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SH-065 – Kreuzungen

 

Kreuzungen .... (sh-065.zip) (M/f Magic Transformation) (851k)
Die Familie Tenhoff (Toni, 38, Vera, 38, Kerstin, 13, Birgit, 12) erzählt neue Nachbarn in Form einer irischen Familie namens McDonaghue (Ian, 49, Shannon, 15, Mandy, 13, Becky, 12). Schon am Tag des Umzugs freunden sich die jüngeren Mädchen miteinander an. Daraus entwickelt sich ein Netz aus Beziehungen, das das Leben aller Personen nachhaltig beeinflusst und er den Haufen wirft. Teil 1 erzählt von dem Kennenlernen, Teil 2 von der Entwicklung eines der Mädchen zur ausgebildeten Magierin. Teil 2 ist ohne Sex.

Copyright © 1999, Shana. ALL Rights Reserved

Date of first publication in Mr Double's Palisade :
Friday PM, September 17, 1999


Without the written permission of Mr Double and during 120 days after
the above mentioned date of first publication this story may be downloaded
uniquely for your private use. After the limit date mentioned, the story may be
freely distributed on condition that this notice remains attached, but not for profit,
and providing the usual precautions have been taken to prevent it being read by
unauthorized persons, especially under age children, or by people who might be
offended by its contents. Mr Double may be contacted by emailing mrdouble@mrdouble.com
or mrdouble@ix.netcom.com.


An Internacional/Palisade Author story from MrDouble's archive,
Filename: sh-065.txt
http://www.mrdouble.com




Kreuzungen




Anmerkungen
Allgemeine Informationen für alle meine Geschichten
* In Shanas Geschichten werden gelegentlich sexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen und Minderjährigen beschrieben oder erwähnt. Wenn diese Art Geschichten nicht Deinen Vorstellungen von einer erotischen Geschichte entsprechen oder Du selbst nicht volljährig bist oder diese Art Geschichten dort, wo Du lebst, nicht den lokalen Gesetzen entsprechen, lösche sie jetzt bitte sofort. Oder lies sie erst dann, wenn du volljährig bist oder sie in deinem Land legal wird.
* Geschichten in der Art von "Erwachsener Mann trifft minderjähriges Mädchen, und zehn Minuten später rammelten sie wie die Karnickel" finde ich persönlich sehr unwahrscheinlich und an den Haaren herbeigezogen, vor allem, wenn das Mädchen weit unter 16 Jahren alt ist. Daher versuche ich, in meinen Erzählungen mögliche Wege aufzuzeigen, wie eine Verbindung Mann - Mädchen zustande kommen kann. Wem dies zu langatmig ist, kann gerne auf andere Geschichten ausweichen. Zu einer guten Geschichte gehört für mich auch Logik. Ich möchte damit nicht behaupten, daß meine Geschichten gut sind, sondern nur eine Feststellung treffen.
* Die meisten meiner Geschichten sind reine Erfindung. Namen, Personen, Orte und Daten sind frei erfunden, jedoch geändert in den Fällen, in denen ein realer Vorfall die Basis für eine Geschichte bildet.
* Es wird ausdrücklich davor gewarnt, die Intimsphäre eines jungen, minderjährigen Menschen gegen seinen / ihren Willen zu verletzen! Nicht, weil es gegen das Gesetz ist, sondern weil es gegen den Willen des Menschen ist!!! Es entsteht kein gutes Karma, wenn Du dies tust, und du wirst früher oder später dafür bezahlen müssen.
* Für Handlungen, die aus dem Genuß dieser Geschichte entstehen, übernehme ich keinerlei Verantwortung. Ich habe schon genug damit zu tun, mein eigenes Leben in den Griff zu kriegen ;-).
* Falls diese Geschichte dem entspricht, was Du suchst: Viel Spaß beim Schmökern!



Begonnen: 13. Juli 1999
Beendet: 15. September 1999
Nr.: SH-065
 

 

 

Kapitel 1- 10

 

Einleitung



Ein Mensch des Jahres 1899 hätte ein Fernsehgerät als 'Gefängnis für Seelen' bezeichnet oder als Teufelswerk abgetan. Auch heute noch zerlegen Kinder ein Radio, um zu sehen, wo sich der Mensch, der da redet, versteckt. Elektrizität kann gemessen, jedoch nicht ohne Hilfsmittel gesehen werden. Bestimmte Völker erlauben keine Fotografien, weil sie befürchten, ihre Seele wird auf das Papier gebannt. Es gibt Theorien über Wurmlöcher im Weltraum, die die Aussage, daß die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten eine Gerade sei, widerlegen. Der Mensch sieht nur Farben von Rot bis Violett; was sich jenseits dieser beiden Farben, also ab Infrarot und Ultraviolett befindet, können wir nicht sehen, obwohl wir von der Schule her wissen, daß es dort noch Farben gibt. Wir können nur Frequenzen von 16 bis etwa 20.000 Hertz hören. Frequenzen unterhalb von 16 Hertz werden als subsonische Schwingungen bezeichnet, die Angst und Beklemmung auslösen. Daß es noch weitaus höhere Frequenzen als den hörbaren Bereich gibt, ist durch Funk und Fernsehen bekannt: Kilohertz, Megahertz.
Dinge und Geschehnisse, die zu einer bestimmten Zeit als völlig unglaubwürdig oder versponnen abgetan wurden, waren zu einer späteren Zeit völlig normal und anerkannt. Unsere bekannten Sinne nehmen nur einen kleinen Bruchteil von dem wahr, was um uns herum existiert. Vielleicht ist tief in den bisher unerforschten Regionen des Gehirns ein Sinn versteckt, der uns erlaubt, mit weitaus mehr Farben und Frequenzen umzugehen, als wir glauben. Und vielleicht schwingen andere, für uns unsichtbare Welten und Dimensionen auf einer so hohen Frequenz, daß wir nur gelegentlich ein Fragment davon "empfangen", so wie das hohe Pfeifen eines Fernsehers oder in einem ganz verrückten Traum. Vielleicht gibt es den einen oder anderen Menschen, der - aus welchen Gründen auch immer - schon die Antennen für diese hohen Frequenzen in sich trägt und für den Frequenzen im Giga- oder Terahertzbereich so deutlich und verständlich sind wie für uns eine Frequenz von 10.000 Hertz. Und vielleicht können diese Frequenzen Dinge in uns bewirken, die uns jetzt noch eine unangenehme Gänsehaut verursachen oder sogar Entsetzen und Grauen einflößen.
Wer weiß.










TEIL 1 - ANTON





Kapitel 1 - Donnerstag, 17.06. bis Samstag, 19.06.1999



Mein direkter Nachbar, ein Börsenmakler, hatte sich vor etwa vier Monaten gewaltig verspekuliert und in Folge sein großes Haus verloren. An diesem Donnerstag, dem ersten Tag der Sommerferien, zogen die neuen Besitzer ein. Meine Frau Vera mußte mich nicht erst darauf aufmerksam machen; mein Bürofenster zeigte genau auf den Eingang des Nachbarhauses, und ich hatte es selbst schon gesehen.
"Drei Mädchen", schmunzelte Vera, die hinter mir stand, ihre Arme locker um meinen Hals gelegt. Ich neigte meinen Kopf zur Seite, bis meine Wange auf ihrem Oberarm ruhte, und nickte leicht.
"Die beiden jüngeren scheinen im gleichen Alter wie Kerstin und Birgit zu sein."
"Sieht so aus. Ich frage mich nur, wo ihre Mutter ist."
Ich grinste breit. "Wenn der Typ schlau ist, hat er sie abgesägt."
"Und wenn du nur etwas schlau wärst", lächelte meine mir angetraute Ehefrau liebevoll, "würdest du wissen, wann solche Sprüche lebensgefährlich sind." Sie drückte mit ihren Unterarmen gegen meinen Kehlkopf, bis ich lachend aufgab. Vera gab mir einen flüchtigen Kuß, schüttelte feixend den Kopf und ging zurück an das Mittagessen, das sie in der Küche vorbereitete.
Vera und ich führten das, was man eine perfekte Ehe nennt. Wir liebten uns innig, sprachen über wirklich alles, selbst über unsere Gedanken, und waren im Lauf unserer 20 Ehejahre so zusammengewachsen, daß sich keiner von uns mehr ein Leben ohne den anderen vorstellen konnte. Vor 13 Jahren wurde unsere Tochter Kerstin geboren, ein Jahr später kam Birgit zur Welt. Nach diesen zwei Kindern machten wir Schluß, indem ich die Verantwortung dafür übernahm. Sowohl Vera als auch ich waren uns absolut sicher, daß wir zusammen blieben, so daß ich diese kleine Operation an mir durchführen ließ. Vera war überglücklich, endlich von der Pille wegzukommen, und ich war überglücklich, daß sich nach der Operation keine Veränderung in meinem Sexualleben einstellte. Da der Sex nun ohne jedes Risiko einer Schwangerschaft war, fühlten wir uns beide freier und sehr viel sicherer.
Wir hatten uns mit 16 kennengelernt, als Vera auf meine damalige Schule und in meine Klasse gekommen war. Sie kam in der großen Pause auf mich zu und fragte, ob ich ihr helfen könnte, den Einstieg zu finden, was ich nur zu gerne tat, da ich zu der Zeit keine Freundin hatte, und kurz darauf trafen wir uns täglich, mal bei mir, mal bei ihr. Unseren Eltern ging das, was zwischen uns an Gefühl ablief, viel zu schnell, doch Vera und ich machten keinen Unsinn, sondern schliefen erst miteinander, als wir beide 17 waren. Mit 18 heirateten wir, was unseren Eltern überhaupt nicht recht war, doch die folgenden Jahre zeigten, daß unsere Entscheidung richtig gewesen war. Wir waren füreinander bestimmt. Nach der Geburt von Kerstin sahen das auch unsere Eltern endlich ein, und sämtliche Vorwürfe der Vergangenheit verschwanden mit dem ersten Enkelkind. Heute, mit 38, waren wir noch immer so verliebt ineinander wie am ersten Tag.
Von unseren Eltern lebte heute nur noch Veras Mutter. Meine Eltern waren vor fünf Jahren im Urlaub gestorben, an Hitzschlag. Trotz der Warnung ihres Arztes wollten sie nach Hawaii, obwohl beide überhaupt keine Hitze vertrugen, und am sechsten Tag ihres Urlaubs fand man sie morgens tot im Bett. Kreislaufkollaps. Veras Vater war vor drei Jahren gestorben, vollkommen überraschend. Sein Herz hörte einfach auf zu schlagen, obwohl er kerngesund und sportlich aktiv war. Veras Mutter überschrieb uns ihr Haus, in dem wir nun wohnten, und kaufte sich eine Wohnung in der Innenstadt. Vera besuchte sie häufig.
Das Haus besaß drei Etagen. Neben den üblichen Kellerräumen wie Heizung und Waschkeller gab es auch noch einen Pool von 8 mal 4 Metern, der von uns vier ausgiebig benutzt wurde. Im Erdgeschoß befanden sich Wohn- und Eßzimmer, Küche und mein Büro sowie ein Gäste-WC, und oben waren die beiden Kinderzimmer, unser Schlafzimmer, ein Gästezimmer und ein großes Badezimmer mit Bad und Dusche. Hinter dem Haus, durch das Wohnzimmer zu erreichen, lag die Terrasse, die über die gesamte Breite des Hauses ging und mit normalen Steinplatten gepflastert war, dahinter kam ein Garten, dem Veras ganze Liebe gewidmet war. Es war nicht nur einfach eine Wiese mit Beeten an allen drei Rändern, sondern fast schon ein Irrgarten. Mächtige alte Bäume wechselten sich mit Büschen und Beeten ab; erst im hinteren Drittel war freier Rasen, auf dem wir vier öfter Federball spielten oder Ballspiele machten. Die Terrasse war an jedem Wochenende Treffpunkt zum Grillen. Der große Balkon darüber, der die beiden Kinderzimmer verband, sorgte bei Regen für mehr als ausreichenden Schutz. Ein Weg an der Seite des Hauses erlaubte den Zugang zum Garten, ohne das Haus zu betreten.
Nachdenklich schaute ich auf unsere vier neuen Nachbarn, überlegend, wann unsere Töchter wohl Freundschaft mit den beiden jüngeren Mädchen schließen würden; die älteste der drei schätzte ich auf 15 oder 16, so daß ich sie schon ausklammerte. Aber das konnte ich wohl getrost Vera überlassen. Wie ich meine Frau kannte, hatte sie garantiert schon Pläne für den Samstag gemacht, um sich mit den neuen Nachbarn anzufreunden. Lächelnd ging ich zurück an meine Arbeit.

* * *

Pünktlich zum Mittagessen kamen unsere Töchter Kerstin und Birgit von ihrer Radtour zurück. Beide Mädchen waren körperlich sehr aktiv und in Folge schlank. Aber die Basis dafür hatten sie von Vera bekommen. Die Chromosomen ihrer Mutter hatten sich nicht nur bei ihrem Geschlecht, sondern auch in ihrem Aussehen durchgesetzt. Beide Mädchen besaßen die lockigen braunen Haare ihrer Mutter, die sie wie sie bis tief in den Rücken trugen, und ihre grünblauen Augen. Auch die ovalen Gesichter, die vollen Lippen und die feinen Augenbrauen kamen von Vera. Von mir hatten die Mädchen nur das Einfühlungsvermögen geerbt. Wie Vera konnten beide beim geringsten Anlaß an die Decke gehen, aber wenn jemand wirklich Sorgen oder sogar Probleme hatte, schalteten die Mädchen um auf tiefes und ehrliches Mitgefühl.
Nun kamen die beiden hungrig an den Eßtisch gestürzt.
"Mahlzeit!" riefen sie, ließen sich auf ihre Stühle fallen und schauten verlangend zur Küche, die direkt am Eßzimmer lag und von diesem nur mittels einer großen Arbeitsplatte, unter der sich mehrere Schubladen und Schränke versteckten, getrennt war.
"Was gibt's heute?" fragte Birgit den Bruchteil einer Sekunde vor ihrer älteren Schwester.
"Schnitzel, Erbsen und Kartoffeln", rief Vera zurück.
"Und wann gibt's das?" fragte Kerstin grinsend.
"Jetzt!" Lachend kam Vera mit zwei Tellern an, die sie vor die Mädchen stellte. Kurz darauf kam sie mit zwei weiteren Tellern an, und wir aßen.
Wie sich herausstellte, hatten unsere Töchter noch gar nicht mitbekommen, daß wir neue Nachbarn hatten, doch als sie hörten, daß die beiden jüngeren Mädchen in ihrem Alter waren, leuchteten ihre Augen auf. Jugendliche gab es genug in der Nachbarschaft, sogar mehr als genug, aber genau das war das Problem von Kerstin und Birgit, denn das Alter der anderen Kinder in unserer Gegend lag um die 16, 17 herum. Zum Ende des Essens hin mußten Vera und ich die Mädchen beinahe festbinden, sonst wären sie nach nebenan gelaufen, mitten hinein in den Umzugsstreß, um sich vorzustellen. Und da zeigte sich, wie gut ich meine Vera kannte: sie hatte tatsächlich schon Pläne für eine Grillparty am Wochenende, extra für unsere neuen Nachbarn.
Nach dem Essen zogen die Mädchen sich Bikinis an und liefen in den Garten, um Ball zu spielen. Natürlich warfen sie dabei viele Blicke in den Nachbargarten, der nur durch einen flachen Jägerzaun von unserem getrennt war, aber er blieb leer. Enttäuscht stellten sie ihr Spiel nach einigen Minuten ein und kamen zu uns auf die Terrasse. Murrend ließen sie sich in die Liegestühle fallen.
"Geduld", schmunzelte Vera. "Sie müssen erst einmal alles auspacken und einsortieren. Ihr lernt sie noch früh genug kennen." Wie auf Kommando füllte sich der Garten neben uns mit Leben. Unsere Töchter fuhren wie elektrisiert auf, schnappten sich den Ball und liefen im Zickzack an Bäumen und Büschen vorbei in den hinteren Teil des Gartens. Vera grinste und zählte leise.
"Eins - Zwei - Drei -" Noch vor der Vier hörten wir fröhliche Hallos über den Gartenzaun fliegen.
"Soviel zum Thema Umzug", feixte ich. Vera nickte grinsend.
"Hoffentlich hat er seine Kinder besser im Griff als du deine."
"Tja", lachte ich. "Wenigstens kann ich die Schuld an den verwöhnten Gören noch auf ihre Mutter schieben."
"Das kannst du aber auch gut sein lassen." Vera schlug mir mit der flachen Hand auf den Bauch, doch da ich meine Frau kannte, prallte ihre Hand nur gegen angespannte Muskeln. In diesem Moment drang eine neue Stimme an unsere Ohren.
"Mandy, Becky, eure Kartons warten noch auf euch." Das mußte das älteste Mädchen sein. Die Stimme klang nicht sehr hell, sondern eher dunkel, mit nur einer Ahnung von Rauheit; ein ganz unterschwelliges Kratzen, wie ich es seit meiner Jugend, von meiner allerersten Jugendliebe, nicht mehr gehört hatte.
"Och, Shannon!" hörten wir eine helle Kinderstimme protestieren. "Wir -"
"Nun los!" lachte das ältere Mädchen namens Shannon. "Je eher wir alles eingeräumt haben, um so eher können wir faul im Garten liegen. Bis später, ihr zwei!"
"Ist gut!" - "Tschüs!" hörten wir unsere Töchter rufen, die Sekunden später aufgeregt zu uns gerannt kamen.
"Die sind total nett!" meinte Kerstin begeistert. Birgit strahlte uns an.
"Die kommen aus Irland! Shannon ist die älteste, Mandy die mittlere, Becky die jüngste. Becky ist 12, Mandy ist 13, Shannon ist fast 15."
"Es ist doch immer wieder erstaunlich, wie viele Informationen Kinder innerhalb kürzester Zeit austauschen können." Vera streckte ihre Arme aus, die Mädchen drückten sich an ihre Seiten. "Richtig aus Irland?"
"Ja!" Kerstin sah uns der Reihe nach an. "Sie wohnen aber wohl schon lange in Deutschland. Laden wir sie wirklich für Samstag ein?"
"So hat eure Mutter gesprochen", lächelte ich fein, "und so wird es dann auch sein."
"Toni, sitz!" Vera sah mich strafend an. "Behaupte jetzt nur nicht, daß du hier nichts zu sagen hast!"
"Keine Ahnung. Du redest immer so viel, daß ich nie zu Wort komme."
"Cool!" Lachend warf sich Kerstin in meinen Arm. "Gib's ihr, Papi! Noch einen!"
"Soll ich?"
"Ja!" Kerstins Augen glühten in Vorfreude. Vera und Birgit sahen uns erwartungsvoll an.
"Stimmt eigentlich nicht." Ich strich meiner Tochter zärtlich eine Strähne verschwitztes Haar aus der Stirn. "Daß sie soviel redet, meine ich. Eigentlich redet sie gar nicht, sondern sie plappert nur sinnloses Zeug vor sich hin, aber das durchgehend. Außerdem -" Der Ball der Kinder traf mich hart am Bein, und wir mußten alle laut lachen.
Die Kinder wußten, daß Vera und ich uns nie stritten. Wir diskutierten, und das auch manchmal heftig, aber es kam nie zum Streit. Deswegen konnten wir uns diese kleinen Sticheleien erlauben, bei denen Kerstin immer auf meiner und Birgit immer auf der Seite ihrer Mutter war. Das hatte sich im Lauf der Jahre irgendwie so ergeben, änderte aber nichts daran, daß sowohl Vera wie auch ich beide Mädchen gleich stark liebten, ohne Unterschied.
Birgit kuschelte sich bei ihrer Mutter ein, als das Lachen nachgelassen hatte, Kerstin schmiegte sich an mich.
"Wann fangen wir denn Samstag mit dem Grillen an?" wollte Birgit wissen. Vera sah zu mir und mußte grinsen, weil Kerstins Beine in Konflikt mit der Armlehne meines Liegestuhls kamen. Ächzend und schimpfend schaffte meine Tochter es schließlich; ihre Hüfte lag ziemlich unbequem auf der Armlehne, der Rest von ihr mit dem ganzen Gewicht auf mir. Vera hatte sich aber gut im Griff.
"Ich dachte, so gegen sechs", antwortete sie, ohne die Belustigung in ihrer Stimme hören zu lassen. "Das heißt, falls euer Vater es schafft, den Grill ohne größere Verletzungen aufzubauen."
"Das schaffe ich bestimmt, solange du keine Vorschläge parat hast, wie ich es noch besser machen kann." Ich zwinkerte meiner Frau zu. Kerstin kicherte ausgelassen.
"Beim letzten Mal", entgegnete Vera zuckersüß, "hat mein Vorschlag immerhin verhindert, daß das Haus in Flammen aufging." Nun kicherte Birgit fröhlich. Ich grunzte mißbilligend und gab mich geschlagen.
"Na los!" stachelte Kerstin mich an. "Nicht aufgeben!"
"Na gut", flüsterte ich, dann sah ich zu Vera. "Sagen wir mal so: wenn du mir tatsächlich Wasser gegeben hättest, würde ich dir jetzt recht geben, aber du hast mir die Flasche mit dem Benzin gegeben, um das Feuer zu löschen."
Vera schnitt eine Grimasse und streckte mir die Zunge heraus, aber sie war geschlagen. Kerstin klatschte Beifall, während wir wieder gemeinsam lachten. Die Kinder blieben noch ein paar Minuten bei uns, dann sprangen sie auf und tobten weiter im Garten herum. Vera und ich sahen ihnen lächelnd nach.
"Ich bin, ehrlich gesagt, froh", sagte Vera dann nachdenklich. "Daß beide noch Lust auf Schmusen haben."
"Ich weiß, was du meinst." Ich streckte meine Hand aus, Vera griff danach und hielt sie fest. "Das gibt uns das Gefühl, noch Eltern zu sein."
Vera nickte leicht. "Genau. Wir haben wirklich viel Glück mit den beiden." Ich drückte Veras Hand zur Bestätigung. Glück hatten wir tatsächlich mit den beiden Kindern. Die beiden waren tagtäglich kerngesund, nicht einmal die üblichen Kinderkrankheiten mußten sie erleiden, und selbst in den dicksten Grippewellen blieben sie unbeschadet. In der Schule kamen sie gut mit. Sie waren zwar nicht unter den ersten fünf, aber nur knapp dahinter. Sie hatten ein paar gemeinsame Hobbys, aber auch genügend unterschiedliche, um nicht andauernd aufeinander zu hocken.
Und sie hatten beide noch keinen Freund, was mir als Vater nur recht war.
Vera schmunzelte. "Nicht eifersüchtig werden!"
"Hast du wieder meine Gedanken gelesen?" grinste ich. Vera lachte leise.
"Natürlich nicht, aber wenn du über die Mädchen und ihre zukünftigen Freunde nachdenkst, drückst du immer meine Hand, als wolltest du sie zerquetschen."
"Tut mir leid." Ich entspannte meine Hand. Vera öffnete kurz ihre Finger, die ich unbewußt sehr stark gedrückt hatte, dann hielt sie mich wieder fest.
"Kerstin denkt noch nicht einmal darüber nach", sagte sie leise, obwohl keine Gefahr bestand, daß die Mädchen uns hören konnten. "Über einen Freund, meine ich."
"Das kann sie auch beibehalten, was mich angeht." Ich zwinkerte Vera zu. Zu meinem Erstaunen blieb Vera ernst.
"Du wirst es nicht vermeiden können, Toni. Wir können nur zusehen, daß sie das Vertrauen zu uns behalten und mit uns über ihre Sorgen und Probleme reden. Beide sind gründlich aufgeklärt, wie du weißt, aber das bedeutet nicht, daß sie sich nicht irgendwann verlieben werden."
"Schon klar", seufzte ich. "Machen wir Samstag Würstchen oder Fleisch?"
"Heißt das, du möchtest nicht mehr darüber reden?" grinste Vera. Ich zuckte mit den Schultern. Vera lächelte wissend.
"Fleisch", meinte sie dann. "Für acht Personen, plus die Beilagen und Getränke... Fährst du Samstag einkaufen?"
"Sicher. Bestellst du beim Metzger vor?"
"Wie immer." Vera drückte noch einmal meine Hand. "Wie geht es mit deiner Geschichte voran?"
"Gut. Sie wird am Sonntag fertig sein. Die nächste ist auch schon halb fertig."
Vera schüttelte lächelnd den Kopf. "Du bist einfach unglaublich! Wie lange machst du das jetzt? Elf Jahre? Und immer noch voller Ideen?"
"Klar!" grinste ich breit. "Wenn ich mal nicht weiß, worüber ich schreiben soll, muß ich nur dich ansehen, und schon geht es wieder. Dein bezauberndes Gesicht ist die beste Inspiration für mich."
"Toni?"
"Ja, meine liebste Vera?"
"Mach dein Testament." Mit der letzten Silbe kam alles angeflogen, was Vera erwischen konnte. Lachend verkrümelte ich mich ins Haus.

* * *

Um vier Uhr war Kaffeezeit. Im Sommer gab es natürlich Eis und kalte Getränke statt Kaffee und Kuchen. Den Mädchen war diese Entspannung sehr recht, vor allem während der Schulzeit, weil sie so den Schritt von den Hausaufgaben zur Freizeit machen konnten. Mir half es aber auch; knapp zehn Stunden am Tag vor dem Computer zu sitzen und Geschichten zu schreiben, schlauchte ganz schön, da war die Kaffeezeit eine willkommene Unterbrechung. Und für Vera war es die höchste Erfüllung, mit der gesamten Familie vereint zu sein.
"Wo ist Birgit?" fragte ich, als wir zu dritt im Wohnzimmer saßen.
"Sie bringt eben die Einladung nach nebenan." Vera verteilte das Eis, Kerstin stellte die Gläser auf, ich füllte sie. Da kam Birgit auch schon angewetzt, atemlos und aufgedreht.
"Sie kommen!" Freudestrahlend ließ sie sich auf die Couch fallen. "Becky und Mandy kommen gleich rüber, zum Spielen."
"Cool!" freute sich Kerstin. "Shannon auch?"
Birgit schüttelte den Kopf. "Nein, die will noch einräumen. Scheint genauso ein Hausmütterchen zu sein wie unsere -"
"Birgit!" drohte Vera lachend und mit erhobenem Zeigefinger. Unsere jüngste Tochter schenkte ihr ein strahlendes Lächeln, dann kicherte sie fröhlich.
"Wie Oma Sonja, wollte ich sagen."
"Natürlich." Schmunzelnd stellte Vera das Eis vor Birgit hin. "Was mich an euch beiden wirklich fertigmacht, ist euer andauerndes Seitenwechseln. Es gibt wohl keine echten Verbündeten mehr."
"Doch!" protestierte Kerstin laut. "Du kannst dich immer drauf verlassen, daß ich gegen dich bin!"
"Das weiß ich doch, Kerstin", lächelte Vera und setzte sich. "Darf ich dich daran bei dem nächsten Taschengeld erinnern?"
"Klar!" strahlte Kerstin. "Das krieg ich ja sowieso von Papa!"
"Aber Papa kriegt seins von Mama!" Birgit rollte sich vor Lachen auf dem Sofa ein. "Und wenn er nicht lieb ist, gibt's nichts!"
"Dann schreibe ich eben ganz schnell eine Geschichte über dich und verkaufe sie", grinste ich unsere Jüngste an. Birgit streckte mir die Zunge heraus, bevor sie sich grinsend um ihr Eis kümmerte. Vera, Kerstin und ich lächelten uns an, bevor auch wir an unser Eis gingen.
Zweiundzwanzig Jahre Glück, dachte ich bewegt, während ich mir meine Familie ansah. Zuerst mit Vera, dann noch zusätzlich die Töchter. Kein einziger Tag bisher, an dem es mal richtig gekracht hatte. Es gab manchmal Differenzen, aber die wurden so schnell wie möglich beseitigt, in aller Interesse.
Und vielleicht war genau das ein berechtigter Grund für das Schicksal, mal bei uns vorbeizuschauen und kräftig an ein paar Fäden zu ziehen...

