "Gerne!" freute Sabrina sich. Im nächsten Moment verdunkelte sich ihre Miene. "Geht ja nicht!" jammerte sie. "Meine Mutter holt mich nach der Schule ab." "Ist doch perfekt", meinte Kim arrogant. "Unser Chauffeur hat nämlich heute seinen freien Tag." "Ihr habt -" Dieses Mal durchschaute Sabrina das weißhaarige Mädchen schneller. "Ihr habt keinen Chauffeur", behauptete sie sicher. "Doch", widersprach Kat schmunzelnd. "Deine Mutter. Sie wird begeistert sein, uns drei zu uns nach Hause fahren zu dürfen."
"Wenn ihr das schafft", seufzte Sabrina, "seid ihr Zauberkünstler."
"Das sind wir nicht. Wir sind nur wohlerzogene junge Mädchen, die auf Eltern einen nachhaltigen Eindruck machen." Kat zwinkerte Sabrina zu.
"Abwarten. Meine Mutter ist sehr wählerisch." Sabrina seufzte stumm. "Sie geht zum Beispiel sehr nach dem Äußeren."
"Wie du schon sagtest: Abwarten." Kat sah auf die Menge, die sich ganz allmählich in Richtung Eingang bewegte.
"Scheint gleich zu läuten", sagte sie, und in diesem Moment erklangen die vier Töne des Gongs.
"Dann mal auf." Kim sah abschätzend auf das Schulgebäude. "Sind ja nur noch knapp fünf Jahre."
Der Rest des sechsstündigen Schultages verging relativ friedlich. Nach wie vor waren die Blicke, die in Richtung Kim und Kat gingen, unfreundlich bis zornig, doch es kam zu keinen weiteren Vorfällen wie zu Beginn der ersten Pause. Sabrina und die beiden Schwestern stellten fest, daß sie in den meisten Fächern einen unterschiedlichen Wissensstand hatten; manchmal wußte Sabrina mehr, manchmal die Schwestern. Und die paar Wissenslücken, die sie gemessen am Stand dieser Schule hatten, waren schnell aufzuholen.
Um viertel vor zwei endete dieser Schultag. Sabrinas Mutter wartete bereits vor der Schule. Als sie ihre Tochter in Begleitung zweier vollkommen gegensätzlich gekleideter Mädchen entdeckte, stieg sie aus und sah Sabrina fragend an.
"Das sind Kim und Kat Summers", stellte Sabrina die beiden Mädchen vor. "Sie hatten auch ihren ersten Tag an dieser Schule."
"Sehr erfreut, Sie kennenzulernen", sagte Kat lächelnd. "Frau Evertz, Sabrina hat mit uns gemeinsam festgestellt, daß der Inhalt der Lehrpläne an unseren jeweiligen alten Schulen erheblich von dem an dieser Schule verwendeten abweicht. Meine Schwester und ich wollten Sie daher fragen, ob Sie etwas dagegen hätten, wenn wir Sabrina mit zu uns nach Hause nehmen, um uns gegenseitig beim Lernen zu unterstützen. Sabrina ist in einigen Fächern etwas weiter als wir, während wir in wiederum anderen Fächern einen kleinen Vorsprung haben. Ein Austausch von Wissen bietet sich in dieser Situation förmlich an."
Frau Evertz war tief beeindruckt von Kats Umgangsformen. "Selbstverständlich habe ich nichts dagegen", erwiderte sie mit einem echten herzlichen Lächeln. "Wie habt ihr euch diesen Austausch vorgestellt?"

"Wir haben Sabrina schon erzählt, daß wir ein gemeinsames Arbeitszimmer haben. Dort ist genug Platz für uns drei. Sabrinas Zimmer wäre wahrscheinlich zu eng. Das soll kein Vorwurf sein!" sagte sie schnell, als Frau Evertz widersprechen wollte. "Ich weiß, daß zehn Quadratmeter üblich für ein normales Kinderzimmer sind. Ich weiß jedoch auch, daß laut Tierschutzgesetz der Zwinger eines Schäferhundes ebenfalls mindestens zehn Quadratmeter groß sein muß. Offenbar setzen die deutschen Architekten das Platzbedürfnis eines Kindes mit dem eines Hundes gleich."
Kats Worte trafen Frau Evertz wie eine Breitseite. "Ist das wahr?"
"Leider." Kat produzierte einen bekümmerten Blick. "Im allgemeinen sind Kinderzimmer kaum größer als elf oder zwölf Quadratmeter. Glücklicherweise haben unsere Eltern ein recht großes Haus, und sie haben uns beim Kauf erlaubt, unsere Zimmer selbst zu wählen. So haben wir etwas mehr Auslauf als besagter Schäferhund."
Eine Gruppe von Schülern ging vorbei und bedachte die beiden Schwestern mit grimmigen Blicken. Frau Evertz bemerkte dies jedoch nicht.
"Das klingt alles sehr vernünftig", überlegte sie. "Und zu dritt bei uns lernen... Das würde tatsächlich etwas eng werden."
"Wie gesagt", entschuldigte sich Kat. "Es sollte kein Vorwurf sein. Höchstens gegen die Gesetzgeber und Architekten, mit deren Vorstellungen viele Menschen klarkommen müssen."
"Das kam schon richtig an", meinte Frau Evertz mit einem verzeihenden Lächeln. "Wie kommt ihr nach Hause?"
"Wir fahren mit dem Bus."
"Morgen. Heute fahre ich euch."
"Das können wir nicht annehmen, Frau Evertz. Nicht nur, daß Sie den Weg zur Schule umsonst gemacht haben, jetzt sollen Sie auch noch einen kilometerweiten Umweg in Kauf nehmen. Das ist sehr nett, aber -"
"Es wird kein Umweg sein. Bestimmt nicht. Steigt ein."


Kat, die Frau Evertz den Weg wies, setzte sich nach vorne, Kim und Sabrina stiegen hinten ein. Sabrina warf Kim einen amüsierten Blick zu, den Kim kühl erwiderte, doch Sabrina machte ein leises, belustigtes Funkeln in Kims Augen aus. Ganz offensichtlich spielte Kim nur die Wilde, während sie im Grunde ein genauso lustiges und humorvolles Wesen wie Kat hatte. Sabrinas Herz schlug schneller vor Aufregung, Kim so schnell durchschaut zu haben.
Eine knappe Viertelstunde später hielt Frau Evertz an.
"Hier wohnt ihr?" fragte sie mit einem erstaunten Blick. "Ja. Möchten Sie einen Moment mit hereinkommen?" "Sehr gerne." Frau Evertz stieg mit den Kindern aus und schaute sich das Haus, in dem die beiden Mädchen wohnten, genauer an. Es stand frei, inmitten einer gepflegten Wiese, mit schneeweißen Mauern und einem schwarzen Schieferdach. Frau Evertz schätzte die Wohnfläche des einstöckigen Gebäudes auf etwa 250 bis 300 Quadratmeter. Sie hätte ihr Auto darauf verwettet, daß sich hinter dem Haus ein großer Pool finden ließ. Die beiden Schwestern gingen über den breiten gepflasterten Weg zum Haus. Kim schloß die Tür auf und ließ Frau und Fräulein Evertz hinein, dann betrat sie das Haus hinter ihrer Schwester und schloß die Tür. Staunend sah sich Frau Evertz um. Der Boden bestand aus weißem Marmor, aufgelockert durch wertvolle persische Brücken. An den Wänden aus weiß gestrichenem Naturstein hingen Bilder, hauptsächlich von Hundertwasser, jedoch vereinzelt auch von unbekannten expressionistischen Malern. Die Farben der Bilder paßten perfekt zu den Brücken. Von der breiten Diele aus führten zwei flache Stufen direkt in das Wohnzimmer, zwei etwas schmalere Flure gleich hinter dem Eingang wiesen nach rechts und links. Die Decken der Dielen waren mit hellem Holz verkleidet. Kat ging nach links und dort gleich in das erste Zimmer, dessen Einrichtung schon mehr dem Normalen entsprach. Dunkelbrauner Teppichboden, offene Regalwände in gleichem Ton, und ein sehr großer Schreibtisch. In den Regalen entdeckte Frau Evertz die gleichen Schulbücher, die auch Sabrina benutzte. An dem Tisch hatten sogar mehr als drei Leute noch ausreichend Platz zum Arbeiten.

"Das ist euer Arbeitszimmer?" fragte sie beeindruckt. Kat nickte mit einem schiefen Lächeln.
"Es ist bequemer als tagtäglich das eigene Zimmer umzuschichten", erwiderte sie. "Allerdings fühlen wir uns deswegen weder besser noch schlechter als andere Menschen. Wir kämen auch mit weniger Platz aus, aber da er nun einmal da ist und unsere Eltern diesen Raum nicht als Büro nutzen..." Sie zuckte verlegen mit den Schultern, und genau diese Geste überzeugte Frau Evertz, daß die beiden Schwestern nicht nur wohlerzogen, sondern auch natürlich geblieben waren. Jegliche Bedenken und Vorbehalte lösten sich auf und verschwanden.
"Unsere Mutter kann Sabrina heute abend nach Hause bringen", schlug Kat vor. Frau Evertz nickte abwesend, während sie das Holz der Regalwand taxierte. Massive Eiche, nicht nur Eiche furniert. Der Tisch ebenfalls. Schon dieses Zimmer mußte ein Vermögen gekostet haben. Frau Evertz konnte den Blick nicht von den Wänden nehmen. Sie waren nicht nur einfach aus Ziegelsteinen, sondern aus tatsächlichem und rustikalem Naturstein gemauert. Trotzdem waren die Wände sehr glatt; die Steine mußten handverlesen sein.
"Ein wunderschönes Haus", entfuhr ihr. "Was arbeitet euer Vater, wenn ich fragen darf?"
Die Schwestern sahen sich kurz an, dann wandte sich Kat wieder an Frau Evertz, die der stummen Unterhaltung mit hochgezogenen Augenbrauen gefolgt war.

"Es ist nichts Gesetzwidriges", beeilte sich Kat zu versichern. "Es ist nur so, daß die Identität unserer Eltern nicht so sehr bekannt werden soll. Aber bei Ihnen können wir wohl eine Ausnahme machen." "Was meinst du?" fragte Frau Evertz verwundert. Kat lächelte kurz, ging zu einem Regal und holte ein Taschenbuch heraus, das sie Frau Evertz in die Hand drückte. Frau Evertz sah auf das Titelbild, das eine Szene aus einem Actionfilm ablichtete. Das Buch war das Buch zu einem Film. "Und?" Sie sah Kat erstaunt an. "Was soll mir das sagen?" "Vergleichen Sie." Sie drückte Frau Evertz ein ganz normales Familienfoto in die Hand. Vater, Mutter, die zwei Töchter. Plötzlich klickte es. Frau Evertz riß die Augen auf und verglich die Gesichter der Eltern mit denen auf dem Buch. Sie waren identisch.
"So ist es", bestätigte Kat den Verdacht. "David und Jane Summers. Ganz normale Leute, die Kampfsport unterrichten. Aber im Filmgeschäft kennt man sie unter diesen Namen hier." Sie tippte auf das Buch. Schwer beeindruckt las Frau Evertz die Namen, die selbst ihr bekannt waren. "Das sind eure Eltern?" "Ja." Kat lächelte scheu. "Ich bin versucht, 'leider' zu sagen, denn der Bekanntheitsgrad ist sehr hoch. Sie verlassen das Haus meistens verkleidet, also mit Perücke und Sonnenbrille. Das ist manchmal sehr lästig. Seit gut zwei Jahren drehen sie allerdings keine Filme mehr, sondern beschränken sich auf das Unterrichten. Verstehen Sie jetzt, warum wir kein großes Aufheben um unsere Eltern machen?"
"Das verstehe ich sehr gut." Frau Evertz gab Kat das Buch und das Foto zurück. "Ihr könnt euch drauf verlassen, daß ich kein Wort darüber verlauten lasse. Wann kommen sie nach Hause?" "Mutter gegen sieben, Vater erst gegen elf. Wenn Sie erlauben, kann Sabrina mit uns zu Abend essen, anschließend fährt Mutter sie nach Hause." Sie lächelte herzlich. "Es wird sie freuen, daß wir schon am ersten Schultag eine Freundin gefunden haben."
"Diese Freude kann ich sehr gut nachempfinden." Frau Evertz sah zu ihrer Tochter. "Nicht wahr, Bienchen?"
Dieses Kosewort durchbrach Sabrinas Erziehung. Wütend drehte sie sich zu ihrer Mutter um. "Du sollst mich nicht so nennen, verdammt!"
"Jetzt mach bitte keine Szene, Sabrina. Andernfalls könnte ich mein Einverständnis schnell
widerrufen."
"Kennst du auch noch andere Erziehungsmethoden außer Druck und Verbote?" fauchte Sabrina ihre Mutter an. Frau Evertz riß sich wegen der beiden Mädchen zusammen. "Wir werden uns heute abend noch ausführlich darüber unterhalten. Es ist ein wunderschönes Haus, Kat. Sind eure Namen Abkürzungen?"
"Ja, für Kimberley und Kathryn. Möchten Sie vielleicht den Rest des Hauses sehen?"
"Nicht jetzt", wehrte Frau Evertz lächelnd ab. "Vielleicht können wir uns mal am Wochenende treffen. Mein Mann würde sich bestimmt darüber freuen."
"Dann werden wir mit unseren Eltern heute abend darüber reden." Sie lotste Frau Evertz langsam Richtung Haustür. "Das heißt, erst einmal mit Mutter. Sie wird bestimmt einverstanden sein. Sie sehen es zwar beide nicht gerne, wenn wir verraten, wer sie sind, aber andererseits haben sie großes Vertrauen in unser Urteilsvermögen."

"Was in meinem - oder unserem Fall auch nicht enttäuscht werden wird", versprach Frau Evertz erneut. "Kim, du hast bisher überhaupt nichts gesagt."
"Kat übernimmt das Reden für mich", erwiderte Kim höflich. "Sie ist der mehr extrovertierte Teil von uns beiden, drückt jedoch so gut wie immer das aus, was auch ich sagen würde."
Frau Evertz schaute die beiden Mädchen kurz an. Sie hoffte sehr, daß Sabrina durch den Umgang mit diesen selbstsicheren jungen Damen an Reife gewinnen würde.
"Dann bestellt euren Eltern schöne Grüße von mir", leitete sie ihren Abschied ein. "Es reicht, wenn Sabrina um spätestens zehn Uhr zu Hause ist."
"Das wird sie auf jeden Fall sein", versicherte Kat. "Es war sehr nett, Sie kennengelernt zu haben, Frau Evertz."
"Ganz meinerseits." Sie drückte den Mädchen die Hände, verschluckte die an ihre Tochter gerichtete Bemerkung, daß sie sich benehmen sollte, und verließ das Haus mit einem letzten Winken. Kat schloß die Tür und sah Sabrina mit einem fragenden Blick an. Sabrina stieß wütend die Luft aus. "Ich hasse es, wenn sie mich so nennt."
"Vergiß es." Kim klopfte ihr kräftig auf die Schulter. "Für Eltern bleiben wir immer fünf Jahre alt. Hunger?" Den hatte Sabrina, und nicht zu knapp. Sie folgte den Mädchen in die große Küche, die anstelle eines Eßtisches eine Bar hatte - ganz nach amerikanischem Vorbild - und schaute den Schwestern zu, die schnell Brote, Wurst, Käse und Butter auf die Bar stellten.
"Wir essen abends warm", entschuldigte Kat das kalte Essen. Sabrina lächelte.
"Wir auch. Vielen Dank."

Die Mädchen aßen zügig, aber nicht hastig, dann räumten sie schnell auf und gingen an die Arbeit. Sie verglichen ihre Unterlagen, bestimmten ihren Wissensstand auf den Punkt genau, wobei sie auch gewisse Schwächen nicht ausklammerten, und legten einen Plan fest, nach dem sie in den nächsten Wochen lernen wollten. Sabrina war begeistert, als sie merkte, daß die beiden Schwestern sie sehr oft bei sich haben wollten.
Gegen halb fünf waren sie mit der Sichtung und den aktuellen Hausaufgaben fertig. Kim lief hinaus, während Kat sich an Sabrina wandte.
"Wir würden dich gerne mitnehmen, Sabrina. Wenn du möchtest."
"Und wohin?"
"Zu unserer Arbeit." Kat lächelte listig. "Kim und ich machen jeden Nachmittag DJ in einer Jugenddisco. Von fünf bis sieben. Mutter holt uns täglich dort ab."

"Warte!" Sabrina hob verwirrt die Hand. "Kat, ihr widersprecht euch laufend! Erst sind eure Eltern Kampftrainer und müssen wegen ihres Berufes viel umziehen, dann sind sie plötzlich berühmte Schauspieler, und jetzt soll eure Mutter euch abholen, obwohl sie arbeitet?"
"Sabrina!" Kat sah ihre neue Freundin mitleidig an. "Was hätte ich in der Schule sagen sollen? Daß unsere Eltern berühmte Schauspieler sind, deren Filme alle naselang im Fernsehen gezeigt werden? Versteh doch, daß Kim und ich zwei Versionen haben. Eine für die allgemeine Welt, die zweite für Freunde wie dich. Mutter macht um sieben Uhr mit ihrer letzten Gruppe Schluß und kommt dann zur Disco. Wir trinken noch ein Glas zusammen und fahren dann nach Hause, wo wir das Abendessen machen." Sie legte Sabrina die Hände auf die Schultern.
"Wir sagen sonst nicht so schnell, wer unsere Eltern sind", sagte sie eindringlich. "Weil wir Freundinnen für uns haben wollen. Bisher hatten wir hauptsächlich Freundinnen und Freunde, die etwas von unseren Eltern wollten, aber nicht von uns. Oder die überaus beeindruckt waren, dass unsere Eltern berühmt sind. Dich interessiert das alles aber nicht. Deswegen erfährst du die Wahrheit.
Wir mußten so oft umziehen, weil unsere Eltern mit der Zeit bekannt wurden. Das ist der einzige
Grund. Die Kampfschule hat nichts damit zu tun. Nur damit, daß wir jetzt hier wohnen. Seit zwei Jahren eben."
"Tut mir leid", entschuldigte Sabrina sich bekümmert. "Ich kann mir das schon halbwegs vorstellen, wie das sein muß. Aber eins verstehe ich nicht, Kat. Wenn eure Eltern Amerikaner sind, warum leben sie dann hier in Deutschland?"
"Wegen Vater", erwiderte Kat schmunzelnd. "Während seiner Militärzeit war er in Deutschland stationiert und hat sich in das Land verliebt, wie er sagt. Außerdem hat er während dieser Zeit herausgefunden, daß irgendwelche Urahnen von hier kommen. Er fühlt sich hier sehr viel wohler als in den Staaten. Hier ist alles etwas ruhiger und nicht so hektisch. Die Zeit, wo unsere Eltern noch in den Staaten gedreht hatten, wurden wir von Kindermädchen beaufsichtigt, aber das ist auch seit zwei Jahren vorbei."
Sabrina nickte verstehend, gleichzeitig kam Kim zurück. "Taxi kommt."
"Was ist das denn für eine Disco?" fragte Sabrina mit neu erwachter Nervosität.
"Eine kleine", beruhigte Kat sie. "Die wird vom Jugendamt unterstützt und bietet arbeitslosen Jugendlichen und jungen Erwachsenen einen Platz, wo sie sich aufhalten und nach Arbeitsangeboten umsehen können. Die Musik ist auch nicht so laut wie in normalen Discos. Man kann sich bestens unterhalten."
"Paß ich denn da rein?" fragte Sabrina besorgt.
"Glaubst du, daß du da rein paßt?" hielt Kim kühl entgegen. "Wenn ja, paßt du auch, und wenn nein, paßt du eben nicht."
"Kim!" Kat warf ihrer Schwester einen tadelnden Blick zu. "Sabrina ist verständlicherweise nervös. Waren wir doch auch, als wir gefragt wurden, ob wir den DJ machen wollen." Sie sah wieder zu Sabrina.
"Mach dir keine Sorgen", sagte sie beruhigend. "Das Publikum dort ist querbeet, wie sie selbst sagen. Von Gymnasiasten bis hin zu arbeitslosen Punks, von Optimisten bis hin zu Pessimisten."
"Aber wenn ihr arbeiten müßt", erwiderte Sabrina zweifelnd, "dann habt ihr doch keine Zeit für mich."
"Jede Menge", lachte Kat fröhlich. "Unsere Arbeit besteht darin, jede Stunde die CD zu wechseln. Nur Freitags ist mehr los. Der Typ vom Jugendamt achtet sehr darauf, daß nur bestimmte Leute an die Anlage gehen. Es ist eigentlich mehr ein Jugendtreff als eine Disco."
"Aha." Sabrina lächelte beruhigt. "Wie seid ihr da ran gekommen?"
"Durch die AntiFa." Kat schob Sabrina aus dem Arbeitszimmer und weiter den Flur hinunter, bis zu ihrem Zimmer. "Das ist eine antifaschistische Initiative, bei der Kim und ich eine Zeitlang mitgearbeitet haben, aber die Leute waren noch extremer als die Rechten, deswegen haben wir da ziemlich schnell wieder aufgehört. Bei einer Versammlung haben wir jedenfalls von der Disco erfahren und uns mal umgesehen. So kam das."
Sabrina sah Kat beeindruckt an, die die Tür zu ihrem Zimmer öffnete, und erstarrte im gleichen Moment. Kats Zimmer war eine Würdigung an die 60er Jahre, speziell an die Musik der späten Sechziger. Sabrina schaute auf von Postern übersäten Wände und las Namen, die sie nur ganz entfernt oder meistens überhaupt nicht kannte, wie Santana, Ten Years After, Jimi Hendrix, Janis Joplin oder Blood, Sweat & Tears.
"Komm rein!" lachte Kat fröhlich und zog Sabrina in das Zimmer. "Kim und ich stehen voll auf die Musik. Genau die spielen wir auch immer in der Disco."
Ohne Scheu zog sie sich splitternackt aus. Sabrina sah ihr verlegen zu, wie sie die Wäsche ordentlich auf ihr Bett legte.
"Für morgen", erklärte Kat mit einem Augenzwinkern. "Für die Disco ziehen wir uns etwas anders an. Auch schwarz und weiß, aber etwas aufgelockert."
Sie ging zu ihrem Kleiderschrank, holte frische Wäsche heraus und legte sie ebenfalls auf ihr Bett, dann drehte sie sich zu Sabrina, die ganz ohne ihren bewußten Willen Kats Körper musterte. Schlank wie sie selbst, jedoch mit schon ausgeprägtem, festem Busen, dichten Schamhaaren und muskulösen, aber dennoch weiblichen Armen und Beinen. Sabrina dachte kurz an ihre etwas schlaffen Muskeln, den kleinen Busen und die viel weniger behaarte Scham und wurde für einen Moment sehr neidisch.
"Wir treiben seit acht Jahren Hochleistungssport", sagte Kat sanft, während sie in ihre Hose stieg. "Kim und ich wollen auf keinen Fall so aussehen wie Bodybuilder, aber durch den Kampfsport entwickeln sich nun mal bestimmte Muskeln deutlicher als andere."
Sabrina nickte verlegen, als Kim hereinkam. Genauso nackt wie Kat, mit einem identisch sportlichen und ausgeprägten Körper, und beladen mit einem Haufen Wäsche, den sie auf Kats Bett deponierte und sich dann ebenfalls anzog.
"Wenn du ein Junge wärst", lachte Kat hell, "würden wir das nicht tun."
"Dachte ich mir schon", erwiderte Sabrina mit einem scheuen Lächeln. "Habt ihr Freunde?"
"Nein, aus den vorhin erwähnten Gründen nicht. Wir mögen nur sportliche und aktive Jungen, und die kennen meistens unsere Eltern. Danach sind wir abgeschrieben oder höchstens noch Mittel zum Zweck. Dafür sind wir uns zu schade. Oder, wenn wir das geheimhalten können, ist spätestens dann Schluß, wenn die Jungs erfahren, daß wir schwarze Gürtel tragen."

