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SH-061_8 - Marion und Monika

 

- Kap. 8: "Marion und Monika" (18/12) schließlich schildert das Schicksal von einem Traum, der viel zu schnell endet und von etwas noch Schönerem ersetzt wird (Science-Fiction)



Marion und Monika



Seit ihrem 12. Geburtstag hatte Marion Linke Geld gespart für ihren Traum, hatte in den meisten Ferien gearbeitet, um Geld dafür zu verdienen, und heute, an ihrem 18. Geburtstag, stand sie vor der Tür: ihre neue Suzuki GN250. Fahren durfte Marion den Chopper noch nicht, aber das war nur noch eine Sache von Stunden, denn ihre Führerscheinprüfung war für zehn Uhr morgens an diesem Tag angesetzt. Da Sommerferien waren, konnte Marion den Termin problemlos wahrnehmen.
Marion und ihre 12jährige Schwester Monika schauten sich das neue Motorrad, das seit gestern nachmittag in der Garage ihres Vaters unter Verschluß gehalten worden war, bewundernd an, bis sie zum Frühstück gerufen wurden.
Marions Eltern hatten ihrem Wunsch, das Motorrad selbst zu bezahlen, entsprochen; ihre Tochter hatte einen unbändigen Freiheitswillen und ließ sich nicht gerne in Abhängigkeit halten. Bei einem Kaufpreis von knapp 6.000,- DM nahm Marion jedoch das Angebot der Eltern, ihr zumindest die Schutzkleidung zu bezahlen, gerne an; der Chopper hatte fast die gesamten Ersparnisse geschluckt.
Nach dem Frühstück machte Marion sich für die Prüfung bereit. Um Punkt zehn Uhr saß sie auf der Maschine der Fahrschule, und keine dreißig Minuten später hielt sie ihren neuen Führerschein stolz in der Hand. Mit einer gewissen fröhlichen Arroganz bestieg sie zum letzten Mal in ihrem Leben den Bus und fuhr nach Hause, wo sie schon gespannt erwartet wurde. Locker und cool, wie es ihre Art war, zuckte sie nur mit den Schultern, dann mußte sie breit grinsen und präsentierte ihr neues Dokument. Vater, Mutter und Schwester gratulierten ihr von ganzem Herzen.
Dann kam die erste Fahrt mit dem neuen Motorrad. Monika wollte unbedingt gleich mitfahren, aber Marion redete in aller Ruhe mit ihr, daß sie sich erst einmal selbst mit dem Chopper vertraut machen müsse; vorher wäre es zu gefährlich. Murrend sah Monika es schließlich ein, doch ihre enttäuschten Blicke, mit denen sie ihrer Schwester hinterher schaute, sprachen Bände.
Marion verbrachte mehr als zwei Stunden auf ihrer "Susi", wie sie das Motorrad getauft hatte, dann fühlte sie sich fit genug. Monika setzte ihren Fahrradhelm auf, schwang sich hinter ihre Schwester und hielt sich fest, dann fuhr Marion vorsichtig los. Sie war zwar erst 18, hatte aber ein enormes Maß an Verantwortungsgefühl, und sie wollte auf keinen Fall schuld an einem Unfall sein, bei dem ihre kleine Schwester verletzt wurde.
"Susi" fuhr nicht sehr schnell. Zum einen hatte sie nur 13 kW in dem Einzylindermotor, zum anderen verbot die Bauweise ein schnelleres Fahren, aber das wollte Marion auch nicht. Bei ihrer Größe von 1,85 hatte sie Probleme, mit Touren- oder Sportmaschinen klarzukommen; der Chopper war für sie die einzige Möglichkeit, entspannt Motorrad zu fahren. Und genau das tat sie nun. Locker und gemütlich fuhr sie mit ihrer Schwester auf dem Rücksitz durch die Stadt, genoß die warme Luft, die über ihre bloßen Arme strich, und nahm schließlich die Landstraße aus der Stadt heraus. Vor der ersten engen, unübersichtlichen Kurve hörte sie noch ein grelles Quietschen von Reifen, dann sah sie einen Sportwagen, dessen Fahrer offensichtlich die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren hatte, auf sie zuschleudern.
Ihr letzter Gedanke war große Trauer wegen ihrer Schwester, dann hörte ihr Kopf auf, zu denken.



Als sie die Augen öffnete, sah sie auf eine Zimmerdecke, die in beruhigenden Farben schimmerte. Vorsichtig hob sie den Kopf, und plötzlich wußte sie wieder, was geschehen war. Sie erinnerte sich an den Wagen, an den Zusammenstoß, an den Schrei ihrer Schwester, die wie Marion durch die Luft geschleudert wurde, an den irrsinnigen Schmerz, als sie wieder auf die Straße fiel.
Vorsichtig bewegte sie ihren Kopf hin und her, krümmte die Finger, drehte den Fuß, prüfte jedes einzelne Gelenk in ihrem Körper, doch alles war in Ordnung. Erleichtert setzte sie sich auf, dann entdeckte sie ihre Schwester in dem Bett neben sich liegen.
"Moni!" Marion wollte aufspringen, doch ihr Körper versagte. Sie brach vor dem Bett zusammen.
Mit letzter Kraft zog sie sich wieder auf das Bett, das sehr niedrig war, und schaute an sich herunter. Sie trug so etwas wie ein ärmelloses, kurzes Kleid; ihre Arme und Beine waren unglaublich dünn, die Muskeln waren kaum mehr zu sehen.
"Wie lange?" murmelte sie nachdenklich. "Wie lange war ich bewußtlos?"
Sie sah wieder zu ihrer Schwester Monika, die nach wie vor still und bewegungslos in ihrem Bett lag. Dann öffnete sich die Tür, und eine sehr junge Frau in einem orangefarbenen Overall kam herein, auf dem Gesicht ein freundliches Lächeln.
"Guten Morgen, Marion", sagte sie mit einer warmen Stimme. "Ich bin Lena, deine Ärztin. Wie geht es dir?"
"Schwach", antwortete Marion. Die Ärztin kam mit fragendem Blick näher und setzte sich auf Marions Bett.
"Schwach?"
"Keine Kraft in den Beinen."
"Ach so." Lena lächelte mitfühlend. "Du warst sehr lange im Koma, Marion. Aber du bist wieder völlig gesund, genau wie deine Schwester Monika. Möchtest du dich anlehnen?"
"Ja."
Lena half Marion, sich an der Wand anzulehnen.
"Was ist denn überhaupt passiert?" fragte Marion dann. Lena griff nach einem Glas, das auf dem kleinen Schrank zwischen den Betten stand und mit einer klaren grünen Flüssigkeit gefüllt war, und reichte es Marion.
"Trink das. Es sind Vitamine. Was passiert ist? Ihr hattet einen sehr schweren Unfall, Marion. Einen wirklich schweren. Ihr seid mit einem Auto zusammengestoßen. Um genau zu sein: der Wagen ist mit euch zusammengestoßen. Ihr hattet überhaupt keine Chance. Der Wagen fuhr erstens viel zu schnell, zweitens hatte der Fahrer Alkohol in Mengen in sich, und drittens hätte euch auch ein Panzeranzug nicht geschützt. Auch wenn das nur ein kleiner Trost ist, aber du hast in keinster Weise Schuld an dem Unfall."
Marion stieß den Atem aus. "Was ist mit Moni?"
"Gesund, genau wie du. Sie wird noch drei oder vier Tage schlafen, dann werden wir sie wecken." Sie nahm Marion das leergetrunkene Glas ab und stellte es zurück auf das kleine Schränkchen. "Jetzt ruh dich noch aus, Marion. Morgen werden wir über vieles reden."
Marion nickte und rutschte nach unten, um sich wieder hinzulegen. Das Getränk hatte ihr gutgetan. Sie fühlte sich kräftiger, gleichzeitig aber auch müde.
"Wie lange waren wir denn weg?" fragte sie etwas schläfrig.
"Schlaf", flüsterte Lena. "Laß uns morgen reden."
Marion schloß die Augen und schlief ein.
Als sie wieder aufwachte, schien ihr Körper vor Kraft zu bersten. Vorsichtig stand Marion auf und war froh, als ihre Beine sie trugen. Sie ging zu Monikas Bett, auf das sie sich setzte, und schaute ihre kleine Schwester, die bis zum Hals zugedeckt war, forschend an. Moni hatte keine sichtbaren Verletzungen im Gesicht, wie Marion überglücklich feststellte. Beide Arme und Beine waren noch dran. Ihre Schwester atmete tief und gleichmäßig.
"Ich hätte dich nicht mitnehmen dürfen", flüsterte Marion mit feuchten Augen. "Das ist alles meine Schuld."
"Hast du mir nicht zugehört?" Marion drehte sich erschrocken um, als sie eine fremde Stimme hörte. Sie erkannte Lena und atmete erleichtert aus.
"Haben Sie mich erschreckt!"
"Sag Du zu mir." Lena setzte sich zu Marion und schaute Monika an. "Übermorgen wird sie aufwachen. Du bist nicht schuld an dem Unfall, Marion. Der Wagen hat euch gerammt, nicht umgekehrt. Außerdem ist er, nachdem er euch getroffen hat, noch weitergerutscht und hat einen Fußgänger sehr schwer verletzt. Hat der Fußgänger etwa daran schuld?"
"Nein", wand Marion sich. "Aber -"
"Kein Aber. Bestimmte Dinge kannst du nicht vermeiden, Marion, auch wenn du es noch so sehr möchtest. Wie klappt es mit dem Laufen?"
"Schon viel besser. Kommt das von dem grünen Saft?"
"Auch." Lena stand auf. "Kommst du mit?"
"Wohin?"
"An die frische Luft. Wir gehen ein paar Schritte, dann setzen wir uns etwas hin und reden ein bißchen miteinander."
Marion folgte Lena auf den Flur, auf dem leise Musik zu hören war, die Marion sofort in gute Laune versetzte. Sie gingen ein paar Meter bis zu einem Lift, mit dem sie viele Etagen tiefer fuhren.
"Das ist ja riesig hier!" staunte Marion. "Was für ein Krankenhaus ist das?"
"Zentral 49", antwortete Lena. "Du kennst es nicht. Du und deine Schwester seid im Zimmer 38-1-12. Das bedeutet Etage 38, Flur 1, Zimmer 12. Merk dir das, damit du dich nicht verläufst." Sie lächelte Marion verschmitzt an. "Wir haben etwas über 20 Angestellte, die nichts anderes tun, als verirrte Patienten zurück zu ihren Zimmern zu bringen."
"38-1-12?"
"Genau. Wir sind da."
Der Aufzug hielt mit einem unmerklichen Ruck an. Lena und Marion gingen durch eine große Empfangshalle mit Schaltern wie in einer Bank.
"Das sind unsere Informationen", erklärte Lena. "Wir haben bis zu 14.000 Patienten hier. Dazu kommen noch knapp 3.000 Ärzte und um die 4.000 Helfer. Ohne Informationsschalter würde sich hier niemand mehr zurechtfinden."
"Gigantisch!" Marion sah sich mit großen Augen um. "Das ist ja fast eine Stadt!"
"Mehr, als du ahnst. Zentral 49 besitzt von einer großen Bäckerei bis hin zu Kinos alles, was eine Stadt ausmacht. Wir haben hauptsächlich Patienten wie euch, Marion. Aber das wirst du alles gleich verstehen. Hier geht's raus."
Sie ging auf eine Tür zu und hindurch. Marion folgte ihr. Sie standen in einem großen Park, in dem von wunderschönen Blumen über mächtige Bäume und kleinen Teichen alles vorhanden war, was einen Park ausmachte. Die Luft war unglaublich rein und mild. Marion atmete voller Genuß tief ein und aus.
"Tut gut, nicht wahr?" lächelte Lena. "Setzen wir uns dort drüben hin."
Sie gingen zu einer einladend aussehenden Bank am Rande eines kleinen Teiches, in dessen Mitte die schönsten Seerosen wuchsen, die Marion jemals gesehen hatte. Dort setzten sie sich hin. Lena zog ein flaches Gerät aus ihrer Tasche, das aussah wie ein kleiner Fernseher.
"Ihr beide wart sehr lange im Tiefschlaf", begann Lena mit weicher Stimme. "Marion, was du jetzt hören wirst, wird sehr starke Gefühle in dir auslösen. Unterdrücke sie bitte nicht."
Marion sah Lena verwundert an, doch diese drückte auf eine kleine Taste an ihrem Gerät und reichte es Marion. Aufgewühlt erkannte sie die Gesichter ihrer Eltern, die verhärmt aussahen.