* * *

Um halb sechs gab ich auf und ging auf die Terrasse. Vera sah mich zuerst überrascht an, dann verzog sich ihr Gesicht mitfühlend.
"So schlimm?"
Ich nickte mit einem schiefen Lächeln. "Unsere beiden kann ich ausfiltern, aber vier..."
Vera seufzte leise. Wir sahen über die Büsche und Beete zu den vier Mädchen, die ausgelassen und laut lachend Federball spielten. Sie betrieben es nicht sportlich, sondern fröhlich, deswegen war es auch relativ laut. Doch die Freude, die in den Gesichtern unserer Töchter stand, vertrieb meine leichte Verstimmung sofort.
"Jetzt haben sie wenigstens Freundinnen", lächelte ich. "Wer ist wer?"
"Becky ist die mit dem blauen Bikini", erwiderte Vera. "Mandy die andere."
"Aha." Ich musterte die beiden Nachbarmädchen. Becky und Mandy waren so groß wie Birgit und Kerstin, mit einem kleinen Vorsprung bei den jeweils älteren Mädchen. Doch wo unsere Töchter schlank waren, konnten die beiden Nachbarinnen nur als dünn bezeichnet werden. Oder knochig. Schultern, Ellbogen, Rippen, Hüftgelenke, Knie, alles stand deutlich hervor. Arme und Beine bestanden nur aus Haut und Knochen. Dennoch wirkten die beiden gesund und athletisch. Ihre Bewegungen, wenn sie den Federball zurückschlugen, waren flüssig, präzise und effektiv.
Becky, die Birgit gegenüber stand, trug ihre kupferroten, leicht gelockten und etwas ungebändigten Haare bis zur Mitte des Rückens, Mandys rostrote Haare waren sogar noch länger, aber sie fielen glatt wie ein Wasserfall. Die Farbe der Augen konnte ich nicht erkennen, aber ich hätte gewettet, daß sie zu einem großen Teil, wenn nicht sogar vollständig grün waren.
"Soll ich ihnen sagen, daß sie etwas leiser sein sollen?" drang Veras Stimme in meine Gedanken.
"Nein", erwiderte ich sofort. "Laß sie spielen. Dann haben die beiden zumindest einen kleinen Trost."
Vera lächelte schief. "Es ist wirklich ein Jammer, daß du selbst in den Sommerferien so viel arbeiten mußt. Wieso eigentlich?"
"Schon wieder vergessen?" stichelte ich. "Dieser neue Charakter, den ich entworfen habe, soll eine komplett neue Serie einleiten. Deswegen. Die Hälfte des Tages schreibe ich an den alten Geschichten, die andere Hälfte an den neuen." Ich setzte mich zu Vera, die etwas zur Seite rutschte, um mir Platz zu machen.
"Herbst und Winter", versprach ich. "Dann werden wir in Urlaub fahren. Bis zum Herbst sind die anderen Autoren so weit, die alten Geschichten alleine weiterzuführen."
"Schon gut", lächelte Vera verliebt. "Du weißt, daß ich glücklich bin, wenn wir vier zusammen sind, egal wo. Und was die Mädchen angeht... Ich denke, du hast recht. Ihre neuen Freundinnen werden ein großer Trost sein. Falls sie nicht auch in Urlaub fahren."
Bevor ich etwas sagen konnte, standen alle vier Mädchen vor uns. Becky und Mandy begrüßten mich höflich, überlagert von Kerstins Frage, ob sie schwimmen gehen könnten. Sekunden später waren sie im Wohnzimmer und liefen die Treppe zum Keller hinunter.
"Gewonnen", schmunzelte ich.
"Was meinst du?"
"Ich habe mit mir gewettet, daß die Augen der beiden grün sind."
"Kein Wunder bei roten Haaren", lachte Vera. "Aber du solltest Shannon mal sehen. Sie war vorhin kurz hier und hat sich bedankt, daß ihre Schwestern hier sein dürfen." Vera richtete sich auf.
"Toni, das Mädchen ist eine richtige Schönheit! So etwas von selbstsicher habe ich bei einem Kind ihres Alters noch nie erlebt. Dabei freundlich und umgänglich, überhaupt nicht arrogant. Und sehr reif für ihr Alter." Der Unterton in Veras Stimme war mir nicht entgangen.
"Wovor hast du Angst, Liebes?" fragte ich leise. Vera verzog das Gesicht.
"Ich weiß es nicht", antwortete sie langsam. "Wirklich nicht, Toni. Ich könnte sagen, daß sie trotz ihrer Jugend eine große Wirkung auf Männer hat. Daß sie eine Gefahr für jedes Ehepaar ist. Daß sie nur mit den Fingern schnipsen muß, um jeden Mann zu bekommen, den sie möchte. Wenn sie das möchte." Sie griff nach meiner Hand.
"All das könnte ich sagen, weil es wahr ist, und gleichzeitig wäre es Unsinn, weil sie überhaupt nicht den Eindruck einer männermordenden Lolita macht. Ich weiß es wirklich nicht."
"Schon gut, Liebes. Du weißt ja selbst, wie oft ich dir während unserer Ehe untreu war."
"Ich weiß." Vera kuschelte sich an mich. "Genau so oft, wie ich dich betrogen habe."
Wir küßten uns kurz, dann sagte ich ernst: "Ich kann dir versprechen, daß es bei Null bleiben wird, Liebes. Ich liebe dich, Vera. Ich bin mit dir und den Kindern glücklich. Außerdem ist 15 nicht meine bevorzugte Altersgruppe."
"16 denn?" schmunzelte Vera beruhigt.
"Nein", flüsterte ich, während ich sie an mich drückte. "Genau dein Alter, Liebes."

* * *

Samstag morgen fuhren die Mädchen und ich einkaufen. Birgit und ich machten den Supermarkt unsicher, in der Zeit stellte Kerstin sich beim Metzger an, um das von Vera bestellte Fleisch abzuholen. Knapp eine Stunde später waren wir zurück.
Nach dem Mittagessen schrieb ich noch etwas, dann half Kerstin mir, den Grill aufzubauen, was tatsächlich ohne Verletzungen klappte. Um halb sechs zündete Birgit ganz stolz die Holzkohle an, und um sechs, pünktlich mit dem Erscheinen unserer vier Gäste, war alles einsatzbereit. Der Tisch war gedeckt, Soßen, Gewürze und Getränke standen bereit. Kerstin und Birgit hatten sich angeboten, abwechselnd das Grillen durchzuführen, so daß immer eine von ihnen in Ruhe essen konnte.
Vera und ich begrüßten unsere Gäste an der Tür. Der Vater der Mädchen, Ian McDonaghue, war ein gutes Stück älter als ich; ich schätzte ihn auf Ende Vierzig. Ganz offensichtlich hatten die Mädchen ihre dürre Statur von ihm geerbt, den Rest von ihrer Mutter. McDonaghue nannte pechschwarze Haare und braune Augen sein eigen. Dann fiel mein Blick auf Shannon.
Vera hatte recht gehabt, das Mädchen war eine Schönheit. Ein perfekt proportionierter Körper mit teils noch jugendlichen, teils schon fraulichen Elementen, ein ganz gleichmäßiges Gesicht, umrahmt von sehr langen schwarzen Haaren, mit braunen Augen wie der Vater, vollen Lippen und einer süßen Nase. Sie war um die 1,75 groß, wie Vera.
"Sehr erfreut, Sie kennenzulernen", begrüßte sie mich freundlich, fast schon herzlich. Ich erwiderte ihren kräftigen Händedruck lächelnd.
"Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite. Wie soll ich Sie anreden?"
"Mit Du und Shannon", lachte sie. "Ich bin ja noch nicht mal 15!"
"Sehr gerne." Ich sah ihren Vater an. "Darf ich Sie gleich auf die Terrasse bitten? Ich hoffe, Sie haben genügend Hunger mitgebracht."
"Vielen Dank, das haben wir. Geht vor, Kinder."
Die drei Mädchen folgten Vera, ich ging mit ihrem Vater hinterher.
"Sie können mich auch beim Vornamen nennen und duzen, wenn Sie nichts dagegen haben", sagte er beiläufig. "Ich heiße Ian. Unnötige Formalitäten sind mir ein Greuel."
"Gerne. Ich bin Anton, genannt Toni."
"Wie der Fußballer Turek?"
"Genau!" erwiderte ich überrascht. "Kennst du ihn?"
"Nur dem Namen nach, persönlich bin ich ihm nie begegnet." Er lächelte fein.
"Wie ich", entgegnete ich. Wir waren inzwischen auf der Terrasse angelangt. "Nimm Platz."
"Vielen Dank."
Der Abend war schön. Richtig schön. Wir unterhielten uns angeregt, wobei ich feststellte, daß Ian seine Kinder so behandelte wie wir unsere. Er ließ sie reden, unterbrach sie nicht, und gewährte ihnen das Recht auf ihre eigene Meinung, auch wenn sie seiner eigenen zuwider lief. Ian und Vera wechselten ebenfalls schnell zum Du, doch ich spürte eine leichte Reserviertheit bei Ian, was Vera anging. Ich rechnete mir aus, daß das vielleicht noch Folgen der Trennung von seiner Frau wären. Er und seine drei Töchter redeten überhaupt nicht von ihr. Vera schien das gleiche zu denken wie ich; sie stellte ihm keinerlei Fragen in dieser Richtung.
Nach dem mehr als ausreichenden und sehr leckeren Essen zogen sich die vier jüngeren Mädchen in Kerstins Zimmer zurück, Shannon blieb bei ihrem Vater und uns.
"Was machen Sie eigentlich beruflich, Toni?" fragte Shannon mich. Vera grinste unwillkürlich, weil sie die Reaktion unserer Gäste auf meine Antwort schon im Vorfeld wußte. Wir hatten es oft genug erlebt.
"Ich schreibe Gruselromane", erwiderte ich trocken. "Diese Groschenhefte, wie sie genannt werden."
"Ehrlich?" Shannons Augen leuchteten auf, was eine eher ungewöhnliche Reaktion war.
"Warum sollte ich lügen?" grinste ich. "Ganz ehrlich, Shannon." Ihr Vater hingegen zeigte die gewohnte Reaktion.
"Gruselromane?" fragte er überrascht. "Diese Heftchen, die es an jedem Kiosk gibt?"
"Ja!" erwiderte ich fröhlich. "Irgend jemand muß sie doch schreiben."
Shannon lachte leise. "Haben Sie in Ihrem Keller auch einen Raum, in dem Sie schwarze Messen zelebrieren?" fragte sie amüsiert.
"Nein", antwortete ich lächelnd. "Nur eine Folterkammer, die unter Wasser steht."
Ihr Vater schüttelte den Kopf. "Gruselromane! Wie bist du dazu gekommen, wenn ich fragen darf?"
"Nun ja", grinste ich breit. "Bei einer Frau und zwei Töchtern war das nur eine logische Entwicklung." Vera und Shannon lachten herzhaft, Ian hatte mit der Antwort sichtlich zu kämpfen.
"Ian", sagte ich lächelnd. "Es ist ein Beruf wie jeder andere auch. Ich bin es gewohnt, daß die sogenannten kultivierten Menschen auf mich herabsehen, aber du kannst mir glauben, daß es ein Beruf ist, der mir viel Freude macht."
"Nein!" erwiderte er hastig. "Das wollte ich damit nicht sagen. Absolut nicht. Es ist nur - Ich finde es merkwürdig, daß sich jemand dieses Genre als Betätigungsfeld aussucht."
"Warum nicht?" sprang Vera ein. "Toni hat schon in der Kindheit Schauergeschichten geschrieben. Es macht ihm Spaß, und nebenbei gesagt, verdient er auch nicht schlecht daran."
"Das bezweifle ich nicht." Er atmete tief ein. "Toni, dieses Thema - also Geister und so weiter - ist in Irland wesentlich verbreiteter als in Deutschland. Ich lebe jetzt seit zehn Jahren hier, aber du bist der erste Mensch, den ich treffe - der allererste! - der sich damit beschäftigt. Deswegen noch einmal die Frage, wie du dazu gekommen bist."
"Aus tiefem Interesse", antwortete ich ehrlich. "Ian, wie Vera sagte, habe ich schon mit neun oder zehn Jahren Gruselgeschichten geschrieben. Ich kann dir kein Papier zeigen, wo meine Eignung dafür draufsteht, aber die gesamte Thematik des Übersinnlichen fasziniert mich regelrecht. Vor allem die Gestaltwandler." Ich sah kurz zu Vera, die schnell nickte.
"Im Moment", redete ich weiter, "schreibe ich noch die Groschenromane. Ich habe vor gut sechs Monaten einen neuen Charakter eingeführt, der in der Leserschaft sehr gut angekommen ist. Dieser Charakter soll die Basis für eine ganz neue Serie werden, die sich wesentlich ernsthafter mit dem Thema Geister, Gespenster und Magie auseinandersetzt. Und auch viel tiefgreifender. Es ist geschäftlich ein Risiko, weil die ganzen Elemente der Schundliteratur, um sie mal so zu nennen, fehlen werden, aber die Reaktion auf diesen Charakter ist eben so, daß mein Verleger und ich es riskieren wollen."
"Zusätzlich", ergänzte Vera, "will Toni diesen Charakter als Taschenbuch herausbringen. Er hat genügend Ideen für seine normalen Hefte, aber wenn die Rede auf diesen Charakter kommt, dann schäumt er nur so über."
"Was ist das denn für ein Charakter?" fragte Shannon interessiert.
"Das darf ich leider nicht sagen, Shannon", erwiderte ich bedauernd. "Noch nicht. In sechs Wochen erscheint das erste Heft mit ihm, dann können wir gerne darüber reden." Ich bemerkte ihren enttäuschten Blick.
"Es ist nicht böse gemeint, Shannon", tröstete ich sie. "Es ist nur so, daß manche Verlage sich darauf spezialisiert haben, Ideen zu klauen. Wenn bekannt wird, was ich vorhabe, kann es passieren, daß ein anderer Verlag mir zuvorkommt. Und das wäre das Ende von all meinen Ideen."
"Verstehe", lächelte Shannon. "Trauen Sie mir zu, daß ich so etwas machen würde?"
"Nein, aber wenn es um Ideen und Marktanteile geht, vertraue ich außer meiner Frau niemandem. Selbst Kerstin und Birgit wissen noch nichts davon."
"Wie bei uns", fiel Ian ein. "Shannon, wir beide reden auch über manche Dinge, die ich im Unternehmen vorhabe. Aber eben nur wir beide. Niemand anderer. Erst wenn alles geklärt und bekanntgegeben ist, erfahren Mandy und Becky davon." Shannon nickte beruhigt.
"Was machst du denn beruflich?" fragte Vera.
"Ich arbeite bei einem japanischen Unternehmen in der Entwicklungsabteilung für Unterhaltungselektronik. Vom Prinzip her ist es wie bei Toni: wenn jemand eine unserer Ideen klauen würde, ständen wir ganz schön im Regen."
"Nur daß es bei euch um viel mehr Geld geht", wandte ich ein. Ian nickte.
"Ja, aber im Prinzip ist es das gleiche. Deine wie meine Existenz steht dabei auf dem Spiel. Das Geld ist nur mehr, weil der Kundenkreis größer und die Ware teurer ist, aber ansonsten gibt es keinen Unterschied."
"Siehst du", lächelte ich Shannon an. "Aber ich verspreche dir, daß du das erste Heft bekommst. Ich erhalte die ersten zehn, die gedruckt wurden, noch bevor sie im Handel erscheinen, und eines davon schenke ich dir."
"Cool!" freute Shannon sich. "Danke!"
"Macht Toni ja nur", grinste Vera, "damit du dir die nachfolgenden Hefte und Bücher auch kaufen sollst. Ian, du sagtest, daß Geister in Irland wesentlich häufiger anzutreffen sind?"
"Richtig. Nur nennen wir sie nicht Geister, sondern Feen und Kobolde. Viele Dinge, die hier in Deutschland als unerklärlich abgetan werden, schreiben wir diesen Gestalten zu. Eure Märchen behandeln diese Gestalten ebenfalls, aber unsere sind weniger Märchen als überlieferte Erzählungen, die irgendwann einmal tatsächlich in dieser oder einer anderen Form stattgefunden haben."
"Lassen wir die Männer fachsimpeln", schmunzelte Vera. "Shannon, möchtest du unser Haus sehen?"
"Ich würde lieber zuhören", erwiderte Shannon ruhig und selbstsicher. "Mich fasziniert dieses Thema ebenfalls. Mir ist da nämlich mal was ganz Komisches passiert." Ihre Stimme wurde leise. "Als ich vier Jahre alt war, also kurz bevor wir nach Deutschland gezogen sind, bin ich beim Spielen in einen kleinen Fluß gefallen. Ich war ganz alleine und bin beinahe ertrunken. Als ich wieder zu mir kam, lag ich am Ufer." Shannon sah mich an. "Das war ein Ufer mit Sand, Toni. Ich lag klatschnaß im Sand, etwa zwei Meter weit weg von dem Fluß, aber es waren keine Fußspuren zu sehen. Der Sand zwischen mir und dem Fluß war völlig unberührt. Entweder bin ich ans Ufer geflogen oder..." Ihre Stimme verlor sich.
"Oder jemand oder etwas hat dich an Land gebracht", vervollständigte ich ihren Satz. Sie nickte leise.
"Ja. Ein Jemand. Ich weiß noch, daß ich voller Panik im Wasser lag und den Himmel über mir gesehen habe, durch das ganze Wasser hindurch, und daß eine ganz helle Gestalt auf mich zugeschossen kam. Aus dem Nichts heraus. Im nächsten Moment lag ich am Ufer und war lebendig." Sie zuckte mit den Schultern. "Ich hab das bisher nur Daddy erzählt, sonst niemandem."
"Ist auch gut so", lächelte Vera. "Viele würden dich für verrückt halten."
Shannon überging diese Bemerkung und sah mich an. "Glauben Sie mir das?"
"Das tue ich, Shannon. Mir ist nämlich etwas Ähnliches passiert." Ich spürte Veras erstaunten Blick. Shannon beugte sich neugierig vor.
"Ich war elf", sagte ich nachdenklich. "Ich bin auf einen Baum geklettert. Auf einen richtig großen und dicken. Ich war schon fast in der Spitze, etwa fünfzehn Meter über dem Boden, als ein Ast brach und ich abstürzte."
"Toni!" rief Vera erschrocken aus. "Das hast du mir nie erzählt!"
"Ich weiß, Liebes. Warum, wirst du dir sofort denken können." Ich sah wieder zu Shannon, die mich gebannt anblickte. "Ich bin von einem Ast zum nächsten gefallen, hab mir alles mögliche aufgerissen, Kleidung, Gesicht und Haut, doch kurz bevor ich auf dem Boden zerschmettert worden wäre, spürte ich plötzlich zwei starke und dennoch sanfte Hände, die mich auffingen und vorsichtig auf den Boden legten. Dann war ich wieder alleine. Das könnte man alles noch mit Einbildung und Glück und Zufall und Moos und Bremswirkung der Äste erklären, aber nicht, daß meine ganzen Kratzer und Wunden weg waren. Auch meine Kleidung war vollkommen in Ordnung."
"Wie bei mir!" lachte Shannon. "Toni, bei mir war das auch so! Ich hab auch ganz starke Hände gespürt, die mich aus dem Wasser gezogen haben! Stark, aber trotzdem ganz, ganz sanft und zärtlich! Hast du auch das Licht gesehen?" Daß sie mich plötzlich duzte, bekam ich gar nicht richtig mit.
"Das habe ich, Shannon", flüsterte ich bewegt. "Ein ganz sanftes Licht, in dem alles doppelt so scharf und klar zu sehen war wie vorher."
"Genau! Und irgendwie war die Zeit vollkommen aus der Zeit!"
"Ja, alles lief wesentlich langsamer ab, so als wäre die Zeit nur etwas für normale Menschen, aber nicht mehr für mich."
"Genau so!" Das Mädchen sah mich überwältigt an.
"Das ist das, was ich meinte", lächelte Ian. "Für uns in Irland ist so etwas fast schon normal und alltäglich. Hier jedoch... Wenn Shannon das in ihrer Schule erzählen würde, hätte sie schon eine bestätigte Reservierung für die nächste Klapsmühle."
"Garantiert." Vera schüttelte ihren Kopf. "Ist dir das wirklich passiert, Toni?"
"Ja, Liebes. Genauso, wie ich es erzählt habe. Und ich bin absolut sicher, daß sowohl bei Shannon als auch bei mir ein Schutzengel am Werk war."
"Ich auch!" strahlte Shannon. "Mein Schutzengel ist mit nach Deutschland gezogen, das weiß ich ganz genau!"
"Jetzt wird's mystisch", schmunzelte Vera. "Ian, dein Glas ist leer. Möchtest du -" Ein melodisches Pfeifen unterbrach sie. Ian seufzte laut.
"Entschuldigt bitte." Er zog ein Handy aus der Hosentasche und meldete sich, während er aufstand und ein paar Schritte zur Seite ging. Shannon verzog das Gesicht.
"Gleich ist er wieder weg", murmelte sie traurig. "Ist doch jedes Wochenende das gleiche!"
Noch bevor Vera oder ich etwas sagen konnten, kam Ian zu uns.
"Ich muß in die Firma", sagte er bedauernd. "Ein Versuch ist schiefgegangen, und am Montag werden konkrete Ergebnisse erwartet. Shannon, sammelst du deine Schwestern ein und gehst mit ihnen rüber?"
"Die Kinder können ruhig hierbleiben", sagte Vera schnell. "Sie stören uns nicht."
"Das ist sehr freundlich." Ian wirkte nun ziemlich nervös. "Von dem Versuch hängt sehr viel ab", entschuldigte er sich ein weiteres Mal. "Es tut mir leid, daß der schöne Abend so abrupt enden muß."
"Wann kommst du zurück?" fragte Shannon enttäuscht.
"So schnell ich kann. Shannon, such dir einen Abend aus, an dem wir uns für die Einladung revanchieren können. Ich muß los. Vera, Toni, danke für den netten Abend. Bis später." Er lief über die Terrasse und die Treppe am Haus hoch. Shannon seufzte laut.
"Kerstin und Birgit wissen gar nicht, wie gut sie es haben!"
"Kommt so etwas häufig vor?" fragte Vera behutsam.
"Jedes Wochenende. Ohne Übertreibung. Manchmal kommt er auch gar nicht nach Hause, sondern schickt nur ein Taxi vorbei, das ihm Rasierer und frische Wäsche holt." Shannon zuckte mit den Schultern, dann unterdrückte sie ihre Enttäuschung. "Das Fleisch war sehr lecker, Vera. Wie machen Sie das?"
"Ich nehme normales Rinderfilet und bestreiche es vor dem Grillen mit einer sehr milden Pfeffersoße. Möchtest du das Rezept haben?"
"Gerne!" freute Shannon sich. "Dafür bekommen Sie eins aus Irland, für einen leckeren Fleischeintopf."
"Ich schaue mal eben nach den Kindern", meinte ich, als die beiden anfingen, sich über Küche und Kochen zu unterhalten.
"Wir wollten dich nicht verjagen!" sagte Shannon erschrocken. Ich zwinkerte ihr zu.
"Das tut ihr auch nicht. Ich flüchte freiwillig."