"Verständlich." Sabrina sah sich ein weiteres Mal in Kats Zimmer um. Genauso groß wie ihr eigenes und mit den gleichen Möbeln ausgestattet. Bett, Kleiderschrank, Regalwand, Sofa mit Tisch, Schreibtisch, Stuhl. Nur daß hier nichts auf die Schule hinwies. Die vorherrschende Farbe der Möbel war dunkel. Erst auf den zweiten Blick erkannte Sabrina das Holz: Mahagoni. So dunkelrot, daß es schon fast schwarz wirkte. Die Eltern der Mädchen mussten irrsinnig viel Geld verdienen, dachte Sabrina staunend.
"Bei Kim ist alles hell", unterbrach Kats Stimme ihre Gedanken. "Das paßte damals alles gut zusammen. Kims neues Outfit, der Umzug hierher, und auch, daß sich unsere Eltern schon an Kims neues Aussehen gewöhnt hatten, als sie das Haus hier kauften. Können wir?"
Sabrina sah zu den Schwestern, die fertig angezogen waren. Nach wie vor in Weiß oder Schwarz, doch Kat trug ein schwarzes Hemd mit silbernen Nähten und Verzierungen, während Kims identisch geschnittenes Hemd weiß mit schwarzen Nähten und Verzierungen war. Kim trug einen sehr knappen weißen Rock und weiße Strümpfe, die bis zu den Oberschenkeln reichten, Kat hatte das gleiche an, nur eben in schwarz.
"Einmalig!" lachte Sabrina begeistert. "Geht ihr immer zusammen einkaufen?"
"Selten", erwiderte Kim zu Sabrinas Überraschung. "Meistens nur eine von uns, und die kauft dann alles zweifach, und das auch in Mengen. Dadurch können wir höhere Rabatte herausschlagen als wenn wir zu zweit auftauchen." Sie ging zu Sabrina und stellte sich so dicht vor sie, daß sich ihre Brüste berührten.
"Paßt!" rief Kat begeistert. "Sabrina, du hast die gleiche Figur wie wir! Taille, Beinlänge, Hüften, alles paßt. Morgen ziehen wir dich auch toll an."
Sabrina sah tief in Kims kühle blaue Augen und atmete plötzlich schwerer. In diesem Moment löste sich Kim von wieder von ihr und wandte sich zu ihrer Schwester.
"Ich wollte mit dieser Demonstration eigentlich sagen", meinte sie belehrend, "daß wir auch für Sabrina einkaufen können. So würden wir noch mehr Rabatt bekommen, und jede von uns würde sparen. Muß man dir immer alles zweimal erklären?"
"Dreimal." Kat zwinkerte ihrer Schwester zu. "Mindestens. Laß uns gehen, das Taxi müßte jeden Moment kommen."
Die Drei gingen zurück in die große Diele am Eingang und zogen sich ihre Jacken an, als es auch schon an der Tür läutete. Kim und Kat vergewisserten sich kurz, daß sie sowohl Geld als auch Schlüssel hatten, dann gingen sie mit Sabrina hinaus. Während Kat und Sabrina zum Taxi gingen, schloß Kim die Haustür ab und ging dann gelassen hinter ihnen her.

Um kurz vor fünf betraten sie den Treff, in dem sich Sabrina auf Anhieb wohl fühlte. Es war nicht allzu hell, was hauptsächlich an den dunklen Möbeln und den dichten Gardinen vor den Fenstern lag. Überall waren Sitzgruppen verteilt, mit kleinen Tischen dazwischen. Die Sofas und Sessel sahen zwar uralt und abgenutzt, aber dennoch gemütlich aus. Licht kam von nicht sehr hellen, abgeschirmten Lampen an den Wänden.
"Das sind zwei Räume hier", erklärte Kat, während Kim sich auf den Weg in die Ecke machte, in der die Musikanlage untergebracht war. Zwischendurch begrüßte sie einige Leute mit knappen Gesten. Hinter der Theke stand ein junger Mann, der Kim lächelnd erwartete.
"Hier vorne ist der allgemeine Raum", redete Kat weiter. "Etwa sechzig Personen passen hier rein. Hinten gibt's Billard, Tischtennis und Gesellschaftsspiele. Da ist die Musik noch leiser, weil da oft jemand vom Arbeitsamt sitzt und mit den Arbeitslosen redet. Die Vermittlungsquote hier liegt bei stolzen sechzig Prozent." Sie schaute Sabrina an, die mit diesem Wert überhaupt nichts anfangen konnte.
"Das ist mehr als doppelt so viel als das Arbeitsamt an sich schafft", erläuterte sie. "Das liegt einfach daran, daß die Betreuer im Arbeitsamt sich nicht so viel Zeit nehmen können. Hier im Treff ist das anders. Der vom Arbeitsamt nimmt sich fast den ganzen Vormittag frei und kommt dann von drei bis acht hierher, um mit den ganzen Leuten zu reden, anstatt um vier Feierabend zu machen. Er hat einen Laptop dabei, in dem er die ganzen Firmen gespeichert hat, die Leute suchen. Meistens werden gleich ein paar Leute fündig."
"Nicht schlecht!" Sabrina hob anerkennend die Augenbrauen. "Kommen die täglich?"
"Fast. Dreimal die Woche. Montags, Mittwochs und Freitags. Bremen hat - wie andere Großstädte auch - eine ziemlich hohe Quote an arbeitslosen Jugendlichen. Wie auch an Schulabgängern, die keine Ausbildungsstelle finden. Getränke gibt es hinten an der Bar, gleich neben der Musik. So ist alles unter Aufsicht." Sie lächelte schelmisch. "Jedes Getränk kostet fünfzig Pfennig das Glas. Selbstkostenpreis. Freiwillige helfen spülen und aufräumen. Ist schon toll hier. Vor allem gibt's hier kein Drogenproblem. Alle sind clean. Manche trinken ab und zu, aber alles nur gemäßigt und auch nicht hier. Der einzige Alkohol, den es hier gibt, steht im Medizinschrank."
"Cool!" Sabrina sah sich begeistert um. "Und wir können hier einfach so rein, auch wenn wir noch zur Schule gehen?"
"Sicher." Kat zog sich die Jacke aus und warf sie sich über die Schulter. "Es ist ein Jugendtreff mit dem Schwerpunkt Arbeitslosenvermittlung, aber nicht umgekehrt. Es hat sich jedoch so ergeben, dass hauptsächlich Arbeitslose hierher kommen, auch wenn am Freitag sich viele wie wir hier treffen. Also ganz normale Schüler."
"Geil." Auch Sabrina zog sich die Jacke aus. "Wohin damit?"
"Immer bei dir behalten oder Kim geben. Sie packt sie hinter die Theke."

Etwas später saßen Sabrina und Kat mit Getränken versehen auf einem Sofa, während Kim die Musik übernahm. Am Ende des Rap, der gerade lief, schnappte sie sich das Mikro und legte los. "Hallo!" sagte sie mit einer dunklen, erotischen Stimme, bei der sich Sabrinas Nackenhaare aufrichteten. "Hier ist wieder eure Kim, und das bedeutet, es ist Schluß mit den Neunzigern. Laßt die Sechziger leben!"
Sie hatte noch nicht ganz ausgesprochen, als zwei Dinge gleichzeitig passierten. Zum einen ertönte ein lauter Jubel aus beiden Räumen, zum zweiten spien die Lautsprecher ein Chaos an Tönen aus. Nicht besonders laut, aber äußerst unmelodisch. Kat lachte hell, als Sabrina zu Tode erschreckt zusammenfuhr.
"Das ist Deep Purple. Speed King. Die LP ist zwar 1970 auf den Markt gekommen, aber geschrieben wurde das Stück 1969. Paßt also so gerade noch. Das ist Kims Eröffnung. Danach wird's etwas ruhiger. Etwas."

Sabrina atmete erleichtert auf, als das Chaos der Musik - sofern man diese Kakophonie so bezeichnen konnte - von sanften Orgeltönen abgelöst wurde. Doch die Ruhe hielt nicht lange vor; die sanfte Orgel wurde urplötzlich von harter Rockmusik ersetzt.
Sabrina fühlte sich dieser Musik hilflos ausgeliefert. Die harten Rhythmen, der extrovertierte Gesang, die schrill klingenden Instrumente, all das verursachte eine Spannung in ihr, die sie sich nicht erklären konnte. Nur nebenbei bemerkte sie, daß Kat ihre Hand nahm und sie sanft drückte.

"Hardrock geht direkt auf die Seele", sagte sie über die Musik hinweg, die glücklicherweise nicht so laut war, daß eine Unterhaltung unmöglich wurde. "Musik von dieser Art löst Blockaden, Sabrina. Viele sehen Hardrock als Medium der aggressiven Menschen an, aber das ist falsch. Es ist nur eine sehr ausdrucksvolle Musik. Wie der spanische Flamenco und der brasilianische Samba. Wenn es dir zuviel wird, sag Bescheid, dann wird Kim was anderes spielen."
"Geht schon." Sabrina schluckte schwer. "Ich fühle mich im Moment nur so, als würde ich jeden Moment explodieren."
"Das ist die Musik." Kats Daumen fuhr leicht über Sabrinas Hand. "Du hast bestimmt viele Dinge, die dich aufregen und wobei du dich hilflos fühlst, nicht wahr?"
Sabrina nickte traurig.
"Hardrock hilft dir, diese Dinge zu erkennen und zu verarbeiten. Lehn dich zurück und schließ die Augen." Sie drückte Sabrina sanft, aber nachdrücklich in das Sofa. Sabrina schloß die Augen, und sofort wurde der Eindruck der Musik noch intensiver. In ihr vibrierte alles vor Anspannung. Sie wollte sich wieder aufsetzen, doch Kat hielt sie fest.
"Laß es wirken", hörte sie Kats Stimme ganz nah bei ihrem Ohr. So nah, daß sie die Wärme von Kats Atem spürte. "Laß es einfach wirken, Sabrina. Oder soll ich Bienchen sagen?"
Bienchen! Dieses eine Wort, untermalt von der lauten, aggressiven Musik, ließ Sabrina auf der Stelle durchdrehen. Die Wut über diesen Kosenamen stieg ungebremst und unaufhaltsam hoch, vermischte sich mit dem Bild ihrer Mutter und verursachte einen solchen Aufruhr, daß Sabrina ihn nur noch mit Gewalt lösen konnte. Ohne daran zu denken, wer neben ihr saß, schlug sie mit ihren schwachen Fäusten auf Kat ein, die sich in keiner Weise wehrte; nur daran denkend, ihre Mutter zu schlagen und sie für alles zu bestrafen, was sie ihr mit dem Kosenamen, mit den dauernden Verboten und dem Umzug angetan hatte, bis die Wut genauso schnell verschwand, wie sie gekommen war, und einer tiefen Trauer Platz machte, die sich machtvoll und mit heißen, dicken Tränen den Weg nach außen bahnte. Sie warf sich an Kat, die sie zärtlich umarmte, vergrub ihr Gesicht an deren Schulter und weinte, wie sie es schon seit Jahren nicht mehr getan hatte, getröstet von Kats fürsorglich streichelnder Hand und Anwesenheit.

Bilder schossen durch Sabrinas Gedanken, während sie sich hemmungslos ausweinte. Bilder von ihrer alten Wohnung, ihren alten Freundinnen, ihrer alten Schule, ihrer alten kleinen Stadt kurz vor Bremen. Gefühle von Einsamkeit, von Verstoßung, von Zurückweisung stiegen auf, verstärkten das heftige Weinen und hinterließen ein Gefühl von Unwirklichkeit, als hätte sie jahrelang neben ihrem Leben her gelebt. Sie drückte sich mit aller Kraft an Kat, die sie durch ihre Nähe auffing, und ließ den Schmerz der Jahre hinaus, unterbrochen von häufigem, tiefem Schluchzen, wenn wieder ein neues, lange verdrängtes Bild aufstieg und sie mit bösen Erinnerungen zu überschwemmen drohte. Fast nahtlos reihten sich Bild an Bild, Gefühl an Gefühl, Angst an Angst und Schmerz an Schmerz, strömten in einer endlosen Folge von Tränen hinaus in die Welt, offenbarten Sabrinas Unsicherheit und wuschen gleichzeitig ihre Seele rein, bis schließlich Bilder, Gefühle, Gedanken und Tränen versiegten und einer heißen Erschöpfung Platz machten. Voller Scham versteckte Sabrina ihr Gesicht an Kats Hals. Sie wagte nicht, den Kopf zu heben und ihrer Freundin in die Augen zu sehen. Da spürte sie einen sanften Kuß an ihrer Wange.
"Ist schon gut", flüsterte Kat. "Auch wenn du mir das nicht glaubst, Sabrina, aber genauso haben Kim und ich geheult, als das mit dem Lehrer auf der alten Schule passiert ist. Manchmal ist Weinen die einzige Möglichkeit, sich wieder auf die Reihe zu kriegen. Besonders dann, wenn sich sehr viele schlechte Gefühle angesammelt haben. Bei dir waren es wohl jede Menge."
Sabrina nickte wortlos. In diesem Moment hörte sie Kims Stimme.
"Das nächste Lied", sagte sie mit dieser dunklen, erotischen Stimme, "ist für eine Freundin, die gerade eine schwere Zeit durchmacht."
Ohne aufzusehen, spürte Sabrina, daß sie diese Freundin war, und hörte aus den Lautsprechern ein schnelles Gitarrensolo. Nicht hart, aber auch nicht unbedingt weich.
"Das ist 'I'm going home' von Ten Years After", flüsterte Kat, die sanft über Sabrinas volle Haare strich. "Ein schönes Lied. Bleib so liegen, wenn du möchtest, und hör zu. Es dauert über zehn Minuten."

Beschämt rutschte Sabrina zurecht, blieb jedoch an Kat gelehnt liegen, mit dem Gesicht an ihrer Schulter. Das Lied war zwar nach dem Intro auch hart, jedoch bei weitem nicht so laut und aggressiv wie das vorherige. Langsam kehrte wieder Ruhe in Sabrinas Gefühlswelt ein, und nach einigen Minuten war sie soweit, daß sie sich aufsetzen konnte.
"Danke." Sie lächelte Kat schüchtern an. "Tut mir leid, daß ich -"
"Na!" Kat lachte schelmisch. "Du sollst doch zuhören und nicht reden."
Sabrina nickte dankbar. Sie griff nach ihrer Fanta, um einen großen Schluck davon zu trinken, dann wandte sie sich zu Kat.
"Wo ist hier die Toilette?"
"Am Ende des hinteren Raums. Soll ich mit?"
Sabrina schüttelte spontan den Kopf. "Geht schon, danke."
Sie stand auf und ging mit schnellen Schritten nach hinten, bemüht, ihr verweintes Gesicht zu verstecken. Den fragenden Blick von Kim und Kats Antwort in Form des erhobenen Daumens sah sie nicht mehr. Sie ging nicht auf die Toilette, sondern blieb vor dem Spiegel stehen und wusch sich erst einmal das Gesicht, bis nur noch ihre geröteten Augen anzeigten, daß sie geweint hatte. Nachdenklich musterte sie sich im Spiegel. In sich spürte sie einen Frieden, der vorher nicht da gewesen war, gepaart mit einer neuen Stärke. Sie stellte erstaunt fest, daß sie sich viel sicherer als noch vor ein paar Minuten fühlte. Verwundert sah sie sich selbst im Spiegel an und versuchte, ihr neues Ich im Gesicht zu entdecken, doch es lag viel tiefer, unsichtbar für sie. In diesem Moment ging die Tür auf, und ein Mädchen von 17, 18 Jahren trat ein. Sie lächelte Sabrina zu.
"Liebeskummer ist echt Scheiße", sagte sie mitfühlend. "Aber das geht vorbei."

Sie klopfte kurz auf Sabrinas Schulter und verschwand durch die nächste Tür zu den Toiletten. Sabrina lächelte erleichtert, als sie erkannte, daß ihr Weinen hier wohl gar nicht so unnormal war wie zuerst vermutet. "Liebeskummer", kicherte sie leise. "Gute Entschuldigung." Sie fuhr sich mit den Fingern durch das Haar, um es wieder in Ordnung zu bringen, und lief dann schnell zurück zu Kat, neben der ein Mann von etwa dreißig oder fünfunddreißig Jahren saß. Etwas unsicher näherte sich Sabrina den beiden.
"Das ist Thomas Müller", stellte Kat den Mann vor. "Er ist der Mitarbeiter des Jugendamtes, der den Laden hier leitet. Tom, das ist Sabrina."
"Hallo!" Erleichtert gab sie dem Mann die Hand, der sie freundlich, aber etwas distanziert begrüßte.
"Tom erzählte gerade", meinte Kat, als Sabrina sich setzte, "daß gestern wieder jemand versucht hat, hier Gras zu verkaufen. Wie ging's weiter?"
"Gar nicht", erwiderte Tom. "Sobald er auch nur das Wort Gras ausgesprochen hatte, haben ihn die Leute hier schnellstens vor die Tür gesetzt. Ich mußte nicht einmal eingreifen."
"So sollte es sein." Kat lächelte zufrieden. "Das wird sich auch schnell herumsprechen."
"Hoffentlich." Tom sah zu Sabrina. "Sie sind neu in Bremen, sagt Kat?"
"Ja, gestern von Bierden in die Stadt gezogen. Also nicht so ganz neu." Bierden war ein kleiner Vorort im Nordosten von Bremen.
"Verstehe." Tom lächelte sie kurz an, dann sah er wieder zu Kat. "Und ihr habt den Ärger gut
überwunden?"
"Mehr als gut. Hast du was von dem Typ erfahren?"
"Ja, frisch von heute morgen. Er ist tatsächlich versetzt worden, und zwar an eine Schule, wo es keine Mädchen gibt. Ich verstehe nur noch nicht, warum ihr ihn nicht anzeigen wollt."
"Gibt doch nur Streß." Kat sah ihn mit einem wissenden Blick an. "Er hat sein Ziel nicht erreicht, aber statt dessen eine gebrochene Nase. Und er ist weg. Das ist für uns wichtiger als eine Anzeige."
"Schon richtig", erwiderte Tom. "Und seine neuen Vorgesetzten wissen über ihn Bescheid. Das ist auch viel wert." Er stand auf und schloß beide Mädchen in seinen Blick ein.
"Ich muß weiter; hinten warten ein paar Leute auf mich. Viel Spaß noch."
"Dir auch!" - "Danke, gleichfalls."
Sie sahen ihm kurz hinterher.
"Der ist ganz in Ordnung", plauderte Kat dann. "Läßt nicht immer den Obermotz raushängen, sondern redet ganz vernünftig mit den Leuten. Der Typ, der vor ihm hier war, muß viel schlimmer gewesen sein. Der soll sich schon aufgeregt haben, wenn laut gelacht wurde. Tom schmeißt den Laden hier jetzt seit drei Jahren, und in der Zeit hat sich der Treff bombig entwickelt. Und wie geht's dir?"
"Besser." Sabrina lächelte schüchtern. "Sehr viel besser."
"Gut." Kat strich ihr kurz über die Schulter. "Kannst du Billard spielen?"
"Was?" Sabrina lachte unsicher. "Ich weiß nicht mal, wie das überhaupt geht!"
"Dann wird es Zeit, daß du es lernst. Beim Billard triffst du immer viele Leute." Sie ergriff Sabrinas Hand, zog sie mit sich hoch und führte sie in den hinteren Raum, den sich Sabrina nun in aller Ruhe anschaute. Sie machte sofort zwei große Bereiche aus. Der erste wurde von einem Billardtisch regiert, der zweite von einer Tischtennisplatte. Ein dritter Bereich war mit Sofas, Sesseln und Tischen besiedelt, wie im vorderen Raum. An einem Tisch saß ein etwa fünfzigjähriger Mann, umringt von vielen jungen Leuten, und tippte auf seinem kleinen Laptop herum.
"Das ist der Wassermann vom Arbeitsamt", erklärte Kat. "Er heißt tatsächlich so. Robert Wassermann. Manche haben Scheu vor ihm, weil er schon so alt ist, aber er kommt mit den Leuten hier bestens klar. Der ist auch von der umgänglichen Sorte. Nicht arrogant oder kaltschnäuzig, einfach nur nett und hilfsbereit. Wenn der eine Stelle empfiehlt, klappt es auch. Und wenn nicht, hat der Arbeitslose Mist gebaut. Selbst dann flippt der Wassermann nicht aus, sondern klärt ganz ruhig und sachlich, woran es gelegen hat. Der hat einen guten Ruf hier." Sie zog Sabrina zu dem Billardtisch, der wie die Tischtennisplatte völlig vereinsamt war, und drückte ihr einen langen, sich nach oben verjüngenden Stock in die Hand.
"Das ist das Queue", erklärte sie. "Damit stößt du vor die weiße Kugel, und mit der mußt du dann andere Kugeln in die Löcher hier bringen." Sie deutete auf die sechs Löcher des Tisches. "Wir fangen aber ganz einfach an."