"Tja, was soll ich sagen?" begann ihr Vater umständlich. "Ich weiß nicht, wer von euch beiden dies hier zuerst hören wird, oder ob es überhaupt jemand von euch hören wird. Marion, Monika, ihr hattet einen so schweren Unfall, daß die Ärzte euch keine Chance gegeben haben. Ihr liegt jetzt seit zwei Monaten im Koma, mehr tot als lebendig, nur noch von Unmengen von Maschinen am Leben gehalten." Seine Stimme zitterte hörbar. Er atmete mehrmals tief ein und aus, dann hatte er sich wieder gefangen.
"Wie gesagt", fuhr er entschlossener fort, "die Ärzte haben euch aufgegeben. Aber wir nicht. Eure Mutter und ich haben uns entschlossen, euch einfrieren zu lassen. Nur Gott allein weiß, ob das Sinn macht, aber es ist das einzige, was wir noch für euch tun können. Nach dem heutigen Stand der Medizin könnt ihr nicht geheilt werden. Eure Organe sind zerquetscht, so gut wie alle Knochen sind gebrochen, und Monikas Wirbelsäule..." Er schüttelte den Kopf. Marions Mutter wischte sich die Augen mit einem Taschentuch.
"Vielleicht gibt es in zwanzig oder dreißig Jahren die Möglichkeit, euch zu heilen", redete ihr Vater weiter. "Das ist unsere einzige Hoffnung. Ihr zwei werdet eingefroren bis zu dem Tag, an dem die Medizin eine Chance sieht, euch wieder gesund zu machen. Ich habe keinen blassen Schimmer, ob wir das noch erleben oder nicht, aber zumindest habt ihr eine Chance, Kinder." Seine Stimme brach. Das Bild verschwamm kurz, dann wurde es wieder klar. Marion sah erneut ihre Eltern, die um einiges älter aussahen als noch wenige Sekunden vorher, doch beide waren vollkommen gefaßt und ruhig.
"Hallo, meine Kleinen", lächelte ihr Vater. Ihre Mutter winkte sogar. "Ihr seid jetzt seit zehn Jahren eingefroren. Das heutige Untersuchungsergebnis sieht gut aus. Eure Körper sind zwar völlig leblos, aber die Gehirnströme sind noch minimal aktiv, so daß wir davon ausgehen, daß ihr noch lebt. Sozusagen. Eure Mutter und ich glauben ganz fest daran, daß ihr eines Tages wieder gesund sein werdet und laufen könnt." Er sah kurz zu seiner Frau, die nickte.
"Der Jahrtausendwechsel liegt nun schon acht Jahre zurück", sprach er weiter, "und langsam kommt die Wirtschaft wieder in die Gänge. Die schlimmsten Prognosen waren noch alle untertrieben. Es war die reine Hölle, Kinder. Seid froh, daß ihr es nicht erlebt habt. Aber das werdet ihr alles nachlesen können. Jedenfalls sieht es wohl so aus, daß wir es nicht mehr erleben, wie ihr wach werdet. Das Wissen um die Technologie ist zwar noch vorhanden, aber die Technik ist hin. Das alles muß erst einmal wieder aufgebaut werden, und so, wie es im Moment aussieht, wird es noch Jahre dauern, bis ihr zwei aufgetaut werden könnt. Wenn nicht sogar Jahrzehnte. Marion, noch ein paar Worte an dich: Wir geben dir keine Schuld an dem Unfall. Wir wissen, daß er unvermeidbar war. Selbst wenn ihr ihn einem Auto gesessen hättet, wärt ihr schwer verletzt worden. Dieser Idiot ist mit über 190 Sachen über die Landstraße gebrettert, und ihr seid außerdem noch von anderen Autos überfahren worden, als ihr schon halb tot auf der Straße gelegen habt. Du hattest wirklich keine Chance, Marion. Mach dir bitte keine Vorwürfe. Sorg lieber dafür, daß Moni an dir einen Halt findet. Du warst immer die Stärkere von euch beiden. Sie wird dich brauchen." Wieder verschwamm das Bild und wurde sofort darauf wieder klar. Marion erschrak zu Tode, als sie sah, daß ihre Eltern uralt waren.
"Es sind jetzt 43 Jahre", sagte ihre Mutter mit brüchiger Stimme. "Seit 43 Jahren seid ihr im Eis. Wir fragen uns oft, ob wir wirklich das Richtige getan haben, aber dann siegt doch die Hoffnung, daß ihr eines Tages wieder leben könnt. Die Welt hat sich wieder gefangen. Soweit ich verstanden habe, können inzwischen so gut wie alle Organe künstlich erzeugt werden, nur bei den Nerven und dem Gehirn wird es noch etwas dauern. Und gerade da seid ihr beide sehr stark betroffen. Monis Wirbelsäule ist nur noch Brei. Aber wir geben die Hoffnung nicht auf. Vater kann leider nicht mehr sprechen, sonst hätte er euch gesagt, wie sehr er euch liebt." Ihr Vater nickte mit wässrigen Augen.
"Wir werden euch das hinterlassen, was wir haben. Dann habt ihr zumindest etwas, um neu anzufangen. Wir hoffen von ganzem Herzen, daß ihr zwei dies alles irgendwann einmal hört. Wir bedauern sehr, daß wir so wenig Zeit miteinander hatten, aber das Schicksal hat es nicht gut mit uns gemeint. Falls ihr dies hört, Marion und Monika: macht etwas aus eurem Leben, und denkt nicht zuviel über uns nach. Vergeßt nicht, daß wir euch lieben. Lebt wohl."
Der kleine Bildschirm wurde dunkel. Marion war wie gelähmt vor Schock. Das Gehörte zu verarbeiten ging über ihre Kraft. Sie sah Lena mit großen Augen an, dann wurde sie ohnmächtig.
Als sie wieder zu sich kam, lag sie in ihrem Bett. Lena saß bei ihr und schaute sie mitfühlend an.
"Welches Jahr haben wir?" fragte Marion bang.
"2074", erwiderte Lena leise. "Ihr wart 75 Jahre eingefroren, und für ein Jahr in der Regenerationskammer im Tank. Dort sind sämtliche kaputten Organe und Nerven nachgewachsen." Sie nahm Marions Hände in ihre. "Ich weiß, was das für ein Schock ist, Marion. Mir selbst ging das genauso. Ich bin vor etwa zwei Jahren aufgetaut worden." Sie lächelte dünn. "Ich komme aus dem gleichen Jahr wie ihr. Aus dem Jahr 1998. Mein Stiefvater hat mich in einem Wutanfall aus dem Fenster geworfen, aus dem 15. Stock. Meine Großeltern haben ihr ganzes Geld für meinen Eissarg, wie ich es nenne, ausgegeben, als ich nach drei Monaten im Krankenhaus noch immer nicht tot war."
"Wie alt waren Sie da?"
"Sag Du zu mir. Ich war 17. Jetzt bin ich 19." Ihr Gesicht verzog sich zu einem warmen Lächeln. "Deswegen sollst du nicht Sie zu mir sagen. Wir sind gleich alt, Marion."
"Ich bin inzwischen 19?"
"Ja. Monika ist 13. Während der Zeit im Tiefkühlfach altert ihr nicht. Das beginnt erst wieder im Tank. Ihr habt zwar ein Jahr verloren, aber dafür seid ihr am Leben und völlig gesund."
"Und unsere Eltern sind tot", sagte Marion mit nassen Augen.
"Eure Eltern", erwiderte Lena eindringlich, "haben euch zweimal das Leben geschenkt, Marion. Einmal durch eure Geburt, und dann wieder durch das Einfrieren. Besser kann man Liebe nicht ausdrücken. Ja, sie sind tot. Aber sie haben dafür gesorgt, daß ihre Kinder leben können. Erniedrige ihr Geschenk nicht durch unangemessene und unwürdige Trauer. Trauere um sie, weil sie tot sind, aber trauere nicht, weil sie euer Leben gerettet haben. Weißt du, wie ihr ausgesehen habt? Ihr wart beide nur noch ein unappetitlicher Haufen aus Knochen, Fleisch und Blut. Wenn du dich jetzt im Spiegel ansiehst, wirst du keine einzige Narbe finden, wie gründlich du auch suchst. Bei Monika ist das genauso. Eure Eltern haben dafür gesorgt, daß ihr zwei leben könnt. Nehmt das Geschenk an. Dadurch ehrt ihr sie mehr als durch alles andere." Sie strich sanft über Marions Hände.
"Erzähl mir von ihnen, Marion. Ich hatte nie eine richtige Familie mit richtigen Eltern. Wie waren sie? Was habt ihr so unternommen? Wie haben sie euch bei Fragen geholfen?"
Lena blieb den ganzen Tag bei Marion und quetschte sie über jedes Detail ihres früheren Lebens aus. Und je mehr Marion erzählte, um so mehr löste sich ihre Trauer, die sich von Zeit zu Zeit durch heftiges Weinen entlud. Am Abend war Marion fix und fertig, doch in ihr war eine gewisse Form von Frieden mit ihrem Schicksal. Lena blieb noch bis nach dem Abendessen, dann gab sie Marion ein weiteres Getränk, das sie sehr schnell einschlafen ließ.
Am nächsten Morgen platzte Marion vor Energie. Lena ging mit ihr den ganzen Vormittag durch den Park, wobei sie Marion wiederum sehr viel von früher fragte. Heute konnte Marion schon viel offener und ruhiger über alles reden. Nach dem Mittagessen wurden Spaziergang und Gespräch fortgesetzt, und abends war Marion nach Lenas Einschätzung im Reinen mit sich selbst.
"Na siehst du", lächelte Lena, als sie Marion ins Bett gebracht hatte. "Jetzt schläfst du schön, und morgen wecken wir Moni auf. Eure Eltern haben euch übrigens jede Menge an Videos hinterlassen. Sie haben jede Woche zu euch geredet. Was du gestern morgen gehört und gesehen hast, war nur ein winziger Teil des ganzen Archivs. Sobald ihr zwei richtig fit seid, könnt ihr euch das alles in Ruhe anschauen. Ihr habt auch genug Geld von ihnen bekommen, um einen perfekten Start hinzulegen." Lena grinste wie ein junges Mädchen. "Ab und zu rede ich noch so wie früher."
"Gutes Stichwort." Marion stützte sich auf die Ellbogen. "Du bist 19 und schon Ärztin. Das geht doch gar nicht!"
"Geht wohl!" Lena streckte Marion die Zunge heraus, was Marion zum Lachen brachte. "Marion, die Schule, wie wir sie kennen, ist totaler Bockmist. Das haben inzwischen auch andere eingesehen. Du brauchst in deinem Leben vielleicht fünf Prozent von dem, was die dir eintrichtern. Seit etwa 35 Jahren wird das so gehandhabt, daß Kinder bis zu ihrem 12. Lebensjahr überhaupt keine Schule haben, sondern in einer Form von - ich sag mal, wie in einem Kindergarten lernen, mit anderen Menschen auszukommen. Ab ihrem 12. Geburtstag kommen sie für ein Jahr in die Schule, wo sie täglich eine Stunde Unterricht haben. Den Rest des Tages wenden sie das an, was sie morgens gelernt haben. Nach diesem Jahr kommt die Spezialisierung. Wieder ein Jahr Schule, aber diesmal abgestimmt auf das, was jedes Kind kann und will. Mit 14 sind sie ausgebildet und können ihren Beruf ergreifen." Sie klopfte Marion lachend auf die Schulter. "So gesehen sind wir zwei uralt. Die Ärztin, die mich in meinen ersten Tagen hier betreut hatte, war 15. Ich kam mir ganz schön doof vor, von einem kleinen Mädchen angelernt zu werden."
"Kann ich mir denken", grinste Marion. "Wie geht das denn, Lena? Wie kannst du in ein oder zwei Jahren das lernen, wofür wir früher viele Jahre gebraucht haben?"
"Induktion." Lena lächelte breit. "Du sitzt eine Stunde pro Tag in einem fantastisch bequemen Sessel, hast so etwas wie einen Sturzhelm auf, und auf dem Visier siehst du einen Film. Während du das siehst, werden alle Fertigkeiten, die in dem Film vorkommen, in dein Gehirn gehämmert. Das tut übrigens überhaupt nicht weh. Nach der Stunde hast du das theoretische Wissen, aber die Praxis fehlt. Indem du das, was du da gerade gelernt hast, anwendest, vertieft sich das theoretische Wissen und wird fest verankert. So fest, als würdest du über Monate hinweg stur büffeln und auswendig lernen."
"Klingt cool!"