Im Pool war die volle Action. Kerstin und Mandy lieferten sich ein knallhartes Wettschwimmen in der einen Hälfte des Beckens, Birgit und Becky spielten Wasserball in der anderen Hälfte. Im Moment stand Birgit vor der kleinen Leiter, und Becky mußte offenbar versuchen, die Leiter mit dem Ball zu treffen, was ihr mit einem sehr harten Wurf auch gelang.
"18 zu 17", sagte Birgit angespannt. Die beiden Mädchen tauschten schnell die Plätze. Birgit wartete, bis Becky nickte, dann täuschte sie mehrmals an und warf ebenso hart wie vorher Becky. Der Ball knallte gegen die Leiter.
"18 zu 18." Becky strich sich die Haare aus der Stirn. "Du bist richtig gut!"
"Du auch!" Birgit atmete tief durch. "Weiter?"
"Macht das noch Sinn?" grinste Becky. "Ich meine, mehr als einen Punkt waren wir noch nicht auseinander."
"Das macht Sinn!" Birgit legte ihren besten grimmigen Blick auf. "Kampf bis zum Ende!"
Becky lachte fröhlich und ließ Birgit wieder vor die Leiter. Meine jüngste entdeckte mich, winkte mir kurz zu und konzentrierte sich dann wieder auf Becky.
Kerstin und Mandy lieferten sich ein spannendes Rennen, Kopf an Kopf über mehrere Bahnen; die beiden waren wohl ebenfalls gleich stark. Wer zuerst anschlug, konnte ich beim besten Willen nicht unterscheiden, die Mädchen allerdings auch nicht. Mandy stieß laut den Atem aus, während Kerstin schlapp an der Mauer hing.
"Höchstens ein Hundertstel Unterschied", meinte Mandy atemlos. "Höchstens!" Kerstin nickte matt.
"Und das bei zwanzig Bahnen. Nicht schlecht."
"Du auch nicht." Mandy drehte sich um und ließ sich auf dem Rücken treiben. "Hallo, Herr Tenhoff!"
"Hallo, Mandy! Ausgetobt?"
"Ja!" Sie nickte mit geschlossenen Augen, Kerstin winkte mir müde zu.
"Draußen sind noch jede Menge kalte Getränke", bot ich den Mädchen an.
"Wir kommen gleich", erwiderte Kerstin. "Erst mal Luft schnappen."
"Genau." Mandy holte tief Luft. In diesem Moment stöhnte Becky laut auf.
"Mist! Verfehlt! Du hast gewonnen!"
"Nein", rief Birgit sofort. "Ich hab den gehalten, aber er hat die Leiter noch berührt. 21 zu 20 für mich."
"Bist du immer so fair?" fragte Becky erstaunt.
Birgit lachte hell. "Nur wenn mein Papa zuguckt!" Sie tauschte mit Becky wieder den Platz, täuschte an und warf. Der Ball knallte gegen die Leiter. Becky nickte anerkennend.
"Das war's. 22 zu 20 für dich. War spannend!"
"Hab Glück gehabt." Birgit schwamm neben Becky und hielt sich wie sie an der Leiter fest. "Vorhin, bei 15 zu 15, da hättest du mich beinahe gehabt."
"War trotzdem spannend. Ich geh mich abtrocknen."
"Du kannst dich doch auch draußen trocknen lassen, ist doch so warm."
"Oder so." Mühsam kletterte Becky aus dem Becken heraus, Birgit folgte ihr. Auch Kerstin und Mandy machten sich auf den Weg nach draußen. Ich ließ die Mädchen durch den Kellereingang vom Garten hinaus, schloß hinter ihnen ab und ging dann nach oben und durch das Wohnzimmer wieder hinaus. Offenbar hatte Shannon schon erzählt, daß ihr Vater weg mußte, denn Mandy und Becky schauten bedrückt drein. Aber Vera ließ gar nicht erst zu, daß die Mädchen traurig wurden.
"Was haltet ihr von einem schönen Gesellschaftsspiel?" fragte sie in die Runde. Sofort erhellten sich die Gesichter der drei Mädchen. "Mit drei Gruppen zu zwei Leuten und einem Spielleiter oder Bankhalter?"
"Cool!" Kerstin strahlte uns an. "Wer mit wem?"
"Das losen wir aus. Was sollen wir spielen?"
Der Klassiker Monopoly wurde gewählt. Vera und ich räumten schnell den Tisch ab, während unsere Töchter den Grill beiseite stellten und das restliche Fleisch in den Kühlschrank packten, dann wurde gelost. Birgit und Becky kamen in eine Gruppe, was beide Mädchen strahlen ließ, Shannon kam zu Kerstin, und Mandy zu mir. Vera übernahm die Bank; nach der ersten Runde sollten dann die Gruppen neu bestimmt werden.
Wir spielten bis elf Uhr, dann wurden die vier jüngeren Mädchen müde. Shannon rief von uns aus kurz ihren Vater an, der ihr sagte, daß er die Nacht über in der Firma bleiben würde; daraufhin entschied Vera kurzerhand, daß die drei Mädchen bei uns schlafen sollten. Shannon widersprach zwar halbherzig und wies darauf hin, daß sie nicht das erste Mal alleine wären, aber Vera setzte sich durch. Becky schlief bei Birgit im Bett, Shannon und Mandy kamen ins Gästezimmer. Shannon lief schnell nach Hause und holte das Nachtzeug für sich und ihre Schwestern. Nachdem die vier jüngeren Mädchen im Bett waren, kam Shannon noch einmal zu uns ins Wohnzimmer. Sie trug schon ihr Nachthemd, ein langes T-Shirt.
"Stören wir euch wirklich nicht?" fragte sie besorgt. Vera und sie duzten sich inzwischen auch, was allein an Shannons reifer und selbstsicherer Art lag. Es war so gut wie unmöglich, sie als junges Mädchen anzusehen.
"Nein, Shannon", sagten Vera und ich gleichzeitig. Vera übernahm nach kurzem Blickwechsel. "Ihr stört absolut nicht. Ich würde viel unruhiger schlafen, wenn ihr drei alleine zu Hause wärt."
"Na gut", lächelte Shannon. "Dann gute Nacht allerseits, und vielen Dank für den wunderschönen Abend."
"Es war uns ein Vergnügen", erwiderte Vera. "Schlaf schön, Shannon."
"Ihr auch." Sie winkte uns kurz zu, dann lief sie leichtfüßig zur Treppe und in den ersten Stock. Vera lehnte sich an mich.
"Immer noch Angst?" fragte ich leise. Vera zuckte mit den Schultern.
"Etwas. Ich bin unvernünftig, oder?"
"Ich glaube nicht, Vera. Shannon ist zwar sehr hübsch, aber weit außerhalb meiner Altersklasse." Beruhigt kuschelte Vera sich an mich.
"Gehen wir auch gleich ins Bett?"
"Geh du ruhig vor. Ich muß noch etwas schreiben, sonst kann ich nicht schlafen."
"Arbeitstier!" lachte Vera leise. "Dann gute Nacht."
Wir küßten uns zärtlich, dann verschwand Vera. Ich ging in mein Büro und schrieb noch eine Stunde, bevor auch ich schlafen ging.










Kapitel 2 - Sonntag, 20.06.1999



Ein bekanntes Geräusch weckte mich um zehn nach drei. Es war die Tür zur Terrasse. Ich stand leise auf, um Vera nicht zu wecken, und schlich mich hinunter. Die Wohnung war dunkel, nirgendwo brannte Licht. Ich tastete mich bis ins Wohnzimmer vor. Im Schein des Mondlichts sah ich, daß die Tür zur Terrasse offen stand. Leise ging ich näher heran und entdeckte eine Silhouette auf der Terrasse in einem der Stühle sitzen. Es war Shannon.
"Shannon?" rief ich sie leise an, um sie nicht zu erschrecken.
"Ja."
"Was ist los?" Ich ging hinaus und setzte mich zu ihr.
"Nichts." In der Dunkelheit konnte ich ihr Gesicht nur als etwas heller schimmernden Fleck sehen.
"Ganz sicher?"
"Nein." Sie lachte leise. "Tut mir leid, Toni. Ich wollte dich nicht wecken. War ich so laut?"
"Eigentlich nicht. Ich werde immer wach, wenn sich nachts im Haus Türen öffnen. Was ist los, Mädchen? Oder möchtest du nicht darüber reden?"
"Gleich." Sie bewegte sich. Ich ahnte mehr, als daß ich sah, wie sie ihre Füße auf den Stuhl zog und die Knie umarmte.
"Möchtest du etwas trinken?"
"Ja. Einen Baileys."
"Baileys? Das ist Alkohol!"
"Alkohol!" lachte sie leise, aber unverkennbar spöttisch. "Toni, mit sowas werden in Irland die Babys gesäugt!"
"Na gut", grinste ich. "Ein Glas wird wohl nicht schaden."
Zwei Minuten später war ich zurück, mit der Irish Cream und zwei Gläsern. Shannon nippte von ihrem Getränk, dann nahm sie einen großen Schluck.
"Eiskalt! Das tut gut!" seufzte sie leise. "Tja, warum sitze ich hier?"
"Das wollte ich dich auch gerade fragen."
"Das war eine rhetorische Frage", tadelte sie mich amüsiert, dann wurde sie ernst. "Ich weiß es nicht, Toni. Wirklich nicht. Nicht genau. Ich konnte nicht schlafen. Nicht wegen dem Bett oder dem fremden Haus. Mir gehen nur viele Dinge im Kopf herum. Einmal der schöne Abend mit euch. Dann, daß Becky und Mandy endlich zwei nette Freundinnen gefunden haben. Wo wir vorher gewohnt haben, gab es keine Kinder in ihrem Alter. Daß unser Vater kaum zu Hause ist. Daß du auch so etwas erlebt hast. Worüber du schreibst. Daß du und Vera mich wie eine Erwachsene behandelt. So Sachen eben."
"Mit einem Wort: aufgedreht."
"Genau", lachte sie. "Sollen wir ein bißchen im Garten spazierengehen?"
"Jetzt? Shannon, aus dem Alter bin ich schon lange heraus."
"Aus welchem Alter?"
"Mir die Nacht mit verrückten Dingen um die Ohren zu schlagen."
"Spazierengehen ist doch nicht verrückt."
"Um diese Uhrzeit schon. Jedenfalls für mich."
"Na gut", seufzte sie. "Gibst du mir noch ein Glas? Dann geh ich ins Bett."
"Wie willst du denn aus zwei Gläsern gleichzeitig trinken?" scherzte ich.
"Überhaupt kein Problem! Mund auf, Kehle auf, und beide Gläser gleichzeitig reinkippen."
"Klingt gefährlich. Bist du sicher, daß du das Zeug verträgst? Oder bahnt sich da schon ein kleiner Schwips an?"
"Nein." Ihre Stimme wurde wieder sachlich. "Ganz sicher nicht, Toni. Ich bin kein Alki, aber Baileys schmeckt mir sehr gut. Ich bin auch nicht beschwipst. Nach zwei Gläsern bin ich einfach nur müde. Schade, daß du nicht lockerer bist."
"Liegt wohl an der Uhrzeit, Shannon. Normalerweise liege ich um diese Zeit ganz locker im Bett anstatt angespannt auf der Terrasse zu sitzen."
"Schon gut", lachte sie leise. "Ich weiß ja, daß du Wortspiele magst. Aber es ist wirklich sehr spät."
"Sehr früh."
"Oder das." Sie trank ihr zweites Glas aus und stand auf. "Gute Nacht, Toni. Schlaf schön."
"Du auch, Shannon. Aber wirklich schlafen!"
"Ja!" kicherte sie fröhlich. "Versprochen!" Sie lief leise ins Wohnzimmer. Ich blieb noch ein paar Minuten nachdenklich sitzen, dann räumte ich Flasche und Gläser in die Küche und ging auch wieder ins Bett.
Trotz der kleinen Unterbrechung wachte ich wie gewohnt gegen sechs Uhr auf. Ich brauchte pro Nacht höchstens sechs Stunden Schlaf, im Gegensatz zu Vera, die mindestens sieben Stunden schlafen mußte, um nicht den ganzen Tag lang unwirsch zu sein. Von daher hatte ich mir angewöhnt, morgens noch eine Stunde zu schreiben, bis Vera und die Mädchen wach wurden und wir zu viert Frühstück machten. Ich stand leise auf, zog mir Shorts und ein T-Shirt an und schlich mich dann hinaus, um Vera nicht zu wecken. Als ich die Tür zum Schlafzimmer von außen geschlossen hatte, ging die zum Gästezimmer auf.
"Morgen!" strahlte Shannon mich an. "So früh schon wach?"
"Nein", grinste ich. "Was du siehst, ist mein Astralkörper. Mein physischer Körper schläft noch."
"Cool!" lachte sie. "Dann kann ich dich ja kneifen, ohne daß du was merkst!" Sie tat so, als wollte sie auf mich zuspringen. Ich rettete mich auf die Treppe nach unten.
"Noch ein Versuch in dieser Richtung", drohte ich, "und du wirst die Rache des Magiers kennenlernen!"
"Angst!" jammerte Shannon mit schimmernden Augen. Sie zwinkerte mir zu und eilte ins Bad. Lächelnd ging ich hinunter in mein Büro.
Der PC war gerade hochgefahren, als ich Shannon in der Küche hörte. Ein Küchenschrank wurde geöffnet, ein Glas auf die Platte gestellt, die Tür geschlossen, der Kühlschrank geöffnet und wieder geschlossen. Sekunden später kam sie ins Wohnzimmer und setzte sich auf die Couch, von der aus sie mich sehen konnte. Sie sprach mich nicht an, schaute nicht einmal in meine Richtung, aber ich spürte, daß ihre Gedanken sich mit mir beschäftigten. Ich blockte es ab und begann zu schreiben.
Eine Viertelstunde später kam ein kurzer Hänger in meiner Handlung. Das passierte nicht zum ersten Mal. Konzentriert las ich das Kapitel von Anfang an, bis ich den Satz gefunden hatte, der dafür verantwortlich war. Er und alles dahinter wurde gnadenlos gelöscht. Danach lief es wieder wie von selbst.
Am Ende des Kapitels speicherte ich, dann streckte ich meine Arme in die Luft und reckte mich gründlich. In diesem Moment entdeckte ich Shannon, die halb in der Tür zu meinem Büro stand und lächelte.
"Du bist total weg, wenn du schreibst", sagte sie leise.
"Stimmt", gestand ich grinsend. "Vera behauptet, daß Einbrecher die Wohnung leerräumen könnten, wenn ich schreibe, und ich würde nichts davon mitbekommen."
"Das glaube ich jetzt auch." Sie lehnte sich an den Rahmen und trank einen Schluck von ihrer Fanta, ohne ihre Augen von den meinen zu lösen. "Hast du noch mehr in dieser Art erlebt?"
"Du?"
Sie nickte zögernd. "Ja."
"Ich auch." Ich zuckte mit den Schultern. "Du kannst wenigstens mit deinem Vater darüber reden, und vielleicht auch mit deinen Schwestern."
"Nein", hauchte sie. "Da geht es mir so wie dir, Toni. Daddy kennt viel, aber - bestimmte Dinge würde er nicht akzeptieren. Nicht von der Thematik her, sondern weil..." Sie schüttelte den Kopf. "Schreibst du an diesen neuen Sachen?"
"Nein. Im Moment arbeite ich an einer Geschichte, die in drei Wochen veröffentlicht werden soll. Die neuen Sachen schreibe ich nach dem Frühstück, wenn ich richtig fit bin." Ich kannte Shannons Gründe, nichts von dem, was sie erlebt hatte, zu erzählen, nur zu gut aus eigener Erfahrung, deswegen drängte ich sie nicht.
"Aha?" grinste sie frech. "Das heißt, die Leser der bisherigen Geschichten bekommen nur den geistigen Abfall vorgesetzt?"
"Bingo!" lachte ich laut. "Ganz genau, Shannon. Sie müssen das schlucken, was ich mit hungrigem Bauch und müdem Kopf von mir lasse."
Sie nickte mit einem tiefen, wissenden Lächeln. "Jetzt kapiere ich auch, warum die Hefte so billig sind."
"Jetzt aber Vorsicht!" grinste ich. "Ich weiß, daß ich kein zweiter Hemingway bin, aber das muß noch lange nicht heißen, daß ich nur Schrott schreibe."
"Das hast du gesagt." Sie kam ganz in das Büro herein und lehnte sich an den Tisch; ihr Gesicht verlor jede Spur von Lustigkeit. "Toni, was hast du erlebt?"
"Dinge", sagte ich langsam, "die ich kaum jemandem erzählen kann, Shannon. Du kennst das wohl auch."
Sie nickte wortlos. Einen Moment lang sah sie aus dem Fenster auf das Haus, in dem sie, ihr Vater und ihre Schwestern wohnten, dann blickte sie wieder mich an. "Erzähl mir etwas davon", bat sie leise. "Ich möchte wissen, ob ich noch normal bin."
"Das sind wir beide nicht mehr, Shannon", erwiderte ich ernst. "Kein Mensch, der etwas in dieser Art erlebt hat, ist noch normal zu nennen. Nicht in diesem Sinn."
"Ich weiß, Toni. Ich nehme den Begriff 'Normal' auch nicht für mich in Bezug auf alle anderen Menschen, sondern einzig und allein für mich in Bezug auf mich." Das war Shannon, das fast 15jährige Mädchen. Nun dürfte verständlich sein, warum weder Vera noch ich sie als junges Mädchen ansehen konnten. Meistens redete sie so, wie es ihrem Alter entsprach, aber gelegentlich flossen Redewendungen und Gedanken ein, die dieses Mädchen weit über den Durchschnitt erhoben.
"Na schön", seufzte ich. "Für eine Grundsatzdiskussion über Normen und Verhalten ist es auf jeden Fall noch viel zu früh. Shannon, manchmal habe ich das Gefühl, um die Ecke zu sehen. Um die Ecke, die unsere Welt von dem Jenseits trennt, oder wie immer man diese andere Welt nennen mag. Ich sehe Schemen und Gestalten, die sonst kein anderer sieht. Reicht das für den Anfang?"
"So gerade", lächelte sie. "Diese Schemen und Gestalten bestehen mehr aus Licht und Formen als aus einem richtigen Körper, nicht wahr? Und sie bewegen sich mit einer Geschwindigkeit, die es gar nicht geben dürfte."
"Ja", erwiderte ich erleichtert. "Genau das, Shannon. Darf ich fragen, warum du darüber nie mit deinem Vater geredet hast?"
"Wie er gestern schon sagte, Toni. Es sind für uns Iren mehr überlieferte Geschichten als Märchen. Daran zu glauben ist eine Sache. Jemanden in der Familie zu haben, der übersinnliche Kräfte hat, eine ganz andere."
Plötzlich schoß ein Gefühl von Einsamkeit durch meinen Körper. Ein Gefühl von einer derartigen Intensität, daß meine Augen naß wurden und mein Atem stockte. Gleichzeitig wußte ich, von wem dieses Gefühl kam.
"Shannon, warum bist du einsam?" flüsterte ich betroffen.
Auch ihre Augen wurden von einer Sekunde zur anderen naß. "Deswegen", hauchte sie und lief hinaus.

* * *

Um halb acht saßen die Familien Tenhoff und McDonaghue fröhlich und gemeinsam am ausgezogenen Frühstückstisch und erzählten und lachten und aßen. Shannon war nichts mehr von ihrem morgendlichen Kummer anzusehen; sie war so munter wie gestern.
Nach dem Frühstück ging sie mit ihren Schwestern nach Hause, jedoch nicht ohne sich noch einmal herzlich für den gestrigen Abend und die Aufnahme für die Nacht zu bedanken, was Vera mit einer Handbewegung abtat. Sie und ich brachten die drei noch an die Tür, während unsere Töchter duschen gingen. Mandy und Becky wollten ihre Fahrräder fertigmachen und mit Kerstin und Birgit die Gegend erkunden.
"Du kannst auch gerne wiederkommen", bot Vera Shannon an.
"Erst mal sehen, was Daddy so treibt", lächelte Shannon. "Wenn er noch länger in der Firma zu tun hat, komme ich gerne." Sie umarmte Vera leicht. "Danke für alles, Vera. Es war ein wunderschöner Abend!"
"Gern geschehen, Shannon." Vera strich ihr kurz über die Haare. "Sieh zu, daß du mit eurem Vater klarkommst."
"Ja!" lachte sie herzlich. "Am liebsten würde ich ihn zu Hause anbinden und sein Handy wegschmeißen!" Sie löste sich von Vera und reichte mir die Hand.
"Dir auch vielen Dank, Toni", sagte sie bewegt. "Es hat mir sehr geholfen, zu sehen, daß es noch andere Menschen wie mich gibt."
"Kein Problem", lächelte ich. "Davon gibt es noch etwa sechs Milliarden."
"Du weißt, was ich meine." Sie ließ meine Hand los, doch ihre Augen bohrten sich in meine. "Es hat mir wirklich geholfen. Sehr sogar. Bis demnächst, ihr zwei. Oder bis gleich. Kommt, Schwestern der Sonne."
"Wir folgen dir, Schwester des Mondes!" kicherten Mandy und Becky. Vera kam in meinen Arm. Gemeinsam sahen wir den drei Mädchen zu, wie sie nach Hause gingen.
"Schwestern der Sonne und des Mondes", murmelte Vera lächelnd, als sie in ihrem Haus verschwunden waren.
"Paßt aber irgendwie", sagte ich nachdenklich. Vera schloß die Tür und sah mich fragend an. Ich erzählte ihr von der Nacht und dem heutigen Morgen, ließ jedoch die Details, die sich eingehender mit dem Übersinnlichen beschäftigten, aus. Auch wenn Vera viel Verständnis für meine Arbeit hatte, ging ihr doch das tiefe Interesse daran ab.
"So gesehen paßt es tatsächlich", meinte Vera, als ich geendet hatte. "Was hältst du von der Familie?" Was Vera wirklich wissen wollte, war Shannons Wirkung auf mich; das spürte ich.
"Schwer zu sagen." Ich ging mit Vera ins Wohnzimmer, wo wir uns auf der Couch niederließen. "Ian war in meinen Augen sehr nervös gestern abend. Vielleicht bedeutet dieses Experiment, was schiefgegangen ist, mehr als er sagte. Daß seine Arbeitswut - oder seine Verantwortung, die er hat - sich auf die Mädchen auswirkt, ist auch deutlich geworden, allerdings scheinen sie es schon gewöhnt zu sein. Es belastet sie nicht mehr, als es Kerstin und Birgit belastet, wenn eine Verabredung mit ihren Schulfreundinnen geplatzt ist. Wirklich schwer zu sagen."
"Auf jeden Fall scheint Shannon so etwas wie die Mutter für die beiden jüngeren Mädchen zu sein. Halb jedenfalls."
"Scheint so. Vera, wie sollen wir das machen, wenn Shannon wirklich gleich wiederkommt? Du wolltest doch zu deiner Mutter."
"Ich weiß", seufzte Vera. "Muß ich mir Sorgen machen, wenn sie kommt und ich nicht da bin?"
"Mußtest du dir jemals Sorgen machen?" fragte ich zärtlich. Vera lächelte bedrückt.
"Nein, Toni. Bisher gab es allerdings auch keine Shannon."
"Was siehst du bloß in ihr, Liebes?"
"Ärger." Vera kuschelte sich an mich. "Toni, ich weiß selbst, daß ich nicht so viel Ahnung von diesem ganzen Kram habe, über den du schreibst. Ich finde es toll, daß du so darin aufgehst, wie du es tust, aber mein Ding ist das nicht. Shannon ist da viel mehr auf deiner Wellenlänge als ich."
"Verstehe", zog ich Vera auf. "Und nur weil Shannon sich auch dafür interessiert, lasse ich mich sofort von dir scheiden und heirate dieses 14jährige Mädchen."
"Ich weiß!" jammerte Vera lachend. "Ach, Toni!" Sie drückte mich stürmisch.
"Ich hab halt Angst", murmelte sie in meinen Hals. "Ich weiß, daß du nicht auf junge Mädchen stehst. Ich weiß, daß du treu bist. Ich weiß, daß dir unsere Familie alles bedeutet. All das weiß ich, und trotzdem springen bei mir alle Alarmsignale auf Rot, wenn ich Shannon sehe."
"Das ist wirklich komisch, Vera", sagte ich ernst. "Ich finde es schön, daß ich mit Shannon über diese Themen reden kann, aber etwas anderes sehe ich in ihr nicht. Daß sie eine Gefahr ist, kann ich nicht so recht glauben."
"Sagte die Fliege, als sie die Spinne sah." Vera küßte mich flüchtig. "Vergiß mein Geschwätz. Ich werde alt und unsicher."
"Du doch nicht!" lachte ich leise. "Du bist so viel selbstsicherer als ich, Liebes. Und alt... Das wollten wir doch eigentlich gemeinsam werden, oder?"
"Ja", schmunzelte Vera. "Irgendwann war da mal so ein Spruch."
"Siehst du. Bisher hat auch keiner von uns den anderen abgehängt, was das Alter angeht."
"Wart nur ab", grinste Vera. "Meinen 39. Geburtstag werde ich zehnmal feiern, dann habe ich dich locker abgehängt!"