"Stören wir denn nicht?" fragte Sabrina unsicher.
"Nein. Den Wassermann stört selbst hartes Tischtennis nicht, und solange der ruhig bleibt, sind die anderen auch ruhig." Kat warf eine Münze in einen Schlitz, holte ein weißes Dreieck aus der Unterseite des Tisches hervor und begann, viele bunte Kugeln darin zu sortieren.
"Du kannst Billard auf mehrere Arten spielen, Sabrina. Schau mal her. Du hast einfarbige Kugeln, und welche mit Ringen. Außerdem tragen alle Nummern. Du kannst jetzt so spielen, daß du die Kugeln in der Reihenfolge der Nummern versenkst, also in die Löcher bringst, oder zuerst die einfarbigen oder die mit den Ringen zuerst. Meistens wird nach Nummern gespielt. Also zuerst die 1, dann die 2, dann die 3 und so weiter. Bis auf die schwarze Kugel mit der 8. Die muß ganz am Ende gespielt werden. Wenn die ins Loch geht, obwohl noch andere Kugeln auf dem Tisch sind, hast du verloren."
Sabrina nickte. "Ungefähr klar."
"Der Rest kommt beim Spiel." Kat lächelte ihr zu. "Wir spielen einfach mal so, damit du dich dran gewöhnst, aber sobald die 8 weg ist, ist das Spiel vorbei. Da müssen wir von Anfang an ganz streng sein. Pro Spiel kostet das hier eine Mark, aber wir wechseln uns ab. Hast du genug Kleingeld?"
"Glaub schon."
"Wenn nicht, kannst du an der Bar wechseln lassen. Die haben extra eine Kasse dafür." Sie hob das weiße Dreieck vorsichtig ab, nachdem sie es mit der Spitze auf einen weißen Punkt ausgerichtet hatte, und legte es zurück in den Tisch.
"So sieht das aus, Sabrina. Alle sauber geordnet. Die weiße kommt hier vorne hin." Sie deutete auf einen anderen Punkt, auf den sie dann die weiße Kugel legte. Sabrina schaute sich das Dreieck aus bunten Kugeln einen Moment an, dann nickte sie.
"Ist klar. Und jetzt?"
"Jetzt käme der erste Stoß. Mit dem wird die weiße Kugel in die anderen gejagt, damit sich das Feld etwas auflockert, aber das machen wir später. Jetzt üben wir erst einmal das Stoßen." Sie rollte die sauber aufgebauten Kugeln zur Seite und legte dann nur die weiße und die mit der Nummer 1 mitten auf den Tisch. Dann stellte sie sich ganz dicht hinter Sabrina und erklärte ihr die Handhabung und Haltung des Queues. Schließlich war Sabrina bereit für ihren ersten Stoß. Konzentriert beugte sie sich über den Tisch, visierte die Linie zwischen der weißen Kugel und der Nummer 1 an, bewegte das Queue mehrmals über ihre linke Hand und stieß dann vor die weiße. Sie rollte auf die andere Kugel zu und verfehlte sie knapp. "Mist!" Verärgert richtete sie sich auf.
"Halb so wild", meinte Kat lächelnd. "Deswegen üben wir ja. Gleich noch mal."
Schnell lagen die beiden Kugeln wieder so wie am Anfang. Diesmal traf Sabrina die Kugel, jedoch so schwach, daß sie nur ein kleines Stück rollte und dann liegenblieb. Kat war eine geduldige Lehrerin. Sie ließ Sabrina selbst auf die Winkel kommen, um ihre Erfahrung aufzubauen, und korrigierte nur Sabrinas Haltung. Daß sie Sabrina dazu häufig berühren mußte, nahm Sabrina als normal hin. Kat ließ sie in den ersten vier Durchgängen die Kugeln in gerader Linie in die Löcher bringen, dann lernte Sabrina, über die Bande zu spielen, was ihr den Schweiß auf die Stirn trieb. Doch als die erste über Bande gespielte Kugel ins Loch fiel, strahlte Sabrina wie ein Schneekönig.
"Na also!" lachte Kat zufrieden und drückte Sabrina kurz, aber kräftig. "Übung macht den Meister. Nicht direkt am Anfang aufgeben, Sabrina. Durchbeißen!"
"Hast recht." Sabrina ließ das Queue sinken. "Ich gebe viel zu schnell auf."
"Nicht, wenn du mit uns zusammen bist", meinte Kat mit einem listigen Lächeln. "Wir dulden keine Versager um uns herum. Gleich die nächste Kugel."
Sabrina sah Kat mit einem so herzlichen Blick an, daß ihre Augen feucht wurden. Kat klopfte ihr kräftig auf die Schulter.
"Nicht träumen! Weiter!"
Als sie um halb sieben Schluß machten, weil andere auch mal spielen wollten, war Sabrina naßgeschwitzt, aber zum ersten Mal seit langer Zeit wieder glücklich. Äußerst zufrieden mit sich und ihrem Spiel, bei dem sie schon vier von zehn Kugeln mit dem ersten Stoß ins Loch brachte, ging sie mit Kat zurück in den vorderen Raum, wo sich beide neue Getränke kauften und dann wieder setzten.
"Morgen wird Kim mit dir spielen", sagte Kat. "Wie sieht es bei dir mit Taschengeld aus, Sabrina? Kostet dich das nicht zuviel?"
"Geht noch. Aber täglich kann ich mir das nicht leisten. Nicht so oft wie heute."

"Das ist klar. Meistens spielt man drei, vier Spiele, und dann ist es gut. Aber das Training kostet halt. Ist überall so." Sie lächelte schelmisch. "Und außerdem mußt du es ja nicht zur Meisterschaft bringen. Nur so gut, daß du mithalten kannst und nicht von jedem Anfänger ausgebeutet wirst."
"Das habe ich schon gemerkt", meinte Sabrina versonnen. "Daß die Erfahrung, wie ich wann stoßen muß, mehr und mehr kommt."
"Genau. Und da Kim und ich zu zweit sind, zahlen wir jedes zweite Spiel für dich. Einverstanden? So kommst du besser über die Runden und lernst trotzdem viel. Wir bekommen ja zweifach Taschengeld." Sie schüttelte den Kopf, als Sabrina beschämt widersprechen wollte.
"Das muß dir nicht peinlich sein, Sabrina. Schau mal: Wenn du zwanzig Spiele machst, machen Kim und ich nur jeweils zehn. Wenn wir jedes zweite Spiel für dich ausgeben, liegen wir wieder gleich." Wieder lächelte sie schelmisch. "Wir können das natürlich auch in eine Gleichung packen und ganz genau ausrechnen, wieviel Spiele jede von uns bezahlen muß, damit es ganz gleich ausgeht."
"Dazu brauche ich keine Gleichung", erwiderte Sabrina verlegen. "Das wäre jedes dritte Spiel, eben weil wir zu dritt sind."
"Fast. Wir sind aber so gesehen zwei Mannschaften. Du und ich, und du und Kim. Du zahlst immer doppelt so viel wie wir, weil du zwei Spiele machst, während Kim und ich nur eins machen. Also jedes zweite."
"Stimmt!" Sabrina runzelte die Stirn. "Das habe ich übersehen. Laß mal rechnen... Sagen wir, wir machen sechzig Spiele. Dann zahle ich dreißig Mark, und ihr jeweils fünfzehn. Hast recht. Ich zahle doppelt so viel wie ihr, also wie jede von euch. Um das anzugleichen, müßte jede von uns zwanzig Mark zahlen, und das heißt, ich müßte zwei Spiele bezahlen und ihr dann abwechselnd eins für mich." Sie riß die Augen auf. "Das ist dann doch jedes dritte Spiel von mir!" "Richtig." Kat lächelte gemein. "Ich wollte auch nur den Beweis hören. Instinkte und Vermutungen zählen in der Mathematik nicht."
"Du linke Ratte!" Sabrina lachte fröhlich. "Aber trotzdem hast du unrecht. Da Kim und du abwechselnd jedes dritte Spiel von mir bezahlt, zahlt ihr eigentlich nur jedes sechste von mir, eben da ihr zu zweit seid. Aber jedes dritte Spiel von mir wird von einer von euch bezahlt."
"Exakt." Kat lächelte zufrieden. "Kannst du damit leben? Daß ich jedes sechste Spiel von dir bezahle und Kim auch?"
"Das klingt schon sehr viel besser als jedes zweite." Sabrina nickte schüchtern. "Wenn es euch nichts ausmacht..." "Nein, Sabrina. Es scheint dir viel Spaß zu machen. Außerdem... Wo bekommt man für eine Mark schon so ein Erfolgserlebnis?"
"Da hast du recht." Sabrina sah Kat dankbar an. "Warum tust du das alles für mich?"

"Weil ich dich mag", erwiderte Kat schlicht. "Kim mag dich auch, auch wenn sie es nicht zeigt. Du bist natürlich, Sabrina. Nicht einfach oder primitiv, einfach nur natürlich und offen. Was du denkst, steht in deinem Gesicht. Und du hast bisher kein einziges Wort über unsere Eltern verloren."
"Das ist nicht so ganz mein Ding", erwiderte Sabrina verlegen. "Actionfilme und so, meine ich." "Genau das meine aber ich", lächelte Kat herzlich. "Viele frühere sogenannte Freunde haben uns gleich um Autogramme unserer Eltern angehauen. Um Souvenirs. Ganz Unverschämte wollten sogar Videos geschenkt bekommen. Da bist du uns tausendmal lieber." "Auch wenn meine Eltern nicht so reich sind?" entfuhr Sabrina unbedacht. Kats Reaktion ließ Sabrina zurückweichen. Kats Augen funkelten sie wütend an, und gerade weil Kat normalerweise so sanftmütig war, wirkte es doppelt so schlimm.
"Wenn ich in dreißig Jahren", sagte sie leise, aber sehr zornig, "auch so reich bin wie meine Eltern heute, dann kannst du gerne neidisch sein. Aber bitte nicht, weil meine Eltern vielleicht mehr Geld als deine verdienen. Das spielt für mich überhaupt keine Rolle. Genauso wenig bewerte ich dich nach dem Einkommen deiner Eltern. Aus dieser Kindergartenmentalität sind Kim und ich schon lange heraus."
Sie atmete tief durch. "Tut mir leid", entschuldigte sie sich sogleich und wieder in ihrem sanften Ton. "Das bringt mich jedesmal auf die Palme, wenn ich diesen Müll höre. Was hat das Geld deiner Eltern mit dir zu tun, Sabrina? Was hat das Geld meiner Eltern mit mir zu tun? Was hat das Geld unser aller Eltern mit unserer Freundschaft zu tun, die wir aufbauen wollen?" "Nichts." Sabrina senkte bedrückt den Kopf. "Das ist mir einfach so rausgerutscht." "Schon vergessen." Kat drückte Sabrinas Hand. "Was denkst du jetzt über den Namen Bienchen?"
Sabrina lachte auf. "Daß Bienen einen Stachel haben!"
"Gut!" Kat sah sie bewundernd an, was Sabrina wie Öl herunter ging. "Das ist übrigens eine Technik aus dem Kampfsport, Sabrina. Nutze den Angriff deines Gegners für dich selbst. Deine Mutter meint es bestimmt nicht böse, wenn sie dich so nennt, aber da du dich jedesmal darüber aufregst, hält sie dich noch für zu unreif, um dich mit deinem richtigen Namen anzureden. Wenn du ihr aber den Stachel zeigst, dann bekommt sie Respekt vor dir. Aber nur zeigen! Nicht gleich zustechen."
"Den Angriff nutzen..." murmelte Sabrina verblüfft. "Handelt ihr so? Gab es deswegen heute morgen dieses Theater in der Schule?"
"Ganz genau. Wir wußten schon von vornherein, daß sich irgend jemand über unser Aussehen lustig machen würde, und deswegen haben wir uns dieses kleine Spiel ausgedacht. Das haben wir übrigens auf jeder neuen Schule so durchgezogen. Überall gibt es so welche wie Jasmin, die sich über andere lustig machen, um sich selber aufzuwerten." Sie grinste plötzlich. "Der Onkel ist aber erfunden. Vater hat uns erklärt, warum manche Menschen auf anderen herum hacken. Kam aber trotzdem ganz gut an."
"Und wie! Die ist ja wirklich total ausgerastet."
"Natürlich." Kat zuckte mit den Schultern. "Das konnte sie doch nicht auf sich sitzenlassen, Sabrina. Sie ist immerhin bekannt, während wir die Neuen sind. Und wenn Worte versagen, wird eben zur Gewalt gegriffen. Traurig, aber es ist so."


"Habt ihr deswegen Karate gelernt?"
"Kung Fu. Nein. Das haben wir gelernt, weil wir auch Schauspieler werden wollten." Sie lachte fröhlich. "Aber heute sind wir froh, daß wir es gelernt haben. Kim und ich trainieren übrigens nach dem Abendessen noch eine Stunde zusammen mit unserer Mutter. Es liegt ganz bei dir, ob du vorher nach Hause möchtest oder uns lieber zusiehst."
"Ich würde gern zuschauen", erwiderte Sabrina spontan. "Ach ja! Ich hab dich vorhin, glaube ich, geschlagen. Tut mir wirklich leid."
"Du hast mich nicht geschlagen." Kat legte Sabrina lächelnd den Arm um die Schulter. "Du warst viel zu wütend, um mich richtig zu treffen. Ist vergessen. Heute abend kannst du sehen, wie ich geschlagen werde. Kim und ich gehen richtig aufeinander los."
"Tut ihr euch dann weh?" fragte Sabrina entsetzt. Kat nickte ungerührt.
"Sicher. Anders merkst du ja nicht, daß deine Verteidigung nicht geklappt hat. Ist aber halb so wild, Sabrina. Wir spüren die Schläge, aber wir verletzen uns nicht. Etwa so." Wie aus dem Nichts zuckte Kats rechte Faust vor und prallte gegen Sabrinas Bauch. Das Mädchen fuhr bis ins Mark erschrocken zusammen und wartete auf den Schmerz, doch der kam nicht. Fassungslos blickte sie Kat an, die schelmisch lächelte.

"Der Schlag stoppt auf der Haut. Nicht tiefer. Beim Training zumindest. Wenn wir richtig kämpfen, geht es schon härter zu, aber nie so schlimm, daß wir tot umfallen."
"Könnt ihr auch Ziegelsteine zerschlagen?" fragte Sabrina bewundernd.
"Keine Ahnung. Bisher hat mich noch kein Ziegelstein angegriffen." Sie lachte über Sabrinas
verblüfftes Gesicht.
"Sabrina, wir geben damit nicht an. Wir benutzen es, um uns fit zu halten und um uns verteidigen zu können. Wie gesagt: Wir fangen keinen Streit an, aber wir beenden ihn. Zumindest, bis wir mal an jemanden kommen, der besser ist als wir."
"Was aber sehr unwahrscheinlich ist."
"O nein!" widersprach Kat ernst. "Im Moment ist unser Vater noch besser als wir. In zehn Jahren sind wir vielleicht besser als er, aber dann wird es todsicher wieder andere geben, die besser und schneller als wir sind. Verstehst du? Es gibt immer jemanden, der besser ist als du selbst. Immer. Das zu ignorieren, hieße unvorsichtig zu werden und sich selbst zu überschätzen. Und damit hättest du schon verloren, bevor der Kampf überhaupt begonnen hat." Sabrina sah Kat forschend und musternd an. "Ihr seid seltsam. Total seltsam. Also nicht böse gemeint, aber so jemanden wie euch habe ich noch nie getroffen."
"Diese Schuld kannst du unseren Eltern geben", lächelte Kat verschmitzt. "Sie haben schon sehr früh damit begonnen, uns selbständig zu machen. Für unseren damaligen Geschmack war das zu früh, aber heute sind wir ihnen dankbar. Und natürlich kommt ein großer Teil unserer Kraft aus dem Kampfsport. Wenn nicht sogar alles. Kim und ich lieben es, in Diskussionen zu verlieren, weil wir dann merken, daß wir noch nicht genug wissen. Leider ist die Schule dafür völlig ungeeignet, das hast du ja heute morgen gesehen. Wo Argumente versagen, wird zur Faust gegriffen. Irgendwie tut mir diese Jasmin leid. Aber nur ein bißchen!" betonte sie lachend.
"Ich hatte Angst vor ihr", gestand Sabrina verlegen. "Ich hätte nicht gewußt, wie ich mich verhalten soll. Wahrscheinlich hätte ich mich fertigmachen lassen und wäre zu meinem Stuhl gegangen." "So geht es vielen", stimmte Kat leise zu. "Viel zu vielen. Menschen wie Jasmin sind nur so stark, weil es viele schwache Menschen gibt, die das mit sich machen lassen. Kim und ich mögen es überhaupt nicht, Kung Fu anwenden zu müssen. Du hast ja gesehen, daß sie zuerst nur ausgewichen ist, ohne sich zu wehren. Das hätte dieser Jasmin schon genug sagen müssen, aber sie wollte einfach schlagen. Sie darf prügeln, weil sie bei einer Diskussion den kürzeren zieht, aber wir dürfen es nicht, auch wenn ein Lehrer uns an die Wäsche geht. Soviel zum Thema, wer auf die Sonderschule gehört. Sie wird auch morgen nicht aufgeben, Sabrina. Es geht weiter. Bis genug Leute kapiert haben, wie wir sind. Daß wir uns zwar wehren, aber primär unsere Ruhe haben wollen. Erst dann wird sich die Stimmung gegen Jasmin wenden. Irgendwann wird sie gefrustet aufgeben."
"Jasmin macht mir auch weniger Angst", sagte Sabrina besorgt. "Eher dieser Bulle, den Kim
fertiggemacht hat."
"Da hast du recht", stimmte Kat gelassen zu. "Der wird sich bis morgen so aufregen, daß er Kim herausfordern wird. Nach der Schule, nehme ich an. Kim wird ihm zeigen, wo der Hammer hängt, und dann sollte es gut sein."
"Schlägt sie ihn etwa zusammen?" fuhr Sabrina erschrocken auf.
"Natürlich nicht. Sie wird ihm zeigen, daß sein Körper sehr viel Schmerz empfinden kann, ohne dass man etwas sieht. Und sie wird ihm nach jedem Schlag die Chance geben, aufzuhören, aber er wird es nicht annehmen. Das kann er nicht annehmen, weil er sich selber überschätzt und für unbesiegbar hält. Das von heute morgen wird er auf die Überraschung schieben, aber morgen wird Kim ihn demoralisieren. Stück für Stück. Wenn er schlau ist, wird er frühzeitig aufhören, aber so schlau wird er nicht sein. Nicht, wenn viele andere zusehen."

In Sabrinas Magen bildete sich ein schwerer, schmerzhafter Knoten. "Ich hasse Gewalt!" sagte sie heftig.
"Wir auch." Kat sah sie eindringlich an. "Aber sollen wir uns deshalb schlagen lassen, Sabrina? Nur weil uns jemand demonstrieren will, daß er oder sie stärker ist als wir? Sollen wir es einfach so hinnehmen, daß uns jemand verprügeln will?"
"Gandhi hat das aber so gemacht."
"Richtig. Gandhi hatte aber auch ein viel größeres Ziel: die indische Unabhängigkeit von
Großbritannien, die politische Unabhängigkeit seines Volkes. Hier geht es um pure Macht, Sabrina.

Um die brutale Anwendung von körperlicher Überlegenheit. Wenn es darum ginge, meine Schwester zu retten, würde ich mich wie Gandhi zusammenschlagen lassen. Aber nicht, wenn so ein Schwachkopf mit überspannten Ideen im Gehirn meint, er könne alles mit seinen Fäusten in die Knie zwingen. Er wird morgen lernen, daß es jemanden gibt, der besser ist als er." Kat blieb während ihrer ganzen Rede ruhig und gelassen.
"Schau, Sabrina: Viele Menschen lehnen Gewalt ab, weil sie ihnen Angst macht. Verständlich. Aber Gewalt - und gerade Gewalt in der Schule - ist ein sehr aktuelles Thema. In vielen Städten bilden sich innerhalb der Schulen schon Initiativen, die die Lehrer bei der Aufsicht unterstützen und bei Streitereien vermitteln. Hier ist es wohl noch nicht so weit. Wenn jemand glaubt, er könne seine Vorstellungen mit Gewalt durchsetzen und damit sogar durchkommt, sind wir nur noch einen winzigen Schritt vom Vierten Reich entfernt. Mehr und mehr Menschen verstehen das, und sie verstehen auch, daß Gewalt zum heutigen Leben dazugehört. Sicher ist es erschreckend, daß es überhaupt so weit gekommen ist, aber deswegen können wir doch nicht den Kopf in den Sand stecken und diese Schläger mit allem durchkommen lassen. Immerhin zahlen wir es ihnen nicht mit gleicher Münze zurück, sondern versuchen, ihnen zu zeigen, daß sie auf dem falschen Weg sind. Ich hätte Jasmin heute morgen auch die Nase brechen können. Aber was hätte das gebracht? Nichts. So habe ich ihr gezeigt, daß ich erstens schneller und zweitens stärker bin. Vielleicht denkt sie mal darüber nach und läßt uns zukünftig in Ruhe. Das hoffe ich zumindest, auch wenn ich es Moment bezweifle. Kim wird es morgen ebenso machen. Sie wird diesem Typ zeigen, daß er keine Chance hat, und ihm die Möglichkeit geben, den Kampf abzubrechen. Es ist dann seine Entscheidung, ob er weiter Schmerzen haben will oder nicht. Kim wird ihn nicht zusammenschlagen, er wird auch nicht bluten, aber er wird sich sehr mies und kaputt fühlen. Oder aber - und das hoffe ich auf keinen Fall für ihn - er geht direkt mit voller Gewalt auf Kim los und schlägt sie blutig. Würdest du so jemanden noch verteidigen wollen?"