"Ist es auch. Was möchtest du denn mal arbeiten?"
"Ich war schon arbeiten", lächelte Marion schief. "Meine Eltern waren nicht so glücklich, daß ich nach der Mittleren Reife eine Ausbildung angefangen habe, aber als sie gesehen haben, wieviel Spaß mir die Arbeit machte, ließen sie mich machen. Ich habe Mechanikerin gelernt, für Motorräder. Nach den Sommerferien hätte das dritte Jahr begonnen."
"Cool! Wolltest du deswegen ein Motorrad haben?"
"Genau." Marion kuschelte sich im Bett ein. "Von Kind an war ich verschossen in die Dinger. Ich hab die Leute, die mit ihren Öfen daherkamen, tierisch beneidet. Probefahren durfte ich auf dem Gelände der Werkstatt, so hab ich Fahren gelernt. Mit 17 konnte ich schon eine 1300er fahren. Na ja, zumindest die paar Meter über den Parkplatz. Gibt's eigentlich noch Motorräder?"
"Nicht solche wie früher. Wir haben noch einige im Museum."
"Museum!" Marion richtete sich empört auf. "Soll ich etwa auch dahin?"
"Klar, mit mir zusammen!" lachte Lena. "Als ich hörte, daß es keine Fahrräder mehr gibt, bin ich beinahe zusammengebrochen. Das war nämlich für mich das Schönste: jeden Morgen in aller Herrgottsfrühe raus und durch den Wald zu radeln. Als ich hörte, daß es Fahrräder nur noch im Museum gibt, kam ich mir total alt und überflüssig vor."
"So wie ich", seufzte Marion. "Museum! Das glaub ich ja nicht!"
"Nimm's locker." Lena strich ihr fürsorglich über die Haare. "Es hat sich sehr viel geändert, aber die Welt an sich ist friedlicher und ruhiger geworden. Das werdet ihr noch erkennen. Heute, ein Jahr nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus, bin ich mehr als froh, daß ich hier und jetzt leben darf. Früher..." Ihr Blick verlor sich in der Erinnerung.
"Früher war alles irgendwie total nervig", sagte sie leise. "Ich war irgendwie immer auf der Flucht. Vor meinem Stiefvater, vor den Typen in meiner Clique, vor mir selbst. Hier bin ich zum ersten Mal in meinem Leben ich selbst. Klar, ich vermisse auch vieles von dem, was es früher gab, aber die Sachen, die es inzwischen gibt, entschädigen mich doch für alles andere. Bis auf meine Großeltern. Die vermisse ich immer noch." Sie lächelte Marion an. "Aber ich trauere nicht mehr um sie. Deswegen war ich auch ein bißchen übereifrig, als ich sagte, daß du nicht um deine Eltern trauern sollst, weil sie dir und deiner Schwester ein neues Leben geschenkt haben. Heute liebe ich meine Großeltern dafür, und ihr werdet in spätestens einem Jahr eure Eltern dafür genauso lieben. Jetzt schlaf schön, Marion. Morgen werden wir Moni aufwecken."
"Wie wird sie es aufnehmen?" fragte Marion besorgt. "Moni ist unglaublich sensibel. Sie hängt sehr an unseren Eltern."
"Ich weiß." Lena seufzte leise. "Deswegen habe ich zuerst dich geweckt. Wenn sie dich als Stütze hat, wird es ihr leichter fallen. Aber einfach wird es nicht werden, da gebe ich dir recht. Nun schlaf schön, Marion."
"Okay." Marion legte sich auf die Seite, dann griff sie nach Lenas Hand und drückte sie. "Danke für alles, Lena. Du bist eine sehr große Hilfe."
"Ist mein Job", grinste Lena. "Das war gelogen. Es ist zwar meine Arbeit, aber auch etwas, was mir persönlich sehr entgegen kommt. Ich hatte schon immer einen Draht dazu, anderen zu helfen, aber mein Stiefvater hat viel kaputtgemacht. Egal. Ich bin froh, wenn du froh bist. Gemeinsam werden wir Moni schon auf die Reihe bekommen." Ihr Blick wanderte zum Bett nebenan. "Sie ist ein hübsches Mädchen."
"Das ist sie." Marion sah zu Monis Hinterkopf, dem einzigen Teil ihrer Schwester, das unter der Bettdecke zu sehen war. "Sie sieht jetzt schon besser aus als ich."
"Das ist nicht wahr", widersprach Lena eindringlich. "Ihr seht beide sehr gut aus, Marion. Bei dir ist es die Reife, die dich attraktiv macht, bei ihr ist es ihre Unschuld."
"Attraktiv?" Marion wurde flammend rot. "Das sagst du?"
"Natürlich!" Lena sah sie überrascht an. "Das ist die Wahrheit, und die Wahrheit muß gesagt werden. Auch wenn ich ein Mädchen bin, finde ich euch beide sehr attraktiv. Und jetzt schlaf."
Gehorsam schloß Marion die Augen. Einige Augenblicke später war sie eingeschlafen.



Marion hatte gerade den letzten Bissen ihres Frühstücks herunter geschluckt, als Lena ins Zimmer kam.
"Guten Morgen!" grüßte sie fröhlich.
"Guten Morgen, Lena. Wie geht's?"
"Wie immer bestens. Und dir?"
"Etwas nervös." Marion sah zu Monika. "Wann wollen wir sie wecken?"
"Jetzt. Setz dich bitte zu ihr." Lena war nun ganz Ärztin. Marion setzte sich auf Monikas Bett. Lena ging zur anderen Seite, setzte sich ebenfalls hin, zog ein zigarettenschachtelgroßes Gerät aus ihrem Overall, hielt es an Monikas Schläfe und drückte einige Knöpfe mit dem Daumen, dann steckte sie das Gerät wieder ein. Ihre Augen beobachteten Monika konzentriert.
Sekunden später rührte Monika sich. Zuerst bewegte sie ihren Kopf, dann drehte sie sich auf den Rücken. Marions Augen wurden naß, als sie den sichtbaren Beweis hatte, daß ihre Schwester lebte. Monika stieß ein leises Brummen aus, was Lena zum Schmunzeln brachte, dann öffneten sich ihre Augen.
"Moni!" Marion legte ihre Hände an die Wangen ihrer Schwester.
"Hi!" sagte Monika leise. "Wo sind wir?"
"In einem Krankenhaus. Wir hatten einen Unfall."
"Ach ja!" Monika nickte nachdenklich. "Dieser blöde, hirnverbrannte Idiot! Mir tut aber nichts weh. Bin ich tot?"
"Nein!" lachte Marion mit feuchten Augen. "Ach, Moni! Wo soll ich anfangen?"
"Bei mir." Beide Mädchen erschraken, als sie Lenas Stimme hörten. Monika blickte Lena fragend an.
"Moni, das ist Lena, unsere Ärztin", stellte Marion vor.
"Hallo", meinte Moni schüchtern. "Haben Sie uns gerettet?"
"Ich hab etwas mitgeholfen", lächelte Lena. "Wie fühlst du dich?"
"Schlapp. Todmüde. Was ist das für ein Krankenhaus? Wieso ist die Decke so bunt und flimmert? Und warum sind Sie so jung? Ich kenne nur alte Ärzte. Wieso tragen Sie einen Overall und keinen Kittel? Und warum ist der orange und nicht weiß?"
"Sensibel, ja?" grinste Lena Marion an. "Putzmunter und aufgedreht, würde ich eher sagen." Sie blickte wieder zu Monika.
"Das ist alles okay", sagte sie beruhigend. "Moni, ihr seid in einem ganz besonderen Krankenhaus. Ihr hattet einen sehr schlimmen Unfall, aber jetzt seid ihr beide wieder vollkommen in Ordnung. Tut dir irgend etwas weh?"
"Nein." Moni überlegte kurz. "Doch. Der Rücken. Fühlt sich vollkommen verspannt an."
"Dreh dich mal bitte um."
Fügsam drehte Monika sich herum, begleitet von ächzenden Lauten. Schließlich lag sie auf dem Bauch. Im Gegensatz zu Marion war Monika unbekleidet. Lena tastete kurz ihren Rücken ab, dann zog sie einen kleinen Ball aus einer ihrer Taschen und legte ihn auf die Stelle, die ihr verdächtig erschien. Der Ball begann zu summen.
"Hmm!" seufzte Monika. "Das ist schön!"
"Wenn du lieb bist, darfst du den behalten", scherzte Lena. "Der tut gut bei Überanstrengung. Geht's besser?"
"Ja. Viel besser!"
"Prima. Drehst du dich wieder um?"
Monika rollte sich wieder auf den Rücken. Lena deckte sie zu, dann drückte sie Monika den Ball in die Hand.
"Einfach auf die Stelle legen, wo es sich verspannt anfühlt, und ganz leicht drücken."
"Echt?" Aufgeregt drückte Monika den Ball gegen ihre Stirn und kicherte hell. "Das kitzelt! Darf ich den echt behalten?"
"Sicher."
"Geil! Danke!" Sie rollte den Ball über ihr Gesicht bis zur Wange. "Jetzt weiß ich, wie sich Papi beim Rasieren fühlen muß", lachte sie. "Kann ich sie mal anrufen? Wissen sie, wo wir sind?"
Marion nickte beherrscht. "Ja, Moni. Sie wissen, wo wir sind." Tieftraurig sah sie zu Lena, die das Gespräch übernahm.
"Moni", sagte sie sanft. "Hörst du mir mal bitte zu?"
"Klar!" Monika sah Lena mit großen Augen an. "Was ist denn?"
"Du und deine Schwester", erklärte Lena leise, "wart lange krank. Sehr lange." Sie griff nach Monikas Händen und drückte sie. Monika schaute sie fragend an.
"Was heißt das?"
"Das heißt, daß ihr so lange krank wart, daß eure Eltern inzwischen sehr alt geworden und gestorben sind." Lena sah Monika ernst an. "Nein, das ist kein schlechter Witz, Moni. Du und Marion wart so schwer verletzt, daß ihr so gut wie tot wart. Eure Eltern haben sich entschieden, euch einfrieren zu lassen, bis die Medizin so weit war, daß ihr geheilt werden konntet. Ihr beide wart 75 Jahre eingefroren, Moni. Eure Eltern sind tot. Seit etwa 30 Jahren."
Monika schüttelte den Kopf und sah zu ihrer Schwester. "Spinnt die?"
"Nein." Marion kämpfte ihre Tränen nieder. "Nein, Moni, sie spinnt nicht. Wir sind in der Zukunft. Wir sind im Jahr 2074."
"Ihr spinnt doch beide!" Monika setzte sich wütend auf. "Ich will sofort mit Papa telefonieren. Sofort!"
Lena nickte. "Sieh her." Sie gab Monika den kleinen Fernseher und schaltete ihn ein. Zuerst fassungslos, dann entsetzt lauschte Monika den Worten ihrer Eltern. Als die Wiedergabe beendet war, brach Monika in Tränen aus. Marion legte sich schnell zu ihr und nahm sie in den Arm.
Trotz ihrer offensichtlich rauhen Schale war Monika tatsächlich viel sensibler als Marion. Lena brauchte mehr als zwei Wochen, bis das junge Mädchen akzeptiert hatte, was passiert war. Dann wollte Monika sofort die ganzen Aufzeichnungen ihrer Eltern sehen, was Lena nach einigem Zögern schließlich gestattete. Sie ließ die beiden Schwestern allein, nachdem sie ihnen die Bedienung des Wiedergabegerätes erklärt hatte.
Voller Trauer sahen Marion und Monika in den nächsten Tagen alle Videos, die ihre Eltern ihnen hinterlassen hatten. Anfangs, direkt nach dem Unfall, waren die Filme noch sehr kurz, weil ihre Eltern einfach nicht reden konnten, aber nach und nach wurden sie länger. Die Eltern erzählten viel von dem, was um sie herum passierte, wie es ihnen ging, und wie sie schließlich zu der Entscheidung kamen, ihre Töchter einfrieren zu lassen. Gebannt und teilweise weinend sahen die Mädchen bestimmte Passagen immer wieder, bis auch der letzte Zweifel bei Monika an dem Tod ihrer Eltern ausgeräumt war.
Einen Monat nach Monikas Erwachen kam der Tag der Entlassung. Voller Furcht wegen ihrer Zukunft betraten die Mädchen Lenas Büro, in dem ein Mann von vielleicht 30, 40 Jahren saß, dessen freundliches Gesicht die Mädchen sofort beruhigte. Er trug einen locker sitzenden Jogginganzug aus einem unbekannten, leuchtend gelben Material.