Um neun Uhr standen Mandy und Becky mit ihren Fahrrädern vor der Tür. Kerstin und Birgit holten ihre Räder aus der Garage und sagten uns noch kurz Bescheid, wo sie hinfahren würden, dann radelten die vier fröhlich lachend und schwatzend von dannen. Vera nutzte die offene Garage und fuhr mit ihrem Wagen gleich zu ihrer Mutter. Ich ging in mein Büro und an meinen PC.
"Endlich allein!" grinste ich den Monitor an. "Dann laß uns mal die Gunst der Stunde nutzen und die Geschichte zum Abschluß bringen."
Der Türgong, der in diesem Moment ging, verhinderte jedoch den Abschluß.
"Hallo", lächelte Shannon. "Daddy bleibt mindestens bis heute abend. Er läßt fragen, ob wir drei schon eine Warze am Hintern sind."
"Komm rein!" lachte ich herzhaft. "Ihr seid gern gesehene Gäste. Sag ihm das bitte."
"Danke." Sie ging gleich durch ins Wohnzimmer. Sie trug nun ein leichtes Sommerkleid in einem sanften Grün, durchsetzt mit vereinzelten kurzen, gelben Streifen, die in verschiedene Richtungen zeigten, und flache, hellgelbe Halbschuhe. Das Kleid stand ihr sehr gut, auch wenn es für meinen Geschmack viel zu viel von ihren Beinen zeigte. Generationskonflikt eben. Oder die Gedanken eines Vaters, der seine Töchter schon in zwei, drei Jahren den Blicken der Männerwelt ausgesetzt sah, wenn sie ein Kleid wie dieses trugen.
"Möchtest du etwas trinken?" fragte ich.
"Nein, danke. Ist Vera nicht da?"
"Sonntags besucht sie immer ihre Mutter. Sie kommt erst gegen Mittag zurück."
"Die Mädchen auch. Sollen wir etwas spazierengehen?"
Ich mußte lächeln. "Um diese Uhrzeit kommt mir das sehr viel gelegener."
"Gut. Da habe ich doch wieder etwas gelernt." Ihre Augen schimmerten fröhlich, als ich Schlüssel und Brieftasche einpackte. Kurz darauf saßen wir im Auto.
"Wohin entführst du mich?" fragte sie neckisch.
"In einen langweiligen Wald mit ganz langweiligen Wegen und noch langweiligeren Bäumen."
"Paßt zu einem langweiligen Sonntag mit langweiligen Nachbarn!" Sie lachte hell; ein Geräusch, das mir unter die Haut ging.
"Langweilige Witze runden das langweilige Gespräch ab." Ich zwinkerte ihr zu.
"Wir können es ja etwas spannender machen", schlug Shannon mit leiser Stimme vor. In diesem Moment verstand ich, was Vera mit ihren Alarmsignalen meinte. Meine schlugen an.
"Was meinst du damit?" fragte ich ruhig.
"Daß wir uns über die Dinge von heute morgen unterhalten." Sie lächelte etwas traurig. "Ich habe vorhin bei uns etwas aufgeräumt und dabei nachgedacht. Ich habe das ganz sichere Gefühl, daß du mich niemals auslachen würdest, Toni. Egal, was ich sage."
"Wieso sollte ich?" erwiderte ich sehr erleichtert. "Shannon, wir haben uns bisher nur kurz darüber unterhalten, aber schon sehr viele Gemeinsamkeiten festgestellt. Wenn ich über dich lachen würde, würde ich auch gleichzeitig mich auslachen."
"Genau das meine ich, Toni. Hat Vera eigentlich etwas dagegen, daß wir beide uns darüber unterhalten?"
"Nein, Shannon. Sie denkt zwar, daß du eine Gefahr für die gesamte Männerwelt bist, aber sie weiß auch, wie sehr mich dieses Gebiet interessiert. Sie hat nichts dagegen."
"Ich soll eine Gefahr sein?" Das Erstaunen in ihrem Blick war echt. Shannon wußte offenbar gar nicht, welche Wirkung sie hatte.
"Mach dir nichts draus", lächelte ich. "Sieh es einfach als das typische Konkurrenzverhalten eines anderen Weibchens an."
"Ich will ihr nichts wegnehmen", erwiderte Shannon ernst. "Wieso soll ich eine Gefahr sein?"
"Weil du - und das ist jetzt kein Kompliment, sondern eine simple Feststellung - schön bist, Shannon. Nicht nur einfach hübsch oder attraktiv, sondern schön. Du bist sehr reif für dein Alter, hast eine unglaubliche Selbstsicherheit, kannst dich perfekt ausdrücken und weißt, was du willst. Wenn du älter bist, wirst du merken, daß viele Frauen dich neidisch ansehen werden."
"Na!" lachte sie fröhlich. "Wenn das eine Feststellung war, wie sieht dann ein Kompliment aus?" Sie schüttelte den Kopf.
"Sag's nicht, Toni", meinte sie dann, wieder ernst geworden. "Ich werde nachher mit Vera reden. Sie muß keine Angst haben. Du auch nicht. Ich bin einfach nur froh, daß meine Schwestern Freundinnen gefunden haben, und daß ich jemanden gefunden habe, der mich und das, was ich erlebt habe, versteht."
"Das habe ich auch zu Vera gesagt", schmunzelte ich. "Ich sagte ihr auch, daß ich mich jetzt, wo ich dich kennengelernt habe und mit dir über diese Themen reden kann, natürlich sofort von ihr scheiden lasse und dich heirate."
"Au ja!" ging sie auf den Scherz ein. "Ich heirate aber nur in einem knallroten Kleid!"
"Dann trag wenigstens weiße Schuhe, sonst bekommt mein Pfarrer einen Herzanfall."
"Na gut, und weiße Söckchen. Reicht das?"
"Sollte genügen." Wir lachten ausgelassen.
"Ich mag euch alle", sagte Shannon dann, als das Lachen verklungen war. "Dich, Vera, Kerstin, Birgit. Aber eine Gefahr... Nein, Toni. Das habe ich nicht vor, und das will ich auch nicht sein. Ich möchte Freunde haben, Menschen, mit denen ich reden kann, aber kaputtmachen will ich nichts." Sie legte kurz ihre linke Hand auf meine rechte am Lenkrad.
"Ich bin mir ganz sicher", sagte sie mit tiefem Ernst, "daß eine Beziehung, die auf dem Unglück anderer Menschen basiert, niemals glücklich werden kann." Sie zog ihre Hand wieder zurück.
"Auch da haben wir die gleiche Ansicht", antwortete ich. "Darf ich mal das Thema wechseln und dich etwas anderes fragen?"
"Natürlich."
"Soweit ich mich erinnere, findet die Forschung und Entwicklung von japanischen Unternehmen in deren Heimatland statt, also in Japan. Wieso gibt es dann hier in Deutschland eine derartige Abteilung?"
"Das hat zum einen steuerliche Gründe", antwortete Shannon wie aus der Pistole geschossen. "Die Forschung schluckt sehr viel Geld, und genau das kommt der Firma gelegen, weil sie einen hohen Umsatz in Deutschland macht. Zum anderen aber auch aus dem Grund, weil -" Sie stockte und sah mich an. "Du behältst das für dich, ja?"
"Natürlich, Shannon", versprach ich. "Du mußt es mir nicht erzählen."
"Möchte ich aber. Der andere Grund ist der, daß die Firma meines Daddys mit einer deutschen Firma zusammenarbeitet. Diese Firma hat eine Entdeckung gemacht, die die Speicherbausteine von Computern revolutionieren wird. Sie hatten allerdings nicht die Möglichkeiten, über... ich sag mal, einen bestimmten Punkt des Experimentierens hinauszukommen, und genau da kam Daddy ins Spiel. Er hat auf dem Patentamt von dieser Entdeckung gelesen und sich mit dieser Firma in Verbindung gesetzt, um ihnen eine Partnerschaft bei diesem Projekt anzubieten. Als sie hörten, was Daddys Firma bisher auf diesem Gebiet geleistet hat und was Daddy für Ideen hatte, um die Chips zu erweitern und zu perfektionieren, schlugen sie ein. So kam das."
"Verstehe. Du bist wirklich sehr gut informiert."
"Das müssen Teenies immer sein", grinste sie frech. "Damit sie ihre Eltern im Griff haben."
"Biest!"
"Danke!" Ihre warmen braunen Augen lachten vor Vergnügen.



Nach gut zehn Minuten Fahrt stellte ich den Wagen auf dem Parkplatz vor dem Wald ab. Es war schon Hochbetrieb. Shannon und ich gingen über den Weg am Parkplatz vorbei und entschieden uns anhand einer Wanderkarte, die an der ersten Kreuzung stand, für einen Marsch von knapp anderthalb Stunden.
Während des Spaziergangs tauschten Shannon und ich bestimmte Erlebnisse und Erfahrungen aus, die man mit keinem anderen Menschen teilen würde. Das Sehen von Schemen und - lapidar gesagt - Geistern war nur ein kleiner Teil davon. Es tat ihr wie mir sehr gut, einmal ganz offen darüber reden zu können, denn sie mußte wie ich dieses Wissen geheim halten, um nicht in den Ruf zu kommen, verrückt zu sein. Trotzdem waren wir uns sicher, daß alles das, was wir erlebt hatten, Realität war. Zwar eine Realität, die für viele andere Menschen nicht nachvollziehbar war, für uns aber dennoch Realität. Es war ein Teil unseres Lebens.
Dummerweise - und das erkannte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht - schaffte dieser Austausch eine sehr starke Nähe zwischen uns. Was ich erkannte, war nur eine gewisse Erleichterung und eine sehr große Freude, endlich einmal offen und ohne jede Zurückhaltung mit einem anderen Menschen über das Übersinnliche reden zu können.
Shannon sah das ganz genauso.
"Jetzt fühle ich mich schon lange nicht mehr so einsam", lächelte sie, als wir langsam wieder in Richtung Parkplatz gingen. "Darf ich gleich mal etwas lesen, was du geschrieben hast?"
"Sicher, Shannon. Wie sieht es mit Mittagessen aus? Wollt ihr bei uns essen?"
"Nein. Wir haben immer ein paar hundert Mark im Haus, weil Daddy manchmal tagelang nicht zur Bank kommt. Wenn er so richtig müde ist, kann er sich auch nicht mehr an seine Geheimnummer für den Geldautomaten erinnern. Klingt lächerlich, ist aber so. Außerdem muß er erst sein neues Konto hier beantragen. Ich hab ihn gefragt, ob ich euch zum Essen einladen darf, und er hat zugestimmt. Kennst du ein gemütliches Restaurant?"
"Nicht nur eins. Aber du kannst uns doch nicht einladen, Shannon!"
"Warum nicht?" schmunzelte sie. "Bei uns zu Hause bin ich die Hausherrin. So wie Vera bei euch. Sie hat uns eingeladen, und ich lade euch ein."
"Adam, Adam!" seufzte ich. "Wieso hast du dir die Rippe stehlen lassen?"
"Ganz einfach!" lachte Shannon. "Damit wenigstens etwas Gutes zustande kommt."
"Du bist wirklich eine typische Frau", stöhnte ich. "Schlagfertig und unwiderstehlich."
"Danke!" Sie drückte sich kurz an meine Seite. Genauso kurz legte ich meinen Arm um ihre Schultern, dann trennten wir uns wieder. "Toni?"
"Ja?"
"Bist du niemals in die Versuchung gekommen, diese - diese Fähigkeiten für dich zu nutzen?"
"Ich wüßte nicht, wie. Es ist schließlich nichts, was meinem bewußten Willen unterliegt. Ich kann nicht sagen, daß ich jetzt dies und das sehen oder hören möchte, und ich sehe oder höre es dann. Es kommt, wie es will. Ist es bei dir anders?"
"Nein. Würdest du es für dich ausnutzen, wenn du es könntest?"
"Das ist schwer." Ich schaute sie nachdenklich an. "Ich weiß es nicht, Shannon. Würdest du?"
"Nein. Davor hätte ich Angst."
"Angst?"
"Ja." Schweigend gingen wir ein paar Meter, dann blieb sie stehen und sah mich an.
"Toni, wenn ich sehe, mit welcher Geschwindigkeit sich diese Wesen bewegen, wie schnell sie denken und handeln, dann habe ich sogar Angst, an sie zu denken. Ein falscher Gedanke von mir, und ich hätte sie an mir kleben. Davor habe ich wahnsinnige Angst." Sie schauderte.
"Hey!" sagte ich leise. In der nächsten Sekunde war sie in meinen Armen, ihre Augen schauten mich voller Angst an.
"Ich habe wirklich Angst", wisperte sie. "Viele der Wesen sind freundlich, andere wieder nicht. Viele haben Respekt vor den Menschen, andere wieder nicht. Kein Wesen würde mich grundlos angreifen, aber ein falscher Gedanke könnte schon Grund genug sein, um..." Wieder schüttelte es sie. Ich drückte sie kräftig an mich.
"Denk nicht darüber nach, Shannon", tröstete ich sie. "Je positiver deine Grundeinstellung ist, um so weniger Risiko besteht, daß tatsächlich ein böses Wesen in deine Aura eindringt."
"Ich weiß." Sie drehte ihren Kopf zur Seite und legte ihre Wange auf meine Schulter. "Die Angst ist aber da."
"Warum?" fragte ich leise. "Hast du etwas in dieser Art erlebt?"
Sie nickte leicht, ohne mich anzusehen. "Ja. Bei einem Mädchen aus meiner alten Klasse. Ich wußte, daß sie sich mit Gläserrücken und so beschäftigt. Eines Tages kam sie wie sonst auch in die Schule, aber ich spürte sofort, daß sie besessen war. Etwas Böses war um sie herum. Ganz deutlich." Sie schauderte zum dritten Mal.
"Laß uns über etwas anderes reden, Shannon", sagte ich sanft, während meine Hände über ihre weichen Haare fuhren. "Ich möchte nicht, daß du Angst hast."
Sie sah auf, in ihren Augen lag wieder etwas von ihrem alten Humor. "Die Angst ist da, ob ich darüber rede oder nicht. Aber du hast recht." Sie drückte sich noch einmal an mich, dann löste sie sich von mir.
"Worauf habt ihr Hunger, Toni? Griechisch? Italienisch?"
"Darüber reden wir, wenn wir alle zusammen sind. Laß uns weitergehen."

* * *

Ian kam abends um halb neun. Sein Gesicht war gezeichnet von den Anstrengungen, aber seine Augen leuchteten.
"Es läuft?" fragte Shannon aufgeregt, nachdem die drei Mädchen ihren Vater begrüßt hatten. Ian nickte.
"Es läuft. Wie war euer Tag?"
"Herrlich!" strahlte Shannon. "Wir waren mittags in einem tollen Steakhaus, nachmittags sind wir geschwommen und haben im Garten Ball gespielt. Vormittags waren die vier mit den Rädern unterwegs, Vera hat ihre Mutter besucht, Toni und ich sind spazierengegangen."
"Und wieder einen aufregenden Tag versäumt." Er seufzte leise. "Vera, Toni, ich kann mich gar nicht genug bei euch bedanken."
"Unnötig", lächelte Vera. "Es ist ja nicht so, daß deine Kinder eine Warze am Hintern sind."
"Shannon!" lachte Ian dröhnend. "Du hast das wörtlich wiederholt?"
"Klar!" grinste sein Töchterlein. "Du hast es mir nicht ausdrücklich verboten."
"Fühle dich hiermit gebührend getadelt."
"Okay!" kicherte Shannon. "Hast du schon zu Abend gegessen?"
"Ja, in der Kantine. Ich werde jetzt erst einmal ausgiebig baden. Wollt ihr mit rüber?"
Shannon und Becky wollten, Mandy jedoch nicht. Sie und Kerstin waren gerade mitten in einer Runde Backgammon.
"Dann bleib ich auch noch", sagte Becky sofort. "Wenn ich darf."
"Sicher darfst du", lachte Vera. "Shannon? Du auch?"
Shannon sah ihren Vater an. "Daddy?"
"Deine Entscheidung", schmunzelte er. "Ich bin schon so alt, daß ich alleine baden kann. Außerdem bin ich todmüde; wir haben die ganze Nacht durchgeackert. Nach der Wanne kommt direkt das Bett."
"Dann gehen wir alle um zehn", entschied Shannon und sah zu Vera und mir. "Wenn wir wirklich nicht stören."
"Das tut ihr nicht", beruhigte ich Shannon.
"Seid nicht höflich", bat Ian. "Seid nur ehrlich."
"Das sind wir immer", lächelte Vera. "Ian, deine Kinder stören uns nicht. Punkt."
"Na schön", lachte er. "Dann noch einmal vielen Dank. Bis morgen früh, Kinder. Schlaft schön."
"Du auch!" Die drei drückten ihren Vater kurz, der anschließend nach Hause ging. Kerstin und Mandy spielten weiter, Birgit und Becky verzogen sich wieder in Birgits Zimmer, Vera und Shannon setzten ihre Unterhaltung fort, und auf mich wartete immer noch das letzte Kapitel meiner Geschichte. Um kurz nach zehn waren die drei Kinder zu Hause und mein Werk per Modem zum Verlag geschickt. Stöhnend ließ ich mich auf die Couch fallen, mit dem Kopf auf Veras Beine. "Geschafft?" fragte Vera.
"Ja. Die Geschichte und ich. Alle beide."
"Toll." Sie strich mir liebevoll durch die Haare. "Wie war das Laufen heute morgen?"
"Ungewohnt", grinste ich. "Sonst laufe ich ja nur vor dir weg. Langsam gehen kann ich schon gar nicht mehr."
"Idiot!" lachte Vera. "Sag!"
"Wir haben sehr viel über paranormale Phänomene geredet, Liebes, und über unsere Gefühle und Einstellungen dazu. Über das, was wir erlebt haben." Ich schloß müde meine Augen. "Baden klingt wie eine sehr gute Idee."
"Mußt noch etwas warten. Birgit und Kerstin sind zuerst dran. Worüber habt ihr sonst noch geredet?"
"Ist das ein Verhör?" schmunzelte ich.
"Und ob!" erwiderte Vera mit gespieltem Grimm. "Ich will alles hören! Jedes einzelne Wort!"
"Na schön. Wir haben unter anderem über Besessenheit geredet. Auf welche Arten ein böses Geistwesen in die Aura eines Menschen eindringen kann. Was es dort anstellt. Wie sehr es den Menschen beeinflußt, indem es auf die Meridiane des menschlichen Körpers und der Seele einwirkt."
Vera sah mich nachdenklich an, dann nickte sie. "Du solltest wirklich baden. Soll ich dir morgen Aurapolitur mitbringen?"
"Ja, bitte. Und einen neuen Heiligenschein; der alte ist schon abgenutzt." Lachend umarmten wir uns.










Kapitel 3 - Montag, 21.06.1999



Wieder wurde ich mitten in der Nacht wach. Diesmal nicht wegen einer Tür, sondern aus einem Gefühl heraus, das mit dem Aufwachen verschwunden war. Ich blieb einen Moment still liegen, um nach innen zu lauschen, dann hatte ich es wieder.
Ich stand leise auf und ging ins Wohnzimmer. Durch das Fenster sah ich Shannon, die auf der Terrasse saß. Ich öffnete die Tür, dann holte ich zwei Gläser und ihr Lieblingsgetränk für diese Uhrzeit.
"Danke", sagte sie leise, als das gefüllte Glas vor ihr stand.
"Wird das jetzt zu einer Gewohnheit?" fragte ich, irgendwo zwischen leichter Verärgerung und Verwunderung.
"Ich fürchte, ja", erwiderte sie zögernd. "Du kannst mich jederzeit rausschmeißen, Toni. Ich bin dir auch nicht böse, wenn du das machst." Mein Ärger verschwand, als ich Trauer aus ihrer Richtung verspürte.
"Das tue ich nicht, Shannon. Was ist los? Wieder aufgedreht?"
"Nein", flüsterte sie. "Sehnsucht."
Ein Knoten in meinem Bauch formte sich. "Wonach?"
"Nach euch." Sie trank einen Schluck. "Nach einer Familie. Wir lieben Daddy, aber er ist ja kaum da. War das zu direkt?"
"Nein. Ich schätze Ehrlichkeit, nur... Was sollen wir tun, Shannon? Also Vera und ich. Was erwartest du von uns?"
"Nichts. Nicht in dem Sinn, daß ihr etwas für mich tun sollt. Ich möchte einfach nur bei euch sein, Toni. Bei Vera. Bei dir. Bei einem von euch, oder bei euch beiden. Mit euch reden. Wir sehen unseren Vater gelegentlich beim Frühstück, und wenn wir viel Glück haben, auch beim Abendessen. So wie heute ist es eigentlich sehr oft. Wir sehen uns ein paar Minuten, dann sind entweder wir oder er im Bett. Weißt du", sagte sie, und ihre Stimme zitterte plötzlich bedenklich, "ich habe die Nase voll davon, immer die Mutter und Hausherrin zu spielen. Du hast recht, Toni. Ich bin selbstsicher und redegewandt. Aber ich bin noch nicht mal 15, verdammt! Ich möchte mich auch mal fallenlassen und Ruhe haben. Verwöhnt werden. Im Arm gehalten werden. Gestreichelt werden." Sie schluchzte kurz, dann sprang sie weinend auf und rannte quer durch den Garten auf den Zaun zu. Aufgewühlt starrte ich in die Dunkelheit.



Vera schüttelte ungläubig den Kopf, als ich ihr am nächsten Morgen von Shannons nächtlichem Besuch erzählte.
"Das hat sie gesagt?"
"Wortwörtlich, Liebes. Sie war nicht die Kindfrau, vor der du Angst hast, sondern nur ein ganz verzweifeltes, einsames junges Mädchen."
"Das arme Kind! Sie tut immer so ruhig und gelassen; ich hätte mir nie träumen lassen, daß es sie so sehr belastet. Und nun?"
"Es gibt kein 'und nun', Liebes. Wir können sie ja schlecht adoptieren."
"Was ist denn jetzt los?"
"Pure Logik, Vera. Auch bei mir schrillen im Moment sämtliche Alarmglocken. Nicht aus dem Grund wie bei dir, aber aus einem anderen. Als sie abgehauen ist, habe ich noch lange im Garten gesessen und nachgedacht. Mandy und Becky sind okay, aber Shannon... Sie sucht eine Familie, Vera. Wir beide, du und ich, sollen ihre Ersatzeltern oder was immer sein. Das ist ein Spiel, worauf ich keine besondere Lust habe. Stell es dir bitte bildlich vor, Liebes: wir sitzen auf dem Sofa, Shannon zwischen uns, bei mir im Arm, und ich streichle ihre Haare wie bei Kerstin und Birgit." Vera verzog das Gesicht.
"Ganz genau, Vera", lächelte ich dünn. "Es tut mir auch leid, daß sie solche Probleme hat, aber wir müssen jetzt eine ganz deutliche Grenze setzen, oder wir haben sie buchstäblich am Hals. Es tut mir sogar schon leid, daß sie und ich so viel miteinander geredet haben. Dadurch ist eine gewisse Nähe entstanden, die ich so nicht wollte. Und du wohl auch nicht."
"Da hast du nicht ganz unrecht", gab Vera bedrückt zu. "Aber trotzdem können wir sie nicht einfach sich selbst überlassen, Toni." Sie lächelte plötzlich.
"Komisch, was? Gestern hast du sie noch verteidigt und ich hatte Angst, heute ist es genau umgekehrt."
"Ich habe keine Angst vor ihr als heranwachsende Frau, die sich zwischen uns drängen könnte, Liebes. Ich habe Angst davor, daß Shannon eine - Zuneigung zu uns entwickelt, jedoch aus falschen Motiven heraus. Wir können nicht Eltern für sie spielen. Das müssen wir ihr klarmachen."
"Nein." Vera schüttelte energisch den Kopf. "Das dürfen wir ihr auf keinen Fall so sagen, Toni. Wenn es wirklich so ist, wie du sagst - und ich glaube, daß es so ist -, dann würde sie eine Ablehnung unsererseits sehr stark treffen und vielleicht ihre Probleme noch vertiefen. Kannst du sie als junges Mädchen ansehen, oder siehst du sie als junge Frau?"
"Seit letzter Nacht ist sie trotz ihres Auftretens ein junges Mädchen für mich. Wie Kerstin. Warum?"
"Weil wir sie aufpäppeln werden." Vera beugte sich vor und sah mich eindringlich an. "Wir werden ihr eine Familie geben, Toni. So lange, bis sie genügend Sicherheit in sich entwickelt hat, um mit den Problemen in ihrer eigenen Familie umzugehen. Gut, auf der einen Seite ist sie sehr weit für ihr Alter. Andererseits tobt noch das Kind in ihr, das Nähe, Wärme und Zuneigung haben will. Ihren Ausbruch diese Nacht dürfen wir einfach nicht unterschätzen. Das war ein ganz lauter Hilfeschrei!"
Ich schüttelte unschlüssig den Kopf. "Ich weiß nicht, Vera. Wie soll das aussehen? Sollen wir beide vor unseren eigenen Töchtern mit ihr schmusen?"
"Ja!" Vera lachte hell. "Kerstin und Birgit werden das schon verstehen, wenn ich es ihnen erkläre. Außerdem haben sie ja Mandy und Becky. Kerstin sagte gestern abend schon, daß es ihr leid tut, daß Shannon keine Freundin hat."
"Das ist Unsinn! Vera, wenn wir das mit Shannon machen, werden Mandy und Becky das auch wollen. Wir haben zwei eigene Kinder, die wir nicht vernachlässigen dürfen." Ich wehrte ihren Einspruch ab. "Ich sehe da ein großes Problem, Liebes. Im Moment hast du Shannon gegenüber Muttergefühle. An sich ist das auch in Ordnung, aber wenn wir tatsächlich mit ihr schmusen, werden sich Mandy und Becky zurückgesetzt fühlen. Dann müssen wir unsere 'Hilfe' auch auf die beiden ausdehnen. Wo bleibt dann noch Platz für Kerstin und Birgit? Auch wenn das jetzt sehr brutal klingt, aber unsere eigenen Kinder stehen uns wohl doch etwas näher als die von anderen Menschen."
"Schon richtig, aber jeder von uns hat zwei Arme und Hände", schmunzelte Vera. "Jeder von uns kann zwei Mädchen im Arm halten. Immer schön abwechselnd. Becky und Mandy beziehen außerdem schon genug Familiensinn aus dem Zusammensein mit Kerstin und Birgit. Das wird schon klappen, Toni. Vertrau mir."
"Das tue ich auch, Liebes, nur... Gehen wir noch einen Schritt weiter. Was, wenn Shannon in ihrem Eifer, die Geborgenheit ihrer Kindheit nachzuholen, bei uns im Bett schlafen will? Was dann?"
Vera lachte fröhlich. "Solange ich dabei bin, habe ich da kein Problem mit."
"Vera!" Ich war regelrecht schockiert. "Ist dir klar, was du da sagst? Liebes, ich bin ein Mann! Weißt du, wie mein Körper reagiert, wenn plötzlich ein fremdes, nicht zur eigenen Familie gehörendes Mädchen neben mir liegt? Mein Kopf weiß, daß sie erst knapp 15 ist, aber meinen Körper wird das nur wenig interessieren. Es gibt Reaktionen, die ein Mann nicht im Griff hat."
"Den Aspekt habe ich übersehen." Vera sah mich unschlüssig an. "Trotzdem denke ich, wir sollten es auf uns zukommen lassen. Ich bin so gut wie sicher, daß die äußere Hülle schon reichen wird. Also im Arm halten, füreinander da sein und so weiter. Das andere... Nein, das glaube ich nicht. Dafür ist sie schon zu reif. Sie wird nicht wie ein verängstigtes Kind ankommen und in unser Bett krabbeln."
"Und wenn doch?" fragte ich leise. "Vera, wenn wir einmal damit angefangen haben, können wir nicht mittendrin Schluß machen. Entweder sind wir wie eine Familie für die drei, oder wir sind es nicht. Da gibt es keine halben Sachen."
Vera feixte. "Was schreibst du immer, wenn dein Held von Dämonen umzingelt ist? Nur wer sich selbst aufgibt, ist wirklich verloren."
"Das sind Menschen auf Papier, Liebes. Erfundene Menschen. Wir haben es hier mit drei echten, sehr lebendigen und jungen Menschen zu tun."
"Trotzdem dürfte der Satz auch da gelten." Vera tätschelte meine Wange. "Wir schaffen das schon, Toni. Unsere beiden haben wir ja auch prima hinbekommen."
Ich seufzte laut. "Entweder sehe ich das alles zu eng, oder du siehst es zu locker."
"Wir schaffen das, Toni." Vera zog mich in ihr Bett. "Wir haben noch eine halbe Stunde, bis die Mädchen aufwachen. Irgendwelche Vorschläge, wie wir die Zeit sinnvoll nutzen könnten?"
"Nein. Ich denke, der Vorschlag, den ich in deinen hübschen Augen lese, gefällt mir sehr gut."