Sabrina fühlte sich, als würde sie mit ihrer Mutter diskutieren. Tausend Dinge gingen ihr durch den Kopf, doch keines war geeignet, mit Kats Argumenten mitzuhalten.
"Nicht verteidigen", erwiderte sie lahm. "Aber aus dem Weg gehen."
"Wie? Wenn er auf dich wartet und dich abfängt? Oder dich mit einer Gruppe von blind folgenden Anhängern einkreist?"
"Aber wenn er nun ein Messer hat?" Sabrina schauderte unwillkürlich. "Oder sogar eine Pistole?"
"Das will ich nicht hoffen." Kats Stimme wurde sehr ernst. "Wenn er tatsächlich eine Waffe zieht, dann kennen weder Kim noch ich Pardon. Dann hat er verloren. Und zwar sehr schnell. Sabrina, Kim und ich lehnen auch Gewalt ab. Aber wenn wir überfallen oder angegriffen werden, dann gibt es keinen anderen Ausweg mehr. Du könntest unserem Vater zum Beispiel Millionen schwere Beleidigungen an den Kopf werfen, und er würde immer noch lächeln. Aber greifst du an, und das auch noch mit einer Waffe, dann mußt du damit rechnen, daß er sich wehrt. Und je nachdem, wie du ihn angreifst, wird er das auch. Wenn er merkt, daß du ihm tatsächlich schaden willst, dann wird er böse. Wenn er merkt, daß du verzweifelt bist und nicht mehr weißt, was du tust, wird er mit dir reden und dich wieder auf den Boden zurück holen. Kim und ich handeln genauso. Findest du das falsch? Oder spielt bei dir einfach nur die Angst vor der Gewalt hinein?"
"Das zweite", erwiderte Sabrina leise. "Falsch finde ich das nicht, aber ich habe einfach Angst vor Gewalt. Weil ich dann so hilflos bin."
"Siehst du." Kat drückte sie leicht an sich. "Und nur weil du hilflos bist, können so Leute wie Jasmin und dieser Typ Erfolg haben. Könntest du dich wehren, würden sie keinen Erfolg haben. So einfach ist das."
"Einfach?" Sabrina stieß den Atem aus. "Das ist furchtbar kompliziert!"
"Nicht, wenn du ohne Angst darüber nachdenkst, Sabrina. Laß uns an dieser Stelle Schluß machen. Du kennst jetzt meine Argumente, und du kennst deine. Denk drüber nach und warte morgen ab." Sie lächelte Sabrina fast schon zärtlich an. "Wenn unsere Eltern einverstanden sind, könnt ihr uns am Wochenende besuchen. Dann lernst du auch unseren Vater kennen. Er gibt jeden Abend Kurse, bis zehn Uhr, und muß danach noch Papierkram machen, deswegen kommt er erst gegen elf Uhr heim. Alles, was wir über Gewalt und Angst wissen, wissen wir von ihm. Er fing mit Kung Fu an, weil er auch jahrelang verprügelt worden ist. Er weiß, was es heißt, ein hilfloses Opfer zu sein. Mit 15 ist er von Zuhause ausgerissen und nach China gereist. Auf der Suche nach einem Shaolintempel lief er einem der Mönche dort über den Weg, der etwas Englisch sprach. Aber das mußte er nicht einmal anwenden. Was mein Vater wollte, konnte der Mönch in seinen Augen lesen. Natürlich hat er meinen Vater erst einmal ignoriert. Das scheint der Standard da zu sein, um zu testen, wie weit die Entschlossenheit geht."
"Aber dein Vater war entschlossen genug?" fragte Sabrina neugierig.
"O ja!" Kat kicherte ausgelassen. "Er sagt, daß er sich auf den Mönch geworfen, ihn am Fuß gefasst und nicht mehr losgelassen hat. Der Mönch hat ihn zuerst auf Chinesisch angeschnauzt und am Schluß sogar nach ihm getreten, aber Vater hat nicht losgelassen. 'Lernen!' hat er immer nur gesagt. 'Lernen!' Irgendwann hatte er den Mönch soweit und wurde in den Tempel gelassen, Da mußte er sich noch mit dem Oberpriester auseinander setzen. Der wollte ihn gleich wieder vor die Tür setzen, aber Vater hat sich mit Armen und Beinen an alles geklammert, was er erreichen konnte. Stühle, Tische, Statuen, und sogar an Menschen. Das muß ein göttliches Bild gewesen sein." Sie wischte sich eine Lachträne von der Wange.
"Jedenfalls wurde er nach dieser ergreifenden Vorstellung aufgenommen und hat zehn Jahre dort gelebt und gelernt, dann ist er zurück nach Amerika, wo er erst zum Militär ging und danach gleich in einer Schule unterkam. Dort hat er Mutter kennengelernt, die ebenfalls an dieser Schule unterrichtete. Voll Liebe auf den ersten Blick, wie sie sagen. Sie haben nach nur vier Wochen geheiratet, sind hier nach Deutschland ausgewandert, haben eine Anstellung in einer Schule gefunden und wurden knapp zwei Jahre später für einen billigen Film engagiert, als Kampfdoubles. Aber sie haben die Hauptdarsteller glatt an die Wand gespielt, und schon wenig später bekamen sie eine größere Rolle, danach noch eine größere, und schließlich kam die erste Hauptrolle. Mutter spielte die Gute, Vater den Bösen. Der Endkampf der beiden war gigantisch! Die haben glatt zwei Etagen in einem Hochhaus zerlegt, bevor Vater endlich von Mutter aus dem Fenster im 65. Stock getreten wurde. Natürlich nur im Film."
"Wow!" Sabrina atmete aufgeregt aus. "Aber sag mal, ich denke, deine Mutter macht Judo!"
"Macht sie auch. Aber die Kampfszenen werden Bewegung für Bewegung eingeübt. Zehn Sekunden harter Kampf sind ungefähr zwei Tage Training. Für total Ungeübte jedenfalls. Mutter hat den 3. Dan in Judo, aber sie kann auch etwas Karate. Genug jedenfalls, um schnell die Kampfszenen lernen zu können." Kat lächelte hintergründig.
"Das war auch etwas, was Kim und ich lange nicht kapiert haben. Daß unsere Eltern im Film jeden umnieten, der ihnen im Weg steht, und im wirklichen Leben ganz lieb und nett sind und Streit möglichst aus dem Weg gehen. Als wir endlich kapiert hatten, daß es tatsächlich einen Unterschied zwischen Film und Wirklichkeit gibt, kam die Erkenntnis von wegen Gewalt und Ausweichen wie von selbst. Im Film kommt es gut, wenn Vater ein Haus in die Luft jagt, um den Bösen zu erledigen, aber in der Wirklichkeit sieht das ganz anders aus. Bis auf den Punkt, wo er angegriffen wird."

"Das verstehe ich so langsam", gab Sabrina zu. "Ich haue ab, weil ich mich nicht wehren kann, aber ich wünsche mir, daß ich mich wehren könnte."
"Tja, und wir können uns wehren, wünschen uns aber, es nicht tun zu müssen. Verrückte Welt. Vater unterrichtet jedenfalls ganz in der Tradition der Shaolin. Weiche dem Kampf aus, wenn es geht, doch wenn du ihm nicht mehr ausweichen kannst, dann gewinne ihn."
"Vielleicht habe ich vorhin etwas zu heftig reagiert", seufzte Sabrina. "Daß es so friedliche - ich sag mal - Schläger gibt, wußte ich nicht. Aber das seid ihr ja nicht."
"Schläger? Nein. Wir provozieren keinen, wir überfallen keinen. Wir ziehen uns so an, wie wir wollen. Genau das gleiche tun auch die anderen. Warum soll ich mich zum Beispiel über deinen Geschmack lustig machen? Dazu habe ich doch überhaupt kein Recht, Sabrina. Allerdings erwarte ich dasselbe auch von allen anderen. Womit wir wieder beim Anfang wären. Wer austeilt, muß auch einstecken können. Das hat Vater uns beigebracht. Wir können jede Menge einstecken, aber wenn wir angegriffen werden, ist Ende mit Geduld."
Sabrina überflog in Gedanken den heutigen Schultag und mußte Kat widerwillig recht geben. Kim und Kat hatten nie angefangen, sondern sich immer nur gewehrt, und das auch auf relativ harmlose Art, so daß niemand sichtbare Verletzungen davongetragen hatte. Trotzdem blieb ein sehr ungutes Gefühl zurück, als sie an den nächsten Schultag dachte.
Kims dunkle Stimme hielt sie von weiteren Grübeleien ab. "Mit dem nächsten Song verabschiedet sich eure Kim von euch. Morgen wird Kat wieder ihre Blue Hour einleiten, doch bis dahin vergehen noch 22 Stunden, die euch dieser Song hier wachhalten soll."
Wieder brach ein Chaos aus den Lautsprechern; diesmal eine kreischende Frauenstimme, noch verstärkt um Johlen, Pfeifen und Klatschen aus den zwei Räumen.
"Das ist Janis Joplin", kicherte Kat. "Cry Baby. Einer ihrer stärksten Songs. 1971 veröffentlicht, um 1967 oder '68 geschrieben. Kim geht immer nach dem Datum, wann der Song geschrieben wurde."
"Und was ist diese Blue Hour?"
"Meine zwei Stunden morgen. Komm her, dann hörst du es." Sie zwinkerte Sabrina zu, während Kim ihre Sachen packte und mit den drei Jacken mürrisch zu ihnen kam.
"Lahmes Publikum!" maulte sie. "Kein Trinkgeld."
Sabrina entdeckte wieder ein belustigtes Funkeln ganz tief in Kims Augen. Kim erwiderte ihren Blick und hielt ihn. Von einer Sekunde zur anderen begann Sabrinas Herz zu rasen, und ihre Atmung beschleunigte sich, als sie sich urplötzlich zu Kim hingezogen fühlte. Kat war selbstsicher und sanft, aber Kim war so, wie Sabrina immer sein wollte: sicher, kühl, beherrscht, und unnahbar. Hastig wandte sie ihren Kopf ab und sah gleich wieder auf, als etwas vor ihrer Nase auftauchte. Kim hielt ihr ihre Jacke hin.
"Hier", meinte sie trocken. "Mehr als zehn Mark wurden mir dafür nicht geboten, und das lohnt den Streß mit dir nicht."
"Danke", hauchte Sabrina. Für den Bruchteil einer Sekunde sah sie in Kims Augen und entdeckte dort eine versteckte Wärme für sie, die ihr fast noch mehr Angst einflößte als die erste Begegnung mit Kim. Sie senkte den Blick wieder, griff gleichzeitig nach ihrer Jacke und legte sie sich auf den Schoß, als müßte sie ihre Unschuld verteidigen. Kim setzte sich ächzend hin.
"Zwei Stunden stehen!" schimpfte sie. "Tom! Wann kommt endlich der Barhocker?"
"Nächste Woche!" hörte Sabrina die lachende Stimme des Mannes. "Gleich morgen fälle ich den Baum für dich und schnitze dir übers Wochenende einen."
"Ha, ha!" lachte Kim gekünstelt, dann grinste sie versteckt. "Der Mann gibt echt gut Kontra. Gefällt mir."
"Der Mann oder das Kontra?" fragte Kat lachend.
"Das Kontra." Kim griff nach Sabrinas Fanta und trank einen Schluck davon. "Wir zwei spielen morgen Billard?"
Sabrina brauchte einen Moment, bis sie Kims Frage als auf sich gerichtet erkannte. Sie nickte. "Ja. Wenn du magst."
"Sicher. Verrate es keinem, aber ich mag dich."
Sabrinas Kopf ruckte hoch, ihr Blick traf den von Kim. "Du magst mich?"
"Ich?" Kim grinste hochnäsig. "Wer verbreitet solche Lügen?"
"Kim!" Kat sah sie strafend an. "Sabrina hatte einen schweren Tag. Sei lieb zu ihr."
"Bin ich doch. Wäre ich grob, würde ich jetzt sagen, daß ich nicht auf dunkelblonde Haare stehe." Sie zwinkerte der verwirrten Sabrina zu. "Was allerdings auch nicht der Wahrheit entspräche. Du hast wirklich schönes Haar. Wann kommt Mutter?"
"Viertel nach, wie üblich. Du hast heute gar nicht 'Child in Time' gespielt." Beide Mädchen ignorierten Sabrina, die gar nicht wußte, was sie von Kims letzten Äußerungen halten sollte.
"Ich weiß. Ich hab mich vorhin mit einem Typen unterhalten und bin total aus meinem Plan
rausgekommen. Der Typ meinte, ich sollte mich generell auf Hardrock stützen, nicht nur auf die Sechziger. Er hat mir ein paar Groups genannt, die ich mir mal anhören sollte. Das wäre zwar Heavy Metal, aber das soll nur die moderne Form des Hardrock sein."
"Echt?" fragte Kat interessiert. "Welche Gruppen denn?"
"Cinderella, Metallica, Guns 'n Roses, AC/DC, Judas Priest und so weiter. Er meinte, daß auch den letzten drei Jahrzehnten sehr guter Hardrock gemacht worden ist. Er sagte weiter, daß die Sechziger zwar die Wurzeln des Hardrock sind, aber die eben genannten Gruppen diese Linie konsequent verfolgen würden. AC/DC ist seiner Meinung nach mehr auf harten Rock 'n Roll fixiert, während Judas Priest und Iron Maiden schon sehr in Richtung Kommerz gehen, aber die frühen Aufnahmen von denen sollen noch sehr originell sein. Genau wie Uriah Heep. Die ersten CDs von denen müssen noch richtig gut sein. Muß Papa eben wieder bluten." "Spende?" fragte Kat grinsend. Kim nickte mit dem gleichen Gesichtsausdruck.
"Große Spende. Kann er ja von der Steuer absetzen. Tom ist langsam Weltmeister im Quittungen schreiben. Sabrina, lebst du noch?"
"Nein." Sabrina produzierte ein dünnes Lächeln. "Nach dem, was ihr redet, könntet ihr tatsächlich Außerirdische sein."

"Halb so wild", winkte Kim ab. "Ich hab durch das Gespräch mit dem Typen vorhin auch wieder jede Menge gelernt, was ich bis dahin noch nicht wußte. Das Zauberwort heißt Kommunikation. Sabrina, sollen wir zwei morgen nachmittag was durch die Läden ziehen? Ein paar CDs anhören?"
"Gerne!" strahlte Sabrina. "Aber was ist mit Kat?"
"Die hat hier zu tun. Ihre Musik zieht jeden in den Keller, nur nicht sie selbst. Sie spielt nur Blues. Zwei Stunden nur Blues! Voll ätzend!"
"Auch nicht schlimmer als zwei Stunden Hardrock", gab Kat gelassen zurück. "Wobei du jedoch völlig außer acht läßt, daß der Blues noch vor dem Hardrock existierte und sich der letzte aus dem ersten entwickelt hat."
"Genau wie der Mensch sich aus dem Affen entwickelt hat, wenn wir die Darwin'sche Lehre zugrunde legen. Was ich nach den Erlebnissen von heute morgen auch vorbehaltlos anerkennen muß. Und so, wie der Mensch nun die Krone der Schöpfung ist, ist der Hardrock die Krone der Musik. Gehen wir zusammen, Sabrina?"
"Was?" Sabrina erschrak heftig. "Was sollen wir?"
"Zusammen morgen durch die Läden ziehen. Was dachtest du denn?"
"Nichts." Sabrina lief feuerrot an. "Gerne. Wenn es Kat nicht stört..."
"Nein." Kat drückte Sabrinas Hand. "Ich kann schon auf mich aufpassen. Ich finde die Idee sehr gut, Kim. Du hast ja die Sechziger langsam vollkommen ausgeschöpft."
"Genau." Kim nickte bekümmert. Sabrinas Augen ruhten fasziniert auf dem weißhaarigen Mädchen. Sie gab sich nun vollkommen anders als in der Schule. Immer noch sehr kühl, aber wesentlich offener. Für einen Moment tauchte in Sabrina ein beängstigendes Bild auf, wie Kim und sie sich küßten. Fast schon panisch verscheuchte sie diesen Gedanken wieder.
"Durch Vater und Mutter sind wir ja ziemlich geprägt, was die Musik angeht", setzte Kim ihren Gedanken fort. "Leider interessiert sich kaum einer in unserem Alter intensiv für Hardrock, so daß ich auf Informationen von außen angewiesen bin. Vater und Mutter hängen in dieser Epoche fest; für sie gibt es nichts anderes außer den Sechzigern. Das muß aber nicht heißen, daß ich mich auch so festlegen muß."
"Das sehe ich ähnlich. Meine Blue Hour deckt den Blues von 1920 bis heute ab, so daß ich wesentlich flexibler bin. Du hast dir selbst eine ziemlich enge Grenze gesetzt."
"Die schon morgen sehr wahrscheinlich erweitert wird, wenn das zutrifft, was der Typ erzählt hat. Möglicherweise könnten wir sogar beide davon profitieren, Kat. Cinderella und Metallica sollen auch großartigen Blues spielen, wie die meisten anderen auch."
"Wäre nur natürlich. Hardrock und Blues liegen gar nicht so weit auseinander, wie du immer
behauptest. Willst du gleich morgen einkaufen?"
"Wahrscheinlich. Vielleicht kann Mutter uns morgen etwas Geld da lassen. Ach, wenn man vom Teufel spricht..." Sie winkte jemandem am Eingang zu und sprang auf. Sabrina sah in die Richtung und entdeckte eine zierliche, attraktive Frau Anfang Vierzig, der die Mädchen wie aus dem Gesicht geschnitten waren. Nur daß sie feuerrote Haare hatte und eine Brille trug. "Na, ihr?" begrüßte Frau Summers ihre Töchter. "Wie war der erste Tag?"
"Gut", erwiderte Kat munter. "Wir haben auch schon eine tolle Freundin gefunden. Die beste von dem ganzen Haufen. Sabrina Evertz. Sie hatte heute auch ihren ersten Tag."
"Leidensgefährten also." Frau Summers' Sprache war der amerikanische Akzent deutlich anzuhören, auch wenn ihr Deutsch sehr gut war. "Schön, dich kennenzulernen, Sabrina. Oder soll ich 'Sie sagen?"
"Aber nein!" wehrte Sabrina verlegen ab. "Ich bin ja erst 14."
Kim kam mit einem Glas Wasser zurück, das sie ihrer Mutter gab.
"Danke, Kim. Das kann ich jetzt gebrauchen." Sie trank mit tiefen Schlucken von dem Wasser. "War's so schlimm?" fragte Kat mitfühlend.
"Nein, nur anstrengend. In der letzten Gruppe sind mittlerweile acht Braungurte und drei schwarze. Die fordern ganz schön." Sie trank das Glas leer und stellte es zurück auf den Tisch. "Sabrina ißt bei uns zu Abend, wenn du einverstanden bist", meldete sich Kim zu Wort. "Sicher bin ich einverstanden, sofern ihre Eltern davon Bescheid wissen."
"Meine Mutter weiß, wo ich bin", sagte Sabrina sofort. "Kein Problem von der Seite."
"Sehr schön." Frau Summers lächelte herzlich; das gleiche tiefe Lächeln wie das von Kat. Sie hatte auch, wie Sabrina erst jetzt bemerkte, die gleichen hellen blauen Augen wie ihre Töchter. Die Brillengläser verzerrten nicht einmal ihre Augen dahinter.
"Wollen wir dann aufbrechen?"
"Ich hoffe", sagte Kim drohend, "daß du nicht zu müde für unser Training bist."
"Für euch?" Sie lachte herzlich. "Euch zwei schaffe ich noch, wenn ich auf dem Klo sitze und Zeitung lese."
"Abwarten." Kat stand grinsend auf. "Wir sind ziemlich motiviert."
"Also doch." Sie sah ihre Töchter ernst an. "Gab's viel Ärger?"
"Keinen bedeutenden." Kim holte Luft. "Unser Klassenlehrer weiß, warum wir die Schule gewechselt haben, ein Mädchen wollte sich mit uns prügeln, und anschließend noch ein Junge. Ein ganz normaler erster Schultag."
"Wie ging's aus?" Sabrina sah die Unruhe in ihren Augen und war beruhigt, daß auch die Mutter kein "Schläger" war.
"Das Mädchen hat Kat erledigt. Die Faust aufgefangen und im Handgelenk gedreht, bis sie
aufgegeben hat. Der Junge... Mama, der war in der falschen Klasse. Wenn der 14 ist, heiße ich Auguste. Der gehört vom Aussehen her in die Oberstufe, Abiklasse. Groß und massiv wie ein Schrank."
"Wie ging's aus?" wiederholte Frau Summers ihre Frage. Kim seufzte.
"Ich bin über den Tisch gesprungen, unter seinen Händen weggetaucht und hab ihn bei den Eiern gepackt. Sehr kräftig."
"Hättest du das auch anders regeln können?"
"Ja." Kim wich dem vorwurfsvollen Blick ihrer Mutter nicht aus. "Andererseits standen noch sechs, sieben weitere dabei, die alle nicht sehr freundlich aussahen. Ich wollte gleich klarstellen, daß es besser wäre, uns in Ruhe zu lassen."
"Ist jemand verletzt worden?"
"Nein." Kat sah ihre Mutter gelassen an. "Nur der Stolz von zwei Leuten."
"Na schön." Frau Summers stand seufzend auf. "Reden wir nach dem Abendessen darüber."
"Oh-oh!" machte Kat. "Das läßt auf ein hartes Training schließen."
"Ansichtssache." Sie sah zu Sabrina, die der Unterhaltung mit wachsender Besorgnis zugehört hatte. "Sollen wir dich mitnehmen, oder bist du mit dem Rad hier?"
"Sie ist gleich nach der Schule mit zu uns gekommen", warf Kim sehr unterkühlt ein. "Wir hatten nach den ganzen Idioten einfach das Bedürfnis, uns mit normalen Menschen zu unterhalten. Die Klasse, in der wir sind, hat das Niveau von Achtjährigen. Höchstens. Daß das eine Gymnasialklasse sein soll, wage ich entschieden zu bezweifeln."
"Später." Frau Summers sah entschuldigend zu Sabrina. "Ich nehme mal an, daß dir solche
Unterhaltungen nicht fremd sind?"
"Leider nicht", seufzte Sabrina. "Eine ähnliche wartet auf mich auch noch."
"Dann gehen wir erst mal zu den angenehmen Dingen über. Wer möchte Pizza? Ich habe keine große Lust mehr, zu kochen."
"Thunfisch!" meldete sich Kim.
"Champignons!" sagte Kat gleichzeitig. Frau Summers sah zu Sabrina.
"Und du?"
"Schinken, wenn ich darf", meinte Sabrina verlegen.
"Sicher darfst du." Sie lächelte Sabrina zu. "Deswegen frage ich dich. Oder hältst du mich für eine Mutter, die den Freundinnen ihrer Töchter dabei zusieht, wie sie hungern, während sich die Töchter den Bauch vollschlagen?"
"Nein!" lachte Sabrina mit roten Ohren.
"Dann auf. Ich habe Hunger. Kann ich von hier aus anrufen und bestellen?"
Eine dreiviertel Stunde später saßen die vier an der Bar in der Küche und ließen sich die Pizzen schmecken. Frau Summers hatte sich vor dem Essen Perücke und Brille abgenommen und trug nun ebenso schwarzes Haar wie Kat. Nun sah sie ihrem Bild wieder ähnlich. Während des Essens wurde Sabrina etwas ausgefragt, jedoch mit Schwerpunkt auf ihren Gefühlen, was die neue Schule und den Umzug anging. Darüber konnte Sabrina sehr viel erzählen, und sie war erstaunt, daß ihr das Reden darüber sehr leicht fiel. Ganz im Gegensatz zu heute morgen. Sie erzählte viel von ihren alten Freundinnen, von dem, was sie gemeinsam unternommen hatten, von den Winterabenden, an denen stundenlang gespielt wurde, vom Schlittschuhlaufen und von den tausend anderen Dingen. Ohne es in diesem Moment zu merken, redete sich Sabrina dadurch viel Ballast von der Seele.
Als die Pizzen aufgegessen waren, ging es ohne Pause gleich weiter. Kim und Kat liefen in ihre Zimmer, um sich schnell ihre Kampfanzüge anzuziehen, während Frau Summers mit Sabrina über den rechten Flur in einen Anbau ging. Hier war eine komplette Sporthalle untergebracht. Klein, aber mit stabilen Sportmatten ausgelegt, wie Sabrina sie von der Schule her kannte.
"Hier trainieren wir", erklärte Frau Summers und stöhnte im gleichen Moment auf. "Das war die überflüssigste Bemerkung des Tages."
"Schon klar", kicherte Sabrina amüsiert. "Haben Kim und Kat wirklich den schwarzen Gürtel?"
"Ja. Im Dezember geschafft." Sie zog sich den Sportanzug aus; darunter trug sie ihren Kampfanzug. Als Sabrina den schwarzen Gürtel sah, schluckte sie schwer. Frau Summers lächelte mitfühlend.
"Der Gürtel ist nur ein äußeres Zeichen, Sabrina. Für zwanzig oder dreißig Mark kannst du dir auch einen kaufen."
"Aber nicht das, was dahinter steht", sagte Sabrina leise.
"Das ist richtig." Sie legte ihren Sportanzug an die Seite.
"Darf ich Sie mal was fragen?" begann Sabrina zögernd.
"Sicher. Was denn?"
"Kat sagte, daß Sie nur etwas Karate können. Ich kenn mich ja nicht aus, aber soweit ich weiß, muß man beim Judo den anderen anfassen, während man bei allem anderen gerade dem Anfassen ausweicht."
"Stimmt." Frau Summers lächelte herzlich. "Und jetzt fragst du dich, warum ich mich hier in
Lebensgefahr begebe?"
"Genau." Sabrina lachte erleichtert.
"Weil mein Mann mir im Lauf unserer Ehe soviel Kung Fu beigebracht hat, daß ich mit unseren Töchtern trainieren kann. Im richtigen Kampf würde ich von ihnen eins auf die Mütze bekommen, aber auch nur da. Im Training geht es viel harmloser zu. Wir üben auch meistens Bewegungsabläufe anstatt zu kämpfen. Am Wochenende, wenn mein Mann zu Hause ist, geht es hier richtig los. Er und die Mädchen schenken sich nichts." Sie lachte hell.
"Ganz am Anfang, als die Mädchen angefangen hatten, richtig miteinander zu trainieren, hatten wir Besuch vom Jugendamt. Ein besorgter Lehrer war der Meinung gewesen, daß Kim und Kat von uns mißhandelt werden, weil sie sich Montags kaum bewegen konnten und überall blaue Flecken hatten, und er hat die Behörden informiert. Nachdem das geklärt war, hat sich der Lehrer erst mal bei uns entschuldigt. Wir fanden es toll, daß er sich solche Mühe gab, um Kinder zu beschützen, auch wenn es bei uns überhaupt nichts zu beschützen gab. Aber er hat inzwischen gelernt, daß er vorher mal fragen soll. Kim und Kat sind vor Lachen beinahe geplatzt, als die Frau vom Jugendamt sie fragte, ob wir sie schlagen. 'Natürlich schlagen sie uns!' rief Kim. 'Aber nicht so doll, wie Kat und ich uns schlagen.' Die arme Frau wußte überhaupt nicht, was Sache war. Erst nachdem wir sie aufgeklärt hatten, was Kampfsport heißt und sie einer kleinen Übung zugesehen hatte, war sie einigermaßen beruhigt. Sie fand es zwar nicht gut, daß zehnjährige Mädchen sich mit voller Wucht prügelten, aber sie wäre mit einer amtlichen Beschwerde auch voll vor die Wand gelaufen. Mein Mann und ich haben eine Trainerlizenz und dürfen somit Unterricht geben. Ah, da kommen sie ja."