"Das ist Valentin", stellte Lena den Mann vor. "Er ist Historiker und außerdem einer der Menschen, die Patienten wie euch nach ihrer Entlassung aufnehmen, um sie auf das Leben hier vorzubereiten." Sie lächelte den Schwestern zu. "Ich habe auch bei ihm gewohnt, bis ich fit war. Er ist voll in Ordnung." Beruhigt nickten die beiden Schwestern.
"Ihr werdet aber nicht nur bei ihm wohnen, sondern auch lernen. Valentin ist an die Lernmaschinen angeschlossen. Er wird euch unterrichten, bis ihr alles über die heutige Zeit wißt. Dann könnt ihr euch testen lassen, welche Berufe für euch die richtigen sind. Sobald ihr das herausgefunden habt, wird er euch helfen, eine Wohnung zu bekommen. Als Gegenleistung erzählt ihr ihm viel von früher. Valentin kennt zwar jedes Detail der Vergangenheit, aber er legt mehr Wert auf das Wissen, wie die Menschen Ende des letzten Jahrhunderts gedacht, gefühlt und gehandelt haben. Warum sie das getan haben, was sie getan haben. Ihre Motive, ihre Einstellungen, ihre Denkweisen. So in der Art eben. Er wird außerdem euer Geld verwalten, bis ihr selbst klarkommt. Solange ihr bei ihm wohnt, wird er alles für euch bezahlen, was so anfällt." Sie lächelte den beiden Mädchen, die immer nervöser wurden, beruhigend zu.
"Macht euch bitte keine Sorgen. Ihr werdet sehr schnell lernen, daß Geld in der heutigen Zeit nicht so wichtig ist wie damals. Für Valentin ist das Wissen, was ihr von der Vergangenheit habt, nicht mit Geld aufzuwiegen. Seiner Meinung nach macht er den besseren Schnitt bei dem Geschäft."
Die Mädchen sahen den Mann an, der lächelnd nickte.
"So ist es", sagte er mit einer angenehm tiefen Stimme. "Eine Stunde Gespräch, in dem ich erfahre, wie eure Motive für euer Handeln sind, ist für mich so viel wert wie ein Jahr für euch Essen zu kochen." Das brachte die Mädchen endlich zum Lachen.
"Na also", schmunzelte Lena zufrieden. "Wenn ihr dann später eine eigene Wohnung habt, könnt ihr Valentin trotzdem jederzeit fragen, wenn ihr Hilfe braucht. Jede Frage von euch hilft, die Lernmaschinen zu perfektionieren. Also zögert nicht lange, sondern fragt, fragt, fragt." Sie stand auf und ging zu den beiden Schwestern.
"Ich wünsche euch alles Gute", sagte sie herzlich. "Es ist fantastisch, wie schnell ihr zwei euch gefangen habt. Ihr werdet mit dieser Welt bestimmt klarkommen. Bin ich ja auch, und ihr zwei seid viel schlauer als ich." Sie wehrte den Einspruch der Mädchen lachend ab.
"Nun macht mir meine Abschiedsrede nicht kaputt! Was wollte ich sagen? Ach ja. Alles Gute, und bleibt aufrecht."
Sie umarmte die beiden zum Abschied. Marion und Monika bedankten sich noch einmal auf das Innigste für Lenas Bemühungen, dann folgten sie Valentin mit einem lachenden und einem weinenden Auge zum Lift.
"Jeder Abschied ist gleichzeitig ein neuer Beginn", sagte er ruhig, während sie hinunter fuhren. "Das verstehen allerdings nur Menschen wie ihr. Ihr habt von allem Abschied nehmen müssen, was ihr kanntet, aber dafür habt ihr ein vollkommen neues Leben bekommen. Ihr kennt mich zwar noch nicht, aber ihr könnt mir glauben, daß euch das Leben gefallen wird. Im Gegensatz zu eurer Zeit sind heute nämlich viele Dinge anders. Wesentlich freier und ungezwungener." Seine ruhige Art entspannte die Mädchen sehr schnell.
"Als Lena zu mir kam", erzählte er weiter, "war sie ein reines Nervenbündel. Kaum zu glauben, was?" grinste er, als die Mädchen ihn ungläubig ansahen. "Sie war so nervös, daß sie nicht eine Sekunde lang stillsitzen konnte. Heute ist sie die Geduld in Person."
Der Aufzug hielt an. Valentin führte die Mädchen zu einem Seitenflur, in dem ein kleines Geschäft untergebracht war. Die Mädchen bekamen dort ihre Reisekleidung, einen hautengen gelben Anzug aus einem kühlen, glatten, anschmiegsamen Material, der die Unterarme und Unterschenkel freiließ. Mehr bekamen sie nicht.
"Fast wie mein Sportanzug", kicherte Monika fröhlich, als sie sich im Spiegel musterte. Marion nickte verlegen.
"Ist das nicht ein bißchen - wenig?"
"Wegen fehlender Unterwäsche?" fragte Valentin seelenruhig. Marion wurde rot, nickte aber erneut.
"Es ist nur, bis ihr bei mir seid", tröstete Valentin sie. "Dort beginnt gleich eure erste Stunde: Grundlagen der heutigen Zivilisation. Ich möchte nicht vorgreifen, aber das, was ihr anhabt, ist absolut passend für die heutige Zeit, auch wenn ihr euch anfangs noch etwas unwohl darin fühlen mögt."
"Wieso beruhigen Sie mich so einfach?" wunderte Marion sich. "Wie schaffen Sie das?"
Valentin lächelte. "Weil ich ein ganz liebes Kerlchen bin. Kinder, sagt Du zu mir. Das 'Sie' haben wir abgeschafft. Es drückt eine unpersönliche, unfreundliche Distanz aus. Es bedeutet, daß man mit einem Menschen nichts zu tun haben möchte."
"Tut mir leid!" entschuldigte Marion sich betroffen. Valentin hob schnell die Hand.
"Das ist unnötig. Ich weiß, daß in eurer Zeit das 'Sie' die korrekte Anrede für fremde Personen war. Entschuldige dich nicht dafür, daß du korrekt bist. Alles weitere wirst du noch lernen, wie deine Schwester auch. Sagt Bescheid, wenn ihr fertig seid."
"Fertig!" rief Monika.
"Ich auch."
"Gut." Valentin musterte die beiden Mädchen. Daß sie Schwestern waren, war erst auf den zweiten Blick zu erkennen. Marion war sehr groß mit ihren 1,85. Sie überragte ihre Schwester um gut 40 Zentimeter. Beide Mädchen hatten die dunkelblonden Haare ihrer Mutter. Marion trug sie schulterlang, Monika bis zu den Schulterblättern. Marion hatte die blauen Augen ihres Vaters geerbt, Monika die braunen Augen ihrer Mutter. Der Vater zeigte sich wieder in den energischen Gesichtern. Beide Mädchen waren sportlich-kräftig gebaut.
"Lena hat recht", schmunzelte Valentin. "Ihr seid wirklich attraktiv. Dann los."
Geschmeichelt und verlegen folgten die Mädchen ihm hinaus. Sie gingen über den Vorplatz, der von großen Beeten eingefaßt war, zu einem Parkplatz, auf dem viele Autos vom gleichen Typ zu sehen waren. Verwundert schaute Marion sich um.
"Gibt es nur ein Modell?"
"Ja. Das minimiert die Fehlerquote bei der Produktion."
"Und wie", grinste Marion, "wollen - äh, willst du dein Auto wiederfinden?"
"Es findet mich." Valentin zwinkerte ihr zu, dann zog er eine flache Scheibe aus seiner Tasche und drückte kurz darauf. Sekunden später sah Marion eine Bewegung auf dem Parkplatz. Ein Auto machte sich selbständig auf den Weg und hielt vor den drei Menschen an.
"Geil!" staunte sie. "Darf ich mir den mal angucken?"
"Sicher."
Neugierig ging Marion um den kleinen Wagen herum. Er entsprach von der Größe ungefähr einem Kleinwagen vom Typ Opel Corsa oder Fiat Punto. Wie sie es von einem Zukunftsauto erwartet hatte, war der Wagen von vorne bis hinten rund, wie ein der Länge nach aufgeschnittenes Ei. Dann stutzte sie. Wo waren die Scheinwerfer? Die Rücklichter? Und wo waren die Türen?
Valentin weidete sich an ihrem verdutzten Gesicht.
"Scheinwerfer braucht ein heutiger Wagen nicht", erklärte er ihr. "Auch keine Bremsleuchten oder Blinker. Das wirst du verstehen, wenn wir fahren. Und Türen..." Er ging zu dem Wagen und drückte auf eine bestimmte Stelle vorne links. Es klackte leise, und das ganze Gehäuse des Wagens klappte wie eine Ziehharmonika auf, von vorne nach hinten. Monika fielen beinahe die Augen aus dem Kopf.
"Ist das cool!" Staunend ging sie näher heran und starrte auf die bequem aussehenden Sitze. "Wie teuer ist so 'ne Kiste?"
"Weniger, als du denkst. Mögt ihr einsteigen?"
"Klar!" Monika huschte auf den Rücksitz, Marion setzte sich auf den Beifahrersitz. Das war aber nur die veraltete Bezeichnung, denn vorne wie hinten war eine durchgehende Sitzbank.
Als Valentin eingestiegen war, faltete sich das Gehäuse geräuschlos auseinander und schloß sich wieder.
"Türen", erklärte Valentin, "brauchen Platz. Das Sinnvollste wären Türen, die sich nach oben öffnen, oder eine sich öffnende Fahrgastzelle. Türen sind jedoch eine Quelle für Verletzungen. Habt ihr euch schon einmal die Finger in einer Tür geklemmt?" Beide Mädchen nickten.
"Genau deswegen haben wir uns für diese Form entschieden. Krankenhäuser sind die einzigen Gebäude, wo es wegen der notwendigen und erforderlichen Ruhe noch Türen gibt, denn die Menschen, die dort sind, sind in den meisten Fällen verletzt und daher wesentlich aufmerksamer für Gefahrenquellen. Viele Verletzungen entstehen durch Unachtsamkeit, wie zum Beispiel das Schließen einer Tür, während man sich angeregt unterhält." Er legte eine Hand auf eine Fläche am Armaturenbrett. Es piepste leise.
"Nach Hause", sagte Valentin, dann drehte er sich zur Seite und sah Marion an. "Deswegen brauchen wir auch kein Licht am Auto."
Noch während er sprach, fuhr der Wagen mit einem leisen Surren los. Marion verstand.
"Cool! Wie schnell fährt der?"
"25 Km/h. Alles andere ist zu gefährlich. Innerhalb von bewohnten Zonen sogar nur 10 Km/h." Er mußte lächeln, als Marions Gesicht große Verblüffung zeigte.
"Ich weiß, ich weiß. Zu eurer Zeit haben alle von individueller Freiheit der Persönlichkeit geredet, und darunter verstanden sie auch das Rasen." Sein Gesicht wurde ernst. "Marion, wenn es zu eurer Zeit solche Fahrzeuge wie dieses hier schon gegeben hätte, könntet ihr immer noch bei euren Eltern sein." Das traf Marion wie ein Schlag mit der Keule.
"Verstehst du", sagte Valentin sanft. "Die individuelle Freiheit muß dort aufhören, wo sie die Freiheit eines anderen Menschen beeinträchtigt. Es mag paradox klingen, aber nur innerhalb der Gesetze bist du wirklich frei."
"Das verstehe ich nicht!" Monika lehnte sich zwischen den Sitzen nach vorne. "Was heißt das?"
"Paß auf. Nehmen wir an, du würdest stehlen. Wie fühlst du dich dabei?"
"Na, ich würde Angst haben, erwischt zu werden."
"Ist das ein befreiendes oder ein einengendes Gefühl?"
"Einengend."
"Kannst du frei sein, wenn du eingeengt bist?"
"Nee."
"Damit hast du es verstanden." Valentin strich ihr kurz über das Haar. "Wenn du dich immer an die Gesetze hältst, mußt du auch nie Angst haben, erwischt und bestraft zu werden. Mal ganz davon abgesehen, daß Stehlen immer auch einem anderen Menschen schadet."
"Puh!" Marion stieß den Atem aus. "Gibt es hier viele Gesetze?"
"Nur eines: Was anderen Menschen hilft, frei, unabhängig und glücklich zu werden, ist erlaubt, alles andere ist verboten."
"Das ist doch Unsinn!" ereiferte Marion sich. "Wie will man denn so etwas durchsetzen?"