* * *

Nach dem Frühstück trafen sich die vier jüngeren Mädchen wieder zu einer Radtour, diesmal in die Innenstadt. Kerstin und Birgit wollten Mandy und Becky die Geschäfte zeigen. Vera fuhr einkaufen. Shannon ließ sich den ganzen Morgen über nicht sehen.
Gegen elf wurden Vera und ich unruhig, vor allem weil Mandy am Morgen gesagt hatte, daß ihr Vater schon früh wieder in die Firma gefahren war. Schließlich scheuchte Vera mich hinaus.
"Geh mal nach ihr sehen. Vielleicht brütet sie vor sich hin. Lade sie zum Schwimmen ein. Oder zum Reden. Nun los!"
"Und warum gehst du nicht?" wehrte ich mich murrend.
"Weil sie mit mir nicht so gut reden kann. Ab mit dir." Bei diesen ganzen Störungen würde meine neue Serie keinen guten Start nehmen...
Seufzend ging ich hinüber und klingelte. Sekunden später öffnete Shannon. Sie sah tatsächlich ziemlich geknickt aus. Ihr altes Kleid paßte zu ihrer Stimmung.
"Hi, Toni. Komm rein." Auch ihre Stimme klang sehr abgespannt.
Sie führte mich in das sehr geschmackvoll und teuer eingerichtete Wohnzimmer, doch ich sah es plötzlich mit Shannons Augen, in denen es nur eine Fassade für etwas war, was es nicht gab. Es war groß, es war kühl, und es war sehr leer.
Ein großes Mitgefühl für dieses Mädchen überfiel mich. Ich sah sie nur wortlos an und streckte meine Arme nach ihr aus. Shannon flog hinein, drückte sich an mich und schluchzte unterdrückt. Vera hatte recht gehabt; sie war nur ein einsames Kind, das Nähe brauchte.
"Laß dich fallen", flüsterte ich. "Ich fang dich auf, Shannon."
"Dann komm mit." Sie nahm mich an die Hand und führte mich zurück in die Diele, dann die Treppe hinauf und in ihr Zimmer, das schon viel gemütlicher aussah, obwohl nicht aufgeräumt war. Das Bett war noch nicht gemacht, ihr Kleid von gestern hing über einem Stuhl, zwei Paar Schuhe standen auf dem Boden. Den Slip vor dem Bett kickte Shannon mit einem schnellen Schritt weg, dann drückte sie mich auf ihr Bett. Ihre Augen waren feucht vor unterdrückten Tränen. Sie setzte sich neben mich und kroch regelrecht in meine Arme.
"Jetzt falle ich", schluchzte sie leise. Im gleichen Moment begann sie zu weinen. Zuerst leise und unterdrückt, dann immer heftiger. Es tat mir in der Seele weh, dieses ansonsten fröhliche und muntere Mädchen so leiden zu sehen. Ich strich über ihre Haare, rieb meine Wange an ihrem Kopf und murmelte beruhigende Worte. Shannon drückte sich immer stärker an mich, bis wir plötzlich beide in ihr Bett sanken. Shannon hielt sich wie verkrampft an mir fest, während ihr Körper vor Weinen zitterte und bebte. Ich schlang beide Arme um sie und drückte sie an mich, wie bei einem kleinen Kind, das Trost brauchte.
Shannon weinte sich gründlich aus. So gründlich, daß mein T-Shirt an der Stelle, an der ihr Gesicht lag, durchnäßt war. Schließlich, nach endlos erscheinenden Minuten, ließ das Weinen nach, wandelte sich zu vereinzeltem Schluchzen und endlich zu schwerem, erschöpftem Atmen.
"Na siehst du", murmelte ich, während ich sie streichelte. "Jetzt geht's besser, oder?"
"Ja", hauchte sie. "Kann ich noch was so bleiben?"
"Natürlich, Shannon."
Wir blieben noch eine Weile liegen, bis sie schließlich den Kopf hob. Ihre Wangen glitzerten vor Tränen, doch ihre Augen leuchteten endlich wieder.
"Danke", flüsterte sie bewegt. "Das hat so gutgetan!" Sie kuschelte sich zurecht, mit ihrem Kopf auf meinem Arm, und sah mich an.
"Das war das erste Mal seit vier Jahren", flüsterte sie, "daß ich so hemmungslos geweint habe. War viel, was?"
"Du hast meinem T-Shirt eine Wäsche erspart", lächelte ich. Shannon lachte leise.
"Bin ich doch zu was gut. Hey, kann ich bei euch als Waschmaschine anfangen?"
"Das mußt du mit unserer alten Miele abklären. Wenn sie einverstanden ist, gerne. Nur sei bitte beim Schleudergang nicht so laut wie sie."
"Du bist herrlich!" Sie umarmte mich und blieb an mich gepreßt liegen. "Darf ich dich gernhaben?"
"Ich kann es ja doch nicht verhindern, oder?" zwinkerte ich. Ihre Augen schimmerten fröhlich.
"Nein, das kannst du nicht." Ihre Lippen drückten sich ganz zart auf meine, dann hob sie ihren Kopf.
"Hoch mit dir", schmunzelte sie. "Wenn mein Vater hört, daß ich mit einem Mann im Bett war, klinkt er aus."
"Dann sag ihm, daß ich heute in meiner Eigenschaft als Seelentröster hier war." Ich rappelte mich auf. Als ich saß, kam Shannon wieder in meinen Arm.
"Das hat mir wirklich geholfen, Toni", sagte sie leise. "Sehr sogar. Kann ich gleich rüberkommen?"
"Sicher, Shannon. Laß dir Zeit."
"Ich muß noch unser Essen vorbereiten. Geht schnell. In einer halben Stunde?"
"Wann immer du möchtest."
Wir gingen hinunter. Als ich die Haustür öffnen wollte, drückte Shannon sich ein weiteres Mal an mich, mit wieder feuchten Augen.
"Einmal noch", flüsterte sie. "Sonst halte ich den Rest des Tages nicht durch."
"Wetten, doch?" feixte ich. "Komm erst mal rüber, dann verstehst du, was ich meine."
"Gleich." Sie legte ihre Wange an meine Schulter. "Wie groß bist du eigentlich?"
"1,81. Und du?"
"1,76. Paßt gut, oder?"
"Zu gut." Ich drückte sie herzlich. "Sollte ein Scherz werden." Shannon nickte nur, ohne etwas zu sagen. Schließlich löste sie sich von mir, fing meine Hände ein und hielt sie fest.
"Bis gleich, Toni", sagte sie leise. "Und nochmal Danke."
"Schon in Ordnung, Shannon." Ich drückte ihre Hände leicht. "Bis gleich." Ihre Augen wanderten über mein Gesicht, bis sie wieder bei meinen Augen innehielten.
"Ja, bis gleich."
Ich wartete noch einige Sekunden, dann mußte ich lachen. "Du mußt mich loslassen, wenn wir uns gleich wiedersehen wollen, Shannon!"
"Schon", grinste sie. "Aber wenn ich dich nicht loslasse, habe ich dich immer bei mir." Sie ließ meine Hände los. "Jetzt ab mit dir, unser Essen wartet auf mich."
Während der paar Meter zu meinem Haus überlegte ich grinsend, wieso ich mich so herumschubsen ließ. Vera sagte: "Ab mit dir", Shannon sagte: "Ab mit dir"...
Als ich das Haus betrat, kam Vera auf mich zu. "Und? Was war?"
"Geheult wie ein Nachtgespenst." Ich führte Veras Hand zu meiner nassen Schulter.
"Das arme Würmchen", seufzte Vera. "Geht's ihr jetzt besser?"
"Denke schon. Sie wollte noch das Essen vorbereiten, dann kommt sie rüber. Ich bin im Büro."
"Viel Spaß!"



Eine halbe Stunde später kam Shannon. Sie unterhielt sich ein paar Minuten mit Vera, dann tauchte sie in der Tür zu meinem Büro auf.
"Hallo! Störe ich?"
"Ja!" knurrte ich. Shannon wich erschrocken zurück und erschrak gleich ein weiteres Mal, als Vera laut lachte.
"Das ist seine Standardantwort auf diese Frage, Shannon. Mach dir nichts draus. Geh einfach rein!"
"Na gut", lachte Shannon und stand mit einem Sprung in meinem Büro.
"Toni!" rief sie fröhlich. "Schau mal, wer hier ist!"
"Muß ich gar nicht erst nachschauen", brummte ich, ohne das Schreiben zu unterbrechen. "Deine liebliche Stimme dringt durch jede Mauer!"
"Charmant, der Herr!" kicherte Shannon. Im Wohnzimmer hörte ich Vera lachen.
"Nicht aufgeben, Shannon! Dranbleiben!"
"Hast du gehört?" Shannon stellte sich dicht neben mich. "Ich soll an dir dranbleiben."
"Wird dir auch nichts nützen." Ich kniff die Augen zusammen und starrte auf die letzten Worte, die ich geschrieben hatte. "Wenn ich schreibe, schreibe ich. Hast du ja schon gemerkt."
"Bist du biestig!" grinste Shannon. "Da ist ein Tippfehler. Dämon schreibt man ohne H."
"Danke!" knurrte ich.
"Gern geschehen." Lachend drückte sie sich an mich. "Wann kommen die Mädchen zurück?"
"Keine Ahnung."
"Wann bist du fertig?"
"Keine Ahnung."
"Wer bin ich?"
"Keine Ahnung."
"Bist du doof?"
"Ja."
Shannon umarmte mich lachend. "Ach, Toni! Du bist herrlich!"
"Und du bist herrlich im Weg." Ich sah sie unwirsch an. "Kann ich irgend etwas tun, damit ich weiterschreiben kann?"
"Sicher!" strahlte Shannon mich an. "Du legst einfach deine Finger auf die Tasten und drückst sie in einer sinnvollen Reihenfolge herunter."
"Mir kommt da gerade eine andere sinnvolle Reihenfolge in den Sinn." Ich schaute Shannon forschend an. "Zuerst knebeln, dann auf einen Stuhl binden... Doch, sollte klappen."
"Bin ja schon weg!" Sie drückte mich, gab mir einen Kuß auf die Wange und tanzte hinaus.
"Ist der brummig!" hörte ich sie lachend zu Vera sagen.
"Man gewöhnt sich dran. Immerhin habe ich ihm schon abgewöhnt, mit Sachen zu schmeißen, wenn er gestört wird."
"Echt?" Sekunden später stand Shannon wieder in der Tür. "Du hast Sachen nach Vera geworfen?"
Als Antwort nahm ich den Locher in die linke Hand und sah sie an. Shannon flüchtete kichernd.

* * *

Nach dem Mittagessen verdonnerte Vera Shannon und mich zu einem langen Spaziergang. Zuerst war ich darüber nicht sehr erbaut, aber als wir im Wald waren, in dem es heute sehr viel ruhiger als gestern zuging, legte sich meine leichte Verstimmung. Shannon schien das zu spüren; bisher hatte sie kein einziges Wort gesagt. Sie kam dicht an meine Seite.
"Nimmst du mich in den Arm?" fragte sie leise.
"Eng? Locker? Kameradschaftlich?" schmunzelte ich. Shannon schüttelte den Kopf.
"Ganz fest und lieb."
"So?" Ich legte meinen Arm um ihre Schultern und zog sie an mich. Shannon schmiegte sich während des Gehens an mich und nickte.
"Ja. So ist schön." Ihr Arm legte sich um meine Hüfte und drückte ebenfalls kräftig zu.
Nach drei Schritten gingen wir im gleichen Rhythmus. Shannon kam noch enger an mich heran und schaute mich an. "Magst du es so? Oder ist es unbequem?"
"Es ist gut so", lächelte ich. "Du bist wieder auf dem Damm?"
"Ja, dank dir." Sie sah wieder auf den Weg vor uns. "Tut mir leid, wenn ich dich beim Schreiben störe."
"Geht schon, Shannon. Im Moment ist es ein bißchen viel, weil ich gleichzeitig zwei Serien schreiben muß, aber zum Herbst hin wird es nur noch eine sein."
"Soll das heißen", lächelte sie hintergründig, "daß ich mich im Herbst wieder melden soll?"
"Genau das sollte es heißen." Ich drückte sie lachend an mich. "Tut mir auch leid wegen vorhin, aber wenn ich schreibe, dann -"
"Schreibst du", unterbrach sie mich.
"Genau."
"Toni? Hätte Vera was dagegen, wenn wir zwei mal essen gehen? Nur wir beide? Und uns über diese Dinge unterhalten?"
"Das mußt du sie fragen, Shannon. Haben deine Schwestern nichts dagegen?"
"Nein. Die sind glücklich, daß sie Freundinnen gefunden haben."
"Du hast doch auch Freunde gefunden, Shannon."
"Ja." Sie machte einen Zwischenschritt, so daß nun ihr linkes und mein rechtes Bein gleichzeitig nach vorne gingen, dann preßte sie ihr Bein an meines.
"Ich möchte so viel wie möglich von dir spüren", entschuldigte sie sich leise. "Nicht, weil du ein Mann bist, sondern weil ich so am besten merke, daß jemand ganz dicht bei mir ist."
Ich unterdrückte mein unwohles Gefühl. "Immer noch so einsam?"
Sie lächelte scheu. "Nicht mehr so schlimm. Hast du eigentlich auf den Weg geachtet? Ich nicht."
"Ich auch nicht." Wir blieben kurz auf der Kreuzung zweier Hauptwege stehen und schauten uns um. Plötzlich, ohne Vorwarnung, stand Shannon vor mir und küßte mich. Mit geschlossenen Lippen zwar, aber dennoch voller Gefühl.
Und voller Verzweiflung.
Im ersten Moment war ich zu überrascht und geschockt, um zu reagieren, im zweiten spürte ich zwei Dinge: erstens ihren aufgestauten, übermächtigen Hunger nach Zärtlichkeit, zweitens ihre Angst, zurückgewiesen zu werden. Deshalb ließ ich meine Lippen an ihren, tat aber sonst nichts. Dies machte jedoch keinen Unterschied für Shannon, sie brauchte nur den Kontakt zu einem anderen Menschen.
Schließlich löste sie sich von mir.
"Tut mir leid", entschuldigte sie sich leise. "Das war plötzlich stärker als ich."
"Das müssen wir bei uns zu Hause unbedingt wiederholen, Shannon. Am besten, wenn Vera, Kerstin und Birgit dabei sind."
Sie senkte den Kopf. "Es tut mir leid", flüsterte sie. Ich atmete laut aus, weil es nun Zeit für die Wahrheit war.
"Shannon, hör mir bitte zu." Ich legte meine Hände an ihre Wangen und hob ihren Kopf, bis sie mich schüchtern ansah. "Shannon, seit ich dich das erste Mal gesehen habe, versuche ich angestrengt, mich nicht in dich zu verlieben. Du siehst genauso aus wie ein Mädchen, in das ich mich mit 14 unsterblich verliebt hatte. Du hast die gleichen Haare wie sie, die gleichen Augen, die gleiche Figur. Sogar deine Stimme ist ganz leicht rauh wie ihre. Mädchen, mach es bitte nicht so schwer für mich! Und für dich auch nicht!"
"Okay." Sie löste sich von mir, wobei sie meinem Blick auswich. "Laß uns zurückgehen."



"Ein Kuß?" Vera starrte mich erschüttert an. "Sie hat dich geküßt?"
"Ja, Liebes. Ganz unschuldig, aber mit sehr viel Hunger nach Nähe." Ich schüttelte den Kopf. "Das muß aufhören, Vera. Sie klammert! Shannon steckt so voller unterdrückter Probleme und Wünsche, daß alles mögliche passieren kann. Wir haben sie vor nicht einmal 48 Stunden kennengelernt, und heute geht sie mit mir Arm in Arm durch den Wald, wie ein Liebespaar, und küßt mich, als ich einen Moment lang abgelenkt war. Was kommt als nächstes?"
Vera nickte entschlossen. "Sie ist im Garten, bei ihren Schwestern und unseren Kindern. Gehen wir zu ihr; ich möchte mit ihr reden."
Shannon lehnte es kategorisch ab, in meiner Gegenwart mit Vera zu reden. Die beiden zogen sich in Kerstins Zimmer zurück, in dem sie die nächste halbe Stunde blieben. Als sie zurückkamen, war deutlich zu sehen, daß Shannon geweint hatte. Was mich jedoch sehr erstaunte, waren Veras Augen, die ebenfalls leicht gerötet waren.
"Alles geklärt", lächelte Vera mich an. "Keine Gefahr."
"Das wollte ich auch nie sein", entschuldigte Shannon sich bei uns. "Es war - Ich fühlte mich auf einmal nur so gemocht und anerkannt!"
"Schon klar." Vera nahm sie in die Arme und drückte sie. "Wir alle mögen dich und deine Schwestern, Shannon."
"Wir mögen euch auch." Glücklich erwiderte Shannon die Umarmung, dabei strahlte sie mich an. "Euch alle!"
Die ganze Situation bekam plötzlich etwas Unwirkliches.

* * *

Gegen sechs Uhr rief Ian bei uns an. Vera sprach kurz mit ihm, dann gab sie den Hörer an Shannon weiter, deren Miene sich mit jedem Wort, das sie hörte, verdüsterte. Schließlich legte sie seufzend auf und sah ihre Schwestern an.
"Er kommt erst morgen mittag." Bedrückt ließ sie sich zwischen Vera und mir auf die Couch fallen. Ihre Schwestern schauten sich traurig an. Vera holte Luft, als wollte sie etwas sagen, schluckte es jedoch herunter.
"Ihr könnt gerne wieder hier schlafen", sagte sie statt dessen zu den drei Mädchen.
"Nein", widersprach Shannon ernst. "Diesmal nicht. Es ist sehr nett von dir, Vera, aber wir können euch nicht so zur Last fallen. Alles in allem waren wir in diesem Jahr etwa jede zweite Nacht alleine, wenn nicht sogar noch öfter. Wir kennen das."
"Mag ja sein", gab Vera zurück. "Aber nun seid ihr hier, und das ist für mich Grund genug, euch einzuladen. Mandy, Becky, möchtet ihr hier oder bei euch schlafen?"
"Ich würde gerne wieder bei Birgit schlafen", sagte Becky nach einem abschätzenden Seitenblick auf Shannon.
"Ich würde auch gerne hierbleiben", stimmte Mandy zu. "Wir können ja Lebensmittel von uns holen, Shannon, damit wir etwas beisteuern."
"Und damit", lächelte Vera, "ist Shannon überstimmt."
"Wenn Daddy nicht da ist", erwiderte Shannon sehr ruhig und gelassen, "bin ich verantwortlich für meine Schwestern. Eine Abstimmung ändert nichts daran, daß wir heute bei uns schlafen werden. Mandy, du kannst gerne ein paar Sachen von drüben holen, oder wir essen bei uns zu Abend. Das überlasse ich euch. Aber übernachten werden wir zu Hause."
Vera sah mich auffordernd und drängend an. Ich nickte nach kurzem Zögern, während dem ich mich zwischen Besorgnis und Hilfsbereitschaft zu entscheiden hatte.
"Shannon?" sagte ich leise, während ich meinen Arm um sie legte. "Würdest du mir die Freude machen, mit deinen Schwestern heute bei uns zu schlafen?"
Shannon drehte sich leicht zu mir und schmiegte sich an mich. "Möchtest du das wirklich?" fragte sie im Flüsterton. "Ganz ehrlich?"
"Ja, Shannon." Meine Finger fuhren wie von selbst durch ihre langen Haare. "Das möchte ich." Ihre Formen drückten sich in meine Seite, als sie leise lachte.
"Dann gerne." Ohne ihre Position zu verändern, sah sie ihre Schwestern an. "Wir schlafen hier. Ihr habt gewonnen." Vierfacher Jubel erklang, dann sprang Mandy auf.
"Ich hol eben was von drüben!"
"Mandy!" lachte Vera. "Laß es!"
"Nein!" Mandy lief kichernd hinaus. Ein paar Minuten später kam sie zurück, mit einem Korb voller Lebensmittel. Kopfschüttelnd sah Vera zu, wie Mandy die Sachen in der Küche aufbaute.
"Ist doch ganz einfach!" hörte ich die 13jährige sagen. "Wir essen so oft bei Ihnen, daß wir einfach was dazutun müssen, Frau Tenhoff. Sie können doch nicht drei Leute zusätzlich verpflegen! Mal ja, aber nicht so oft!" Diesem Argument konnte sich Vera nicht verschließen.
Und ich? Nach wie vor hatte ich das Gefühl, als würde ich einem Film zusehen. Ich wußte, daß alles, was ich sah, in meinem Haus geschah, dennoch ging es etwas an mir vorbei. Aber es war eine nette Geste von Mandy.
Nach dem Abendessen ging das Unwirkliche weiter. Birgit und Becky waren wie üblich in Birgits Zimmer; Shannon und Mandy saßen bei Kerstin, Vera und mir. Schön abwechselnd. Von links nach rechts kam zuerst Shannon, dann ich, dann Kerstin, dann Vera, und zum Schluß Mandy, die sich an Vera kuschelte, während wir fernsahen. Kerstin und Shannon lagen in meinen Armen.
In der ersten Werbepause rutschte Shannon nach innen, Kerstin neben meine Frau, und Mandy kam zu mir. Die 13jährige strahlte mich glücklich an, dann kuschelte sie sich gemütlich ein und bewegte sich bis zur nächsten Werbepause keinen Millimeter mehr. Nach dem nächsten Tausch hatte ich Kerstin außen neben mir sitzen, Mandy war zwischen Vera und mir, und Shannon saß außen neben Vera, die mich über Mandy hinweg angrinste.
"Geht doch", sagte sie nur. Ich mußte lächeln. Es war tatsächlich nicht so schlimm, wie ich im ersten Moment befürchtet hatte.
Nach dem Film verabschiedeten sich Mandy und Kerstin mit einem Kuß von Vera und mir, dann verschwanden sie in Kerstins Zimmer. Vera stand seufzend auf.
"Ich muß noch ein paar Teile für morgen bügeln. Ich bin im Keller."
"Soll ich dir helfen?" Shannon sprang auf die Füße. Vera sah sie nur tadelnd an.
"Soweit kommt das noch, daß unsere Gäste arbeiten müssen. Bleib hier sitzen und genieß die Ruhe."
"Ich weiß nicht..." Shannon schüttelte den Kopf. "Das kommt mir aber nicht richtig vor!"
"Shannon!" Vera nahm Shannons Hände in ihre. "Worüber haben wir uns vorhin so lange unterhalten? Du brauchst Nähe, und die bekommst du hier. Daß der Ausrutscher passiert ist, kann ich voll und ganz verstehen." Sie zwinkerte mir zu. "Toni und ich haben uns auch einmal in der Klasse geküßt, vor allen anderen. Ich kam gerade von der Tafel und ging an seinem Platz vorbei, als es uns beide packte. Gab zwar einen Eintrag im Klassenbuch, war aber trotzdem schön."
"Und die Benachrichtigung an die Eltern nicht zu vergessen!" lachte ich laut. "Weißt du noch, wie deine Eltern getobt haben?"
"Und wie empört deine waren? 'Sehr geehrter Herr Tenhoff! Ihr Sohn hat eine Klassenkameradin geküßt. Bitte tragen Sie dafür Sorge, daß dies nicht mehr während des Unterrichtes passiert.' Was haben sie noch mal gesagt?"
"Irgend etwas furchtbar Abwertendes und Bissiges. Ich hab's verdrängt."
"Ist auch ganz gut so." Vera ließ Shannon los, kam zu mir und küßte mich kurz. "Bis später." Shannon hatte uns mit leuchtenden Augen zugesehen. Als Vera in Richtung Keller ging, sprang sie zu mir auf das Sofa, legte meinen Arm um ihre Schultern und preßte sich an mich.
"Das muß toll sein", sagte sie sehnsüchtig. "Jahre um Jahre mit dem gleichen Menschen zu leben."
"Ist es auch", lächelte ich. "Ganz am Anfang verliebt man sich ineinander, dann unternimmt man viel gemeinsam und lernt sich kennen, bis man irgendwann so viele gemeinsame Erlebnisse hat, daß man beginnt, sich zu lieben."
"Ihr habt es gut", lächelte Shannon ohne jeden Neid. "Es tut mir wirklich leid, daß ich dich geküßt habe, Toni. Ich - Es war nur so ein Gefühl, daß du mich richtig gern hast. So wie ich dich."
"Ich habe dich gern, Shannon. Aber ein Kuß auf den Mund ist normalerweise für den Partner oder die Partnerin reserviert."
"Heute nicht mehr", erwiderte sie leise. "Heute begrüßen sich doch Jungen und Mädchen so. Aber meiner war viel zu lang." Sie lächelte entschuldigend. "Tut mir leid. Also nicht der Kuß an sich, der war nämlich wunderschön. Aber daß du es warst. Nein, auch nicht. Daß du verheiratet bist, wollte ich sagen. Quatsch!" Sie lachte hell.
"Noch mal von vorne: es tut mir leid, daß ich einen verheirateten Mann so lange auf den Mund geküßt habe!"
"Jetzt paßt es", lachte ich. "Komm her, du!"
Shannon warf ein Bein über meine und drückte mich so kräftig, wie ich sie drückte.
"Ich hab dich wirklich sehr gern", sagte sie mit leuchtenden Augen. "Weil du für uns drei da bist und mit uns redest."
"Ich hab dich auch gern, Shannon. Was möchtest du gleich sehen?"
"Das ist mir egal, Toni. Hauptsache, ich bin bei dir. Oder bei Vera", fügte sie nach einer winzigen Pause hinzu. "Bei euch jedenfalls."
"Shannon, spielst du mit uns?" fragte ich mißtrauisch, als mein Gespür für Gefahr sich meldete.
"Ich spiele Familie", erwiderte sie leise. "Toni, alles was mit Familie und Heim zu tun hat, ist für uns drei ziemlich ungewohnt. Unsere Mutter ist schon so lange weg, daß sich keiner von uns mehr so richtig an sie erinnert. Unser Vater... Das hast du ja miterlebt. Das geht schon seit Jahren so. Deswegen fällt es mir doch auch so schwer, mich richtig zu benehmen. Daddy drückt uns mal kurz, aber nie so lange wie Vera oder du. Und je älter wir werden, um so weniger." Sie gab mir einen flüchtigen Kuß auf die Wange, während ich ihr gebannt zuhörte.
"In mir sind diese ganzen Träume und Gefühle", sagte sie weiter. "All das, was mit einer Familie zusammenhängt. Vera und du seid schon fast so etwas wie unsere zweiten Eltern, bei denen wir uns überaus wohl fühlen. Wir mögen Daddy deswegen nicht weniger, aber bei euch haben wir das Gefühl, wirklich in einem Heim zu leben. Mit Eltern und Geschwistern." Als sie mich ansah, kullerten zwei Tränen aus ihren Augen. "Schimpf bitte nicht mit mir, wenn ich etwas aus den richtigen Motiven falsch mache, ja? Sag mir einfach, daß ich einen Fehler gemacht habe, aber sei bitte nicht böse auf mich. Machst du das?"
"Ja, Shannon", erwiderte ich gerührt. "Das werde ich tun. Du hast eben zum ersten Mal deine Mutter erwähnt..."
"Und auch zum letzten Mal!" sagte Shannon heftig. " Sie ist weg, und keiner von uns vier vermißt sie!" Ihre Wut in den Augen und der Stimme erschreckte mich. Shannon atmete tief durch und beruhigte sich etwas.
"Toni, ich weiß nicht, ob du mit den Verhältnissen in Irland vertraut bist...?"
"Meinst du diesen Krawall in Belfast?"
"Nein. Belfast liegt in Nordirland, und das ist wiederum ein Teil von Großbritannien. Irland selbst ist schon länger unabhängig. Aber darum geht es nicht. Irland ist ein sehr religiöses Land, hauptsächlich katholisch. Die Menschen dort sind rauh, wild und verschlossen, aber so etwas von herzensgut, wenn du sie erst einmal kennengelernt hast. Aber wenn du sie enttäuschst, hast du verspielt. Unsere Mutter war der letzte Dreck, um es deutlich zu sagen. Sie hat Daddy so oft betrogen, daß sogar ich mit meinen damals fünf Jahren es gemerkt habe. Sie war der Grund, warum Daddy anfing, so viel zu arbeiten. Nach zwei Jahren hier in Deutschland hat er sie zum Teufel geschickt. Ich hoffe, sie ist dort angekommen!" schloß sie bitter.
"Warum hat sie das denn getan?" fragte ich betroffen. "Hat ihr dein Vater nicht gereicht?"
"Damit hast du den Nagel auf den Kopf getroffen." Shannon sah mich voller Haß an. "Selbst zwanzig Männer an einem Tag reichten ihr noch nicht. Möchtest du mehr hören?"
"Nein." Ich zog Shannon an mich. Aufgebracht schmiegte sie sich an mich und beruhigte sich nur langsam wieder.
"Sie hat so viel kaputtgemacht", sagte sie schließlich. "Vor allem bei Daddy. Er hat sie geliebt, aber als sie anfing, fremdzugehen, wurde er kalt. Nicht uns gegenüber, sondern bei Frauen. Er traut ihnen einfach nicht mehr, verstehst du? Nicht bei Partnerschaften."
"Ja, Shannon. Das verstehe ich." Ich strich ihr sanft über die Haare. "Und ich verstehe jetzt auch, warum ihr nie von ihr geredet habt."
Shannon lächelte schief. "Und damit kommen wir zu den angenehmen Dingen des Abends. Weißt du, daß ich gerne auf deinem Schoß sitzen würde? Aber dafür bin ich zu groß. Das würde einfach affig aussehen."
"Fürchte ich auch. Außerdem würde ich dann nichts mehr sehen. Gefällt es dir nicht in meinem Arm?"
"Doch!" strahlte sie mich an. "Sehr gut sogar!"
"Dann komm."
Sie kuschelte sich wieder ein. Einen Arm hinter meinem Rücken, den anderen über meinem Bauch, ein Bein auf meinen, das andere dicht an mir. So blieb sie liegen, bis Vera mit einem Korb voll gebügelter Wäsche hochkam. Sie sah uns verschlungen auf der Couch sitzen und lächelte, dann trug sie die Sachen hoch. Kurz darauf war sie wieder bei uns. Sie setzte sich an Shannons andere Seite und begann, ihre Haare zu streicheln.
"Ist das herrlich!" seufzte Shannon leise. "Vera? Mandy sagte, sie würde gerne einmal bei euch im Bett schlafen wollen. Geht das, oder würde sie euch sehr stören?"
Vera mußte nicht lange überlegen. "Das sollte kein Problem werden, Shannon. Was ist mit Becky?"
"Sie ist zufrieden, wenn sie Birgit neben sich spürt." Shannon lachte leise. "Obwohl Birgit sich doch etwas über Beckys spitze Ellbogen und Knie beschwert hat."
"Kann ich verstehen", schmunzelte Vera. "Nein, Shannon. Sie kann gerne bei uns schlafen."
"Schon heute?" fragte Shannon aufgeregt. Vera nickte lächelnd.
"Wenn Toni nichts dagegen hat..."
"Hat er nicht", brummte ich. "Solange Mandy Schoner an Knien und Ellbogen trägt, ist es mir recht."
"Da wird sie sich freuen!" Shannon riß sich von uns los und sprang auf. "Ich sag ihr eben Bescheid, ja?" Weg war sie. Wir sahen ihr lächelnd hinterher.
"Mandy?" fragte ich Vera dann. Vera zuckte mit den Schultern.
"Warum nicht? Sie leidet auch sehr darunter, keine richtige Familie zu haben. Becky ist da wirklich ganz anders. Birgit reicht ihr. Eigentlich komisch, oder? Ich meine, Birgit ist doch fast wie eine Schwester, und davon hat sie immerhin zwei Stück."
"Die ganze Familie ist komisch", grinste ich. "Aber vielleicht macht Becky einen großen Unterschied zwischen Schwester und Freundin."
"Das wird es sein."
Ein Wirbelsturm mit langen rostroten Haaren stürmte ins Wohnzimmer, sprang erst Vera an und drückte sie stürmisch, dann hüpfte Mandy auf meinen Schoß und drückte auch mich. Ihre grünen Augen strahlten vor Freude.
"Ich darf bei euch schlafen?" fragte sie überglücklich. "In der Mitte?" Ihre Freude wischte alle Bedenken beiseite.
"Ja, Mandy", schmunzelte ich. "So sehr freust du dich darauf?"
"Ja." Für einen Moment sah es so aus, als würde sie anfangen, zu weinen, dann riß sie sich zusammen und küßte mich voll auf den Mund, wie Shannon es getan hatte.
Und auch sehr lange.
Dann hüpfte sie zu Vera, die Mandy leicht schockiert zugesehen hatte, und gab ihr einen gleichartigen Kuß, was nun wiederum mich etwas schockierte. Andererseits ließ dieses Verhalten Shannons Kuß nun in einem ganz anderen Licht erscheinen. Nicht mehr so gefährlich, sondern als das, was es wohl war: reine Freude, und Suche nach Zärtlichkeit.
Vera schien dies eher als ich erkannt zu haben, denn sie umarmte Mandy und drückte sie herzlich. Das Mädchen schluchzte leise auf, drückte Vera stürmisch, sprang auf und lief wieder nach oben.
"Genauso verrückt wie ich", schmunzelte Shannon. Vera und ich sahen uns kurz an; wir spürten beide die gegenseitige Erleichterung, daß Shannon doch nichts Böses vorhatte. Sie war einfach nur ein einsames junges Mädchen, wie ihre Schwestern.