Sabrina drehte sich schnell um und sah Kat zum ersten Mal in Weiß. Sie bemerkte Sabrinas Blick und zuckte mit den Schultern. "Der schwarze ist in der Wäsche."
"Gibt es auch schwarze Anzüge?" fragte sie erstaunt.
Kim nickte. "Sicher. Die benutzt man immer dann, wenn man weiß, daß man bluten wird." Sie sah Sabrina mit ihrem gewohnt kühlen Blick an, den Sabrina mit jedem Mal mehr durchschaute. Wieder schlug ihr Herz schneller.
"Die Farbe der Anzüge hängt immer von der Schule ab", warf Frau Summers ein. "In unserer Schule ist die offizielle Farbe Weiß. Aber da Kat sich so sehr einen schwarzen gewünscht hatte, bekam sie einen, auch wenn Schwarz vom optischen Eindruck her mehr die Farbe der bösen Seite ist. Können wir?"
"Ja." Kim sah zu Sabrina. "Setz dich am besten da an die Wand, da siehst du am meisten."
Sabrina schaute sich schnell um und lief dann zur Seitenwand, an der sie sich niederließ und so die drei von der Seite sehen konnte. Auch Kim und Kat trugen schwarze Gürtel, was Sabrina noch immer nicht so recht glauben konnte.
Die erste Viertelstunde verging mit Lockerungsübungen, dann folgte das Partnertraining. Kim und Kat standen sich gegenüber. Eine schlug zu, die andere wehrte ab. Dies geschah einige Male, dann wurde getauscht. Anschließend kamen Fußtritte an die Reihe, ebenfalls abwechselnd von Kim und Kat ausgeführt. Dann, am Ende des Trainings, tobten die zwei Mädchen ohne Vorwarnung durch die kleine Halle, schlugen und traten so blitzschnell aufeinander ein, daß Sabrinas Augen sie im Stich ließen. Sie sah nur noch verschwommene Bewegungen, die so schnell aufeinander folgten, daß sie sie nicht mehr auseinander halten konnte. Nun glaubte sie den beiden den schwarzen Gürtel, und sie hatte auch längst nicht mehr so viel Angst vor dem nächsten Schultag. Die zwei konnten tatsächlich auf sich aufpassen. Sehr gut sogar.
"Kim!" Der scharfe Ruf von Frau Summers erschreckte Sabrina und ließ die beiden Mädchen auf der Stelle erstarren.
"Keine Wut in den Angriff legen. Ruhig trainieren. Verstanden?"
Kim drehte sich zu ihrer Mutter, legte die Hände seitlich an die Oberschenkel und verbeugte sich kurz. "Hai!"
"Weiter."

Die Mädchen nahmen wieder Aufstellung und kämpften weiter. Sabrina hatte überhaupt nicht gemerkt, daß Kim wütend geworden war. Staunend schaute sie den beiden zu, die nun auf der Stelle standen und so schnell aufeinander einschlugen, daß Sabrina angst und bange wurde. Plötzlich stöhnte Kim vor Schmerz auf, wurde zurückgeschleudert und fiel zwei Meter weiter hinten auf die Matte. Kat stand bewegungslos auf der Stelle, die rechte Hand so vorgestreckt, daß die gekrümmten Finger nach oben zeigten.
"Dreck, verdammter!" Fluchend kam Kim wieder auf die Füße. "Voll erwischt." Sie rieb sich eine Stelle unterhalb des Halses. Kat ließ ihre Hand sinken.
"Du weißt, warum", sagte sie nur. Kim nickte sauer.
"Ja. Mir geht diese blöde Tussi einfach nicht aus dem Kopf."
"Dann bedanke dich bei ihr für den Treffer", meinte Frau Summers ungerührt. "Wenn du an sie denkst, gibst du ihr Macht über dich."
"Ja!" knurrte Kim. "Weiter."
"Nein. Training ist beendet. Aufstellung!"
Die Mädchen liefen nach vorne und stellten sich ihrer Mutter gegenüber auf. Sie verbeugten sich alle voreinander, dann liefen die Mädchen wieder nach draußen. Frau Summers sah ihnen lächelnd nach.
"So schnell geht das", meinte sie beiläufig, während sie zu Sabrina kam, die schnell aufstand. "Wenn das ein echter Kampf gewesen wäre, hätte Kat ihr das Brustbein gebrochen."
"Mit einem Schlag?" fragte Sabrina fassungslos.
"Mit einem einzigen Schlag. Wenn er präzise und kraftvoll ausgeführt wird. Wer hat den Streit heute morgen angefangen?"
"Diese Jasmin. Ganz ehrlich. Sie fing an zu stänkern, und als ihr die Argumente ausgingen, schlug sie nach Kim. Kim ist ausgewichen, Kat hat Jasmin noch gewarnt, daß sie sie einfach in Ruhe lassen soll, aber sie wollte nicht hören."
"Na gut." Frau Summers nahm ihren Trainingsanzug in die Hand. "Als Trainerin muß ich sagen, dass sie sich perfekt verhalten haben, auch wenn Kim etwas zu hart ran ging. Als Mutter..." Sie sah Sabrina an und lächelte schief. "Als Mutter müßte ich ihnen den Hintern versohlen, aber das traue ich mich nicht mehr."
Sabrina lachte fröhlich und ging mit Frau Summers zurück ins Haus.
"Ich hüpfe schnell unter die Dusche", sagte sie zu Sabrina. "Anschließend fahre ich dich heim. Oder soll ich dich sofort fahren?"
"Gleich reicht, vielen Dank."
"Dann bis nachher. Geh doch solange zu Kat oder Kim."
"Mach ich." Sabrina lief schnell und ohne nachzudenken in Kims Zimmer. Kim war gerade dabei, sich ächzend aus ihrem T-Shirt zu quälen, das sie unter dem Anzug getragen hatte.
"Scheiße!" sagte sie leise. "Kat hat mich wirklich voll erwischt."
"Soll ich dir helfen?" fragte Sabrina mit schnell und hart klopfendem Herz.
"Das wär lieb. Ich komm aus dem Ding hier nicht raus." Sie streckte stöhnend die Arme nach oben und sah Sabrina geradewegs in die Augen. Sabrina ergriff das T-Shirt am unteren Saum und hob es langsam nach oben über Kims Kopf. Als Kims Gesicht von dem Stoff verdeckt war, erlaubte sich Sabrina einen schnellen Blick auf Kims wohlgeformte Brüste, was ihr Herz noch kräftiger und schneller schlagen ließ, dann zog sie Kim das Shirt über die Arme.
"Danke." Mit leicht verzerrtem Gesicht ließ Kim die Arme sinken und sah Sabrina wütend an.
"Mutter hat vollkommen recht. Nur weil ich an diese blöde Pißnelke gedacht habe, hat Kat mich erwischen können."
"Wird das morgen sehr weh tun?" fragte Sabrina besorgt.
"Nein. Wärst du so lieb und würdest mir was aus dem Bad holen? Im linken Fach vom Allibert ist eine dicke gelbe Tube, schon halb leer."
"Klar." Sabrina lief los und kam Sekunden später damit zurück.
"Was ist das?"
"Gegen Prellungen." Sie griff nach der Tube und verzog gleich wieder das Gesicht.
"Sie hat voll die Muskeln hier oben erwischt", stöhnte sie verärgert.
Sabrina räusperte sich. "Ich könnte ja - Ich meine, wenn du nichts dagegen hast, dann... Dann könnte ich dir das auftragen."
"Dagegen habe ich wirklich nichts!" sagte Kim erleichtert. "Überhaupt nichts. Nimm soviel auf den Zeigefinger, daß das erste Glied voll bedeckt ist, und dann einfach einreiben. Du siehst ja den blauen Fleck."
"Okay." Nervös öffnete Sabrina die Tube, drückte die geforderte Menge von dem zähen Inhalt auf den Zeigefinger und verteilte es dann auf Kims oberer Brust. Während sie dies tat, sah Kim sie regungslos an. Sabrina hingegen zitterte bis ins Mark. Kim zu berühren löste etwas in ihr aus, was sie überhaupt nicht verstand. Sie wollte sich an Kims Hals werfen, sie umarmen, streicheln und sogar küssen, und genau das machte ihr Angst. Sie konnte nicht nachvollziehen, warum sie plötzlich so massiv auf ein Mädchen reagierte. Daß sie nicht lesbisch war, wußte Sabrina; dafür hatte es auf ihrer alten Schule zu viele Jungen gegeben, die sie süß gefunden hatte, und mit einem davon war sie sogar eine Zeitlang befreundet gewesen und hatte ihn auch schon geküßt, was ihm wie ihr sehr gut gefallen hatte. Doch diese Gefühle jetzt...

Sabrina spürte sich zu Kim hingezogen wie zu keinem anderen Menschen vorher, was einzig und allein an Kims Augen lag. An ihrem Blick. An ihrem Wesen, das klar und deutlich in ihren Augen stand. Kühl. Abweisend. Sicher. Selbstbewußt. Kim war all das, was Sabrina immer hatte sein wollen, aber nie erreicht hatte. Vielleicht machte das diese unverständliche Anziehungskraft aus. Am Ende dieser Gedanken stellte Sabrina erschrocken fest, daß ihre Augen die ganze Zeit auf Kims Busen geruht hatten. Ihr Gesicht lief dunkelrot an, und sie schaute schnell auf die Stelle, die sie einrieb. Ihr Atem ging wie nach einem schnellen Sprint über zweihundert Meter. Sie sah zu, daß sie schnell fertig wurde, und drehte sich dann verlegen zur Seite.
"Danke", meinte Kim, ohne erkennen zu lassen, was sie dachte oder fühlte. "Wie machen wir das morgen, Sabrina? Kommst du nach der Schule gleich wieder mit zu uns oder wollen wir uns in der Stadt treffen?"
"Das sage ich dir morgen." Sabrina holte tief Luft, als sie hörte, daß ihre Stimme zitterte. "Ich red heute abend mit meiner Mutter, daß ich gerne gleich nach der Schule mit zu euch kommen würde."
"Wäre schön. Könntest du mir noch mal helfen?"
"Klar." Zögernd öffnete Sabrina den Knoten des Bandes, mit dem die Hose geschnürt wurde, und zog Kim die Hose aus.
"Ein Teil noch", ächzte Kim, "dann hast du es geschafft. Tut mir echt leid, aber ich kann mich kaum mehr bewegen."
"Kein Problem." Sabrinas Hände zitterten wie Espenlaub, als sie Kims Unterhose herunter zog. Der Geruch von Kims Schweiß stieg in ihre Nase, vermischt mit dem Geruch ihres Geschlechtsteiles. Sabrina wurde fast schwindelig vor Verlangen. Hastig stand sie auf und prallte dabei mit ihrem Kopf gegen Kims Bauch.
"Hey!" lachte Kim. "Kein hinterhältiger Angriff, ja?"
"Tut mir so leid!" Sabrina sah sie verzweifelt an. "Ich bin so ungeschickt!"
"Ach was." Kim streckte ihre Arme aus und verzog im gleichen Moment wieder das Gesicht.
"Na gut", stöhnte sie und ließ sich auf ihr Bett fallen. "Umarme ich dich eben morgen. So ein Mist, so ein verdammter!" Ächzend und stöhnend schaffte sie es, sich lang auf das Bett zu legen. "Warte." Sabrina sprang hinzu und zog das Oberbett über Kim.
"Danke, Mama", lächelte Kim. Sabrina erwiderte das Lächeln und verspürte plötzlich den
unwiderstehlichen Wunsch, Kim zu küssen. Sie war schon halb auf dem Weg zu Kims Lippen, als sie erkannte, was sie da tat. Hastig und mit feuerrotem Gesicht richtete sie sich auf. "Tut mir echt leid", entschuldigte sich Kim. "Aber morgen bin ich wieder in Ordnung."
"Schon gut." Sabrina schluckte schwer. "Eure Mutter hat gesagt, daß Kat dir das Brustbein brechen könnte."
"Mit dem Schlag? Ohne weiteres. Sie hat hart durchgezogen, aber noch lange nicht mit voller Kraft." Kim lächelte, als Sabrina erschrak.

"Keine Sorge, Bienchen", sagte sie so sanft, daß Sabrina erneut schwindelig wurde. "Kat und ich mögen uns viel zu sehr, um uns wirklich weh zu tun. Daß ich jetzt so im Arsch bin, ist meine eigene Dummheit gewesen. Hätte ich mich konzentriert, wäre das nicht passiert. Sei bitte nicht böse auf sie."
Sabrina lächelte schief. "Okay. Passiert so etwas öfter?"
"Daß eine von uns so hart getroffen wird? Manchmal. Allerdings nur, wenn uns was im Kopf
herumgeistert, was uns ziemlich beschäftigt. Genau dafür ist das Training gedacht, Sabrina.
Konzentration unter allen Umständen. Mir tut's mehr weh, daß ich überhaupt getroffen wurde, als der Schlag an sich. Verstehst du?"
"Ja." Sabrina nickte schnell. "Du bist sauer auf dich, weil du nicht aufgepaßt hast."
"Du hast es erfaßt." Sie bewegte ihre Hand, um nach der von Sabrina zu greifen, brach aber auf halbem Weg vor Schmerz stöhnend ab und ließ sie auf Sabrinas Bein fallen. Diese Berührung fuhr wie ein glühendes Eisen durch Sabrinas Nerven. Instinktiv griff sie nach Kims Hand und hielt sie mit beiden Händen fest. Kim lächelte leicht.
"Singst du mich in den Schlaf?"
Sabrina drückte Kims Hand so stark, daß es ihr schon weh tun mußte, aber Kim verzog keine Miene.
"Was hast du, Sabrina?" fragte sie leise, während ihre Augen die von Sabrina festhielten. "Möchtest du es mir sagen?"
Sabrina schüttelte verlegen den Kopf, ließ Kims Hand los und stand schnell auf.
"Schlaf schön", sagte sie etwas traurig. "Und werd schnell gesund."
"Versprochen." Kim zwinkerte ihr zu. "Und wenn du jemanden verrätst, daß du mich ausgezogen hast, klatsche ich dich an die nächste Wand."
"Schon klar", lachte Sabrina. "Bis morgen."
"Bis morgen, Hübsches."
Sabrina erstarrte mitten im Tritt. "Was?`"
"Nichts." Kim hatte schon die Augen geschlossen. "Sag meiner Schwester, daß ich sie liebe und ihr nichts nachtrage. Nur für den Fall, daß ich diese Nacht nicht überlebe." Sie stöhnte so übertrieben auf, daß Sabrina lachen mußte.
"Du doofe Nuß! Schlaf jetzt!"
"Ja, Chef." Kim grinste, ohne die Augen zu öffnen. "Nacht."
"Nacht, Kim." Sie schaute noch einmal auf Kim, um sich ihr Gesicht einzuprägen, dann ging sie leise hinaus, schaltete das Licht aus und schloß die Tür sehr leise, bevor sie zu Kat ging.
"Lebt sie noch?" fragte Kat amüsiert. Sie war bereits umgezogen und trug ein langes T-Shirt.
"Halb." Sabrina wedelte skeptisch mit der Hand, und beide mußten lachen.
"Ihr tun die Muskeln hier oben weh", erklärte Sabrina dann. Kat nickte knapp.
"Kein Wunder. Die Stelle habe ich auch anvisiert. Etwas mehr Kraft, und sie hätte sich schon direkt nach dem Schlag nicht mehr bewegen können. Hat sie die Creme aufgetragen?"
"Ja." Sabrina wurde rot. "Also eigentlich hab ich sie ihr aufgetragen. Sie hatte echte Probleme, die Arme zu bewegen."
"Gut." Kat lächelte zufrieden. "Klappt der Schlag auch. Gut zu wissen."
"Was?" Sabrina starrte sie ungläubig an. "Mehr sagst du dazu nicht?"
"Wieso?" Nun war es an Kat, überrascht zu sein. "Sabrina, genau deswegen trainieren wir doch. Einmal, um unsere Reflexe zu erhöhen, und zum anderen, um bestimmte Schläge auszuprobieren. Kim hat mich einmal für eine Stunde aus dem Rennen geworfen. Ich war bei vollem Bewußtsein, konnte aber keinen einzigen Muskel mehr rühren. So Sachen passieren nun mal. Sie weiß das, ich weiß das, und unsere Eltern wissen das. Es ist ja nicht so, daß ich ihr etwas gebrochen habe. Nur so lernen wir, unsere Schläge genau zu dosieren."
"Also weißt du!" Sabrina schüttelte den Kopf. "Du hörst dich an wie ein Folterknecht."
"Sabrina." Kat kam auf sie zu und nahm sie ohne Scheu in den Arm. "Wir betreiben Kampfsport. Hör genau auf das Wort. Kampfsport. Die Worte Kampf und Sport kommen darin vor. Jede Sportart hat ihre Tücken. Golfer bekommen frühzeitig Probleme mit dem Rücken. Boxer haben Probleme mit dem Kopf. Reiter mit dem ganzen Körper. Fußballer mit den Beinen. Such dir irgendeine Sportart aus. Du wirst kaum eine finden, bei der es kein erhöhtes Verletzungsrisiko gibt. Kampfsport ist ungefährlich, solange man diszipliniert bleibt. Kim und ich haben uns schon so oft blaue Flecken beigebracht, dass wir sie nicht mehr zählen können. Wenn wir mit Vater trainieren, sind wir am nächsten Tag völlig hin. Er mittlerweile aber auch", fügte sie mit einem zufriedenen Grinsen hinzu. "Was ich sagen will: Heute hat es Kim erwischt. Morgen kann ich an ihrer Stelle sein, wenn ich unkonzentriert bin. Nur deswegen trainieren wir. War sie böse auf mich?"
"Nein", mußte Sabrina zugeben. "Sie war nur sauer auf sich selber. Eben weil sie nicht aufgepasst hat."
"Na siehst du." Kat drückte Sabrina noch einmal und ließ sie dann los. "Morgen wird sie gar nicht mehr davon reden. Ist Mutter duschen gegangen?"
"Ja." Sabrina schüttelte den Kopf.
"Kat, es tut mir leid. Ich gebe hier Meinungen ab, ohne genau zu wissen, was ihr eigentlich tut."

"Ist doch kein Problem", lächelte Kat sanft. "Du siehst, daß jemandem weh getan wurde, und du machst dir Sorgen. Das ist ganz normal. Wenn du siehst, wie Vater und wir trainieren, würdest du wahrscheinlich vor lauter Angst die Polizei anrufen."
"Ihr macht mich wirklich neugierig. Wann trainiert ihr?"
"Samstag nachmittag. Zwei bis drei Stunden. Dann macht Mutter auch richtig mit. Deshalb haben wir, wenn überhaupt, nur Sonntags Besuch. Aber meistens sind unsere Eltern froh, mal Ruhe und Zeit für sich zu haben. Sie sehen sich zwar täglich in der Schule, aber das immer nur für ein paar Minuten zwischen den Kursen. Das soll aber nicht heißen, daß du und deine Eltern nicht kommen sollt." Sie zwinkerte Sabrina zu. "Unsere Eltern gehen leider auch noch viel zu sehr nach Äußerlichkeiten bei unseren Freunden. Das ist in Amerika noch viel schlimmer als hier. Mutter sagt, daß ihre Eltern von Mutters Freunden immer einen vollständigen Bericht über die Familie haben wollten. Welchen Beruf der Vater hat und was er verdient, in welche Kirche sie gehen, in welche Sommercamps sie ihre Kinder schicken und Millionen anderer Dinge. Da haben wir es noch richtig gut hier. Komm her." Sie zog Sabrina auf ihr Bett und setzte sich neben sie.