"Indem so viele Menschen wie möglich mitmachen." Er lächelte Marion an. "Marion, als zur Jahrtausendwende die ganze Welt kollabierte, brach auch die Zivilisation zusammen. Die Menschheit hatte sich so sehr auf ihre Computer und Maschinen verlassen, daß sie abhängig davon wurde. Im Jahre 2011 war Europa langsam wieder so weit, daß es eine funktionierende Wirtschaft hatte. Zu der Zeit wurde die Demokratie, die auf dem Papier in den meisten Staaten existierte, durch eine äußerst strikte Diktatur abgelöst. Es begann in Spanien. Die Monarchie trennte sich von der Demokratie und befahl nur noch." Marion machte ein ungläubiges Geräusch.
"Verzeihung", entschuldigte Valentin sich. "Ich beginne ganz vorne. Als zum 1. Januar 2000 so gut wie alle wichtigen Computer den Dienst versagten, gab es praktisch über Nacht viele grundlegende Dinge nicht mehr. Der Strom war weg, für Wochen, und das in allen Ländern der Erde. Ohne Strom lief nach einiger Zeit nichts mehr, denn dann waren auch die Notstromaggregate am Ende, weil das Benzin alle war. Ohne Strom konnte kein neues gefördert oder raffiniert werden. Ohne Strom gab es keine Kommunikation mehr. Ohne Kommunikation hörte der Handel auf, zu existieren. Die Produktion folgte. Die Weltbörsen brachen zusammen. Auf den Straßen herrschte nur noch Gewalt, Plünderung und Raub. Jeder trachtete danach, das eigene Leben zu retten, ohne Rücksicht auf andere." Die Mädchen hörten ihm schockiert zu. Teilweise hatten sie schon Andeutungen in den Aufzeichnungen ihrer Eltern gehört, aber nie so deutlich wie jetzt.
"In den folgenden zehn Jahren hatte jedes Land alle Hände voll zu tun, die eigene Wirtschaft wieder in den Griff zu bekommen. Durch die Gewalt waren Schäden entstanden, die erst um 2050 herum vollständig beseitigt waren. Als die Länder langsam wieder anfingen, ihre Waren herzustellen, setzten sich die Regierungsleute, die das Chaos überlebt hatten, zusammen und diskutierten neue Wege für ein vereintes Europa. Heraus kam eine Diktatur, die im Gegensatz zu dem gewohnten inhaltlichen Begriff dieses Wortes nur eines im Sinn hatte: ein für allemal ein System auf die Beine zu stellen, was den einzelnen Menschen in den Vordergrund stellte, und nicht das Staatsgefüge an sich. Denn eine Demokratie muß sich entwickeln, Marion. Sie muß wachsen, lernen, und mit der Zeit erwachsen werden. Genau das haben die alten Regierungen aber nie erlaubt. Jede Regierung, egal welch politischer Färbung, zielte immer nur auf Macht ab. Das ganze Gerede vom Wohle des Volkes war reine Lüge. Alle trachteten nur danach, die eigenen Taschen zu füllen und Macht zu haben. Das wurde durch die Diktatur ganz schnell beseitigt.
Spanien fing damit an, wie gesagt. Durch die Monarchie waren die Menschen schon gewohnt, zu gehorchen. Die anderen Länder wie Belgien, Monaco und die Niederlande folgten 2012, wie die meisten anderen Staaten Europas. 2014 war der Prozeß abgeschlossen. Jedes Land wurde von einer Diktatur regiert.
Jeder Landeschef sprach sich jedoch mit allen anderen ab, und das war das Einmalige an der ganzen Geschichte. Alle folgten der Linie, die Menschen zu befreien. Leider hat dies natürlich viele Menschenleben gekostet, denn kaum eine Regierung wollte einfach so zur Seite gefegt werden. Vor allem in den ehemals kommunistischen Staaten war lange Zeit die Hölle los. Mehr als vier Jahre lang waren in allen Länder Söldner unterwegs. Attentäter. Gekaufte Mörder. Sie alle hatten den Auftrag, diejenigen Menschen zu töten, die nur auf Macht aus waren. Es war eine sehr blutige Zeit, die heute nur noch 'Die große Säuberung' genannt wird. Ein ziemlich sarkastischer Begriff, aber zutreffend.
2014 war dieser Prozeß beendet. Im Gegensatz zu allen anderen Regierungen wurden keine neuen Gesetze geschaffen, sondern die bestehenden entrümpelt. Die ganzen Schlupflöcher wurden dichtgemacht. Es gab über Jahrzehnte hinweg nur noch ein Entweder - Oder. Nach und nach merkten die Schafe unter den Menschen, daß die Wölfe immer weniger wurden, wenn mir dieser Vergleich gestattet ist, und nach und nach erhielten die Regierungen Rückendeckung aus der Bevölkerung. Damit war die Lawine in Gang gesetzt und nicht mehr aufzuhalten. Das war das einzig Gute an dieser blutigen Zeit: daß die machtbesessenen Menschen förmlich ausgerottet wurden, gezielt und bewußt. Jemand, der sich für ein Amt zur Wahl stellte, war automatisch disqualifiziert, denn seine Bereitschaft deutete auf ein Machtstreben hin, das einfach nicht zu akzeptieren war. Dies wurde den Menschen mit der Zeit immer bewußter, und langsam wurde aus einem Volk eine Gemeinschaft.
Um 2050 herum war dieser Prozeß zu Ende. Eine neue Generation war herangewachsen, die nichts anderes kannte als ihre Kraft zum wirklichen Wohle der Menschheit einzusetzen. Ich selbst wurde 2041 geboren und kenne praktisch nichts anderes außer dieser Einstellung. Durch meine Historienkenntnisse sind mir jedoch alle anderen Systeme auch vertraut, und ich muß ganz offen bekennen, daß mir dieses System am besten gefällt. Einfach aus dem Grund, weil ich nur dieser einen einzigen Regel unterliege, und mit der werde ich tagtäglich konfrontiert, so daß ich sie nie vergessen kann."
"Aber das -" stammelte Marion. "Ich meine, wie - Und die Regierung?" Sie sammelte sich wieder. "Ich meine, wie wird das durchgesetzt? Gibt es noch so etwas wie Bundestag und Bundesrat?"
"Nein. Die ganze Hierarchie, die ihr kennt, existiert nicht mehr." Er sah Marion eindringlich an, Monika lauschte gebannt, ohne erkennen zu lassen, wieviel sie von Valentins Ausführungen verstand.
"Marion, was ist eine Regierung? Grundsätzlich, meine ich. Was ist eine Regierung? Strenggenommen doch nichts anderes als ein Instrument, um die Wünsche des Volkes zu verwirklichen und das Land bzw. den Staat anderen Ländern und Staaten gegenüber zu vertreten. Sobald alle Staaten auf dem gleichen Level sind, was Menschenrechte und Gesetze angeht, ist das unnötig geworden. Genauso wie der ganze Machtapparat, der eure alten Regierungen auszeichnete. Wenn damals ein Gesetz beschlossen wurde, ging es von der Bundesebene auf die Landesebene und weiter an die Kommunen und Gemeinden. Wozu? Wozu braucht man eine solche Menge an beteiligten Institutionen? Nächster Punkt: seit den siebziger Jahren eures Jahrhunderts konnte keine politische Partei mehr die absolute Mehrheit für sich gewinnen. Anstatt sich Gedanken über diese Ergebnisse zu machen, wurden Vorwürfe erhoben und Schuldzuweisungen gemacht. Die Politik eurer Zeit, Marion, ging vollkommen am Menschen vorbei. Auch wenn du noch - gemessen an deiner Zeit - jung bist, so glaube ich doch, daß du dies schon in den Grundsätzen erkannt hast."
Marion nickte leise, wie ihre Schwester auch.
"Das stimmt", meldete Monika sich zu Wort. "Ich hatte immer ein ziemlich mieses Gefühl, wenn ich an meine Zukunft dachte. Ich meine, erstens ist - war es schwierig, irgendwo einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Zweitens macht das Verdienen überhaupt keinen Spaß mehr, wie Papa sagt. Sagte."
"Das ist vollkommen richtig", stimmte Valentin zu. "Steuern. Eine Zwangsabgabe, mit der sich der Wasserkopf am Leben hielt. Wir kennen keine Steuern, Kinder. Überhaupt hat Geld nicht mehr den Stellenwert, den es in eurer Zeit hatte."
"Und wie soll das gehen?" fragte Marion ungläubig.
"Durch Gegenleistung. Ich brauche ein Auto. Also gehe ich in die Fabrik und baue mir eins. Die Teile, aus denen das Auto besteht, werden von Menschen hergestellt, die auch etwas brauchen und sich so das Geld dafür verdienen. Jeder arbeitet nur so viel, um sich das kaufen zu können, was er braucht. Jedes europäische Land hat bestimmte Vorzüge und Nachteile, trotz aller Angleichungen. Die Schweiz ist zum Beispiel nach wie vor Spitzenreiter in Uhrentechnologie. Aus dem ehemaligen Großbritannien kommen hochrangige Literatur und erstklassiges Fleisch. Spanien liefert köstliches Obst. Deutschland hat die Führung in Gentechnologie. So entsteht ein Netz aus Handel, das sich kaum mehr beziffern läßt. Für den Außenhandel, wie ihr das genannt habt, brauchen wir keine Verträge. Der israelische Regierungschef ruft zum Beispiel den französischen Regierungschef an und fragt, ob er ihm 100 Tonnen Rindfleisch liefern kann. Der Franzose schickt es ihm. Irgendwann wird Frankreich etwas von Israel brauchen, und Israel wird das genauso kommentarlos schicken." Er mußte etwas lächeln, als er die Gesichter der Mädchen sah.
"Es klingt vollkommen unmöglich, aber es ist so. Sobald ihr erst einmal verinnerlicht habt, daß ein Miteinander alle Türen öffnet, seht ihr auch die Möglichkeiten, die sich dahinter verbergen.
Alles andere, die sogenannten Grundbedürfnisse, also Essen, Kleidung und Wohnen, werden von der Regierung gestellt. Jede Stadt versorgt sich in weiten Teilen selbst. War Deutschland früher eine Industrienation, so ist es heute eine Mischung aus Industrie und Landwirtschaft. Diejenigen Länder, die früher kaum Industrie hatten, wurden durch vereinte Anstrengungen aller anderen Staaten auf den Stand gebracht, den sie heute haben. Das ist das Miteinander, was ich meinte, Mädchen. Der Mensch steht im Vordergrund, nicht das System. Das System ist nur das Mittel zum Zweck und sollte nicht Selbstzweck sein."
"Das kann doch gar nicht gehen", flüsterte Marion. "Es sind doch jeden Tag so viele Entscheidungen zu treffen! Das kann ein Mensch alleine doch gar nicht schaffen!"
"Nicht ganz, Marion. Die vielen Entscheidungen kamen nur daher, weil es so viele Gesetze gab. Die konnte kein einzelner mehr im Kopf haben, völlig richtig. Dadurch, daß wir heute nur noch ein einziges Gesetz haben, ist alles sehr viel einfacher geworden. Jede Entscheidung wird daran gemessen, ob sie den Menschen frei, unabhängig und glücklich macht. Das kann innerhalb von Sekunden entschieden werden, ohne Konferenz und ohne großzügige Auslegung von Schlupflöchern in Gesetzen."
"Okay." Monika schaute Valentin forschend an. "Nehmen wir mal an, ich klaue mir ein - ein Brot. Was passiert dann?"
"Dann werden wir als erstes herausfinden, warum du das Brot gestohlen hast, Moni. Wenn du kurz vorm Verhungern stehst, werden wir das abschaffen, indem wir dir eine Stelle nennen, wo du Essen bekommst. Stellt sich heraus, daß du keine Arbeit hast, werden wir dir eine verschaffen, nachdem wir getestet haben, für welchen Beruf du dich eignest. Sollte es jedoch so sein, daß du einfach nur neidisch und gierig bist und deswegen stiehlst, werden wir dich bitten, ganz offen zu sagen, warum du neidisch und gierig bist. Anschließend werden wir untersuchen, wo die Regierung versagt hat, und das abstellen."
"Keine Strafe?"
"Keine Strafe, Moni. Wenn ein Mensch ein Verbrechen begeht, egal wie klein oder wie groß, hat der Staat versagt. In irgendeiner Form. Und das müssen wir herausfinden und abstellen. Denn ein Verbrechen macht keinen Menschen frei oder glücklich."
"Moment!" Marion schüttelte vehement den Kopf. "Was ist mit Mördern? Triebtätern? Wirtschaftsverbrechern?"