* * *

Wegen Mandy ging ich mit Vera zusammen ins Bett. Das Mädchen war schon ganz aufgedreht und wartete nervös auf uns. Mandy trug als Nachthemd ein T-Shirt, was bis knapp unter den Po reichte.
"Komm her", lächelte Vera. "Rein mit dir."
Glücklich sprang Mandy ins Bett und strahlte Vera an, die sich vorsichtig neben sie legte. Sie nahm Mandy in den Arm, die sich begeistert an Vera kuschelte. Als ich mich dazu legte, leuchteten Mandys Augen wie ein Feuerwerk. Aufgeregt wie ein Welpe rutschte sie von Vera zu mir und wieder zurück, bis Vera sie schließlich lachend in meine Arme schob.
"Halt sie fest, oder sie rotiert die ganze Nacht!" Mandy kicherte ausgelassen, schmiegte sich mit ihrem Rücken an meine Vorderseite und versuchte, ruhig zu werden. Ich lächelte nachsichtig, während ich sanft ihre Haare streichelte, um sie noch mehr zu beruhigen. Nach einer Viertelstunde stellte sich so etwas wie ein Erfolg ein: Mandy drehte sich zu mir, lächelte mich still an, gab mir einen flüchtigen Kuß auf den Mund, kuschelte sich an meinen Hals und schloß die Augen.
"Gute Nacht, Mandy", flüsterte ich.
"Gute Nacht", erwiderte sie leise. "Und Danke!"
"Schon gut. Schlaf schön."
"Du - äh, Sie auch."
Ich versuchte, Mandys spitze Knie an meinem Oberschenkel zu ignorieren, und schloß die Augen. Kurz darauf schlief ich.










Kapitel 4 - Dienstag, 22.06.1999



Vielleicht lag es an den aufregenden Erlebnissen des Vortages, oder an der Tatsache, daß Mandy sich wie unser eigenes Kind im Arm anfühlte. Ich schlief jedenfalls bis halb sieben durch, was ich schon seit Jahren nicht mehr getan hatte. Als ich wach wurde, sah ich als allererstes Mandys grüne Augen, die mich voll sanften Glücks anschauten.
"Guten Morgen!" sagte sie leise, aber so zärtlich, daß es mich anrührte.
"Guten Morgen, Mandy." Ich drückte sie an mich. Sie erwiderte die Umarmung herzlich. "Hast du gut geschlafen?"
"Ja", flüsterte sie in mein Ohr. "Wie schon lange nicht mehr. Das war so toll!" Sie seufzte leise, voller Zufriedenheit und Glück. "Wann müssen wir aufstehen?"
"Wir können noch so bleiben, wenn du möchtest." Ihre Antwort bestand darin, daß ihre Umarmung noch intensiver wurde. Ich streichelte ihr Köpfchen, bis Vera begann, wachzuwerden. Mandy schaute sich um und sah zu, wie Vera sich hin und her drehte und gähnte.
Dann öffnete meine Frau ihre Augen und entdeckte Mandy und mich.
"Guten Morgen zusammen!" schmunzelte sie.
"Guten Morgen!" Mandy rutschte von mir ab und kroch zu Vera in den Arm. Gefühlsmaximierung, dachte ich amüsiert. Vera umarmte Mandy herzlich und blieb mit ihr im Arm still liegen. Mandy rührte sich ebenfalls keinen Millimeter mehr. Damit war eine große Sorge beseitigt. Auch Mandy wollte sich nicht zwischen uns drängen; sie suchte wie Shannon nur nach Nähe, Wärme, und Geborgenheit. Von einem Vater wie von einer Mutter.
Schließlich setzte Mandy sich auf, griff sich je eine Hand von Vera und mir und sah uns abwechselnd an.
"Das war meine schönste Nacht seit vielen Jahren", sagte sie bewegt. "Vielen, vielen Dank!" Bevor wir antworten konnten, war sie schon aus dem Bett gesprungen und hinausgelaufen. Wir sahen ihr einen Moment hinterher, dann kam Vera in meinen Arm.
"Die armen Kinder", sagte sie leise. "Toni, hast du gesehen, wie glücklich sie war? Nur weil sie für eine Nacht so tun konnte, als hätte sie Vater und Mutter?"
"Ich habe es gesehen", antwortete ich mit belegter Stimme. "Und gespürt. Sie war die ganze Nacht in meinem Arm, Vera. Ohne sich einmal zu bewegen. Sie lag heute morgen genauso, wie sie gestern eingeschlafen war. Sie muß so was von tief geschlafen haben..."
"Es ist wirklich erschreckend", seufzte Vera. "Du siehst es Ian an, wie sehr es ihn belastet, so viel zu arbeiten; ich frage mich nur, warum er nicht einen Schnitt macht. Den Kindern zuliebe."
"Das solltest du ihn fragen. Stehen wir auf, oder erwarten wir noch weitere Gäste?"
"Keine Ahnung!" lachte Vera leise. "Aber wer weiß? Vielleicht werden Kerstin und Birgit auf den Geschmack gebracht und kommen auch mal wieder zu uns."
"Wäre nicht schlecht. Irgendwie hat es mir sehr gut gefallen, die ganze Nacht ein Kind im Arm zu haben."
"Ich vermisse es auch", lächelte Vera wehmütig. "Na komm, stehen wir auf."
Vera ging ins Bad, ich schaute vorsichtig und leise im Gästezimmer vorbei. Mandy war bereits angezogen, genau wie Shannon. Beide Mädchen strahlten, als sie mich entdeckten, und liefen zu mir, um mich zu umarmen. Shannon begrüßte mich wie Mandy: mit einem langen Kuß auf den Mund. Wir blieben Arm in Arm stehen, bis Vera aus dem Bad kam, dann wurde sie gleich in den Kreis integriert. Auch sie bekam einen Kuß von Shannon. Jetzt, nach der Erfahrung mit Mandy, konnten wir wesentlich besser damit umgehen, ohne jede Angst.
"Wer hat Hunger?" fragte Vera schließlich, als keines der Mädchen Anstalten machte, uns loszulassen.
"Wir", meinte Mandy mit feuchten Augen. "Auf euch."
"Auf eure Liebe", erklärte Shannon genauer. Auch ihre Augen glänzten feucht. Die Sehnsucht der Mädchen nach einer Familie tat Vera und mir weh, aber wenn sie mit Umarmungen und sanften Zärtlichkeiten zufrieden waren, konnten wir ihnen perfekt helfen.
Wir hielten die Mädchen im Arm, bis sich zuerst Shannon, dann Mandy von uns löste. Die Augen der beiden strahlten vor Glück.
"Wir helfen euch", sagte Shannon. "Komm, Mandy. Wir machen heute mal Frühstück."
"Klar!" Die beiden eilten die Treppe hinunter. Vera und ich sahen uns erleichtert an.
"Wirklich keine Gefahr", sagte ich leise. Vera nickte ernst.
"Genau. Das habe ich gestern gespürt, als ich mit Shannon geredet habe. Die drei sind so wild auf Zuneigung, daß sie darüber jedes Maß an Zurückhaltung vergessen. Das hat Shannon eingesehen, und ich habe eingesehen, daß sie keine männermordende Lolita ist." Sie schmiegte sich an mich.
"Ich weiß jetzt auch, warum ich Angst vor ihr hatte, Toni. Sie will so tun, als wäre sie unser Kind, und diesen Wunsch habe ich offenbar aufgeschnappt. Was ich aber nicht aufgeschnappt habe, war ihre klare Trennung zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Sie tut so, als wäre sie unser Kind, weiß dabei aber ganz genau, daß sie es nicht ist. Nur für ein paar Sekunden, für ein paar Augenblicke, dann ist die Realität wieder da."
"Das kann gut sein", erwiderte ich nachdenklich. "Ich bekam erst Angst vor ihr, als sie zu - persönlich wurde. Aber die Motive sind mir jetzt auch klar."
"Schön, daß das alles geklärt ist", seufzte Vera erleichtert. "Ich geh mich anziehen."
"Ist gut. Bis gleich, Liebes."
"Bis gleich."
Als ich gewaschen und rasiert aus dem Bad kam, warteten Becky und Birgit schon vor der Tür.
"Morgen, ihr zwei!" begrüßte ich sie fröhlich. "Warum habt ihr nicht geklopft?"
"War nicht so dringend." Becky flog in meinen Arm und drückte mich stürmisch. "Guten Morgen, Herr Tenhoff!"
"Morgen, Papi!" Birgit kam dazu. Neugierig sah sie zu, wie Becky mir einen ebenfalls sehr langen Kuß auf den Mund gab, dann tat sie das gleiche. Das kam mir im ersten Moment etwas merkwürdig vor, aber als meine leibliche Tochter wollte sie wohl nicht zurückstehen.
Nachdem die Mädchen ihre Portion Zärtlichkeit bekommen hatten, verschwanden sie im Bad. Lächelnd ging ich hinunter. Kerstin war auch schon wach, sie redete mit Mandy im Wohnzimmer. Als sie mich entdeckte, sprang sie auf und lief in meinen Arm. Von ihr bekam ich den fünften Kuß an diesem Morgen, und als Birgit und Becky Vera begrüßt hatten, herrschte wieder Gleichstand.
Nach dieser ganzen Küsserei und Drückerei schaute ich mir die drei Nachbarmädchen genauer an. Alle strahlten eine Zufriedenheit aus, die sich in ihrem ganzen Auftreten niederschlug. Ganz objektiv besehen machten sie heute einen wesentlich ausgeglicheneren Eindruck als gestern. Auch unseren Töchtern schien der Morgenkuß sehr gefallen zu haben, ebenso wie Vera.
Vielleicht hatte ich das alles wirklich viel zu eng und mit zu viel Befürchtungen gesehen.



Nach dem Frühstück verabschiedeten sich die drei etwas traurig.
"Dienstags ist bei uns immer große Wäsche", erklärte Shannon. "Waschen, Trocknen, Bügeln. Bei vier Personen geht da fast der ganze Tag bei drauf. Aber es muß ja gemacht werden."
"Leider!" seufzte Vera. "Da erzählst du mir nichts Neues."
Die drei drückten und küßten jeden von uns zum Abschied, dann waren wir vier wieder alleine.
"So!" meinte Vera entschlossen, als sie die bedröppelten Gesichter unserer Töchter sah. "Was haltet ihr zwei davon, wenn wir den ganzen Tag ins Freibad fahren? Toni, kommst du mit?"
"Beim nächsten Mal, Liebes. Ich habe sehr viel zu schreiben, aber wenn ich es schaffe, komme ich nach."
"Na ja", grinste Kerstin. "Beklagen dürfen wir uns nicht, immerhin haben wir dich ja den ganzen Tag um uns herum."
"Wenn's dich so stört..." lachte ich. Kerstin kam kichernd in meinen Arm.
"Und wie!" strahlte sie mich an. "Wie weit sind deine Geschichten?"
"Nicht weit genug." Ich drückte meine Tochter zärtlich an mich. "Habt viel Spaß."
"Du auch!" Birgit löste Kerstin ab. "Und schreib nicht wieder so viel, daß dir die Finger weh tun!"
"Ja, Chef!" seufzte ich. Birgit kicherte ausgelassen, dann hüpften die Mädchen davon, um ihre Taschen zu packen. Zehn Minuten später war ich alleine.
Der Vormittag verging wie im Nu. Ich schaffte es, eine neue Geschichte fertigzustellen und die nächste schon vorzubereiten. Nach einem kleinen Imbiß und einer kurzen Pause auf der Terrasse ging ich an eine aus der alten Serie, die ich bis fünf Uhr fertigstellte. Anschließend schickte ich die beiden fertigen per Modem an den Verlag und nahm das Konzept für das erste Taschenbuch in Angriff.
Gegen halb sechs kam der Rest meiner Familie nach Hause. Vera und die beiden Mädchen waren restlos geschafft. Ausgelaugt fielen sie auf die Couch. Ich schrieb den Absatz noch schnell zu Ende, speicherte und ging danach in die Küche, um das Abendessen vorzubereiten. Um sechs aßen wir.
"Das war nötig!" stöhnte Kerstin, als sie das vierte Glas kalten Kakao hinuntergestürzt hatte. "Das war noch schön leer im Freibad, Papa. Wir sind den ganzen Tag geschwommen!"
"Und deswegen seid ihr so kaputt? Ihr vertragt auch gar nichts mehr."
"Ja, ja!" kicherte Birgit. "Zu deiner Zeit war das alles noch gaaaanz anders."
"Völlig richtig, liebste Tochter. Da waren die Kinder noch wohlerzogen, und -"
"Märchenstunde?" grinste Kerstin aufmüpfig. "Oder spinnst du einfach nur rum?"
"Wie redest du denn mit deinem Vater?" sagte ich gespielt streng. Kerstin lachte frech.
"So wie mein Vater mit mir redet. Wir haben inzwischen die Gleichberechtigung von Eltern und Kindern, falls du das nicht mitbekommen hast!"
"Prima!" freute ich mich. "Dann darfst du den Tisch abräumen."
"Das ist Kinderarbeit", kicherte Kerstin. "Und die ist verboten!"
Ich sah zu Vera. "Liebes, ich untersage dir hiermit, mit unseren Töchtern alleine zu sein. Du wiegelst sie gegen mich auf."
"Ist doch nicht wahr", schmunzelte Vera. "Mich haben sie schon im Freibad nach Strich und Faden fertiggemacht." Kerstin und Birgit umarmten sich lachend, dann schwang Kerstin sich auf meinen Schoß, mit dem Rücken zu mir, legte meine Hände auf ihren Bauch und den Kopf nach hinten auf meine Schulter.
"Schmusen?" fragte ich leise. Kerstin nickte.
"Ja. Bin müde. War echt anstrengend."
"Ich räum eben auf", meldete sich Vera. Birgit sprang auf.
"Ich helf dir."
Minuten später waren sie zurück. Birgit kuschelte sich bei Vera ein, während ich den Fernseher mit der Fernbedienung einschaltete. Weitere fünf Minuten später waren beide Mädchen am Schlafen.
"Das gibt's doch nicht!" lachte Vera leise, als sie es bemerkte. "Beide?"
Ich nickte schmunzelnd. Kerstin hing nur noch von meinen Armen gehalten auf mir. Ich drehte sie auf meinem Schoß, bis ich sie auf die Arme nehmen konnte, dann stand ich vorsichtig auf. Kerstin murrte im Schlaf. Ich trug sie in ihr Zimmer. Vera kam hinterher, um Kerstin auszuziehen, in der Zeit trug ich Birgit in ihr Zimmer und machte sie bettfertig. Vera und ich trafen uns anschließend auf dem Flur und gingen gemeinsam hinunter.
"Hat sich eines der drei Mädchen heute sehen lassen?" fragte sie, als wir auf der Couch saßen.
"Nein. Ich habe allerdings auch nicht auf den Garten geachtet. Ich habe geschrieben."
"Komisch." Vera schmiegte sich an mich. "Irgendwie fehlen sie mir."
"Schon?" grinste ich. Vera nickte.
"Ja. Ich mache mir viele Gedanken um sie, Toni. Um alle drei. Mandy und Becky sind reifer als Kerstin und Birgit, aber das ist ganz natürlich. Wenn sie praktisch den Haushalt alleine führen müssen... Dafür fehlt ihnen aber die Sicherheit, die unsere Kinder durch das Aufwachsen mit ihren Eltern bekommen. Verstehst du, was ich sagen will?"
"Ja, Liebes. Unsere sind in sich sicher, die drei sind nur nach außen sicher."
"Genau das. Soll ich mal rübergehen und nach ihnen sehen?"
"Wird wohl nicht nötig sein. Ians Wagen steht vor dem Haus. Stand er zumindest bis vorhin noch."
"Ach so. Läßt du mich mal eben aufstehen?"
Sekunden später saß sie wieder bei mir.
"Steht noch da." Sie streckte sich lang auf der Couch aus, mit ihrem Kopf auf meinem Oberschenkel, dann schloß sie die Augen.
"Ich bin auch im Eimer", gähnte sie. "Wir sind morgens fast drei Stunden und nachmittags fast vier Stunden geschwommen. Es war wirklich schön leer."
"Soll ich dich auch ins Bett bringen?"
"Hm-m. Mit Ausziehen?"
"Und ausgiebig Gute Nacht sagen?"
"Au ja!" schwärmte Vera. "Trägst du mich hoch?"
"Ich kann's versuchen."
Verliebt klammerte sich Vera an mich. Sie wog knapp sechzig Kilo, aber ich schaffte es. Allerdings war ich ziemlich aus der Puste, als ich sie auf ihrem Bett ablegte.
"Mein tapferer Held", lächelte Vera. "Ich liebe dich!"
"Ich liebe dich auch. Wo soll ich anfangen?"
"Schon alles verlernt?" grinste Vera. "Komm erst mal zu Atem, dann üben wir das." Sie zog mich auf sich.