"Du hast doch etwas. Geht es um uns?"
"Nein." Sabrina atmete tief durch. "Ich - ich möchte nicht darüber reden."
"Okay." Kat lächelte mitfühlend. "Dann laß mich nur noch sagen, daß Kim und ich nicht schnell zu schockieren sind."
"Sicher?" fragte Sabrina ironisch.
"Ganz sicher." Kat sah sie forschend an. "Ich kann mir schon fast denken, was los ist, aber wenn es dir peinlich ist, darüber zu reden, werde ich es nicht aussprechen. Wie hat dir der Tag mit uns gefallen?"
"Super!" Das kam so spontan, daß Kat leise lachen mußte.
"Uns auch, Sabrina. Du bist wirklich voll in Ordnung."
"Ihr auch. Der Jugendtreff war voll geil. Ihr seid täglich da?"
"Bisher ja." Sie zuckte mit den Schultern. "Bisher waren Kim und ich nur unter uns, von ganz seltenen Freundschaften mal abgesehen. Daß Kim morgen mit dir die CDs anhören will, hat mich doch sehr überrascht. Sie muß dich sehr mögen. Normalerweise ist sie noch viel mehr verschlossen als ich, und daß ich so schnell auf dich zugegangen bin, überrascht mich noch immer." Sie lächelte entschuldigend.
"Kim und ich sind sehr mißtrauisch, was neue Freunde angeht. Wegen unserer Eltern. Zum einen müssen wir darauf achten, daß wir nicht gleich alles ausplaudern, zum anderen wissen wir nie vorher, ob ein neuer Freund oder eine neue Freundin nur wegen unserer Eltern unsere Freundschaft will. Denn früher oder später finden sie es alle heraus, weil unsere Eltern im Haus keine Perücke tragen. Ihr letzter Film ist zwar, wie gesagt, schon zwei Jahre her, aber die bisherigen kommen immer wieder im Fernsehen. Das reicht, um sich ihre Gesichter zu merken. Unsere Eltern hatten schon mal vor, uns auf eine Privatschule zu schicken, aber das wollten wir nicht. Wir sind schon isoliert genug; da mußten wir nicht noch einen draufsetzen."
"Verständlich." Sabrina schaute bedrückt drein. "Das habe ich mir nie klar gemacht, wie so ein Leben aussehen muß."
"Wir beschweren uns ja nicht", lachte Kat, die sich auf ihr Bett fallen ließ. Sie verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Sabrina sah verlegen, daß das hochgerutschte T-Shirt ihre Scham entblößte.
"Wir haben eigentlich ein schönes Leben, Sabrina. Unseren Vater sehen wir leider nur am Wochenende, aber in den Schulferien haben wir ihn dafür den ganzen Tag bei uns, und da unternehmen wir auch was zusammen. Wir bekommen viel Taschengeld, können uns auch nebenbei viel kaufen, wenn wir wollen, und mit dir haben wir jetzt eine liebe Freundin. Mit den Eltern kommen wir sehr gut klar, auch wenn es, wie vorhin, mal kleine Reibereien gibt, aber im allgemeinen gibt es keine Probleme."
"So war es bei uns früher auch." Sabrina legte sich auf die Seite, gestützt auf den Ellbogen, und sah Kat bedrückt an. "Vor dem Umzug. Aber seit ich wußte, daß wir wegziehen, ist irgendwie ein Knacks drin. Seitdem gibt es häufig Streit."
"Kann ich mir vorstellen." Sie griff nach Sabrinas Hand und streichelte sie sanft. "Sabrina, du kannst jetzt jede Minute des Tages darüber wütend sein, oder du versuchst, die schönen Seiten zu sehen. Auf der einen Seite hast du alles verloren, was du kanntest, aber auf der anderen Seite lebst du jetzt mitten in der Stadt. Wenn du möchtest, kannst du im Jugendtreff viele Leute kennenlernen. Je mehr du kennst, um so mehr Treffpunkte lernst du kennen. Oder du vergräbst dich zu Hause und trauerst. Ich mein das nicht böse. Kim und ich haben das oft genug mitgemacht. Wir haben nie viele Freunde verloren, eben weil wir kaum welche hatten, aber gerade deswegen konnten wir unbelastet und offen rausgehen und schauen, was es so gibt."
"Du sagst es", seufzte Sabrina. "Wir. Ihr seid zu zweit. Ihr habt euch. Aber für mich ist doch alles fremd hier. Ich kenne ein paar Geschäfte in der Innenstadt, weil ich da schon früher einkaufen war, aber mehr auch nicht. Den Jugendtreff -" Sie brach ab, als Kat sich schnell aufsetzte und das Oberbett über ihren Schoß zog.
"Red weiter."
"Äh... Den Jugendtreff kannte ich zum Beispiel überhaupt nicht, und -" Wieder brach sie ab, denn es klopfte an die Tür zu Kats Zimmer.
"Komm rein!" rief Kat. Die Tür öffnete sich, und ihre Mutter schaute herein.
"Ich bin so gut wie fertig, Sabrina. In fünf Minuten können wir los."
"Danke." Sabrina lächelte ihr zu. Frau Summers schloß die Tür wieder. Kat lauschte einen Moment, dann schlug sie das Oberbett wieder zurück.
"Sie muß ja nicht alles mitkriegen. Sabrina, sei nicht traurig. Wenn du möchtest, können wir dir viele neue Dinge zeigen. Kim und ich haben noch einiges auf Lager."
"Was denn?"
"O nein!" lachte Kat fröhlich. "Heute hast du das Geheimnis unserer Eltern erfahren. Für das nächste mußt du etwas tun, nämlich ganz ehrlich sein."
"Ich bin immer ehrlich", erwiderte Sabrina erstaunt. "Ich lüge meine Freunde nicht an."
"Man muß nicht unbedingt lügen. Manchmal reicht es, bestimmte Dinge nicht zu sagen, um nicht ehrlich zu sein. Dabei sollten gerade Freunde über alles reden können und nichts verschweigen." Sie lächelte so lieb, daß Sabrina ihr diesen Satz nicht übelnehmen konnte.
"Ich werde auch noch duschen gehen. Bis morgen, Sabrina." Sie beugte sich vor, umarmte Sabrina und gab ihr einen flüchtigen Kuß auf den Mund.
"Bis morgen, Kat. Glaubst du, daß es viel Ärger geben wird?"
"Etwas, aber Kim wird das schon regeln." Sie strich Sabrina lächelnd über das Haar. "Mach dir keine Sorgen."
"Ich versuch's." Sie nickte tapfer und stand auf, Kat ebenfalls. Sabrina warf einen Blick in ihren Rucksack, um sicherzustellen, daß sie alles hatte, winkte Kat noch kurz zu und ging dann ins Wohnzimmer, wo Frau Summers schon geduldig wartete.
"Ich bin soweit."
"Gut. Dann mal auf."

Wenig später saßen sie in Frau Summers' Auto; wie der von Sabrinas Mutter ein Kleinwagen, ideal für die Stadt und mit genug Kraft, um sich auf die Autobahn zu wagen, wenn es denn sein mußte. "Und?" fragte Frau Summers belustigt, als sie auf der Hauptstraße waren. "Was hältst du von den beiden?"
"Beeindruckend", erwiderte Sabrina, ohne nachzudenken. "Sehr selbstsicher, und mit vielen
Anschauungen, die mir total fremd sind."
"Hast du Angst vor ihnen?"
"Angst?" Sabrina drehte sich überrascht in ihrem Sitz. "Nein. Warum sollte ich Angst haben?"
"Viele bekommen Angst, wenn sie sehen, wie grob sie im Training miteinander umgehen. Was sie können. Vor einem Jahr hat Kat mal einen Freund mit nach Hause gebracht, doch als er sie und Kim hat trainieren sehen... Regelrecht geflüchtet ist der."
Sabrina lachte leise. "Das kann ich mir vorstellen. Und auch, daß wohl jeder Junge mächtig die Hosen voll haben würde. Nein, ich habe keine Angst. Sie sind ja keine Schläger oder so was. Da haben wir uns lange drüber unterhalten."
"Gut. Es gibt viele Menschen, die Kampfsport betreiben, Sabrina. Aber nur die wenigsten gehören zur Gruppe der Schläger. Trainern wie meinem Mann und mir obliegt es, diese Schläger schon am Anfang zu erkennen und gar nicht erst auszubilden. Allerdings sind nicht alle so, sonst gäbe es keine Streetfighter."
"Keine was?"
"Streetfighter. Das sind lasch gesagt Straßenkinder, die ohne weiteres an einem Kampfturnier teilnehmen könnten, was ihre Kampftechnik angeht. Das Problem mit denen sind ihre Skrupel. Sie haben nämlich keine."
Sabrina erinnerte sich vage an einen Bericht im Fernsehen über dieses Thema. Leider nicht gut genug, um mitreden zu können.

"Wie sind Sie zum Judo gekommen?" fragte sie statt dessen.
"Traurige Geschichte", meinte Frau Summers leichthin. "Ich war 14 und mit meinem Freund auf dem Heimweg von unserem Tanzkurs. Es war so gegen acht Uhr, als wir an einem leeren Haus vorbeigekommen sind, das zum Verkauf stand. Mein Freund kam auf die Idee, daß wir uns das Haus einfach mal ansehen." Sie lächelte breit. "Ich war noch nie ein Kind von Traurigkeit und hab mitgemacht. Wir sind durch ein Fenster eingestiegen und haben uns durch das ganze Haus geschlichen. Im oberen Stock fiel er plötzlich über mich her und versuchte, mich auszuziehen. Ich habe mich mit Händen und Füßen gewehrt und ihn dabei nur ganz zufällig am Unterleib getroffen. Nicht mal besonders stark, aber er fing an zu winseln und zu jammern, und so konnte ich abhauen. Und dann kam der Hammer." Sie stieß wütend den Atem aus.
"Meine Eltern haben mir Vorwürfe gemacht, daß ich ihn provoziert hätte. Immerhin trug ich ja einen Rock. Also hatte ich die Schuld daran."

"Wie bitte?" Sabrina starrte sie betroffen an. "Sie waren schuld, daß er -"
"Nach Meinung meiner Eltern. Das hat mich so aufgeregt, daß ich mich am nächsten Tag nach Selbstverteidigung umgesehen habe. In unserer Stadt gab es nur Judo, und als ich gesehen habe, wie leicht man damit Leute durch die Luft werfen kann, habe ich mich gleich angemeldet. Zum Glück hat der Trainer schnell verstanden, warum ich das lernen wollte, und er hat mich auch ohne die Einwilligung meiner Eltern in die Gruppe aufgenommen. Um die Gebühren bezahlen zu können, habe ich jeden Nachmittag in einem Restaurant gekellnert und gespült. Ich hatte zwar keine Freizeit mehr, aber das war es mir wert. Nach zwei Jahren habe ich zum ersten Mal an einem Turnier teilgenommen und mit Pauken und Trompeten verloren. Weißt du, warum?" Sabrina schüttelte den Kopf.
"Weil ich wütend geworden bin. Ich konnte nicht mehr klar denken. Mein Trainer sah, daß ich kapiert hatte, warum ich verloren hatte, und von dem Tag an ging's aufwärts. Ich habe zwar noch öfter verloren, aber niemals mehr aus Wut."
"Wow!" machte Sabrina anerkennend. "Ich hatte eigentlich noch nie ein richtiges Ziel. Außer Schule beenden und so. Und selbst da weiß ich noch nicht, was ich später mal wählen soll. Also in der Oberstufe."
"Das wird kommen", erwiderte Frau Summers zuversichtlich. "Hab einfach Vertrauen zu dir selbst, Sabrina. Dann geschieht der Rest automatisch. Denk an die Dinge, die du schon geschafft hast, und dann nimm dir vor, was du als nächstes schaffen willst. So haben wir das mit Kim und Kat auch gemacht. Zuerst durften sie einen Teller aus Plastik abtrocknen, dann einen aus Porzellan, und am Ende das gesamte Geschirr. Als jedes Teil im Schrank stand und kein einziges kaputt gegangen war, freuten die beiden sich über alle Maßen. So wird Selbstvertrauen aufgebaut, Sabrina. Mach zuerst kleine Schritte und dann immer etwas größere." Sabrina hatte gebannt zugehört. "So einfach ist das?"
"Ja", sagte Frau Summers schmunzelnd. "So einfach ist das. Nimm dir zum Beispiel vor, daß du eine Diskussion gewinnen wirst. Eine einzige für den Anfang. Nimm es dir nicht krampfhaft vor, sondern glaube ganz fest daran, daß es so sein wird. Eine Diskussion wirst du gewinnen. Eine. Sei überzeugt davon, daß du eine Diskussion gewinnen wirst."
"Und wenn ich die tatsächlich gewonnen habe?" fragte Sabrina aufgeregt.
"Dann reden wir weiter." Sie zwinkerte ihr während der Fahrt zu. "Wie hieß die Straße bei euch noch mal?"
Ein paar Minuten später war Sabrina zu Hause. Sie bedankte sich herzlich bei Frau Summers und lief dann fröhlich ins Haus.

Kapitel 2

"Hallo, Bienchen!" wurde sie begrüßt, als sie um kurz vor halb zehn die Wohnung betrat. Sabrina grinste und lief ins Wohnzimmer.
"Summ!" machte sie, während sie im Kreis lief. "Wo ist mein Honig?"
Ihr Vater und ihre Mutter mußten lachen.
"Dir geht es ja blendend! Wie war der Tag?"
"Einfach toll!" Strahlend legte sie ihren Rucksack neben einen Sessel und ließ sich hinein fallen. "Kim und Kat haben mir einen ganz tollen Jugendtreff gezeigt, wo viele in unserem Alter sind. Kein Alkohol, keine Drogen, nur alkoholfreie Getränke, tolle Musik und die Leute sind auch toll in Ordnung. Kat hat mir sogar beigebracht, Billard zu spielen."
"Billard!" Ihr Vater hob anerkennend die Augenbrauen. "Das habe ich früher auch sehr gerne gespielt."
"Echt?" Sabrina starrte ihren Vater aufgeregt an.
"Echt", schmunzelte er. "Dabei haben deine Mutter und ich uns kennengelernt. Bei einem kleinen Turnier. Kneipenintern war das nur, aber sehr lustig, und nicht sehr anspruchsvoll."
"Trotzdem habe ich dich besiegt", lachte Frau Evertz. "Zwar knapp, aber doch."
"Kein Wunder. Wie hätte ich mich in deiner Anwesenheit auf das Spiel konzentrieren können?"
"Alter Schmeichler." Sie zwinkerte ihrem Mann zu und schaute zu Sabrina. "Und die Hausaufgaben?"
"Die sind alle fertig. Wir haben sogar schon etwas aufgearbeitet. In Bio, Deutsch und Geschichte ist die Schule etwas weiter als ich, aber da helfen Kim und Kat mir. Ich kann ihnen dafür in Mathe, Englisch und Politik helfen."
"Wie groß sind die Unterschiede?" wollte ihr Vater wissen.
"Zwei, höchstens drei Wochen. In einem Monat müßten wir das locker aufgeholt haben. Mutti? Kim fragt, ob ich morgen gleich wieder nach der Schule zu ihnen kommen kann."
"Ich fürchte, nein", erwiderte Frau Evertz. "Du solltest wenigstens hier essen, Bienchen."
"Darüber haben wir uns unterhalten", gab Sabrina nervös zurück. "Wenn wir um halb zwei Schule aushaben und jeder zu sich nach Hause fährt, könnte ich frühestens um drei bei ihnen sein. Sie wohnen ja in einer ganz anderen Ecke. Mit Hausaufgaben und alles nacharbeiten haben wir bis sechs zu tun, und dann ist der Tag schon fast rum. Fahre ich jedoch gleich mit zu ihnen, sind wir um halb fünf durch und können noch in den Jugendtreff."
"Das stimmt allerdings." Frau Evertz blickte fragend zu ihrem Mann.

"Was meinen denn ihre Eltern dazu?" fragte dieser.
"Frau Summers hat nichts dagegen. Ihr liegt ja auch viel daran, daß Kim und Kat schnell den
Anschluß finden. Und wir drei ergänzen uns einfach perfekt. Sie können das, was mir fehlt, und ich kann das, was ihnen fehlt. Außerdem verstehen wir uns sehr gut."
"Trotzdem...", wandte ihre Mutter ein. "Du kannst doch nicht einen Monat lang täglich bei ihnen essen. Das geht nicht."
"Warte, Elke", unterbrach ihr Mann sie. "Wir waren uns vor dem Umzug im klaren darüber, dass Sabrina Probleme in der Schule bekommen könnte. Jetzt bietet sich die Möglichkeit, daß sie das fehlende Wissen in kurzer Zeit und offenbar guter Atmosphäre nachholen kann, und ich denke, wir sollten ihr diese Möglichkeit gestatten. Was das Durchfüttern angeht, werden wir auch eine Lösung finden. Wir könnten ja, wenn die Mädchen mit dem Nacharbeiten fertig sind, die ganze Familie in ein gutes Restaurant einladen, als Dankeschön für diesen Monat. Außerdem sind bald Herbstferien, in denen sie auch lernen können. Ist zwar hart, sich in den Ferien auf die Schulbücher zu stürzen, aber zwei Stunden am Vormittag bringen auch schon sehr viel. Insofern wären es nur drei oder sogar nur zwei Wochen."
Sabrina hatte atemlos zugehört. Erst jetzt, nach den vielen Gesprächen mit Kat und Kim, merkte sie, worauf es in einer Diskussion ankam: auf treffende Argumente. Nicht auf Wut oder Gefühle, nur auf Argumente. Angebot und Gegenangebot. Sie schauderte unwillkürlich, als sie dies erkannte. Außerdem wußte sie plötzlich, warum sie bisher gegen ihre Mutter keine Schnitte gehabt hatte: Weil sie immer nur 'Ich, ich, ich!' gesagt hatte. Sie hatte immer nur widersprochen, war aber nie auf die Argumente ihrer Mutter eingegangen.

"Unter dem Aspekt gesehen wäre es tragbar." Frau Evertz sah zu ihrer Tochter. "Das klärst du morgen noch einmal, ja? Frag ihre Eltern, ob es wirklich in Ordnung geht, daß du bei ihnen ißt."
"Mache ich", versprach Sabrina mit einem dankbaren Lächeln. "Das mit den Herbstferien ist eine gute Idee, das werde ich auch ansprechen, obwohl wir bis dahin schon das meiste geschafft haben sollten. Hast du an das Busticket gedacht?"
"Natürlich." Frau Evertz reichte Sabrina einen kleinen Umschlag. "Im Hinblick auf deine neuen Freundinnen habe ich ein Ticket für die ganze Stadt genommen."
"Danke!" Überwältigt schaute Sabrina in den Umschlag. Sie fand ein Young Ticket für die ganze Stadt nebst den Wertmarken für ein Jahr und eine Plastikhülle für alles.
"Danke, Mutti!" strahlte sie glücklich. Sie sprang auf und drückte ihre Mutter. "Das ist total lieb von dir!"
"Schon gut." Frau Evertz lächelte gerührt zurück. "Was für ein Jugendtreff ist das genau?"
"Eine ehemalige Kneipe, ziemlich zentral gelegen." Sabrina setzte sich wieder und steckte sich das Ticket zusammen, während sie weiterredete. "Zwei große Räume. Im vorderen wird sich unterhalten, im hinteren ist Billard, Tischtennis und der Mann vom Arbeitsamt. Da hat sich in den letzten drei Jahren so eine Gruppe gebildet, die - Nein, Gruppe ist falsch. Also es kommen viele arbeitslose Jugendliche dahin, und der Mann vom Arbeitsamt schaut dann in seinem Computer nach, wo sie unterkommen können. Der ist dreimal in der Woche da."
"Das klingt interessant", meinte ihr Vater. "Ähnliche Versuche gibt es in Hamburg auch, soweit ich gehört habe, und das mit großem Erfolg. Den Jugendlichen ist die Beratung und Vermittlung in vertrauter Atmosphäre viel lieber als beim Arbeitsamt selbst."
"Genau, Papa. Kat sagte, daß die Vermittlungsquote bei sechzig Prozent liegt."
"Was mehr als doppelt so viel ist wie die normale Quote", nickte er nachdenklich. "Hört sich gut an. Wer leitet das?"
"Ein Mann vom Jugendamt. Ein Thomas Müller. Der ist Anfang Dreißig oder so und kommt sehr gut an. Er und der Herr Wassermann vom Arbeitsamt kümmern sich um die Arbeitslosen, während wir Schüler praktisch unter uns im vorderen Raum sind. Die anderen versammeln sich hinten und reden mit dem Herrn Wassermann."
"Wer stellt sicher, daß es keine Drogen gibt?" fragte Frau Evertz etwas beunruhigt. Sabrina lachte fröhlich.
"Die Leute selbst! Der Herr Müller hat erzählt, daß letztens jemand versucht hat, Haschisch zu verkaufen, und noch bevor er ausgesprochen hatte, haben die Leute ihn vor die Tür gesetzt. Alkohol gibt's auch nicht, nur eine einzige Flasche, und die soll im Medizinschrank stehen." Sabrina mußte noch eine halbe Stunde lang die Fragen ihrer Eltern ertragen, doch mit ihrer neuen Stärke konnte sie das durchstehen. Gemessen an der von Kim oder Kat war es noch nichts, doch für Sabrina war es ein Riesenschritt in Richtung Selbstsicherheit. Das mußten auch ihre Eltern zugeben, als Sabrina sich schließlich zurückzog, um noch zu duschen.

"Kein einziger Vorwurf wegen des Umzugs", meinte Frau Evertz nachdenklich. "Nur Freude."
"Offenbar tun ihr ihre Freundinnen sehr gut. Sind die beiden wirklich so kultiviert?"
"O ja. Wenn ich nicht aufpasse, reden die mich in Grund und Boden." Sie lächelte schief. "Es war das erste Mal, daß ich bei Schulmädchen fast Minderwertigkeitskomplexe bekommen hätte."
"Von der Sorte laufen viele herum", gab ihr Mann lächelnd zurück. "Nur hatte Sabrina bisher kein Interesse daran, sich mit ihnen zu unterhalten. Es ist ein wahrer Glücksfall, daß sie gleich am ersten Tag so Mädchen kennenlernt."
"Und auch noch mit Eltern, die berühmte Schauspieler sind. Oder waren. Jedenfalls sind sie noch heute sehr bekannt."
"Deswegen ist es auch nicht verwunderlich, daß die zwei sich nicht gleich jedem offenbaren. Ich kann mir vorstellen, daß sie es schwer haben, wirkliche Freunde zu finden."
"Das glaube ich auch. Hättest du denn am Wochenende Zeit, falls sie uns einladen?"
"Sicher. Freitag muß ich etwas länger bleiben, weil noch ein zweistündiger Kurs über Personalführung kommt, aber gegen neun müßte ich zu Hause sein. Dann ist Wochenende." Er seufzte lächelnd.
"Erst die Beförderung, jetzt berühmte Schauspieler im Bekanntenkreis... Was kommt als nächstes?"

Das fragte sich Sabrina auch. Sie stand unter der Dusche und seifte sich gerade ein, in Gedanken bei der weißhaarigen Kim. Ständig sah sie Kims Gesicht vor sich, ihre kühlen Augen, ihren nackten Körper. Die Erkenntnis, daß sie sich in ein gleichaltriges Mädchen verliebt hatte, ließ sie noch nicht zu, wußte jedoch gleichzeitig, daß sie sich nicht mehr allzu lange davor verschließen konnte.
Ihre Finger glitten zwischen die Beine. Automatisch schloß Sabrina die Augen und begann zu masturbieren, die Gedanken auf Kim gerichtet. Auf ihren nackten Körper, auf ihren Mund, auf ihren Busen. Sabrina erschrak fast vor sich selbst, als sich die Erregung viel zu schnell und sehr stark aufbaute. Sie dachte daran, Kim zu küssen, und rieb rasend schnell über ihren Kitzler. Dann dachte sie daran, wie sich ihre Brüste berührt hatten, und im gleichen Moment kam sie heftig. So stark, dass sie sich gegen die Wand lehnen mußte, um nicht hinzufallen. Atemlos hing sie in der Ecke der Dusche, die rechte Hand noch immer zwischen den Beinen, und schnappte nach Luft.
"Kim!" flüsterte sie. "Kim!"

Während des Frühstücks am nächsten Morgen studierte Sabrina den Busfahrplan, den ihre Mutter ihr mitgebracht hatte. Es fuhren mehrere Linien in kurzen Abständen zur Schule, was bei der Menge an Schülern nicht erstaunen konnte, so daß Sabrina nicht wußte, mit welcher Kim und Kat kommen oder fahren würden. Aber das konnten sie ja gleich abklären.