"Das gleiche, Marion. Mörder... Da gibt es zwei Sorten. Die erste Sorte tötet aus Verzweiflung, die andere aus Kälte. Also muß die Regierung dafür sorgen, daß ein Mensch nie so verzweifelt wird, daß er töten könnte, oder daß er nie so erkaltet, daß er töten könnte. Dafür haben wir die Vorerziehung, die jedes Kind ab Geburt bis zum Ende des 12. Lebensjahres durchläuft. In diesen 12 Jahren lernt das Kind, mit anderen Menschen zu leben, Konflikte zu lösen, Wünsche zu äußern, Bedürfnisse gewaltfrei zu befriedigen.
Wirtschaftsverbrecher gibt es nicht mehr, Marion. Diese Art Kriminalität entstand nur, weil einige wenige Menschen viel mehr hatten als die meisten anderen. Wie alle anderen Formen der Kriminalität überhaupt aus Neid und Habgier entstanden sind. Als das beseitigt worden war, verschwand dieses Verbrechen von heute auf morgen. Wenn jeder Mensch alles hat, was er braucht, gibt es keinen Neid mehr.
Und Triebtäter... Das war ein ganz heikler Punkt, Marion. Da mußten wir sehr tief graben, um die Gründe für dieses Verhalten herauszufinden. Aber wir haben es geschafft. Ein Triebtäter wird erzogen, Marion. Er ist keiner, er wird zu einem gemacht. Bewußt oder unbewußt. Indem wir die Eltern veränderten, veränderten sich auch automatisch die Kinder. Ein Kind, das in einer liebevollen Umgebung aufwächst, ist nie versucht, anderen Menschen seinen eigenen Willen aufzudrängen, sei es nun mit Gewalt oder ohne. Nach zwei Generationen sind wir heute an dem Punkt, wo kein Mensch mehr das eigene oder ein fremdes Kind mißhandelt oder mißbraucht, und genau das war die Grundlage für einen späteren Triebtäter. Der Respekt vor dem anderen Leben ist größer, als ihr es euch im Moment vorstellen könnt, Kinder. Viel größer. Das war aber auch ein Fehler eurer Regierungen. Im Nachhinein läßt sich so etwas immer behaupten", schmunzelte Valentin, "aber es ist wirklich so. Sobald der Mensch im Vordergrund steht, können die Entscheidungen nur in einer Richtung getroffen werden. Nämlich für die Freiheit des Menschen." Er lächelte den Mädchen zu.
"Wie gesagt, das alles kam nicht von heute auf morgen. Wenn der Kollaps zum Jahrtausendwechsel nicht passiert wäre, würden wir heute noch immer so leben wie damals. Wahrscheinlich noch viel schlimmer. Aber da alles kaputt war, konnte es nur besser werden. Historisch gesehen hat sich die Zeit der Säuberung absolut gelohnt, auch wenn es sehr schlimm ist, daß viele Menschen sterben mußten. Aber es war eine Wahl, die keinen Kompromiß zuließ. Entweder Freiheit, oder die Sklaverei der alten Regierungsform. Es wurde zugunsten der Freiheit entschieden. Seht es mal so: wäre die Entscheidung für die Sklaverei gefallen, würden in vielen Ländern immer noch Menschen gefoltert und umgebracht. Absolut gesehen kostete das mehr Menschen, als während der Zeit der Säuberung sterben mußten. Das ist zwar eine sehr dünne Entschuldigung, aber das heutige Ergebnis rechtfertigt diese Zeit. Wir sind gleich da. Da hinten ist mein Haus."
"Eine Frage noch", sagte Marion hastig, ohne nach draußen zu sehen. "Was ist mit den Ländern wir Rußland und Amerika? Wie spielen die mit?"
"Gar nicht mehr." Valentin sah Marion ernst an. "Rußland existiert nicht mehr. Zum Jahrtausendwechsel sind denen die Atomraketen nur so um die Ohren geflogen. Soweit ich weiß, hatte sich Rußland im Jahre 1999 an Amerika gewandt, mit der Bitte um Hilfe bei der Computerumstellung, aber die Zeit reichte einfach nicht mehr aus. Rußland ist eine radioaktiv verseuchte Wüste. Amerika... Die alten USA sind zerbrochen, als die Krise kam. Das Land fiel zurück in die Zeit vor den Bürgerkriegen. Jeder kleine Staat kochte sein eigenes Süppchen, und als es daran ging, die Wirtschaft wieder aufzubauen, kamen die vielen Staaten auf keinen gemeinsamen Nenner. Amerika ist heute eine Ansammlung von verfeindeten Städten, die 24 Stunden am Tag miteinander im Krieg liegen, ohne Wirtschaft, ohne Zusammenhang. Die alten Waffengesetze spielten natürlich auch eine Rolle dabei. Jeder einzelne Bürger hatte mehr Feuerkraft als eine kleine Polizeistation bei uns. Das Ergebnis könnt ihr euch selbst ausrechnen.
Afrika ist wieder schwarz. Alle Weißen wurden entweder vertrieben oder getötet. Meiner Meinung nach auch gerechtfertigt, denn was die weiße Rasse sich mit der schwarzen geleistet hat, geht über mein Verständnis. Die alten Traditionen der Buschstämme leben wieder, das Christentum ist heute nur noch eine böse Erinnerung. Mit Afrika verbindet Europa übrigens ein lebhafter Handel. Afrika liefert uns unter anderem Pflanzen, Kräuter und Obst, wir liefern dafür Klimatechniken und Baustoffe für die Städte.
Asien ist verbotene Zone. Als der Westen am Boden lag, hat China alle anderen asiatischen Länder überrollt und annektiert. Asien versorgt sich selbst und will mit allen anderen Ländern nichts mehr zu tun haben. Wir respektieren das, auch wenn es uns nicht gefällt. Die Menschen dort müssen selbst wissen, wieviel sie sich gefallen lassen. Vielleicht wird es dort schon nächstes Jahr zum großen Knall kommen, vielleicht aber auch erst in 200 Jahren.
Mit Australien haben wir erst seit 2068 wieder Kontakt. Es soll dort zu heftigen und blutigen Kriegen zwischen den Aboriginees und der weißen Bevölkerung gekommen sein, die erst um 2060 herum beendet worden waren. Heute leben beide Gruppen friedlich nebeneinander und unterstützen sich gegenseitig. Die Ureinwohner bringen den Weißen ihre Art Medizin bei, die Weißen sorgen durch Terraformung dafür, daß die Ureinwohner mehr Land kultivieren können." Er legte der verstörten Marion die Hand auf die Schulter.
"Marion", sagte er mit tiefem Ernst. "Wann immer die Freiheit des Menschen eingeschränkt wird, rächt es sich früher oder später. Jedes Land hat immer und jederzeit die freie Entscheidung, wie es mit den dort lebenden Menschen umgeht, und jedes Land hat am Ende die Konsequenzen dafür zu tragen. Im positiven wie im negativen Sinn. Wenn China der Meinung ist, es müßte seine fünf Milliarden Menschen mit Gewalt und Folter unterdrücken, soll es das tun, aber es darf sich nicht wundern, wenn die Menschen eines Tages revoltieren, und zwar alle fünf Milliarden gleichzeitig. Die dortige Regierung kann vielleicht Millionen Menschen umbringen, aber nicht alle fünf Milliarden. Irgendwann einmal wird es dazu kommen, daß die Menschen aufstehen und Nein sagen. So war es in Süd- und Mittelamerika, und so wird es auch dort sein. Gehen wir hinein, dort können wir bequemer sitzen."
Mit einer gewissen Scheu verließen die Mädchen das Auto und schauten sich verwundert um. Valentin besaß das, was in früheren Zeiten ein Traumhaus genannt wurde. Ein großes Gebäude mit drei Etagen, mitten im Grünen, umgeben von gepflegten Wiesen mit wunderschönen, großen Bäumen. Vereinzelte Beete mit herrlichen Blumen zogen das Auge an und erfreuten es.
Valentin ließ den Mädchen Zeit, sich umzusehen, dann ging er vor.
"Die unterste Ebene", erklärte er den Mädchen, "sind die Lernräume. In der mittleren Ebene wohnen und essen wir, in der obersten schlafen wir und säubern uns."
Etwas scheu folgten die Mädchen ihm über eine breite Treppe zum Eingang der mittleren Ebene. Valentin legte seine Hand auf eine kleine Platte an der Tür und nannte seinen Namen, dann sprang die Tür auf. Valentin ging jedoch nicht hinein, sondern sagte: "Zwei neue Bewohner. Monika Linke, 25. 1. 1986." Er nickte Monika zu, die aufgeregt zu ihm hüpfte. Sie legte ihre Hand auf die Platte, die kurz aufleuchtete und piepste, dann sagte eine künstliche Stimme: "Deinen Namen, bitte."
"Monika Linke."
"Erkannt. Zweiter Bewohner?"
"Marion Linke, 18. 8. 1980."
Als Marion auch "erkannt" war, gingen die drei hinein. Staunend sahen sich die Mädchen um. Wie im Krankenhaus, schimmerten auch hier Decken und Wände in beruhigenden Farben, die sich permanent leicht veränderten.
"Farbe hat eine ganz bestimmte Wirkung auf die Seele", erklärte Valentin. "Die richtige Kombination aus Farben kann in Sekunden mehr erreichen als zwei Stunden Ruhe."
Er führte die Mädchen durch das Haus. Es war nicht ganz so futuristisch, wie die Mädchen eigentlich erwartet hatten; es sah mehr aus wie ein hochmodernes Wohnhaus. Aber die Möbel waren dermaßen bequem und dem Körper angepaßt, daß Monika gar nicht mehr aus ihrem Sessel aufstehen wollte.
Die Schlafräume der Mädchen waren mit einer Tür verbunden. "Anfangs möchtet ihr bestimmt zusammen in einem Zimmer schlafen", sagte Valentin mit einem mitfühlenden Lächeln. "Fühlt euch hier oben wie zu Hause. Das wird es auch für die nächste Zeit sein."
"Wo ist denn der Kleiderschrank?" fragte Marion erstaunt, nachdem sie sich gründlich umgesehen hatte.
"Hinter der Schiebetür." Valentin deutete auf eine Tür in der Wand. "Jeder Raum hat ein eigenes Badezimmer." Er öffnete eine weitere Tür. Verblüfft schauten die Mädchen auf etwas, was an eine Toilette erinnerte, aber vorne so etwas wie eine Spitze hatte.
"Was ist das denn?" fragte Monika kichernd.
"Probiert es aus", schmunzelte Valentin. "Ein Zimmer möchte ich euch noch zeigen, dann könnt ihr euch erst mal ausruhen." Er ging mit ihnen auf den Flur und in ein drittes Zimmer.
"Hier sind die ganzen Aufzeichnungen eurer Eltern", sagte er sanft. "Und eure Unterlagen, was sie euch hinterlassen haben. Schaut sie durch, wenn ihr euch stark genug dafür fühlt, es sind nämlich einige persönliche Dinge dabei, die bestimmte Erinnerungen in euch wecken werden. Zeit?" fragte er mit etwas lauterer Stimme.
"Zwölf Uhr sechsundzwanzig", erklang eine Stimme aus der Wand.
"Essenszeit", schmunzelte Valentin. "Schaut euch um, und wenn ihr hungrig seid, kommt nach unten." Er ließ die Mädchen allein, die sich unsicher umschauten.
"Tja", meinte Monika schließlich. "Da wären wir also."
"Wo immer das auch sein mag." Marion ließ sich in einen der bequemen Sessel fallen. "Ich weiß nicht mal, in welcher Stadt wir sind."
"75 Jahre." Monika setzte sich zu Marion, auf die Lehne. "75 Jahre im Eis. Unvorstellbar."
"Ja." Marion drückte Monikas Hände. "Laß uns essen gehen. Ich hab Hunger."
"Klingt gut." Monika lächelte traurig. "Vermißt du sie auch?"
"Ja, Moni. Sehr. Komm."
Sie gingen hinunter und in die Küche, wo Valentin sie schon erwartete.
"Hallo, ihr zwei", grüßte er freundlich. "Schaut ihr mal bitte her?"
Die Mädchen stellten sich neben ihn, vor eine kleine Klappe in der Wand, an deren rechter Seite eine Unmasse von Knöpfen war.
"Es ist einfacher, als es aussieht", beruhigte er die Mädchen. "Vier Gruppen von Knöpfen: Blau für Vorspeisen, Grün für Hauptgerichte, Gelb für Nachspeisen, Violett für Getränke. Jede Gruppe ist wiederum in Untergruppen unterteilt. Moni, worauf hast du Hunger?"
"Eine schöne Spargelcremesuppe!" sagte Monika sehnsüchtig. "Die hab ich schon lange nicht mehr gegessen!"