Kapitel 5 - Mittwoch, 23.06. bis Freitag, 25.06.1999



Wieder wachte ich mitten in der Nacht auf, doch diesmal wußte ich sofort, warum. Schnell, aber leise ging ich hinunter und auf die Terrasse. Shannon saß dort und weinte still.
"Shannon!" Erschrocken hockte ich mich vor sie. Sie warf ihre Arme um meinen Hals und schmiegte sich weinend an mich.
"Halt mich fest!" schluchzte sie. "Ganz fest!" Gehorsam drückte ich sie an mich.
"Was ist denn los, Shannon?" Ich war etwas im Zweifel, ob sie vielleicht eine Show abzog, aber nach ihren nächsten Worten schämte ich mich für diese Gedanken.
"Daddy!" jammerte sie. "Das neue Gerät, was er entwickelt hat, ist so gut angekommen, daß er befördert werden soll. Er muß für drei Wochen nach Tokio fliegen, zu Schulungen. Drei Wochen, Toni!" Ihr Weinen verstärkte sich.
"Mein Gott!" Betroffen drückte ich das arme Mädchen an mich. "Shannon, ihr werdet natürlich bei uns wohnen und -"
"Das ist es nicht", unterbrach sie mich weinend. "Das ist schon alles geklärt. Er läßt uns genug Geld da. Mehr als genug. Aber wir wollen ihn! Nicht sein Geld!" Ihre Stimme kippte.
"Toni!" weinte sie, während ihre Stimme von Hoch nach Tief und wieder zurück wechselte, unterbrochen von lautem und schnellem Luftholen. "Ich dreh noch durch! Ich will doch nur eine Familie haben, mit richtigen Eltern, die für mich da sind! Meine Schwestern auch. Ist das so viel verlangt? Sie hängen total in den Seilen, seit Daddy das gestern nachmittag gesagt hat. Meinen Geburtstag am 7. wollten wir ganz groß feiern, mit schick ausgehen und so, und jetzt ist er an dem Tag in Tokio! Wieder ein Geburtstag ohne ihn. Mandy und Becky haben auch seit drei Jahren nicht mehr mit ihm gefeiert. Immer nur wir drei untereinander. Ich pack das alles nicht mehr! Ach, Toni!" Sie fiel förmlich vom Stuhl und in meine Arme, sich die Seele aus dem Leib heulend. Mir brach fast das Herz.
"Arme kleine Shannon", flüsterte ich bekümmert, ihr heißes Köpfchen streichelnd. "Armes kleines Mädchen."
Viele nasse Minuten später hatte Shannon sich ausgeweint. Völlig erschöpft und erhitzt hing sie an mir, während sich ihr Atem nur langsam wieder normalisierte. Schließlich hob sie ihren Kopf und küßte mich flüchtig auf die Wange.
"Danke!" hauchte sie. "Fürs Zuhören und Trösten und so."
"Dafür mußt du dich nicht bedanken, Shannon. Möchtest du bei uns schlafen? Bei Vera und mir?"
"Gerne", wisperte sie. "Mandy sagte, sie hätte noch nie so tief und fest geschlafen wie bei euch. Aber was wird Vera dazu sagen?"
"Sie wird sich freuen", lächelte ich. "Unsere beiden haben sich das nämlich schon abgewöhnt."
"Dann gerne, aber nur, wenn ich wirklich nicht störe!"
"Du störst nicht. Komm."
Ich führte sie im Dunklen die Treppe hinauf und in unser Schlafzimmer. Shannon tastete sich zu meinem Bett und legte sich leise hin. Ich schlüpfte neben sie. Das verstörte Mädchen kam schnell in meinen Arm und drückte sich an mich.
"Ich bin so durcheinander", flüsterte Shannon weinerlich. "Toni, darf ich dir bitte einen langen Kuß geben?"
"Sicher, Shannon. Komm her." Sie drückte ihre Lippen ganz zart auf meine und entspannte sich sofort. Gelegentlich wurde ihr Körper noch von einem unterdrückten Schluchzen erschüttert, doch nach und nach wurde sie ruhiger. Irgendwann fiel ihr Kopf zur Seite; sie war eingeschlafen. Ich hielt sie im Arm und strich ihr sanft über die Haare und den Kopf, damit sie auch im Schlaf spürte, daß jemand bei ihr war. Darüber schlief ich ein.
Als ich am Morgen endgültig wach wurde, ruhten Shannons braune Augen auf mir.
"Morgen!" flüsterte sie zärtlich.
"Morgen, Shannon."
Sie schmiegte sich an mich. Erst da, als sie sich bewegte, spürte ich, daß meine Hand auf einer warmen, festen Halbkugel lag, die nicht mehr von ihrem T-Shirt verdeckt wurde. Sofort riß ich sie zurück. Shannon schmunzelte.
"Machst du das bei Vera auch? Sie im Schlaf am Po streicheln?"
Ich nickte zutiefst beschämt. "Ja. Shannon, es tut mir sehr leid. Ich -"
"Pst!" Sie legte ihren Finger auf meine Lippen. "Schon gut. Ich fand's schön. Ich hab dich die ganze Nacht gespürt. Und ich hab ganz toll geschlafen. Mandy hatte recht." Sie schmiegte sich noch enger an mich und legte ihr oberes Bein über meine, dann seufzte sie leise und glücklich.
"Das ist urgemütlich", wisperte sie. "Können wir noch etwas so liegenbleiben? Bitte!"
"Natürlich, Shannon. Bist du mir wirklich nicht böse?"
"Nein", lachte sie leise. "Ich sehe das als ein Kompliment an. Mach das bloß nicht, wenn wir wach sind, hörst du?"
"Auf keinen Fall!" schmunzelte ich. "Dafür liebe ich mein Leben viel zu sehr."
"Ich würde dich doch nicht umbringen!" gab sie erschrocken zurück.
"Du nicht, aber jemand, der da auf der anderen Seite liegt."
"Ach so!" kicherte sie. "Ja, das würde sie tun." Sie gab mir einen zärtlichen Kuß. "Und auch zu Recht."
"Denke ich auch. Bist du schon richtig wach?"
"Ja. Du brauchst auch wenig Schlaf, nicht wahr?"
"Hm-m. Sechs Stunden höchstens."
"Ich auch!" Sie strahlte mich glücklich an. "Wieviel braucht Vera?"
"Sieben. Wenn sie weniger schläft, ist sie den ganzen Tag lang knurrig."
"Schade", seufzte Shannon. "Das wäre so toll, wenn wir uns jetzt zu dritt im Arm halten könnten."
"Ich weiß." Ich zog sie an mich und drückte sie. Shannon legte ihre Lippen an meine Wangen und blieb still liegen. Ich konnte förmlich spüren, wie sie in dem Gefühl, geborgen zu sein, badete. Ein tiefes Mitgefühl für Shannon und ihre Schwestern überkam mich. Wie es war, ohne Eltern aufzuwachsen, hatten weder ich noch Vera erlebt. Aber ich stellte es mir furchtbar vor, als Kind nur noch ein Elternteil zu haben und den auch nur sehr selten zu sehen. So gesehen war es kein Wunder, daß die drei Mädchen sich so stark an unsere Familie klammerten. Eigentlich war es sogar verständlich.
"Ich hab dich lieb", flüsterte ich impulsiv. Shannon drückte sich noch enger an mich und küßte mich sanft auf die Wange.
"Ich dich auch, Toni. Und Vera. Und Kerstin. Und Birgit. Euch alle." Sie schluchzte ganz leise auf. Ihr Körper zitterte einen Moment, dann hatte sie sich wieder gefangen.
"Ist schon gut, Kleines", flüsterte ich. "Du bist ja jetzt hier."
"Ja, jetzt", wisperte sie traurig. "Gleich muß ich rüber, Frühstück machen, und dann ist Daddy wieder weg. Arbeiten. Können wir nachher zu euch kommen?"
"Aber sicher, Shannon. Dann werden wir alle miteinander reden, ja? Vielleicht fällt uns etwas ein, um euch diese drei Wochen zu erleichtern."
"Danke." Diesmal konnte sie ihre Tränen nicht zurückhalten. Zitternd lag sie an mir, stumm weinend. Aufgewühlt drückte ich sie an mich, bis die Tränen versiegten.
"Ich muß rüber", flüsterte sie. "Vielen, vielen Dank, Toni! Du hast mir ganz toll geholfen! Jetzt geht's mir schon viel besser."
"Das freut mich", lächelte ich. "Ich bring dich eben runter."
"Okay."
Ich wollte zur Haustür, doch Shannon zog mich in Richtung Terrasse.
"Das Haus hat eine Tür zum Keller, direkt vom Garten aus", sagte sie und drehte den Kragen ihres T-Shirts nach außen. Ich entdeckte eine angenähte kleine Tasche, aus der Shannon einen Schlüssel holte. Sie lächelte herzlich.
"Toni, ich mach das schon lange. Nachts nach draußen gehen und nachdenken, meine ich." Sie umarmte mich und gab mir einen flüchtigen Kuß auf die Lippen. "Bis später, Toni."
"Bis später, Shannon. Sei nicht allzu traurig, ja? Wir schaffen das schon."
Sie lächelte tapfer, drückte noch einmal meine Hand und lief dann durch den Garten auf den Zaun zu. Mit einem Satz war sie darüber gesprungen, winkte mir zu und verschwand dann auf einer Treppe zum Keller. Seufzend ging ich zurück ins Haus.



Nach dem Frühstück gingen unsere Töchter in den Keller, um zu schwimmen, während Vera und ich uns noch einen Moment ins Wohnzimmer setzten, bevor die tägliche Arbeit begann.
"Ich habe von Shannon geträumt", schmunzelte Vera. "Daß sie bei uns geschlafen hat. Ob das ein Zeichen sein soll?"
"Das war kein Traum, Liebes", feixte ich. Vera sah mich erstaunt an. Ich erzählte ihr von Shannon, was sie blaß werden ließ.
"Das kann er doch nicht tun!" rief sie empört aus, als ich fertig war. "Toni, das - Er kann die Kinder doch nicht drei Wochen lang alleine lassen!"
"Das sehe ich genauso, Liebes. Shannon und ihre Schwestern ebenfalls. Ich weiß allerdings auch nicht genau, wie es in japanischen Unternehmen zugeht. Ich weiß nur, daß trotz einer krampfhaft familiären Atmosphäre jeder wie behämmert reinklotzen muß."
"Das ist kein Argument!" Vera war wirklich wütend. "Dann soll er eben seinen Job aufgeben und sich etwas anderes suchen!"
"Würde er ja", unterbrach uns eine Stimme. Vera und ich fuhren zusammen und fanden Ian, der auf der Terrasse stand.
"Tut mir leid", entschuldigte er sich durch die offene Tür hindurch. "Ich habe geklopft, aber ihr habt zu laut geredet, um mich zu hören." Er hob seine Hand, als Vera etwas sagen wollte. "Und das zu Recht. Darf ich hereinkommen?"
"Sicher." Ich bot ihm einen Kaffee an, den er dankend annahm.
"Ihr habt völlig recht", sagte er, als er einen Schluck davon getrunken hatte. Dann setzte er die Tasse ab, und zum ersten Mal, seit wir ihn kannten, brachen seine tieferen Gefühle aus. Er sah uns verzweifelt an.
"Vera, Toni, ich werde im Oktober 50 Jahre alt. Du hast vollkommen recht, Vera. Ich sollte den Job hinschmeißen und mir etwas anderes suchen. Nur: welche Firma stellt einen 50jährigen Entwicklungsleiter in der Forschung ein? Ich will es dir sagen: keine einzige. Wenn ich kündige, werde ich den Rest meines Lebens arbeitslos sein. Toni, du hast auch recht. Teilweise zumindest. Die familiäre Atmosphäre ist nur dann krampfhaft, wenn du kein Asiate bist. Für die Japaner ist das Unternehmen, in dem sie arbeiten, tatsächlich eine zweite Familie, und sie klotzen deswegen so rein, weil sie von dem Gewinn des Unternehmens auch profitieren. Arbeitszeiten von 10, 12 Stunden am Tag sind vollkommen normal. Für uns Europäer ist diese Mentalität nur schwer nachzuvollziehen. Das ist aber auch nicht der springende Punkt." Er trank einen weiteren Schluck.
"Worauf es ankommt", sprach er weiter, "ist die Firmenpolitik. Fähige Leute werden befördert, und wenn sie diese Beförderung ablehnen, bedeutet das, daß sie sich nicht mit dem Unternehmen identifizieren. Das entspricht schon einer Kündigung. Und genau das", sagte er plötzlich heftig, "ist mein Dilemma. Auf der einen Seite mein Alter, auf der anderen Seite der Erfolg, den ich habe. Wenn ich jetzt mitten auf der Leiter haltmache, stürze ich ab. Besser gesagt, ich werde abgestürzt. Abgesägt wäre eine noch treffendere Bezeichnung." Er sah Vera und mich eindringlich an.
"Ich habe meinem Vorgesetzten schon gesagt, daß ich drei minderjährige Kinder habe. Er hat mir großzügig angeboten, sie mitzunehmen; es seien ja Ferien. Nett, oder? Die Mädchen werden sich bestimmt unheimlich freuen, entweder drei Wochen lang im Hotel zu hocken oder in dem Labyrinth der Stadt verloren zu gehen und vielleicht von irgendwelchen Banditen entführt zu werden. Ich kann sie nicht mitnehmen. Das ist völlig unmöglich." Er spreizte hilflos die Arme.
"Was soll ich tun? Mein Erspartes steckt in dem Haus. Wenn ich jetzt in Rente gehe, können meine Töchter nicht mehr studieren. Auf der einen Seite würde ich zwar ein sehr niedriges Einkommen haben, auf der anderen Seite steht aber das Haus als Vermögen. Das reicht aus, um die staatliche Unterstützung nicht zu bekommen. Gehe ich weiter arbeiten, haben die Mädchen Aussicht auf eine erfolgreiche Ausbildung, aber nichts mehr von ihrem Vater. Und so gut sind sie auch nicht in der Schule, daß sie ein Stipendium bekommen würden. Sie sind zwar gut, aber nicht so gut." Er stand auf und stapfte in unserem Wohnzimmer herum. Vera und ich folgten ihm mit betroffenen Blicken. Sicher, für einen Außenstehenden war es leicht, ihn schnell zu verurteilen. Durch das, was Shannon und ihre Schwestern uns in den letzten Tagen erzählt hatten, waren wir schon etwas voreingenommen. Doch nun, da wir seine Seite gehört hatten, fiel uns ein Urteil gar nicht mehr so leicht.
Aufgebracht setzte Ian sich wieder hin. "Ich habe sogar schon ernsthaft überlegt, eine Pflegefamilie für die Mädchen zu suchen", sagte er wütend. "Damit sie wenigstens die Andeutung einer Familie haben." Er sah mich an. "Shannon hat dir von meiner Frau erzählt?"
"Ja."
"Mir nicht." Vera setzte sich auf und sah mich an. "Was war denn mit Ians Frau?" Ian beantwortete ihre Frage.
"Shelley war eine Nymphomanin, Vera", sagte er beherrscht. Ich spürte seine Wut bis zu meinem Platz. "Während sie mit einem Mann gebumst hat, hat sie den nächsten schon angerufen und sich mit ihm verabredet. In den ersten Jahren unserer Ehe hatte sie es noch gut unter Kontrolle gehalten, aber je länger wir verheiratet waren, um so stärker wurde ihre - ihre Gier, bis selbst ich es nicht mehr übersehen konnte. Wir waren bei der Eheberatung. Für Shelley wurde eine Therapie angesetzt, zu der sie jedoch nie gegangen ist. Als Shannon sechs war, habe ich Shelley vor die Tür gesetzt. Selbst die Kinder hatten schon gemerkt, daß mit ihrer Mutter nicht alles in Ordnung war. Sie haben sich schon damals sehr von ihr distanziert." Er schnaubte durch die Nase. "Und nun haben sie einen Vater, der sich kaum zu Hause blicken läßt. Shannon hat freiwillig die Rolle der Mutter übernommen, aber sie ist auch langsam am Ende ihrer Kraft. Sie hat heute nacht bei euch geschlafen?"
"Ja. Bei uns im Bett. Und sie hat Rotz und Wasser geheult."
"Verständlich. Mich wundert immer, daß sie so ruhig bleibt. Wenn ich an ihrer Stelle wäre, hätte ich schon einiges zertrümmert." Er atmete tief durch.
"Ich weiß wirklich nicht mehr, was ich tun soll", sagte er leise, doch sehr verzweifelt. "Die Kinder brauchen eine Mutter, aber nach dem Fiasko mit Shelley habe ich Angst vor einer neuen Ehe. Und nur heiraten, damit die Kinder eine Mutter haben... Das würde wohl auch nichts bringen."
"Bestimmt nicht", sagte Vera schnell. "Kinder spüren, ob die Eltern sich lieben. Wenn sie das nicht merken, wird auch eine Mutter nicht helfen. Nicht so, wie du es dir vorstellst."
"Ich weiß." Ian sah kurz aus dem Fenster, dann wieder zu uns. Er lächelte zynisch. "Ich lebe schon zu lange in Deutschland. In Irland wäre das, was ich hier tue, völlig undenkbar. Fremde mit den eigenen Problemen zu überfallen. Unmöglich. Aber ich dachte mir, daß ihr ein Recht darauf habt, es zu erfahren. Ihr glaubt bestimmt, daß ich ein Rabenvater bin, der sich einen Spaß daraus macht, seine drei Kinder zu vernachlässigen, nicht wahr?"
Vera und ich nickten verlegen.
"Es macht mir keinen Spaß", sagte Ian leise. "Nicht den geringsten. Die Mädchen leiden, und damit leide auch ich. Aber die Entscheidung ist vor mehr als acht Jahren gefallen. Damals habe ich den Sprung in das Management gewagt, und dort herrschen noch strengere Regeln als bei den normalen Angestellten. Das Ausruhen auf der Position, wie manche Manager es gelegentlich tun, ist bei einem japanischen Unternehmen völlig ausgeschlossen. Ebenso die Theorie, daß jemand bis auf die höchste Stufe seiner Inkompetenz befördert wird. Ich habe wirklich nur die Wahl zwischen Arbeitslosigkeit oder Weitermachen. Mache ich weiter, können meine Kinder einen qualifizierten Beruf ergreifen, wähle ich die Arbeitslosigkeit, müssen sie das nehmen, was sich ihnen bietet. Was würdet ihr an meiner Stelle tun?"
"Mich betrinken", entfuhr mir. Ian lächelte dünn.
"Habe ich schon versucht. Bringt nichts. Andere Ideen?" Vera und ich schüttelten die Köpfe, Ian nickte.
"Dachte ich mir. Ich werde dafür bezahlt, Ideen zu haben, aber ich habe keine einzige. Außer einer Pflegefamilie. Shannon ist fast soweit, daß sie den Gedanken akzeptiert. Immerhin hätten die Mädchen so eine Familie, und ich könnte sie jederzeit sehen." Er zuckte mit den Schultern.
"Es kann nämlich passieren", sagte er leise, wie zu sich selbst, "daß meine Arbeit in Tokio so geschätzt wird, daß ich komplett nach Japan ziehen muß. Nicht sofort", korrigierte er sich schnell, als Vera und ich heftig erschraken. "Aber in zwei, drei Jahren... Möglich wäre es. Mein Japanisch ist inzwischen gut genug, um einen ganz normalen Tag zu überstehen. Gelernt habe ich es nur, um Gespräche der Geschäftsleitung verstehen zu können. Inzwischen bedaure ich es schon. Aber die Mädchen können nicht mal auf Japanisch fluchen. Sie würden dort eingehen wie Primeln im Winter. Ach!" sagte er plötzlich laut. "Das sind ungelegte Eier. Auf jeden Fall möchte ich mich bei euch beiden ganz, ganz herzlich bedanken, wie nett und lieb ihr mit meinen Kindern umgeht. Seit sie euch und eure Kinder kennen, sind sie regelrecht aufgeblüht. Das andere... Das muß die Zeit eben entscheiden. Ich dachte nur, daß euch meine Einstellung zu der ganzen Angelegenheit auch interessieren würde. Hoffentlich denkt ihr nicht mehr allzu schlecht von mir."
"Nein, Ian!" sagte Vera schnell und überzeugt. "Ich habe es dir angesehen."
"Und ich habe es gespürt", seufzte ich. "Ian, was können wir im Moment tun?"
Er lächelte schief. "Das, was ihr bisher auch getan habt. Seid einfach nur da, wenn sie mit euch reden wollen, und laßt sie mit euren Kindern spielen. Das hilft ihnen schon sehr. Mandy führt bei uns übrigens das Haushaltsbuch. Sie sorgt schon dafür, daß ihr keine unnötigen Kosten für die Verpflegung habt." Er sah mich an.
"Wenn sie dich bei deiner Arbeit stören, Toni, jag sie nach Hause. Ich schätze, daß du viel Ruhe brauchst."
"Halb so wild", winkte ich ab. "Inzwischen habe ich mich daran gewöhnt."
"Trotzdem. Wenn es euch zu viel wird, sagt es ihnen." Er stand auf. "Ich muß jetzt leider los, es wartet noch einiges auf mich, das ich erledigen muß."
"Wann mußt du denn fliegen?" fragte ich schnell. Er sah mich ausdruckslos an.
"Samstag."
"Was?" erschrak Vera. "Jetzt Samstag?"
"Ja. Heute in drei Tagen. Immerhin habe ich drei Tage bekommen, um noch einiges zu regeln. Eigentlich sollte ich schon heute morgen im Flieger sitzen."
"Das gibt's doch nicht!" lachte Vera fassungslos.
"Doch, Vera." Ians Blick strahlte tödliche Ruhe aus. "Sobald dein Gehalt eine bestimmte Höhe erreicht hat, gehörst du der Firma. Für mich gibt es ein paar Ausnahmen, weil ich Kinder habe, aber nicht sehr viele. Wie gesagt, derzeit gibt es nur Alles oder Nichts. Danke, daß ihr für meine Kinder da seid." Er ließ uns stehen und eilte auf die Terrasse hinaus.
"Samstag!" Fassungslos ließ sich Vera auf die Couch fallen. "Kein Wunder, daß Shannon so fertig war."
"Langsam verstehe ich das auch. Aber meine Meinung über Ian hat sich sehr verändert."
"Meine auch. Ihn belastet das ja noch mehr als die Kinder. Ist das bei japanischen Firmen wirklich so schlimm?"
"Ich weiß es nicht, Liebes. Was ich bisher gehört habe, paßt jedoch in die Richtung. Das waren allerdings nur Bemerkungen von Leuten, die nicht im Management gearbeitet haben."
"Wie auch immer." Vera stieß den Atem aus. "Mann, Mann, Mann. Was für ein Schock am frühen Morgen. Samstag! Ich glaub es ja nicht!"
"Ich glaube, ich kann mich glücklich schätzen, den Beruf zu haben, den ich habe."
"Aber wirklich." Vera drehte sich auf der Couch zu mir, zog die Beine hoch und schlug sie unter. "Toni, ich komme erst jetzt so langsam dahinter, was die Kinder durchmachen. Was sagte Ian? 12 Stunden am Tag arbeiten?"
"Ja, Liebes. Das bezog er allerdings auf die normalen Angestellten. Auf seinem Level dürfte das noch höher liegen. Wie wir ja deutlich gesehen und gehört haben."
"Na Spitze!" Vera schüttelte den Kopf. "Also sehen sie ihn tatsächlich nur für ein paar Minuten am Tag."
"Exakt. Und in den paar Minuten sagt er ihnen, wann er das nächste Mal nicht zu Hause sein kann."
Seufzend ließ sich Vera an mich fallen. Ich hielt sie im Arm, während wir beide unseren Gedanken nachhingen.

* * *

Gegen halb neun - Vera und unsere Töchter waren soeben zum Einkaufen gefahren - kamen die drei Mädchen durch den Garten ins Haus. Ich saß im Büro und bemerkte sie erst, als ich aufsah und sie in der Tür stehen sah.
"Hallo!" lachte ich. "Steht ihr schon lange da?"
"Zwei Minuten", grinste Shannon. "Wir hätten echt alles hier ausräumen können."
"Macht mal", schmunzelte ich. "Solange ihr mir den PC laßt..."
"Den nehmen wir als erstes mit!" Mandy sprang in mein Büro und drückte mich stürmisch. "Guten Morgen, Herr Tenhoff!"
"Guten Morgen, Mandy." Ich bekam einen langen Kuß von ihr, dann schob Becky sie weg.
"Jetzt ich! Guten Morgen, Herr Tenhoff!"
"Guten Morgen, Becky." Auch sie klebte sehr lange an meinem Mund, aber ich verstand inzwischen nur zu genau, warum die Mädchen dies taten. Ich sah es einfach als Schmusen mit meinen Zweittöchtern an.
"Wo sind Kerstin und Birgit?" fragte Mandy neugierig, als Becky sich von mir gelöst hatte.
"Mit ihrer Mutter einkaufen. Sie müßten in spätestens einer Stunde wieder hier sein. Wollen wir in der Zwischenzeit etwas spielen?"
"Au ja!" strahlte Becky. "Was denn?"
"Was ihr möchtet."
"Darf ich den Schrank mit den Spielen aufmachen?"
"Natürlich, Becky. Sucht euch aus, was euch gefällt."
Wir spielten Halma, bis Vera mit den beiden Mädchen zurückkam. Dann hatte Halma natürlich keine Chance mehr. Wir brachen die aktuelle Runde ab, und während die Mädchen und Vera sich begrüßten, räumte ich das Spiel weg. Birgit und Becky waren sofort in Birgits Zimmer verschwunden, Kerstin und Mandy stürzten sich auf Backgammon, was die beiden inzwischen mit wahrer Leidenschaft spielten. Vera räumte die Einkäufe weg, und Shannon...
Shannon reservierte sich den Platz an meiner Seite. Sie schmiegte sich an mich und umarmte mich, als wollte sie mich nie wieder loslassen, doch nach einem Blick in ihre Augen, in denen Kummer und Trauer stand, konnte ich ihr nicht böse sein. Ich legte auch beide Arme um sie und streichelte ihren Kopf, die Haare, und gelegentlich die Schultern.
Als Vera sich zu uns setzte und lächeln mußte, zwinkerte Shannon ihr zu, dann trennte sie sich von mir und kuschelte sich bei Vera ein, in der gleichen Haltung wie vorher bei mir. Und als ich dann auch noch eng neben sie rutschte und fortfuhr, ihre Haare zu streicheln, strahlte Shannon wie ein kleines Kind zu Weihnachten.
"Wir auch!" Kerstin sprang mit einem Satz an meine freie Seite, Mandy tat das gleiche bei Vera.
"Kuscheln!" Kerstin sah mich durch ihre lockigen braunen Haare hinweg an, mit bettelnden grünblauen Augen, gegen die ich so machtlos war. Ich legte schmunzelnd meinen freien Arm um sie.
"Kann es sein, daß du in letzter Zeit anhänglicher geworden bist?"
"Nö!" grinste Kerstin frech. "Du arbeitest in letzter Zeit weniger und hast mehr Zeit für mich!"
Ich seufzte laut. "Mandy? Würdest du sagen, daß Kerstin frech ist?"
"Sie ist nur ehrlich!" kicherte Mandy.
"Na toll!" stöhnte ich. "Jetzt sind schon zwei gegen mich!"
"Drei!" sagte Vera feixend.
"Vier!" Shannon drückte sich lachend an mich. "Sollen wir noch Birgit und Becky holen? Dann sind wir sechs!"
"Das reicht!" Ich zog Shannon, die erschrocken aufquietschte, quer über meine Beine und kitzelte sie gnadenlos und hart. Das arme Mädchen bekam kaum mehr Luft vor Lachen, die langen schwarzen Haare flogen wild durch die Gegend. Ich hörte erst auf, als sie einen leichten Schluckauf bekam.
Atemlos setzte sie sich auf und sank gegen mich.
"Was gemein!" keuchte sie. Ich drückte sie zärtlich.
"Das soll dir eine Lehre sein, dich nicht gegen den Hausherrn aufzulehnen."
"Wieso?" lächelte sie verschmitzt. "Ich hab doch gar nichts gegen Vera gesagt!"
Für diese Bemerkung wurde sie erneut durchgekitzelt.



Nach dem Mittagessen gingen wir in den Garten. Die vier jüngeren Mädchen spielten Federball, Shannon setzte sich zu Vera und mir auf eine Liege.
"Du wolltest noch mit uns allen reden, oder?"
"Das hatte ich vor, Shannon. Zumindest bis dein Vater uns heute morgen sein Herz ausgeschüttet hat. Laß Vera und mich erst darüber reden, ja?"
"Okay." Sie legte sich vertrauensvoll in meinen Arm. "Hat er gesagt, daß er schon am Samstag fliegen muß?"
"Das hat er." Vera nahm Shannons Hand in ihre. "Shannon, er scheint in einem ziemlichen Zwiespalt zu sein."
"O ja!" seufzte Shannon. "Pflegefamilie oder Verkäuferin im Supermarkt." Sie zuckte mit den Schultern. "Warum sieht er das so extrem? Er könnte das Haus wieder verkaufen. Wir müssen doch nicht in diesem Riesenbunker wohnen. Vera, wir haben sechs Zimmer für uns! Jede von uns hat zwei Zimmer! Ist doch Schwachsinn, oder? Sollen wir uns in der Mitte auseinanderreißen oder was? Wieso braucht Becky mit 12 Jahren ein eigenes Wohnzimmer? Wieso brauchen wir alle ein eigenes Wohnzimmer und ein eigenes Schlafzimmer? Ist doch absoluter Müll!" Sie stieß wütend den Atem aus.
"Warum können wir nicht in einer Mietwohnung leben? Daddy könnte garantiert einen anderen Job finden. Wieso muß er unbedingt zwanzig Mille im Monat verdienen? Zwei oder drei reichen doch auch völlig." Sie sah mich traurig an. "Oder seh ich das so falsch?"
"Tust du nicht, Shannon. Andererseits... Jeder Vater und jede Mutter will immer nur das Beste für das eigene Kind. Euer Vater möchte, daß ihr auf die Uni geht, und -"
"Darum geht es doch!" Shannon sah mich eindringlich an. "Toni, wenn er weniger verdienen würde, könnten wir später mal Bafög beantragen und würden es auch bekommen. Aber das sieht er einfach nicht ein! Er will unbedingt für uns sorgen, mit seinem Geld. Um jeden Preis. Ich bin wirklich langsam so weit, daß ich platze! Verdammt, Mandy und Becky haben sich gestern in den Schlaf geweint, genau wie ich. Das kann doch nicht so weitergehen!" Sie drehte sich zu Vera. "Wir lieben ihn, aber er ist ja kaum da, und irgendwie..." Ihre Stimme verlor sich. Vera nickte bekümmert.
"Irgendwie", sagte sie leise, "schwindet die Liebe mit der Zeit, richtig?"
"Ja!" Shannon schluchzte einmal kurz auf, dann warf sie sich in Veras Arme und weinte wieder bitterlich. Sofort kamen Mandy und Becky angerannt; Kerstin und Birgit folgten unsicher und blieben zwei, drei Meter entfernt stehen.
"Wegen Daddy?" fragte Mandy bekümmert. Vera und ich nickten. Mandy seufzte.
"Wir haben es auch langsam satt." Ihre grünen Augen glitzerten entschlossen. "Wissen Sie, wie oft wir drei in diesem Jahr schon geheult haben? Und in dem Jahr davor? Und in dem davor?"
"Viel zu oft", sagte Becky leise. "Viel zu oft." Beide strichen sanft über Shannons Haare. Mandy setzte sich auf meine Beine.
"Es tut uns leid, daß wir Sie so belasten", entschuldigte sie sich leise. "Normalerweise können wir das ganz gut wegpacken, nur jetzt..." Ihre Augen füllten sich mit Tränen. "Daß er plötzlich drei Wochen weg ist, war schon ein Hammer. Was kommt als nächstes? Drei Monate? Drei Jahre?" Ihre Stimme zitterte bedenklich. Ich zog sie an mich und drückte sie zärtlich.
"Shannon soll ein Konto bei der Bank bekommen", sagte Mandy gepreßt, "damit sie Geld abholen kann. Aber was, wenn sie plötzlich einen Unfall hat? Dann stehen Becky und ich da und können uns nichts zu essen kaufen. Wir dürfen doch noch nichts machen, weil wir noch so jung sind. Wir kommen doch in ein Heim! Wir haben so Angst, Herr Tenhoff!" Sie versuchte, ihre Tränen zurückzuhalten, aber der Kummer war stärker. Ergriffen zog ich sie an meine Brust und tröstete sie, während ich Veras traurigen Blick erwiderte.
Was für Ängste mußten diese jungen Mädchen ausstehen! Und wenn sie uns nun nicht kennengelernt hätten? Hätten wir vielleicht in zwei Wochen von ihnen in der Zeitung gelesen, mit der Überschrift "Hungertote in Millionärsvilla"? Aber selbst, wenn man mal alle Dramatik und Theatralik beiseite ließ, hatte Mandy völlig recht. Das, was ihr Vater da mit ihnen vorhatte, war einfach zu gefährlich für die Mädchen. So sehr ich Ians Standpunkt verstand, aber das Leben und die Gesundheit - seelisch wie körperlich - der eigenen Kinder hatte absoluten Vorrang vor allem anderen. Zumindest in Veras und meinen Augen.
Ich sah zu Becky, die still neben ihrer ältesten Schwester stand und sie tröstete. "Becky? Was meinst du dazu?" Die 12jährige schüttelte ihren Kopf.
"Ich will nichts sagen", antwortete sie leise. "Ich will nicht mehr weinen."
Und diese paar Worte taten mir am meisten weh.