Sie merkte sich, wo und in welche Linie sie umsteigen mußte, um pünktlich bei der Schule zu sein, und verließ das Haus um viertel nach sieben. Bis zur Haltestelle waren es nur ein paar Schritte. Dort standen schon mehrere Kinder und Jugendliche, die Sabrina freundlich begrüßten. Schnell kamen die ersten Gespräche in Gang, und Sabrina fühlte sich gleich viel besser, weil dies ohne Streit oder Arroganz ablief. Vielleicht waren die Leute in ihrer Klasse nur eine Ausnahme, während viele andere so offen und höflich wie diese hier waren, überlegte sie.
Der Bus kam um 7:22 und hielt um 7:31 an der Station, wo Sabrina umsteigen mußte. Als sie den Bus verlassen hatte, entdeckte sie sofort den hellen Schopf von Kim.
"Hey!" Ausgelassen sprang sie auf Kim zu, die sie gleich kräftig umarmte und sofort wieder losließ. "Alles fit?"
"Alles bestens", erwiderte Kim augenzwinkernd. "Und bei dir?"
"Auch. Morgen, Kat!"
Auch Kat umarmte Sabrina kurz. "Morgen, Sabrina. Wir wußten nicht, welchen Bus du nimmst, deswegen haben wir hier gewartet. Das ist die einzige Station, wo du umsteigen konntest."
"Das ist lieb von euch", sagte Sabrina gerührt. "Ich hätte auch einen Bus später nehmen können, aber das war mir zu knapp."
"Uns auch. So können wir vor der Schule noch was quatschen. Wir haben vorhin mit Mutter geredet. Du und deine Eltern könnt gerne am Sonntag nachmittag kommen. Es gibt Kaffee und Kuchen. Gegen vier?"
"Toll!" strahlte Sabrina. "Das richte ich nachher aus. Meine Eltern sind übrigens damit einverstanden, daß ich gleich nach der Schule zu euch komme. Aber nur, falls ich euch nicht auf der Tasche liege."
"Halb so wild." Kim zuckte gelangweilt mit den Schultern; sie war wieder in ihre Rolle der kühlen, unnahbaren Kim geschlüpft. "Mutter ist das sogar ganz recht, weil sie glaubt, daß wir zu dritt mehr lernen und so schneller alles aufholen können."
"Womit sie gar nicht mal so falsch liegt", stimmte Kat zu. "Wir drei ergänzen uns sehr gut. Macht mal Platz."
Ein weiterer Bus hielt an und spuckte eine Menge Schulkinder aus. Der Bussteig war schon jetzt sehr voll.
"Das legt sich gleich", sagte Kat zu Sabrina. "Der nächste Bus fährt zur Schule, der übernächste nicht, die drei danach wieder ja. Hast du die Fahrt bezahlt, Sabrina?"
"Nein. Mutti hat mir gestern das Ticket besorgt. Gilt eures auch für die ganze Stadt?"
"Natürlich", meinte Kim arrogant. Sabrinas Herz begann wieder zu rasen.
"So natürlich ist das gar nicht", gab sie schnippisch zurück. "Zwei wie euch frei in der Stadt
herumlaufen zu lassen, ist absolut unnatürlich."
"Was ist denn mit dir los?" Kim starrte sie verblüfft an, dann kapierte sie und lachte hell. "Wow! Der war gut!" Sie drückte Sabrina kurz.
"Respekt!" flüsterte sie und ließ Sabrina wieder los, die vor Aufregung strahlte. "Heute geht's nur bis halb eins, aber morgen dafür bis halb drei. Ätzend!"
"Und das am Freitag", stimmte Kat übellaunig zu. "Das sollte man dem Schülerschutzverein melden."
"Von denen kommt das doch!" meinte Sabrina mutig. "Das machen die nur, weil die Freitags bis zwei offen haben und sich so keiner beschweren kann."
"Das kann sogar gut sein." Kim musterte Sabrina anerkennend. "Quetschen wir uns in den nächsten? Der ist immer so herrlich voll, daß man kaum atmen kann."
Sabrina sah in Kims helle Augen und nickte mit klopfendem Herzen, als sie daran dachte, ganz nah bei Kim zu stehen. "Sicher. Dann weiß ich endlich, wie sich eine Sardine in der Dose fühlt."
"Stimmt!" lachte Kat. "Diese Erfahrung muß man einmal gemacht haben, sonst könnte man sich gar nicht mit den Sardinen unterhalten."
"Dabei haben die doch so viel zu erzählen!" grinste Kim. "Weißt du noch, Kat? Wie sie letztens erzählt haben, daß Menschen furchtbar stinken?"
"Ja!" kicherte Kat. "Und wie sie sich vor Lachen geschüttelt haben, als du sagtest, daß sie noch viel mehr stinken. Das haben sie dir einfach nicht geglaubt."
"Das ist so wie mit Sabrinas Strümpfen", nickte Kim wissend. "Die riechen auch täglich, so dass Sabrina es gar nicht mal merkt."
"Was?" Sabrina wurde rot. "Die hab ich heute morgen frisch -" Sie brach ab, als sie das versteckte Funkeln in Kims Augen entdeckte.
"Kim!" lachte sie dann. "Du machst mich fertig!"
"Mit dem größten Vergnügen", erwiderte Kim trocken. "Du bekommst jetzt eine Chance, dir eine Antwort auszudenken. Das mache ich aber nur, weil der Geruch deiner Strümpfe mir den Atem raubt." Sabrina überlegte hektisch, was unter den Blicken von Kim und Kat nicht so ganz einfach war. "Ähm... Ich glaube, du verwechselst meine Strümpfe mit deiner Seife."
"Super!" Kat klatschte begeistert in die Hände. "Sehr gut, Sabrina. Das reicht jetzt, Kim. Sie braucht noch etwas Energie für die Schule."
"Ich weiß. In dem geistigen Alter war ich auch immer schnell erschöpft."
Sabrina mußte lachen. "Ob ich das auch jemals so kann wie ihr?"
"Bestimmt", lächelte Kat zuversichtlich. "Da kommt unsere Büchse."

Ein großer Bus hielt an, und alles, aber auch wirklich alles stürmte hinein. Kim, Kat und Sabrina sicherten sich gleich einen Stehplatz und standen so eng zusammen, daß Sabrina Kims Zahnpasta riechen konnte. Ihr Blick verschwamm, als sie in Kims Augen sah, und ihr Griff um die Stange an der Wand des Busses wurde kräftiger.
"Gemütlich, nicht?" meinte Kat amüsiert. "Im Winter ist es jedenfalls schön warm."
Jemand hinter Kim drängelte, und Kim wurde trotz ihres ausgeprägten Gleichgewichtssinns gegen Sabrina gedrückt; zum Abstützen fehlte einfach der Platz. Ihre Brüste drückten sich kräftig gegeneinander.

"Jetzt müssen wir heiraten", sagte Kim belustigt, als sie sich wieder gefangen hatte. Um sie herum ertönte leises Lachen. "Du hast doch nichts gegen gleichgeschlechtliche Ehen, oder?"
"Keine Ahnung." Sabrinas Herz raste. "Frag mich das noch mal, wenn ich 18 bin."
"Na toll!" lachte Kat. "Versaute Angebote um diese Uhrzeit. Der Tag kann ja nur gut werden."
"Ach was!" meldete sich ein ihnen unbekanntes Mädchen von vielleicht 16 Jahren zu Wort. "Bei den Typen, die so rumlaufen, ist das die einzige Möglichkeit, glücklich zu werden. Stimmt's, Jenny?"
"Laß mich mit deinen blöden Anspielungen in Ruhe!" fauchte ein anderes Mädchen zurück. "Ich steh nicht auf Mädchen!" Kat und Kim zwinkerten dem ersten Mädchen belustigt zu, das zurückgrinste.
"Geht's jetzt wieder über die Männer her?" schaltete sich eine junge männliche Stimme ein. "Wenn ja, soll der Bus sofort anhalten, dann steige ich aus."
"Genau das meinte ich!" lachte das erste Mädchen. "Es gibt keine Helden mehr."
Lautes Lachen, hauptsächlich von Mädchen, belohnte diesen Satz.
"Deswegen fahren Kat und ich gerne in vollen Bussen", flüsterte Kim Sabrina ins Ohr. "Da kann man so herrlich Streit anzetteln."
Sabrina nickte lächelnd, doch als sie in Kims Augen sah, fror das Lächeln ein. Wieder hatte sie den unwiderstehlichen Wunsch, Kim zu küssen.

"Wir sind gleich da, Sabrina", hörte sie Kat mit lauter Stimme sagen. "Am Anfang sind volle Busse immer etwas beängstigend."
Sabrina nickte und sah beschämt zu Boden. Einmal, weil Kat offenbar erkannte, was mit ihr los war, und gleichzeitig, weil sie Kat dankbar für diesen Rettungsanker war, der ihr merkwürdiges Verhalten für alle anderen im Bus erklärte.
"Ich hab mich beim ersten Mal übergeben", meinte eine sehr junge Mädchenstimme, deren Besitzerin nicht auszumachen war. "Als ich wieder draußen war. Da saß ich aber auch neben jemanden, der Knofi gegessen hatte. Eklig!"
"Wenn du nicht die Klappe hältst", knurrte eine andere Stimme, "esse ich morgen eine ganze Zehe und atme dich an."
"Schlimmer als jetzt kann's auch nicht mehr sein", meinte eine dritte Stimme spöttisch. Sabrina spürte Kats Hand in ihrem Rücken.
"Nächste Station ist die Schule", sagte Kat ruhig. "Dann bist du an der frischen Luft."
Sabrina sah wieder auf. "Geht schon, danke."
"Schon in Ordnung." Kat lächelte aufmunternd. "Neue Erfahrungen sind am Anfang immer etwas schlimm, aber man gewöhnt sich schnell dran."
Sabrina sah in Kats Augen, was sie tatsächlich meinte.
"Scheint so", murmelte sie. Kim in die Augen zu sehen, wagte sie nicht.
"Wir haben übrigens genug Geld von unserer Mutter bekommen", sagte Kim in diesem Moment. "Für den Einkauf nachher, Sabrina. Gleich nach den Schulsachen fahren wir los. Kat geht in den Treff, und wir gehen shoppen."
"Ist gut." Sabrina hielt sich krampfhaft fest, als der Bus bremste und hielt. Die Türen schwangen auf, und die Horde Kinder strömte nach draußen. Sabrina atmete wie befreit auf, als sie an der frischen Luft und nicht mehr in Kims unmittelbarer Nähe war. Kat stützte sie, bis sie sich wieder gefangen hatte; Kim blieb hinter ihr stehen, ihre Hand helfend in Sabrinas Rücken.

"Danke", sagte sie dann leise. Kim strich ihr kurz über den Kopf und flüsterte:
"Keine Ursache, Hübsches."
Sie ließ Sabrina los und ging einen Schritt zurück, wobei sie sich umschaute, als müßte sie sich orientieren.
"Wenn sie zu deutlich wird, melde dich", sagte Kat leise. "Wir sagen immer das, was wir denken."
"Ich bin nur ziemlich verwirrt", gestand Sabrina verlegen. "Ich hab das Gefühl, daß ich nicht mehr weiß, was los ist."
"Schule ist los", lächelte Kat. "Kennst du Schule? Da sitzt du mit anderen in einem großen Zimmer und -"
"Kat!" lachte Sabrina. "Du weißt ganz genau, was ich meine!"
"Komm." Kat gab ihr einen sanften Schubs. "Schule wartet."
Zu dritt marschierten sie los. Die Schule lag etwa zweihundert Meter von der Haltestelle entfernt.
"Die Schule hat drei verschiedene Anfangszeiten", erklärte Kat, während sie gingen. "Die Hauptschule beginnt um acht, die Realschule um zehn nach acht, das Gymnasium um viertel nach acht. Dadurch wird das alles etwas aufgelockert, sonst würden sich die Leute auf den Treppen zu Tode trampeln. Das hat uns die Frau im Sekretariat gestern so erklärt."
Sabrina sah Kat unsicher an. "Was ist los mit mir, Kat?"
"Das weißt du." Kat lächelte mitfühlend. "Denk nicht darüber nach, Sabrina. Laß es einfach wachsen." "Und wenn ich es nicht will?"
"Dann unterdrücke es." Sie zuckte mit den Schultern. "Aber Gefühle, die du hast, kannst du nur sehr schwer unterdrücken. Mach dir klar, warum du es nicht willst. Und überlege vielleicht auch, ob es Möglichkeiten gibt, deine Ängste und deine Wünsche unter einen Hut zu bekommen. Meistens klappt es."
Kim, die einen Schritt voraus gegangen war, blieb plötzlich stehen.
"Ärger." Kat sah sich sofort um, Sabrina nur einen Moment später. Sie entdeckte den bulligen Schüler von gestern, der mit einigen anderen Jungen auf sie wartete.
"Warte hier", befahl Kat und ging mit Kim zu der kleinen Gruppe. Sabrina trat trotzdem etwas näher heran.
"Heute nach der Schule", sagte der massive Junge drohend und deutete auf Kim. "Du und ich." Sabrina begann zu zittern.
"Nein, danke", erwiderte Kim kalt. "Du bist absolut nicht mein Typ."
"Sollen wir es dann gleich hier klären?" knurrte er wütend.
"Und was wäre damit bewiesen?" fragte Kim kühl. "Besiegst du mich, dann hast du recht? Oder was? Ist doch Unsinn. Lerne lieber, deine Meinung mit Worten durchzusetzen. Schlägereien bringen dich im Moment nur in Schwierigkeiten." Sie schaute ihn ernst an. "Oder ins Krankenhaus."
"Hört euch die Kleine an!" lachte der Junge. "Sie bedroht mich!"
"Und schon wieder hast du mich falsch verstanden", sagte Kim ruhig. "Ich drohe weder dir noch sonst jemandem, aber irgendwann wirst du an jemanden geraten, der schneller, stärker und brutaler als du ist, und dann liegst du im Krankenhaus. Das ist eine ganz logische Entwicklung."
"Jetzt hab ich genug!" Er machte einen Schritt auf Kim zu und packte sie an der Jacke. Kim bewegte sich nicht.
"Ich werde dir die Fresse polieren!" sagte er wütend. "Und wenn du am Boden liegst, werde ich auf dich spucken!"
"Und was würde das beweisen?" entgegnete Kim gelassen. "Daß du ein Mädchen verprügeln kannst?" Mehr und mehr Schülerinnen und Schüler kamen dazu. Sabrina entdeckte auch einige Leute aus ihrer Klasse.
"Ich muß nichts beweisen!" zischte der Junge, der Kim leicht schüttelte. "Du hast mich gestern angegriffen, und dafür mußt du jetzt bezahlen."
"Du hast mich zwar herausgefordert, aber egal. Wenn du der Meinung bist, du müßtest mich
verprügeln, dann leg los. Weil ich dich gestern angegriffen habe, hast du einen Schlag frei."
"Mehr brauche ich auch nicht!"
Sabrina schrie auf, als seine Faust hart gegen Kims Kopf schlug. Kims linke Wange platzte direkt über dem Wangenknochen auf. Kim wehrte sich nicht und blieb stehen, wo sie war. Der Junge starrte sie fassungslos an, weil sie nicht zu Boden ging.
"Damit sind wir quitt", meinte sie gelassen. "Wenn du noch mal zuschlägst, werde ich mich wehren."

"Laß gut sein, Harry", meinte ein Junge hastig. "Du hast deine Rache gehabt. Laß uns gehen."
"Genau!" fiel ein zweiter Junge ein. "Du hast sie mehr getroffen als sie dich gestern."
"Haltet die Schnauze!" rief der Junge mit Namen Harry unbeherrscht aus. "Ich laß mich von keinem Mädchen angreifen! Ich werde sie fertigmachen!"
"Na schön", seufzte Kim und sah in die Runde. "Wenn ihr der Meinung seid, daß ihr eure
Diskussionen immer mit Gewalt lösen müßt, dann von mir aus. Soll die Vernunft eben der Gewalt weichen." Sie sah wieder zu Harry. "Dann fang mal an, du tapferer Held."
Wieder schlug Harry zu. Er traf Kim am Kinn und an der Unterlippe, die sofort aufsprang und stark blutete. Kims weiße Jacke zeigte die ersten Blutspuren. Noch immer wehrte Kim sich nicht.
"Noch kannst du aufhören", warnte sie Harry. "Beim nächsten Mal schlage ich zurück. Laß es lieber sein."
"Ja, Harry, hör auf!" sagten viele um ihn herum. Harry schüttelte eigensinnig den Kopf.
"Die kann ganz schön einstecken, aber austeilen kann sie nicht. Das seht ihr ja." Er schlug ein drittes Mal zu und verpaßte Kim ein Veilchen. Kim schüttelte nur kurz den Kopf.
"Okay", sagte sie so kalt, daß die Menge um sie herum zurückwich. "Jetzt habe ich genug."
Sie knickte tief in der linken Hüfte ein, zog das rechte Bein an den Körper und stieß Harry den Fuß mit voller Kraft ins Gesicht; so schnell, daß der Angriff erst zu sehen war, als er auch schon das Ziel gefunden hatte. Harry schrie vor Schmerzen auf und ging auf die Knie; aus Mund und Nase strömte das Blut nur so.
"Ruft einen Krankenwagen!" befahl Kim. Zwei Mädchen rasten los wie der Blitz. "Und der nächste, der mich angreift, kommt nicht so billig davon." Ohne sich um den Verletzten zu kümmern, ging sie weiter. Die Schüler machten ihr hastig Platz.
"Na komm", sagte Kat bedrückt und legte ihren Arm um Sabrina. "Sie hatte wirklich keine andere Wahl."

"Hab ich gesehen." Sabrina schaute auf Harrys blutverschmiertes Gesicht und schüttelte sich vor Entsetzen. Die Polizei kam, noch während Kims leichte Wunden im Schwesternzimmer versorgt wurden. Kim machte ihre Aussage, die, so sollten die drei Mädchen später erfahren, von vielen anderen Kindern bestätigt wurde, dann war es vorerst gut. Jedoch kam kurz vor Ende der zweiten Stunde Herr Albers, der Klassenlehrer, herein und holte Kim zum Gespräch. Kat wollte mit, doch Kim winkte ab.
"Geht schon so. Paß auf Bienchen auf."
Sie folgte dem sehr zornigen Lehrer in sein Büro. Er wartete nicht einmal, bis Kim sich hingesetzt hatte, sondern legte gleich los.
"Ich habe dir schon gestern gesagt, daß ich dieses Verhalten hier nicht sehen will!" fuhr er Kim an. "Also? Was hast du zu sagen?"
"Nichts." Kim erwiderte seinen Blick kalt. "Soweit ich gehört habe, sollen Sie auch der
Vertrauenslehrer an dieser Schule sein. Wie Sie diese Position erhalten haben, ist mir allerdings schleierhaft. Ihre Meinung steht doch schon fest, Herr Albers. Sie müssen meine Version gar nicht mehr anhören, um Ihre Vorurteile bestätigt zu bekommen. Weitere Gespräche über dieses Thema finden ab jetzt nur noch in Gegenwart meiner Eltern statt." Sie drehte sich herum und ging zur Tür.
"Warte."

Kim stoppte mitten im Schritt und drehte sich wieder zu ihm, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, daß er sich nervös durch die Haare fuhr.
"Setz dich bitte, Kim. Es tut mir leid."
'So klingt das schon viel besser', dachte sie amüsiert und nahm ihm gegenüber Platz.
"Was ist deine Version?" fragte er wesentlich ruhiger.
"Es begann gestern, gleich nach dem Läuten zur ersten großen Pause. Herr Dieters hatte noch nicht ganz den Klassenraum verlassen, als Jasmin, Harry und fünf oder sechs andere auf meine Schwester und mich zukamen. Jasmin begann wieder, auf uns herumzuhacken, und als ihr die Argumente ausgingen, schlug sie nach mir. Ich bin ihrem Schlag ausgewichen, ohne mich zu wehren, während Kat sie gewarnt hat, daß sie uns einfach in Ruhe lassen soll. Daraufhin schlug Jasmin nach Kat. Sie hat Jasmins Schlag aufgefangen und ihr die Hand umgedreht, so daß Jasmin nichts mehr tun konnte außer sich auf den Boden zu setzen. Anschließend kam Harry an und meinte, ich solle keine großen Töne spucken, sondern mich lieber mit ihm anlegen. Nachdem ich seinen Händen ausgewichen bin", improvisierte sie schnell, aber korrekt, "habe ich ihn ziemlich hart dort angefaßt, wo es ihm besonders weh tut." Herr Albers zuckte unwillkürlich zusammen. Kim verkniff sich das Lachen. "Heute morgen hat er mit einigen anderen auf uns gewartet und mich zu einem Kampf herausgefordert. Ich habe versucht, in aller Ruhe mit ihm zu reden, aber er wollte prügeln. Da ich ihn gestern ziemlich hart angefaßt hatte, habe ich ihm angeboten, daß er einen Schlag frei hat. Das war dies hier." Sie deutete auf das Pflaster an ihrer Wange.
"Aber das reichte ihm nicht. Obwohl ich noch versucht habe, ihn zu warnen, schlug er ein zweites Mal zu. Hierher." Sie deutete auf die geschwollene Unterlippe.
"Auch da habe ich noch nicht zurückgeschlagen, sondern weiter mit ihm geredet. Sein
Gegenargument zielte hierher." Sie deutete auf das Auge, das bläulich bis violett schimmerte. "Nach diesem dritten Schlag habe ich ihn dann auf die Bretter geschickt." Sie beugte sich vor.

"Jetzt liegt es an Ihnen, verehrter Herr Vertrauenslehrer. Ob Sie das Verhalten von Jasmin und Harry dulden und mir eins reinwürgen wollen, weil ich mich gewehrt habe, oder ob Sie dort ansetzen, wo es nötig ist, ist Ihre Entscheidung. Ich hoffe allerdings sehr, daß Sie die richtige Entscheidung treffen."
"Was wäre deiner Meinung nach eine richtige Entscheidung?" fragte er beherrscht.
"Möglichkeit Eins: die Sache auf sich beruhen lassen. Es passierte weder auf dem Schulgelände noch während der Schulzeit, so daß es nicht die Schule betrifft, sondern allenfalls die Wegeversicherung. Die Polizei hat unsere Aussagen aufgenommen, und soweit ich inzwischen erfahren habe, wurde meine Version sogar von Harrys bisherigen Anhängern bestätigt. Möglichkeit Zwei: Sie reden mal mit meiner Schwester Kat. An unserer letzten Schule hatte sie mitgeholfen, eine Schülerinitiative aufzubauen, die sich um gewalttätige Arschlöcher wie Jasmin und Harry kümmert. Bitte entschuldigen Sie meine Offenheit."
"Du hältst dich nicht für gewalttätig?" fragte er zornig. "Du hast einem Mitschüler brutal die Nase gebrochen!"
"Und?" erwiderte Kim kalt. "Hätte ich warten sollen, bis er mir etwas bricht? Wie nennen Sie meine Verletzungen? Zufall, weil ich dreimal gegen seine Faust gefallen bin? Klar, Kat und ich sind neu hier, aber haben wir deswegen weniger Rechte? Müssen wir uns diese Übergriffe gefallen lassen? Sollen wir uns zusammenschlagen lassen, nur weil wir noch nicht so lange auf dieser Schule sind?" Sie schüttelte den Kopf. "Tut mir leid, aber Sie sind auch nur ein blinder Idiot. Sie erreichen meine Eltern bis 13 Uhr zu Hause. Ich lehne es ab, mich weiter mit Ihnen zu unterhalten. Sie können nur froh sein, daß es nicht während der Schulzeit passiert ist, sonst hätte diese Schule ganz schnell eine Klage am Hals, weil irgend jemand die Augen zugemacht hat. So wie Sie jetzt." Kühl und gelassen stand sie auf und ging hinaus. Herr Albers sah ihr nachdenklich hinterher.