"Kein Problem. Dann drückst du hier auf den blauen Knopf für Suppen." Er drückte den Knopf, und ein Display über den Knöpfen erhellte sich. "Tipp mit dem Finger auf 'S'."
Monika drückte. Eine Unmasse von Speisen erschien auf dem Display.
"Jetzt auf 'P'."
"Da ist es!" Aufgeregt deutete Monika auf eine Zeile.
"Richtig", schmunzelte Valentin. "Sie hat die Nummer 4. Drück auf die 4."
Als Monika den Knopf gedrückt hatte, summte es für ein paar Sekunden leise, dann öffnete sich die Klappe.
"Hmm!" seufzte Monika, als sie den Geruch der Suppe in die Nase bekam. Valentin holte die kleine Schüssel heraus und trug sie zu dem Tisch, der wie eine Bartheke aussah, mit hohen Hockern davor.
"Besteck liegt in der Schublade links von dir."
Monika holte einen Löffel und setzte sich. Marion wählte eine Tomatensuppe, Valentin eine ihnen unbekannte Suppe.
"Das Ding ist geil!" kicherte Monika, während sie aßen.
"Kann man so sagen", schmunzelte Valentin. "Es ist ein sogenannter Synthesizer. Das bedeutet, das Gerät stellt aus allen möglichen Rohstoffen das Essen her. Die Rohstoffe werden in Fächer oberhalb der Klappe eingefüllt. Wenn alle voll sind, reicht das für etwa vier Monate."
"Und wenn eines davon mal leer ist?"
"Dann werden die Speisen, die nicht mehr hergestellt werden können, nicht angezeigt. Außerdem leuchtet eine kleine Lampe auf dem Display. Und das schon, wenn das entsprechende Fach nur noch zu einem Viertel gefüllt ist."
"Beeindruckend!" staunte Marion. "Die Suppe schmeckt total lecker!"
"Ist ja auch frisch hergestellt."
"Und wieviel kosten die - die Rohstoffe?"
"Um alle Fächer zu füllen, muß ich ungefähr sieben Stunden arbeiten. Umgerechnet. Das Essen, wie gesagt, wird vom Staat gestellt. Essen, Kleidung und Wohnen ist aber das einzige, was es umsonst gibt. Für alles andere muß gearbeitet werden. Wenn ich 'muß' sage, ist das nicht als Zwang zu verstehen. Wenn jemand ein bestimmtes Buch haben möchte, arbeitet er eben dafür. Wenn jemand mit Essen und Wohnung zufrieden ist und nicht mehr will, arbeitet er eben nicht."
"Dahinter muß ja eine irrsinnige Logik stecken!" sagte Marion beeindruckt.
"Nicht ganz, Marion. Wir haben ein riesiges Informationssystem. Nein, ich fang vorne an. In der heutigen Zeit gibt es viel mehr Arbeit als Arbeitslose. Nein, noch einen Schritt zurück." Er lächelte die verwirrt aussehenden Mädchen an.
"Tut mir leid, Kinder. Ich beginne ganz vorne. Wie gesagt, der Staat sorgt für die Befriedigung der Grundbedürfnisse. Wenn ein Mensch mehr möchte, leistet er dafür einen Beitrag in Form von bezahlter Arbeit. Aber nicht alle Arbeit wird bezahlt. Lena, zum Beispiel. Ihre Arbeit wird nicht bezahlt. Sie tut es aus einem Gefühl der Verantwortung heraus. Wenn sie etwas braucht, wofür sie bezahlen muß, arbeitet sie eben eine bestimmte Zeit nicht als Ärztin, sondern als Pflegerin, zum Beispiel. Oder als Gärtnerin. Eben das, was sie kann. Deswegen haben wir in unserer Zeit mehr Arbeitsangebote als Menschen, die arbeiten. Wenn jemand sich zum Beispiel einen neuen oder besseren Sessel kaufen möchte, schaut er in unser Infosystem, wo gerade Arbeit angeboten wird. Ihr könnt euch darauf verlassen, daß er innerhalb von Sekunden etwas findet. Dann wird eben so lange gearbeitet, bis das Geld für den Sessel zusammen ist."
"Das raff ich nicht!" stöhnte Marion auf. "Ich kann mir nicht vorstellen, wie das klappen soll!"
"Das geht auch nur, weil alle mitmachen, Marion. Weil der Tauschhandel mit anderen Ländern so perfekt klappt. Im übrigen gibt es genug Menschen, die tagtäglich arbeiten, um die Grundversorgung des Landes sicherzustellen. Aber niemand arbeitet mehr so lange wie zu eurer Zeit. Arbeit ist heute keine Pflicht mehr, sondern nur ein Mittel, um sich von einem bestimmten Standard zu einem anderen zu verändern."
"Und genau das", erwiderte Marion etwas heftig, "stört mich. Auf der einen Seite wird gesagt, daß jeder alles hat. Auf der anderen Seite sprichst du jetzt von unterschiedlichen Lebensstandards. Das muß doch wieder zu Neid führen!"
"Tut es aber nicht", schmunzelte Valentin. "Kompliment, Marion. Du hast den Schwachpunkt unserer Gesellschaft erkannt." Er wurde wieder ernst.
"Während der Vorerziehung wird den Kindern immer wieder eingetrichtert, daß Neid die Grundlage für Verbrechen ist. In den ersten vier Lebensjahren werden die Kinder so darauf getrimmt, zu erkennen, wann sie Neid verspüren, daß dies später ein vollkommen ungefährliches Gefühl sein wird. Sobald sie Neid spüren, analysieren sie, warum sie neidisch sind, und tun etwas dagegen. Wenn ein Kind ein schöneres Spielzeug als die anderen hat, wissen die anderen sofort, daß dieses Kind zum Beispiel daheim in der Küche Abtrocknen oder Aufräumen geholfen hat. Oder in einem Geschäft ausgeholfen hat. Alle, aber auch wirklich alle Kinder wissen, daß ihre Anstrengungen belohnt werden, und deshalb wissen auch alle, daß sie alles haben können, was sie sich wünschen. Für viele Kinder ist es sogar ein fantastisches Gefühl, wenn sie eine Woche helfen, Autos zu säubern, und bekommen dafür das, was sie sich wünschen." Valentin beugte sich etwas vor.
"Marion, in eurer Zeit wurden Kinder häufig dazu verdonnert, wie ihr sagt, zu helfen, ohne daß diese Hilfe belohnt wurde. Genau das führte zu Neid, weil andere Kinder für ihre Arbeit Geld oder Süßigkeiten bekamen. Wenn aber alle gleich behandelt und gleich belohnt werden, tritt Neid erst gar nicht auf. Wenn ein Kind sieht, daß die Eltern eines anderen Kindes bessere Möbel haben, weiß es auch in der gleichen Sekunde, daß die Eltern dafür gearbeitet haben. Dann fragt dieses Kind die eigenen Eltern, warum sie selbst nicht so Möbel haben, und die Eltern werden antworten, daß sie mit den Sachen, die sie haben, zufrieden sind. Anschließend bieten sie dem Kind an, für schönere Möbel im eigenen Zimmer etwas zu arbeiten, und dann ist es die Entscheidung des Kindes. Versteht ihr, Mädchen: die Basis ist die gleiche! Alle Menschen haben von Anfang an dasselbe. Manche sind damit zufrieden, andere nicht. Diese gehen dann eben arbeiten, aber das können alle anderen auch. Unzufriedenheit entsteht nur dann, wenn die Möglichkeit, sich zu verbessern, nicht vorhanden ist, aber da unser Staat alle Möglichkeiten anbietet, ist niemand unzufrieden." Er drückte Marions Hand.
"Es ist sehr schwer zu verstehen, Marion", sagte er sanft. "Du wirst es dann verstehen, wenn du ein paar Stunden von dem Unterricht hinter dir hast. Genau wie Monika. Wichtig ist im Moment nur, daß alle Menschen, ohne Ausnahme alle, die gleiche Basis haben und von dort aus alle Möglichkeiten wahrnehmen können, um sich zu verändern."
"Mag ja sein", antwortete Marion nachdenklich. "Trotzdem glaube ich immer noch, daß das zu Neid führt, und damit wieder zu Diebstahl."
"Würde es auch, wenn wir die Menschlichkeit bei der Erziehung vernachlässigen würden. Aber genau das ist der Schwerpunkt der Erziehung, Marion. Es kommt immer und ausnahmslos zuerst der Mensch, dann die Sache. Deswegen fällt es dir auch so schwer, das zu verstehen." Er lächelte Marion herzlich an, um seinen Worten die Schärfe zu nehmen.
"Verstehst du, Marion, du und deine Schwester seid in einem System aufgewachsen, das sich nicht um den einzelnen Menschen, sondern um das System an sich gekümmert hat. Die Menschen eurer Zeit waren das Mittel, um das System am Laufen zu halten. Bei uns ist es so, daß das System für den Menschen da ist, und nicht umgekehrt. Bei uns ist das System das, was den Menschen am Laufen hält."
Marion nickte nachdenklich.
"Du hast recht", sagte sie nach einer langen Pause. "Das fällt mir wirklich schwer, zu verstehen."
"Ist doch normal", erwiderte Valentin leise. "Marion, du kannst nicht erwarten, eine Zeit, die 76 Jahre von deiner entfernt ist, innerhalb von Augenblicken zu verstehen." Wieder drückte er ihre Hand, diesmal erwiderte Marion den Druck herzlich.
"Marion, ihr beide werdet schon in wenigen Tagen verstanden haben, worauf unsere Gesellschaft basiert. Es ist im übrigen keine Gehirnwäsche, was mit euch passiert. Ihr werdet das Wissen eurer Zeit behalten, das Wissen unserer Zeit kommt zusätzlich dazu. Damit seid ihr den Menschen der heutigen Zeit um ein Vielfaches voraus. Denn ihr könnt später abwägen, welches System euch besser gefällt. Ich persönlich kenne eure Zeit nur aus den geretteten Unterlagen, und aus dem, was ich von Menschen wie euch und Lena gehört habe. Da seid ihr mir also schon voraus."
Marion lächelte herzlich. "Du bist wirklich in Ordnung!"
Valentin grinste breit. "Ich sagte doch, daß ich ein liebes Kerlchen bin. Suppe alle? Prima. Dann auf zum Hauptgericht."



Nach dem Essen stellte Marion eine Frage, die ihr schon seit Wochen etwas zu schaffen machte, die sie aber bisher nicht zu stellen gewagt hatte.
"Valentin, warum hat Lena bei Moni gesessen, als sie wachgemacht worden war, mich aber alleine aufwachen lassen?"
"Das hängt mit eurem Alter zusammen. Du bist nach euren wie nach unseren Ansichten volljährig. Deine Schwester ist aber erst 12. Und -"
"12? Lena sagte, wir wären ein Jahr älter, also 13!"
"Richtig. Das ist ein Punkt, wo Lena und ich auf keinen gemeinsamen Nenner kommen. Biologisch gesehen hat sie auch vollkommen recht. Das eine Jahr im Tank, in dem eure Körper regeneriert wurden, hat euch genau dieses eine Jahr altern lassen. Aber trotzdem habt ihr dieses Jahr nicht erlebt, Marion. Deinem Gefühl nach bist du 18, und deine Schwester ist ihrem Gefühl nach 12. Und so sollte das auch gehandhabt werden. Oder wäre es euch lieber, ihr wärt 94 bzw. 88 Jahre alt?"
"Bloß nicht!" lachte Marion fröhlich. Monika kicherte hell.
"Doch! Ich will meinen Krückstock! Sofort!"
"Kein Problem", schmunzelte Valentin. "Der kostet eine halbe Stunde Arbeit in einer Bäckerei." Er wurde wieder ernst.
"Bei uns werden die Kinder mit 14 volljährig, Marion. Oder sobald sie einen Beruf erlernt haben. Den Begriff 'Jugendlicher' gibt es bei uns nicht. Bis zum Ende der Ausbildung ist ein Kind ein Kind, mit Erlernen eines Berufes erwachsen. Mit allen Rechten. Deswegen hatte Lena bei Moni eine höhere Verantwortung als bei dir."
"Geil!" Monikas Augen leuchteten. "Dann bin ich bald erwachsen?"
"Genau. Übrigens: für heute machen wir keinen Unterricht mehr. Die Lernmaschinen sind vormittags am effektivsten. Wie gefallen euch eure Zimmer?"
"Noch was fremd", gestand Monika verlegen. "Sehen aber schön aus. Wann müssen wir denn morgens aufstehen?"