* * *

"Ich will nichts sagen. Ich will nicht mehr weinen", wiederholte Vera Beckys Worte. Wir gingen langsam über den Bürgersteig unserer Straße, wie wir es immer taten, wenn wir größere Probleme zu bewältigen hatten.
"Toni, weißt du, was das heißt? Es heißt, daß das Mädchen mit 12 Jahren schon aufgegeben hat. Das kann es doch nicht sein, oder? Ich frage mich außerdem, ob die Mädchen ihren Vater wirklich so sehr lieben, wie sie immer sagen, oder ob es -"
"Eine Schutzbehauptung ist, hinter der sie sich verstecken?"
"Genau. Vielleicht brauchen sie diese Behauptung, um sich selbst etwas vorzumachen. Wenn selbst Shannon, die ja normalerweise voll hinter ihrem Vater steht, zugibt, daß die Liebe zu ihm geringer wird... Dann muß wirklich einiges im argen liegen. Und Mandy! Was sagte sie? 'Wir haben es auch langsam satt.' Kein Wunder! Toni, ich würde 20 Jahre meines Lebens darauf verwetten, daß die Kinder, wenn sie bei sich sind, kreuzunglücklich sind. Ach! Alles würde ich darauf verwetten! Sie spielen uns nur etwas vor, damit wir nicht hinter die Fassade blicken."
"Aber die Fassade ist jetzt, da ihr Vater für drei Wochen außer Landes sein wird, abgeplatzt."
"Richtig, und hat tiefe Wunden und Risse dahinter offengelegt. Gehen wir mal von Mandys Angst aus. Shannon bekommt ein Konto mit genügend Geld, um sich und ihre Schwestern über diese drei Wochen zu bringen, und plötzlich bricht sie sich einen Arm. Oder muß nur für ein paar Tage ins Krankenhaus. Oder eines der jüngeren Mädchen wird urplötzlich schwerkrank. Blinddarm, Salmonellen oder so etwas Hübsches. Toni, ich finde, daß Ian sich unverantwortlich verhält."
"Ganz meine Meinung, Liebes. Ich verstehe seinen Standpunkt, aber er scheint sich nicht ganz klar darüber zu sein, wie sehr seine Kinder leiden. Daß sie leiden, weiß er, aber nicht, wie sehr."
"Exakt. Und ich bin mir noch unschlüssig, ob er es tatsächlich nicht weiß oder ob er es einfach nicht wissen will."
"Du meinst, daß er seinem Ideal, die Kinder auf die Uni zu schicken, so verbissen hinterher jagt, daß er alles andere darüber verdrängt?"
"Das meine ich in der Tat. Na schön, wenn Shannon recht hat, verdient er viermal so viel wie du, aber das ist noch lange kein Grund, das Glück von drei Menschen auf diesem Altar der Selbstgefälligkeit zu opfern."
"Hui!" lachte ich überrascht. "Vera! Was ist denn jetzt los?"
"Ich bin stinksauer!" Veras Augen funkelten mich an. "Toni, ich muß immerzu daran denken, wie es wäre, wenn wir die Familie nicht kennengelernt hätten. Wenn Mandy recht hat mit dem, was sie befürchtet. Was dann? Wie kommen die beiden Kleinen klar, wenn Shannon etwas passiert? Sie sind doch wirklich noch viel zu jung, um drei Wochen allein zu sein. Selbst Shannon würde ich das nicht ohne Besorgnis zutrauen. Es sind noch Kinder! Und die kann man nicht drei Wochen alleine lassen, verdammt! Einen Tag, ja. Auch eine Nacht. Aber drei Wochen? Nein. Völlig ausgeschlossen."
Wir gingen wortlos etwa fünfzig Meter, dann blieb Vera stehen und sah mich an. "Eine Frage an den Experten für Geister und Gespenster. Spukt bei dir im Kopf auch andauernd ein bestimmtes Wort herum?"
"Das tut es", schmunzelte ich. "Zusammen mit den ganzen Problemen und Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben könnten."
"Als da wären?"
"Als da erstens wäre, daß wir keinen Platz haben. Becky könnte zu Birgit, aber Mandy? Zu Kerstin? Obwohl ich es hasse, daran zu denken, aber was, wenn Kerstin mit 14, 15 einen Freund mit nach Hause bringt? Muß Mandy dann das Zimmer räumen? Und wo sollen wir mit Shannon hin? Auf eine Decke im Wohnzimmer?"
"Und zweitens?"
"Zweitens das Geld. Auf einen Schlag drei halbwüchsige Kinder dazu zu bekommen, geht gewaltig auf die Geldbörse."
"Das könnten wir mit Ian klären."
"Richtig. Du wolltest wissen, was in meinem Kopf herumspukt, und ich sage es dir."
"Red weiter", schmunzelte Vera.
"Drittens kennen wir die Mädchen kaum. Wir haben bisher nur Facetten ihrer Persönlichkeit erlebt. Woher wissen wir, daß sie sich nicht mit uns oder unseren Kindern in einem halben Jahr bis aufs Messer in die Haare kriegen? Viertens bleibt die Frage, ob Kerstin und Birgit das überhaupt wollen. Freundinnen sind eine Sache, neue Familienmitglieder eine ganz andere. Habe ich etwas vergessen?"
"Ja. Fünftens ist völlig offen, wie Shannon sich verhalten wird, wenn sie 16 ist. Oder 17. Wirst du dann immer noch der Pflegevater für sie sein, oder ein potentieller Freund und Partner? Bei Mandy und Becky sehe ich diese Gefahr nicht; die beiden sind noch Kinder und werden dich schnell als Vater anerkennen. Shannon ist aber fast schon eine Frau. Laß mich bitte ausreden", wehrte sie meinen Einspruch ab. "Toni, wir sollten wirklich über alles reden. Über sämtliche Möglichkeiten. Ich weiß, daß ich mich so anhöre, als ob ich Angst vor Shannon hätte, aber die Möglichkeit, daß sie sich später mal in dich verliebt, besteht. Es muß nicht so kommen, aber es kann. Und damit kommen wir zu Punkt Sechs, der eigentlich Punkt Eins sein sollte. Wollen wir das überhaupt, Toni? Wollen wir die Mädchen aufnehmen? Das sollten wir erst einmal für uns entscheiden, bevor wir an die anderen Punkte gehen."
"Bist du sicher, Liebes? Sollten wir nicht erst einmal die Punkte mit Platz und Geld klären?"
"Nein, ich glaube nicht. Wenn wir sie wirklich bei uns haben wollen, werden wir auch Wege finden, alles andere zu klären. Wollen wir sie nicht... Dann müssen wir über den Rest gar nicht erst reden. Hast du schon eine Meinung dazu?"
"Keine klare. Du?"
"Nein. Laß uns noch was laufen, ja? Einmal die große Runde?"
"Okay."



Eine Stunde später standen wir wieder vor unserem Haus. Vera sah mich an.
"Und? Entschieden?"
"Fast. Ich würde vorher gerne noch mit Kerstin und Birgit reden. Wenn sie ja sagen, dann bin ich auch dafür."
Veras Blick wurde weich. "Genau das wollte ich auch tun, mein Liebling. Die beiden betrifft es noch viel mehr als uns. Wer fängt an?"
"Ich mach schon. Gehen wir rein."
Im Haus angekommen suchte ich zuerst nach Shannon, die ich bat, sich ein paar Minuten um ihre Schwestern zu kümmern, dann winkte ich meine Töchter zu mir und ging mit ihnen in Kerstins Zimmer, wo Vera schon Getränke und Kekse aufgebaut hatte. Mit fragenden Gesichtern setzten die beiden Mädchen sich hin.
"Es geht um Shannon, Amanda und Rebecca", begann ich. "Kinder, ihr habt schon gehört, daß ihr Vater für drei Wochen nach Japan fliegen wird." Die Mädchen nickten. "Gut. Herr McDonaghue war heute morgen hier und hat uns erzählt, daß auch er sich sehr viele Gedanken darüber macht, daß er so wenig Zeit für seine Kinder hat. Er denkt daran, die drei bei einer Pflegefamilie unterzubringen, damit sie wenigstens eine Familie haben, die Tag und Nacht für sie da ist."
"Papa!" Kerstins Augen leuchteten auf. "Können wir sie nicht nehmen?" Auch Birgit strahlte.
"Genau darum geht es", setzte Vera das Gespräch fort. "Kinder, es wird nicht so sein, daß wir die drei Mädchen nur stundenweise bei uns haben. Wenn wir sie aufnehmen, werden sie rund um die Uhr bei uns sein. Sie werden für euren Vater und mich wie eigene Kinder sein, und für euch wie drei Schwestern."
"Und das bedeutet", sagte ich ernst, "daß ihr euch einschränken müßt. Birgit, im Moment ist es für dich aufregend, Becky über Nacht bei dir zu haben. Wenn wir sie aufnehmen, wird sie in deinem Zimmer wohnen, Tag und Nacht, rund um die Uhr. Das gleiche gilt für dich, Kerstin, was Mandy angeht. Ihr werdet sie die nächsten Jahre bei euch haben. Mindestens so lange, bis ihr alle 18 seid. Wenn ihr studieren wollt, sogar noch länger, denn bei fünf Mädchen können wir es uns nicht leisten, euch allen kleine Wohnungen zu finanzieren."
"Um es euch richtig klarzumachen", lächelte Vera. "Birgit, du wirst die Hälfte deiner Regale und deiner Schränke freimachen müssen. Kerstin, du auch. Ihr werdet nach der Schule gemeinsam an einem Tisch sitzen und eure Hausaufgaben machen. Wir werden sieben Personen in diesem Haushalt sein, deswegen brauche ich eure Hilfe beim Einkaufen, bei der Wäsche, beim Essen machen und beim Haushalt an sich." Langsam wurde den beiden Mädchen klar, was das bedeutete. Ich redete wieder.
"Wir werden die drei erst einmal für die drei Wochen, die ihr Vater weg ist, bei uns unterbringen. Seht es als einen Test an, Kinder. Wenn ihr auch nur die leiseste Ahnung verspürt, daß es irgendwann in der Zukunft knallen könnte, seid bitte so ehrlich und sagt es. Denn wenn wir die drei zu uns holen, können wir sie nicht wieder abgeben. Das würde ihnen noch mehr Probleme machen als sie jetzt schon haben."
"Na schön!" meinte Kerstin. "Was ist mit Shannon? Wo wird sie wohnen?"
"Genau das", seufzte Vera, "müssen wir uns noch überlegen. Wahrscheinlich werden wir das Gästezimmer für sie einrichten. Aber das kommt erst an zweiter Stelle. Wichtig ist im Moment nur, daß ihr zwei euch Gedanken darüber macht, was wir gesagt haben. Sie werden eure Schwestern sein, Mädchen. Für die nächsten Jahre. Deswegen überlegt es euch während der nächsten drei Wochen bitte sehr, sehr gut. Achtet besonders aus bestimmte Eigenheiten bei den drei, die euch auf die Nerven gehen. Kerstin, du hast dich vor zwei Jahren furchtbar mit Birgit gestritten, weil sie aus lauter Neugier deine Schränke durchwühlt hat. Wenn Mandy bei dir wohnt, gibt es keine Geheimnisse mehr. Keine versteckten Dinge. Wie euer Vater schon sagte: wenn ihr das Gefühl habt, daß bestimmte Eigenschaften bei Mandy und Becky euch auf die Palme treiben könnten, dann sagt es uns."
"Und behaltet das alles erst einmal für euch", schärfte ich den beiden noch abschließend ein. "Wenn sie erfahren, daß wir sie zu uns nehmen wollen, könnten sie sich vielleicht verstellen und nur ihre besten Seiten präsentieren. So wie ihr, wenn ihr mit den Eltern eurer Schulfreundinnen redet oder bei ihnen eßt. Wir wollen sie aber in diesen drei Wochen so kennenlernen, wie sie wirklich sind. Ohne Verstellen und ohne Show. Okay?"
"Das klingt vernünftig", lächelte Kerstin. "Oh Mann! Ist ja doch mehr dahinter, als ich erst dachte."
"Du wächst und lernst doch noch, mein kleines, junges Mädchen", feixte ich.
"Da hast du recht, mein großer, alter Papa!" strahlte sie mich an. Ich zog sie und Birgit in meine Arme und drückte sie herzlich.
"Ich liebe euch beide", sagte ich leise. "Seid ganz ehrlich zu euch selbst, was Mandy und Becky angeht. In eurem eigenen Interesse. Versprecht ihr mir das?" Beide versprachen es mit ganz ernsten Gesichtern.
"Gut. Dann gehen wir wieder runter."
Zurück im Garten vermißten wir Shannon. Mandy sagte, daß ihr Vater sie vor zwei Minuten abgeholt und mit zur Bank genommen hätte, wegen des Kontos, und daß sie gleich wiederkommen würde.
"Perfekt", lächelte Vera. "Dann warten wir auf ihn."
Keine zwanzig Minuten später waren Ian und Shannon zurück. Shannon kam gleich zu uns, ihr Vater blieb bei sich zu Hause. Damit wir in Ruhe mit ihm reden konnten, gingen Vera und ich zu ihm hinüber.
"Hallo!" begrüßte er uns überrascht, aber herzlich. Er sah abgekämpft aus. "Wollt ihr hereinkommen?"
"Ja, gerne." Wir folgten ihm in sein Wohnzimmer, das ich jetzt etwas genauer in Augenschein nahm. Wie mein erster Eindruck schon richtig gezeigt hatte, war es sehr teuer eingerichtet, jedoch auch etwas kühl. Zu nüchtern für meinen Geschmack. Die persönliche Note fehlte. All das, was Menschen im Laufe ihres Lebens so ansammeln - kleine Figuren, Bilder, Fotos, Erinnerungen - all das fehlte. Aber wahrscheinlich, dachte ich etwas ironisch, würde Ian sowieso nur die Innenleben der verschiedenen Geräte, die er entwickelt hatte, ausstellen.
"Was kann ich denn für euch tun?" fragte er, als wir saßen und Getränke vor uns stehen hatten. Vera übernahm.
"Ian, wie stellst du dir das mit einer Pflegefamilie vor?"
Er nickte. "Einen Moment." Er stand auf und ging in einen Nebenraum. Sekunden später kam er mit ein paar Blättern zurück und setzte sich wieder.
"Von einigen meiner Angestellten", sagte er, auf die Blätter schauend, "weiß ich, daß sie für ein vierjähriges Kind 600 Mark im Monat zahlen. Für ein zwölfjähriges schon 1.000 Mark. Das sind die Preise für eine Vollzeitstelle." Er lächelte bitter. "Vollpension, wenn ihr so wollt. Übernachtung, Frühstück, Mittag- und Abendessen. Kleidung und so weiter geht zu Lasten der Erziehungsberechtigten. Ich würde, wenn ich mich tatsächlich für eine Pflegefamilie entscheide - und wenn die Kinder dabei mitspielen - pro Kind 1.500 Mark zahlen. Im Gegenzug müßten sich die Pflegeeltern verpflichten, vollständig für die Kinder zu sorgen. Sie nicht nur zu ernähren, sondern auch einzukleiden, bei den Hobbys zu unterstützen und sie zu finanzieren und, falls nötig, den Nachhilfeunterricht zu bezahlen." Er legte das erste Blatt zur Seite und sah auf die restlichen.
"Ich habe hier ein paar Standardverträge, die ich vor etwa vier Monaten beim Jugendamt in unserer alten Stadt angefordert habe. Auch eine Liste von Familien, die Kinder aufnehmen würden." Er ließ die Blätter wieder fallen. "Nebenbei bemerkt, wohnten wir bisher in einem Vorort, keine fünfzehn Kilometer von hier. Leider war keine einzige Familie dabei, wo alle drei gemeinsam untergekommen wären. Ich will sie nicht auseinanderreißen, Vera. Aber drei Kinder in dem Alter in eine Familie zu bringen, ist so gut wie unmöglich. Wüßtest du jemanden?" Er sah Vera mutlos an. Vera nickte grinsend.
"Ja, wir wüßten jemanden. Alle drei könnten dort unterkommen. Es würde zwar etwas eng werden, aber möglich wäre es. Diese Familie hat schon zwei eigene Kinder, auch Mädchen. Und wie der Zufall es will, sind die beiden Mädchen so alt wie deine jüngsten." Ians Gesicht erhellte sich, als Hoffnung und Verstehen darüber zog.
"Nur", sagte Vera schnell, "sind sich die beiden Mädchen im Moment noch nicht sicher, ob sie die Hälfte ihrer Zimmer so problemlos opfern können. Deswegen möchte die Familie deine Kinder in den drei Wochen, wo du weg bist, gewissermaßen als Test aufnehmen. Wobei ganz wichtig ist, daß deine Kinder nicht erfahren dürfen, daß es ein Test ist." Ian nickte schnell.
"Das ist ganz klar. Diese Familie will meine Kinder gründlich kennenlernen, um eine endgültige Entscheidung zu treffen. Würde ich genauso tun. Wie habt - Wie hat sich diese Familie das genau vorgestellt?"
"Mandy und Becky kommen, wenn es denn so klappen sollte, zu dem jeweils gleichaltrigen Mädchen ins Zimmer. Shannon bekommt das Gästezimmer. Natürlich bräuchten - bräuchte diese Familie noch ein paar Möbel, aber das kann mit dir abgesprochen werden."
"Sicher." Ians Gedanken rasten über sein Gesicht. "Wie sieht die Zukunft aus? Wenn die Mädchen älter werden und Freunde haben?"
"Das habe ich mir auch schon überlegt", sagte ich. "Und das ist ein Punkt, der sowohl Vera als auch mir nicht gefällt. Wenn eines der Mädchen einen Freund mit nach Hause bringt, wo soll in der Zeit das andere Mädchen hin? Darüber machen wir uns ernsthaft Gedanken."
"Verstehe", lächelte Ian. "Der Vater dieser Familie macht sich aber noch mehr Gedanken um den Freund an sich, nicht wahr?"
"O ja!" seufzte ich. "Aber das ist Sache des Vaters. Er muß damit klarkommen. Jetzt geht es erst einmal darum, die Mädchen ordentlich unterzubringen, und das auch gleich für die nächsten Jahre. Oder so lange, bis sich bei dir beruflich etwas verändert."
"Und ich könnte die Mädchen sofort zurückbekommen, wenn sich etwas verändert." Ian sah auf die Verträge. "Was ich natürlich nicht machen würde, wenn die drei schon lange bei der Familie leben würden. Das wäre genauso ein Bruch wie der, den wir jetzt haben. Wie sähe es mit gegenseitigen Besuchen aus?"
"Ian!" lachte Vera. "Schluß mit dem Versteckspiel. Die paar Meter werdet ihr doch wohl noch schaffen, oder?"
"Das denke ich auch", grinste Ian. Er stieß den Atem aus. "Vera, seid ihr sicher, daß ihr das tun wollt? Ihr bekommt drei Kinder auf einen Schlag dazu!"
"Unsere Kinder entscheiden das", erwiderte Vera ernst. "Wenn Kerstin und Birgit sagen, daß sie mit Mandy und Becky in jeweils einem Zimmer leben wollen, dann sind auch wir einverstanden."
"Fantastisch." Ian beugte sich weit vor. "Vera, Toni, wo ich wohne, ist mir im Prinzip völlig egal. Drei Viertel meines Lebens bin ich sowieso in der Firma. Das Haus hier habe ich nur gekauft, damit meine Kinder Platz haben. Ich könnte auch in einer kleinen Bude hocken, aber meine Kinder sollen Platz haben! Warum lachst du, Toni?"
"Weil", grinste ich, "Shannon auch viel lieber in einer kleinen Mietwohnung leben würde, solange es mit dir ist. Ihre Schwestern sehen das genauso."
"Ich weiß", lächelte Ian verlegen. "Aber das sind romantische Vorstellungen. Jedes Kind braucht zumindest ein eigenes Zimmer. Auch wenn Shannon darüber lästert, bin ich mir sicher, daß sie ihre beiden Räume zu schätzen weiß."
"Sie lästert nicht darüber, Ian", sagte Vera sanft. "Sie ist todunglücklich darüber. Sie würde es viel lieber eng haben, aber mit der ganzen Familie, anstatt so weiträumig und ohne Vater."
"Was?" Ian wurde blaß. "Das hat sie gesagt?"
"Ja", bestätigte ich. "Und nicht nur gesagt, Ian. Sie hat auch jede Silbe so gemeint. Eine Familie, oder zumindest der Vater, ist ihr sehr viel wichtiger als viel Platz für ihre Sachen. Und ich bin mir ziemlich sicher, daß Mandy und Becky eine gleichartige Ansicht haben."
"Warum haben sie mir das nie gesagt?" flüsterte Ian erschüttert. Vera seufzte leise.
"Ian, vielleicht haben sie es dir gesagt. Mit ihren Worten. Aber vielleicht hast du nicht genau genug hingehört. Kinder sagen sehr viel in wenigen Worten. Manchmal sogar ohne Worte."
Ian setzte zu einer heftigen Antwort an, doch er schloß den Mund ebenso schnell wieder. "Was genau hat sie gesagt?" fragte er leise.
"Daß sie - also die Kinder - nicht in diesem Riesenbunker wohnen müssen. Daß es absoluter Schwachsinn wäre, daß Kinder ihres Alters zwei eigene Zimmer haben. Daß sie sich nicht in der Mitte auseinanderreißen können." Vera griff nach seiner Hand, was er, nach einem impulsiven Zurückzucken, auch zuließ.
"Ian, Kinder brauchen ein Heim, aber keinen Palast. Bitte entschuldige, wenn ich zu deutlich werde, aber Kinder brauchen eine Familie viel dringender als viele Schränke und Regale. Viele Zimmer und Platz sind dann ganz angenehm, wenn auch alles andere stimmt, aber auch noch so viele Räume können die Geborgenheit einer glücklichen Familie nicht ersetzen. Sie machen es im Gegenteil sogar noch schlimmer, weil die Kinder mit jedem leeren Raum daran erinnert werden, wie leer es in ihnen aussieht."
"Ist das auch deine Meinung, Toni?" fragte Ian tonlos.
"Ja, Ian. Wenn wir zu fünft auf der Couch sitzen, also Vera, ich, und drei der Kinder, dann kommen wir mit eineinhalb Quadratmetern aus. Die Kinder kuscheln sich sogar so eng wie möglich an uns. Das sagt doch eigentlich alles, oder? Vera und ich kennen eine Familie, die mit vier Kindern in drei Zimmern wohnt. Es ist zwar sehr eng, aber alle sind glücklich, beieinander zu sein, auch wenn es häufig mal knallt. Bei den wichtigen Dingen halten sie jedoch zusammen wie Pech und Schwefel."
Ian nickte betroffen. "So etwas habe ich zwar schon gehört", sagte er nachdenklich, "aber als dummes Geschwätz abgetan. Wie auch immer." Er sah uns an, wieder voller Energie und Entschlußkraft.
"Shannon hat vorhin ein Konto bekommen, um Geld abzuheben. Ich möchte keine dreitausend Mark im Haus herumliegen haben. Mandy wird Buch führen, was die drei verbrauchen. Das macht sie hier auch immer. Am Ende der drei Wochen bekommt ihr das, was ihr für die Verpflegung ausgegeben habt, zurück. Kein Widerspruch!" lachte er. "Das ist meine Bedingung! Sobald ich zurück bin, setzen erst wir drei uns noch einmal zusammen und besprechen alles weitere, und je nach Entscheidung dann mit allen fünf Kindern. Einverstanden?"
"Sind wir", erwiderte Vera. "Und bis dahin werden Mandy und Shannon im Gästezimmer schlafen, und Becky bei Birgit. Wohnen werden sie jedoch zusammen, und auch zusammen jede Minute des Tages verbringen. Wie eine richtige Familie, in der sich alle zusammenraufen müssen."
"Na!" grinste Ian. "Ob sie das überleben werden?"

* * *

Die drei Mädchen nahmen die Nachricht, daß sie die ganzen drei Wochen bei uns wohnen würden, mit übergroßer Freude auf. Becky umarmte Birgit, Mandy mich, Shannon umarmte Vera, und sie alle wollten uns gar nicht mehr loslassen. Am Freitag abend packten sie ihre Koffer und verabschiedeten sich von ihrem Vater, der am nächsten Morgen in aller Frühe fliegen wollte, und zogen bei uns ein. Damit begann etwas, das sich keiner von uns so vorgestellt hatte...
 

 

 

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