In der fünften und letzten Stunde hatten sie wieder Unterricht bei Herrn Albers, der Deutsch und Religion unterrichtete. Im Gegensatz zu der Schule, die Sabrina kannte, wurden hier alle Konfessionen gleichzeitig unterrichtet, was ihr sehr zusagte.
"Das Thema Ausländerfeindlichkeit", begann er, "hatten wir zwar schon abgehakt, aber ich möchte aus aktuellem Anlaß noch einmal darauf zurückkommen. Speziell in der Form Gewalt gegen Minderheiten. Jasmin, was sind für dich Minderheiten?"
"Gruppierungen, deren Menge deutlich unter der liegt, die den Durchschnitt ausmacht."
"Sabrina, hat der Begriff Minderheit für dich einen guten oder einen schlechten Klang?"
"Weder noch", antwortete Sabrina zögernd. "Für mich persönlich ist das ein Wort wie Schwarz oder Weiß, wie Jude oder Katholik. Ohne jede Wertung. Nur beschreibend."
"Kathryn, wie beurteilst die Gewalt gegen Minderheiten?"
"Grundsätzlich schlecht. Minderheiten nur deshalb mit Gewalt zu bekämpfen, weil sie Minderheiten sind, ist in meinen Augen das Dümmste überhaupt."
"Jonas, denkst du das auch?"
"Nein. Wenn ich an die Rechtsextremisten denke, die ja auch eine Minderheit sind und gewalttätig gegen andersfarbige oder andersdenkende Menschen vorgehen, halte ich Gewalt gegen Rechte für gerechtfertigt."
"Kathryn, stimmst du dem zu?"
"In diesem Fall ja. Wenn ich sehe, daß fünf Rechte einen Schwarzen verprügeln, halte ich
verhindernde oder eingreifende Gewalt gegen diese Rechten für gerechtfertigt. Ich wollte mit meiner Meinung nur sagen, daß ich Gewalt gegen Minderheiten für grundsätzlich schlecht halte. Einzelfälle, in denen Gewalt gerechtfertigt ist, wird es immer wieder geben. Sonst hätte dieser Staat weder eine Polizei noch einen Bundesgrenzschutz oder eine Bundeswehr. Genauso wenig wie die Paragraphen der Notwehr und der Nothilfe." Sie schaute Jonas fragend an, der zustimmend nickte.
"Peter, woher kommt deiner Meinung nach Gewalt gegen Minderheiten?"
"Aus rassistischen Gründen. Aus Machtgründen. Aus einem wie auch immer fehlgeleitetem Denken heraus."
"Schön!" Herr Albers stand von seinem Tisch auf, auf dem er gesessen hatte, und begann, durch die Klasse zu laufen.
"Also seid ihr der Meinung, daß Gewalt in manchen Fällen gerechtfertigt ist. Damit kommen wir zu dem Widerspruch, den wir in der Bibel finden. Dort ist zu lesen, daß Jesus dem, der ihn auf die rechte Wange schlägt, auch die linke Wange hinhält. Kimberley, du wurdest auf die Wange geschlagen."
"Richtig", lächelte Kim. "Allerdings haben Sie den Unterschied schon selbst gesagt. Ich heiße
Kimberley, nicht Jesus." Sie hob die Hand, als lautes Lachen ertönte.
"Das sollte nicht so grob klingen, wie es herauskam. Ich wollte vielmehr sagen, daß unsere heutige Kultur - und damit meine ich nicht nur Deutschland oder Amerika - leider nicht mehr nach den Grundsätzen der Bibel lebt. Wir haben heute Tausende von Geboten in Form von Gesetzen, die das menschliche Miteinander regeln. Ein Großteil dieser Gesetze befaßt sich mit Gewalttaten wie Körperverletzung, Mißhandlung, Vergewaltigung, Mißbrauch, Entführung, Mord oder Tötung. Tausende von Gesetzen, die im Grunde genommen aus den ursprünglich zehn Geboten entwickelt worden sind, eben weil kaum einer mehr nach den Geboten Gottes lebt."

"Gut erklärt, Kimberley. Warum lebst zum Beispiel du nicht nach den Geboten?"
"Weil meine Umwelt es mir nicht erlaubt", erwiderte sie gelassen. "Wenn ich offen bekenne, daß ich an Gott glaube, ernte ich verdutzte oder spöttische Blicke. Trotzdem glaube ich an ihn und sage es auch. Wenn ich mich bestehlen lasse, machen meine Eltern mir Vorwürfe, daß ich mich nicht gewehrt habe, und kürzen mein Taschengeld, bis ich den Schaden abbezahlt habe. Wenn ich geschlagen werde, ohne daß ich mich wehre, werden meine Eltern meinen Angreifer anzeigen."
"Das heißt also", sagte der Lehrer nachdenklich, "daß du der Gewalt an sich positiv gegenüber stehst."
"Nein." Kim schüttelte nachdrücklich den Kopf. "Das heißt es ganz und gar nicht, Herr Albers. Ich persönlich sehe in der Gewalt kein Lösungsmittel für Konflikte. Überhaupt nicht. Da komme ich nach meinen amerikanischen Eltern, für die Freiheit über alles geht. Meine Rechte gehen so weit, bis sie die Rechte eines anderen Menschen berühren. Das ist der Satz, nach dem meine Schwester und ich erzogen worden sind. Wir lassen jedem Menschen seine Freiheiten, erwarten das gleiche aber auch von allen anderen Menschen. Wenn allerdings jemand glaubt, er müsse meine Freiheiten per körperlicher Gewalt beschneiden, dann greife auch ich zur Gewalt. Als Mittel der Verteidigung, das unter dem Namen Notwehr legalisiert ist. Weder meine Eltern noch Kat noch ich werden allerdings jemals den ersten Schlag tun. Wir provozieren auch nicht bis zu dem Punkt, daß es zur Gewalt kommt. Wir wehren uns nur. Wenn möglich, mit Worten, aber wenn das nicht mehr möglich ist, dann eben mit Gewalt, auch wenn wir die verbale Auseinandersetzung bevorzugen." Sie sah ihrem Lehrer direkt in die Augen.
"Um es ganz präzise zu sagen, Herr Albers: Kat und ich tragen den schwarzen Gürtel in Kung Fu. Unser Vater ist Trainer für Kung Fu. Er wurde von Shaolin-Mönchen ausgebildet, und zwar nach deren Tradition: Vermeide Gewalt um jeden Preis, aber nicht um den Preis deines Lebens. Genau danach leben wir. Wenn es irgendwie möglich ist, gehen wir der Gewalt aus dem Weg. Aber wenn wir - wie gestern oder heute morgen - umzingelt und körperlich angegriffen werden, dann wehren wir uns. Im Gegensatz zu unseren Eltern, die wie gesagt aus Amerika kommen, lehnen Kat und ich auch Waffen im Haus ab. Ein Taschenmesser ist okay, das wird immer gebraucht. Aber keine Jagdmesser, keine Schwerter und erst recht keine Pistolen oder Gewehre. Unsere Eltern haben durch ihre amerikanische Abstammung einige Zeit gebraucht, bis sie sich hier in Deutschland ohne Waffe im Haus wohl fühlten, aber jetzt geht's. Unsere gesamte Familie versucht, gewaltfrei zu leben, aber wenn wir mit Gewalt bedroht werden, antworten wir mit Gewalt. Und selbst das niemals so hart, wie wir angegriffen wurden."
"Das von heute morgen war aber ganz schön hart", meinte Herr Albers ruhig.
"Wie gesagt", erwiderte Kim gleichermaßen ruhig. "Darüber reden Sie bitte mit meinen Eltern." Sie setzte sich wieder hin.
"Das habe ich bereits. Dein Vater sagte etwas, was mir sehr zu denken gegeben hat, Kimberley. Er sagte: 'Seien Sie froh, daß sie ihm nur die Nase gebrochen hat. Sie hätte ihm auch mit einem Schlag das Genick brechen können.' Stimmt das?"
"Ja." Kim nickte ruhig. "Das ist vollkommen richtig." In der Klasse wurde es totenstill.
"Warum hast du es nicht getan?"
"Herr Albers!" Kim lachte fröhlich auf. "Nur weil er mir ein Veilchen verpaßt hat? Ich bitte Sie!"
"Kimberley, ich kenne mich in diesen Sportarten - wenn man sie so nennen darf - überhaupt nicht aus. Erkläre es mir bitte."
Kim seufzte laut. "Na gut, auch wenn wir dadurch nun völlig vom Thema abkommen. Es gibt ein Wort, nach dem sich die meisten Kampfsportarten richten. Es heißt: angemessen. Wenn ich von einem Besoffenen angegriffen werde, setze ich ihn auf einen Stuhl und kaufe ihm ein Bier. Wenn ich von einem Messerstecher angegriffen werde, sehe ich zu, daß ich ihn entwaffne, und wenn das nicht geht, breche ich ihm höchstens den Arm. Aber das Genick brechen... Das hieße, ich würde einen Menschen töten, und das lehne ich strikt ab. Es gibt Dutzende von anderen Möglichkeiten, jemanden kampfunfähig zu machen, und eine davon wird bestimmt klappen. Das steckt hinter den meisten Kampfsportarten, Herr Albers. Eine angemessene Verteidigung. Wenn jemand völlig ungezielt auf meinen Kopf schlägt, drehe ich mich einfach weg. Wenn mich jemand verletzt, schlage ich zurück, aber so, daß mein Gegner gesund bleibt oder schnell wieder gesund wird. Und ganz nebenbei gesagt, Herr Albers: es sind tatsächlich Sportarten. Sie zielen auf äußerste Körper- und Geistesbeherrschung ab. Mehr als alle anderen Sportarten. Das Ziel beim Kampf heißt Entwaffnung, aber nicht Vernichtung. Wer schon beim Training seinen Partner verletzt oder zu hart trifft, würde niemals zur Prüfung zugelassen werden. Beherrschung ist das oberste Gebot bei allen Kampfsportarten."
"Aha. Danke für die ausführlichen Erklärungen." Er sah Kim noch einen Moment an, dann schwenkte sein Blick zu Sabrina.
"Sabrina, wodurch entsteht Gewalt?"
"Keine Ahnung!" lachte sie verlegen. "So etwas dürfen Sie mich nicht fragen. Ich weiß es nicht."
"Wirklich nicht?" bohrte er lächelnd. Sabrina dachte angestrengt nach und erinnerte sich an den gestrigen Tag, als sie heulend auf Kat eingeschlagen hatte.
"Vielleicht... durch Frust? Weil man mit etwas nicht mehr klar kommt und irgendwann aus der Haut fährt?"
"Das wäre eine Möglichkeit. Richtig. Jasmin, warum schlägst du zu?"
"Ach!" fauchte Jasmin aufgebracht. "Nur weil die glaubt, sie könnte mich in Grund und Boden reden und sich für was Besseres als wir hält! Wer sind die denn?"
"Gute Frage." Er sah zu Kat. "Kathryn, wer seid ihr?"
"Menschen." Kat lächelte herzlich. "So wie alle anderen Zweibeiner auf diesem Planeten."
"Perfekte Antwort. Hast du Vorurteile, Kathryn?"
"Hmm... Ich fürchte, ja. Ich halte zum Beispiel Süchtige für unheilbar. Mit bornierten Menschen gebe ich mich nur sehr ungern ab, weil sie keinem Argument gegenüber zugänglich sind."
"Sabrina?"
"Bis gestern hatte ich eins." Sie lächelte schüchtern. "Bis gestern abend dachte ich, daß alle, die dieses Kung Fu oder Karate machen, Schläger sind. Aber dann habe ich Kim und Kat beim Training mit ihrer Mutter zugesehen."
"Und was war da?"
"Ein Schock nach dem anderen." Sabrina zuckte verlegen mit den Schultern. "Die beiden haben so irrsinnig schnell aufeinander eingeprügelt, daß ich überhaupt nichts mehr gesehen habe. Dann hat Kat Kim ziemlich hart getroffen. So hart, daß sie glatt zwei Meter nach hinten durch die Luft flog. Kim stand ziemlich wütend auf, aber sie war wütend auf sich, weil sie Kats Schlag nicht abwehren konnte."
"Ist sie nicht wie eine Furie auf Kat losgegangen?"
"Überhaupt nicht. Sie hat zwar geschimpft wie ein Rohrspatz, aber eben mit sich selber."
"Ich denke, das reicht", unterbrach Kat sehr ruhig. "In diesem Punkt schließe ich mich Kims Meinung an, Herr Albers: Wenn Sie etwas über unsere Familienverhältnisse wissen wollen, wenden Sie sich an unsere Eltern. Sabrinas Schilderung des gestrigen Trainings ist zwar völlig korrekt, aber da Sabrina die ganzen Hintergründe des Sportes nicht kennt, ist sie nicht in der Lage, Ihr geschickt getarntes Verhör zu durchschauen." Sabrina erschrak. "Verhör?"
"Schon gut", lächelte Kat. "Herr Albers weiß, was ich meine."
"Das tue ich tatsächlich. Kimberley, Kathryn und Sabrina: Ihr drei werdet euch morgen früh um acht Uhr im Sekretariat melden. Nach dem Unterricht möchte ich euch noch kurz sprechen." Er lächelte herzlich, um die plötzlich aufgekommene Spannung zu mildern.
"Es wird euch bestimmt entgegenkommen, was ich euch zu sagen habe."
Als die Stunde zu Ende war, staunten die drei Mädchen nicht schlecht, denn Herr und Frau Summers betraten den Klassenraum, wie auch Frau Evertz. Die drei hatten sich offenbar schon miteinander bekannt gemacht. Herr Summers hatte wie seine Frau und seine Töchter schwarzes Haar und blaue Augen. Sabrina musterte fasziniert sein energisches Gesicht und war von seiner starken Sicherheit, die er ausstrahlte, überwältigt.
Herr Albers wartete, bis Herr Summers, dem man wegen seiner schmalen, drahtigen Gestalt die Power seiner Kampftechnik überhaupt nicht ansah, die Verletzungen seiner Tochter begutachtet hatte, dann räusperte er sich.
"Keine Schule gibt es offen zu", sagte er leise, als befürchtete er, auf dem Gang gehört zu werden. "Aber es gibt Unterschiede in den Klassen. Das gerade war die 9d, in der auch Ihre Töchter sind. In den Klassen mit den Endungen 'a' sind die Intellektuellen. Die Streber. Die Fleißigen. In der 'b' sitzen die Mittelmäßigen, in 'c' diejenigen, die wir anhand der Zeugnisse nicht so recht einordnen können. Wo es Unstimmigkeiten gibt, die wir uns nicht erklären können. Und in der 'd' schließlich der Rest. Die Nachzügler. Die spät Angemeldeten. Die Umzügler wie Kim, Kat und Sabrina. Oder - aber das bleibt unter uns, denn ich werde abstreiten, daß ich das gesagt habe - die Asozialen." Die Erwachsenen und Mädchen hörten ihm gespannt zu.
"Nach dem Vorfall von heute morgen, speziell nach dem Gespräch mit Kim und mit Ihnen, Herr Summers, habe ich mit dem Direktor geredet. Auch wenn Kim von dem Gespräch einen anderen Eindruck gehabt hat, hat sie mir doch bewiesen, daß sie sehr hohe Wertvorstellungen hat." Kim zog erstaunt die Augenbrauen hoch. Herr Albers mußte lachen.
"Ganz recht, Kim. Du hast offen gesagt, was du denkst, und du hast mich beleidigt. Das wagen nicht viele Schüler. Außerdem bist du nicht wütend geworden. Viele andere, die sich geprügelt haben, wollten sich noch in meinem Büro weiter herumschlagen. Du nicht. Deswegen habe ich, wie Kat es vollkommen richtig erkannt hat, unter dem Vorwand des geänderten Themas ein kleines Verhör durchgeführt. Auch da haben Kim und Kat meine Vermutungen bestätigt. Sie sind keine Schläger, wie schon Sabrina gesagt hat, sondern einfach nur Mädchen, die sich wehren können und es auch tun. Ich denke zwar noch immer, daß du, Kim, Harry anders hättest stoppen können, aber das ist jetzt egal."
"Ist es nicht", warf Kim leise, aber bestimmt ein. "Herr Albers, es ging ja nicht nur um Harry. Es ging um alle anderen, die ihr Mütchen an uns kühlen wollten oder es vorhatten. Sicher war ich zu hart, aber ich wollte gleich allen anderen zeigen, was auf sie wartet. Harry hat meinen Tritt erst gesehen, als er meinen Fuß im Gesicht gehabt hat, und genau das wollte ich erreichen. Nicht, daß die anderen Angst vor mir bekommen, sondern daß sie einsehen, daß es sinnlos ist, gegen uns gewalttätig zu werden."
"Dann verstehe ich das." Er sah nachdenklich zu ihren Eltern. "Ist das auch Teil des Trainings?"
"Ja." Beide nickten nachdrücklich.
"Gerade wenn man es mit vielen Gegnern zu tun hat", erklärte Herr Summers mit ebenfalls hörbar amerikanischem Akzent, "ist es wichtig, einen oder zwei schnell und deutlich zu demoralisieren. Dadurch werden andere eingeschüchtert."
"Macht irgendwo Sinn." Er zuckte mit den Schultern. "Ich habe bisher nur ein einziges Mal Gewalt erlebt. Meine Frau und ich waren mit unserer damals zehnjährigen Tochter in der Stadt unterwegs, als wie aus dem Nichts jemand vor uns stand, meine Frau wegschubste und mir einen Schlag in den Bauch versetzte. Direkt danach hat er sich unsere Tochter gegriffen und wollte sie entführen. Mitten am hellichten Tag, und auf einer Straße voller Menschen! Zu unser aller Glück war ein Beamter von der Kripo ebenfalls mit seiner Frau unterwegs, und nur dank seines Eingreifens kamen wir alle mit dem Schrecken davon." Er atmete tief durch.
"Wir haben später erfahren, daß die Entführung nicht gezielt gegen unsere Tochter ging, sondern dass dieser Mensch einfach irgendein kleines Mädchen haben wollte. Was ich aber damit sagen will: Ich habe wirklich keine Ahnung von Karate und all dem anderen. Ich sehe nur Filme, in denen Menschen kunstvoll zusammengeschlagen werden, und ich höre von brutalen Überfällen. Kim hat mir heute morgen vollkommen gerechtfertigt Voreingenommenheit unterstellt. Deswegen das Verhör vorhin, Kat. Ich mußte sichergehen, daß ihr zwei nicht doch Schläger seid."
"Wenn sie das wären", wandte Frau Summers ruhig ein, "hätten sie niemals den schwarzen Gürtel bekommen. Nicht einmal den gelben, den allerersten."
"Kim erwähnte etwas in dieser Richtung. Das muß ich Ihnen glauben, weil ich Ihnen nicht das Gegenteil beweisen kann, aber darum geht es jetzt auch nicht. Ich habe wie gesagt mit dem Direktor gesprochen, und er ist einverstanden, die drei ab morgen in die 9b zu versetzen. Dort ist ein wesentlich angenehmeres Klima, und dort gibt es weder eine Jasmin noch einen Harry. Nur einen Spinner" - hier grinste er breit - "der immer so in Gedanken ist, daß er auf dem Schulhof mit Händen und Füßen redet, und das mit sich selber. Aber er ist harmlos. Deswegen hatte ich Sie drei hergebeten. Sind Sie damit einverstanden, daß Ihre Töchter die Klasse wechseln?"
"Wenn Sie sagen", meinte Frau Evertz, "daß es für die Mädchen vorteilhafter ist, sicher."
Herr und Frau Summers nickten. "Das denken wir auch. Das ist jetzt etwas, was wir Ihnen glauben müssen."
"Spitze angekommen." Herr Albers lächelte herzlich. "Und ihr drei? Auch einverstanden?"
"Gerne!" sagte Kat. Kim und Sabrina nickten zustimmend.
"Gut. Sabrina wechselt, weil sie es alleine in der 9d nicht mehr aushalten würde, Frau Evertz. Dafür hat die Klasse sie schon zu sehr mit Kim und Kat in Verbindung gebracht."
"Das ist mir aber auch recht so." Frau Evertz schauderte. "Wenn dieser - dieser Primitivling sich nun auf Sabrina anstatt auf Kim gestürzt hätte... Das Kind hätte sich doch gar nicht wehren können."
"Genau das ist unsere Sorge dabei, Frau Evertz. Bleibt Sabrina in der Klasse, wird sie es ausbaden müssen, obwohl sie gar nichts damit zu tun hatte. Wechselt sie jedoch, ist sie aus den Augen und damit aus dem Sinn. Prima! Dann werde ich gleich Bescheid geben, daß Sie alle einverstanden sind, und ab morgen geht es dann für euch in der 9b weiter. Die hat ihren Klassenraum zwei Zimmer vor diesem hier. In drei oder vier Fächern sind sie etwas weiter, aber das erfahrt ihr alles morgen früh. Und, Kim? Immer noch böse auf mich?"
"Natürlich." Kim sah ihn kühl an. "Ich hätte mich so gerne weiter mit allen geschlagen. Ich bin richtig böse auf Sie, weil ich jetzt meine Ruhe habe."
"Alles klar." Herr Albers lachte herzhaft. "Dann hätte ich nur noch eine Frage an euch zwei: Wenn ihr so fit in Selbstverteidigung seid, wie konnte es dann zu dieser einen Sache kommen? Das verstehe ich noch nicht so recht. Ihr wart ja immerhin zu zweit."
"Er hat uns überrascht", erklärte Kat gelassen. "Er wollte uns nach der Stunde noch etwas an der Tafel erklären, was wir nicht so ganz verstanden hatten, und plötzlich stand er hinter uns, hatte seine Arme um uns gelegt und wühlte unter unseren Röcken herum. Ich war einen Moment länger überrascht als Kim, deswegen hat sie ihn zuerst getroffen."
"Und wie?"
"Mit dem Ellbogen ins Gesicht", sagte Kim kaltschnäuzig. "Und nicht gerade schwach."
"Das stimmt", lächelte Kat. "Als ich zuschlug, war er schon nicht mehr da. Da saß er schon auf dem Boden und jammerte."
"Wenigstens habt ihr keinen Schock davongetragen", meinte Herr Albers erleichtert.
"Doch", widersprach Kim. "Wir haben zu Hause tierisch geheult und wollten es gleich vergessen, aber Mutter hat uns alles wieder und wieder erzählen lassen, bis es gut war."
 

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