"Sobald ihr wach seid." Er mußte lachen, als er die Gesichter der beiden Mädchen sah.
"Paßt auf", feixte er. "Wart ihr in der ersten Schulstunde des Tages immer hellwach und ausgeschlafen?"
Beide Mädchen schüttelten ihre Köpfe.
"Genau deswegen. Da wir nur eine Stunde Unterricht pro Tag haben, liegt das ganz bei euch, wann ihr aufsteht. Bis elf Uhr morgens ist das Gehirn am aufnahmefähigsten, danach fällt die Leistung ab. Schlaft euch morgens aus, dann macht ihr euch in aller Ruhe fertig, frühstückt gründlich, und dann geht es los."
"Jeden Tag ausschlafen!" grinste Monika breit. "Super!"
"Das gefällt dir Schlafmütze wohl, was?" schmunzelte ihre Schwester. Monika nickte mit leuchtenden Augen.
"Genau deswegen", sagte Valentin lächelnd. "Wie kann ein Kind, das noch müde ist, etwas lernen? Jetzt geht ihr zwei auf eure Zimmer und ruht euch etwas aus. Ihr habt jede Menge erfahren, und das muß erst einmal verarbeitet werden. Wenn ihr mich braucht, kommt einfach runter."
"Ich bin wirklich was müde", gestand Monika. Marion nickte.
"Nicht direkt müde, aber - vollgestopft?"
"Deswegen. Ruht euch schön aus, Kinder. Bis nachher."
Monika ging mit in Marions Zimmer. Beide legten sich auf das breite Bett und schlossen die Augen.
"Kann ich in deinen Arm?" hörte Marion ihre Schwester leise fragen.
"Natürlich, Moni. Komm her."
Monika kuschelte sich an ihre Schwester, dann fragte sie: "Wie wird das später werden? Wenn wir einen Beruf haben, meine ich. Bleiben wir zusammen?"
"Garantiert." Marion drückte ihre Schwester an sich. "Auch wenn du mit 14 schon erwachsen sein solltest, bleibst du doch meine kleine Schwester, auf die ich immer schön aufpassen muß."
"Paß lieber auf dich auf!" grollte Monika leise. "Noch so 'n Spruch - Kieferbruch!"
"Lieber nicht", lachte Marion. "Ich hab genug Brüche hinter mir."
"Ich auch. Wir haben richtig Scheiße ausgesehen, was?"
"O ja." Marion schüttelte sich, als sie an die Fotos von sich und ihrer Schwester dachte. "Daß die das wieder hingekriegt haben..."
"Ich vermiß unsere Eltern." Monika begann, leise zu weinen. "Du auch?"
"Ja, Moni. Ich vermisse sie sehr." Tröstend strich sie ihrer Schwester über die Haare, bis diese eingeschlafen war. Voller Sorge dachte Marion an die Zukunft, bis auch sie einschlummerte.
Monika erwachte zuerst. Vorsichtig streckte sie sich, um ihre Schwester nicht zu wecken, dann huschte sie leise in ihr Zimmer. Vergeblich schaute sie sich nach einer Uhr um, dann erinnerte sie sich an Valentin.
"Zeit?" fragte sie laut.
"Fünfzehn Uhr siebzehn", antwortete die Wand. Monika mußte grinsen.
"Datum?"
"Mittwoch, 11. Juli 2074."
"Mittwoch!" Monika sprang in die Luft und klatschte in die Hände. "Juhu! Kein Chemie mehr! Kein Mathe mehr! JAAA!"
Ausgelassen sprang sie auf ihr Bett und tollte dort etwas herum. Erhitzt blieb sie schließlich liegen und beruhigte sich. Ein Druck in ihrer Blase trieb sie nach einer Weile ins Badezimmer. Sie hatte etwas zu kämpfen, bis sie aus dem Anzug heraus war, dann setzte sie sich zögernd auf die fremdartige Toilette. Die etwa zehn Zentimeter hohe Spitze, die den Mädchen so zu denken gegeben hatte, ragte vorne am Sitz zwischen ihren Beinen gerade in die Luft.
"Mach bloß keinen Unfug, hörst du?" sagte Monika etwas unsicher zu der Spitze. "Ich hab keinen Bock auf komische Spielchen, die ich nicht kapiere!" Bereit, bei der ersten falschen Bewegung dieses merkwürdigen Teils aufzuspringen, ließ sie der Natur ihren freien Lauf. Erleichtert seufzend schloß sie die Augen, als der Druck in ihrer Blase nachließ.
Als sie sich vollständig entleert hatte, suchte sie nach Papier, doch noch während sie sich umschaute, spritzte plötzlich angenehm warmes Wasser gegen ihr Geschlechtsteil. Wie von einer Schlange gebissen fuhr Monika zusammen und starrte nach unten. Aus der Spitze kam ein feiner, sprühender Wasserstrahl, der sie wusch.
Sie hatte sich noch nicht ganz von diesem Schreck erholt, als das Wasser stoppte und statt dessen sehr warme Luft gegen ihren Unterleib blies. Monika zitterte, als ein merkwürdig kribbelndes Gefühl durch ihren Unterleib fuhr. Fast automatisch öffnete sie ihre Beine etwas weiter, und das Kribbeln wurde noch etwas stärker. Dann hörte das Blasen auf.
Vorsichtig fühlte Monika mit den Fingerspitzen, aber ihr Unterleib war vollständig trocken und sauber. Mit einem Blick, als rechnete sie damit, daß die Spitze sie gleich beißen würde, stand sie auf und trat hastig zwei, drei Schritte zurück, doch alles blieb friedlich.
"Cool!" murmelte sie. Vorsichtig näherte sie sich dem Becken wieder und setzte sich hin, doch alles blieb ruhig. Sie klopfte mit dem Finger ganz leicht gegen die Spitze, aber noch immer rührte sich nichts. Neugierig beugte Monika sich vor, um die Spitze genauer zu untersuchen, als ihr ein kleiner Pups entwich. Im gleichen Moment schrie sie erschrocken auf, denn nun spritzte ganz kurz warmes Wasser gegen ihren After, sofort gefolgt von einem Schwall heißer Luft.
Am Rande der Panik sprang sie auf und rannte aus dem Bad hinaus. Erst vor der Tür blieb sie stehen und drehte sich mißtrauisch um, aber nichts verfolgte sie. Vorsichtig ging sie wieder hinein, griff sich schnell ihren Anzug und flitzte gleich wieder hinaus, dann atmete sie tief durch.
"Entweder ist das ein total abgefuckter Traum", murmelte sie, während sie in ihren Anzug stieg, "oder das ist echt die Zukunft."



Marion schlummerte noch, deswegen ging Monika nach unten, etwas unsicher, worüber sie mit Valentin reden sollte. Sie staunte nicht schlecht, als sie ein Mädchen in ihrem Alter bei Valentin sitzen sah, in einem so knappen Zweiteiler, daß Monika es schon fast unanständig fand. Brüste und Scham waren nur zum kleinen Teil bedeckt. Das Mädchen hatte recht kurze, dunkelblau gefärbte Haare und sah sehr niedlich aus, trotz ihrer fast vollständigen Nacktheit.
"Perfektes Timing!" lachte Valentin, als er Monika entdeckte. "Komm zu uns!"
Zögernd ging Monika näher zu ihm.
"Moni, das hier ist Valerie", stellte er das Mädchen vor. "Valerie, das ist Monika, eines der Mädchen, von denen ich dir gerade erzählt habe."
"Hallo!" Das Mädchen sprang auf und lächelte Monika fröhlich an. "Du siehst ja noch besser aus, als Valentin erzählt hat!"
"Ähm - ja?" Verwirrt schüttelte Monika Valeries Hand. "Du bist aber auch sehr hübsch."
"Geht so", meinte das Mädchen ohne Anzeichen eines Komplexes. "Meine Haare sind etwas zu dick. Ich hätte sie gerne was feiner, aber ansonsten gefalle ich mir. Du bist wirklich erst 12? Du siehst älter aus. Das ist ein Kompliment!" fügte sie spitzbübisch hinzu.
"Danke." Monika fühlte sich etwas überfahren. "Und wie alt bist du?"
"Fast 14."
"Echt? Du siehst jünger aus. Das ist auch ein Kompliment!"
"Danke!" lächelte Valerie neckisch. "Hast du -"
"Valerie?" unterbrach Valentin sie höflich, aber nachdrücklich. "Moni und ihre Schwester sind heute erst aus dem Krankenhaus gekommen. Sie wissen noch so gut wie gar nichts von unserer Zeit."
"Oh!" Valerie grinste verlegen. "Ich Schnabeltasse! Da hätte ich doch beinahe -"
"Valerie!" Valentin drückte sie herzlich lachend an sich. "Mädchen! Wo nimmst du nach sechs Stunden harter Arbeit noch die Energie her?"
"Nur von dir!" Stürmisch warf sie sich auf seinen Schoß und küßte ihn leidenschaftlich. Monikas Kinn fiel weit nach unten. Valerie war noch nicht mal 14 Jahre alt, arbeitete schon sechs Stunden und küßte Valentin, als wäre sie mit ihm verheiratet?
Monika drehte sich auf der Ferse um und rannte wieder hinauf, zu ihrer Schwester. Monika kümmerte es nicht im Geringsten, ob Marion noch schlief oder nicht; sie mußte jetzt mit ihr reden.
Sie hatte Glück, Marion war gerade dabei, aufzustehen. Sprudelnd berichtete Monika, was sie gerade gesehen hatte.
"Hm." Marion legte die Stirn in Falten. "Dann gehen wir mal runter. Wenn Valentin wirklich ein - ein Kinderschänder ist, dann werden wir mit Lena reden, daß wir woanders wohnen wollen."
"Okay." Monika schaute ihre Schwester nachdenklich an. "Aber Valerie sah nicht so aus, als würde sie geschändet werden."
"Schauen wir mal."
Die Schwestern gingen hinunter, wo sie schon von Valentin erwartet wurden. Valerie saß etwas schüchtern knapp einen Meter weg von ihm.
"Setzt euch", bat Valentin die Mädchen, noch bevor Marion etwas sagen konnte. Zögernd kamen sie seiner Aufforderung nach.
"Ich habe euch vorhin erzählt", begann Valentin, "daß die Kinder bei uns mit 14 volljährig werden, und das mit allen Rechten. Oder sobald sie einen Beruf ergriffen haben. Valerie arbeitet seit letzter Woche vollständig alleine und ist somit nach unseren Begriffen volljährig."
"Das heißt", sagte das Mädchen, das nun sehr ernst war, "daß ich mir ein Haus oder eine Wohnung kaufen kann, wenn ich will. Und ein Auto. Ich darf mein Kind bekommen. Und ich darf mir aussuchen, mit wem ich zusammenleben will." Sie stand auf und ging zu Monika, die Valerie vollkommen verblüfft anstarrte. Sie umarmte die 12jährige und gab ihr einen sanften Kuß auf die Wange.
"Ich habe dich erschreckt", entschuldigte Valerie sich. "Das tut mir sehr leid, Moni. Valentin und ich kennen uns seit über einem Jahr, und seit letzter Woche leben wir zusammen. Für mich ist es vollkommen normal, ihn zu küssen und mit ihm zu schlafen. Ich habe überhaupt nicht daran gedacht, daß ihr das gar nicht gewohnt seid. Und daß ihr das gar nicht kennt. Bitte entschuldige, Moni."
Die Aufrichtigkeit und der Kummer in Valeries Stimme waren nicht zu überhören. Noch immer hielt sie Monika im Arm. Monika lächelte verlegen und umarmte Valerie ihrerseits.
"Schon okay", meinte sie schüchtern. "Ich hab mich wirklich erschrocken, weil... Na, in unserer Zeit bedeutete so etwas immer, daß der Mann das Mädchen zum - zum Schmusen gezwungen hat."
"Gezwungen?" Valerie lachte fröhlich auf. "Moni! Weißt du, was mit Valentin passiert, wenn er jemanden zu irgend etwas zwingen würde? Er würde sich auf dem Boden krümmen vor Schmerzen! Das kann er überhaupt nicht! Niemand kann das!" Sie drückte Monika stürmisch.
"Moni, niemand kann einen anderen Menschen zu etwas zwingen. Das ist überhaupt nicht in uns drin! Wir kennen das Wort, wir wissen, was es bedeutet, aber niemand kann das machen!"
Valentin kam zu den beiden Mädchen. Er strich Monika sanft über das Haar. "Das ist das, was ich vorhin versucht habe, zu erklären, Moni. Menschlichkeit. Der Respekt vor dem anderen Menschen ist so groß, daß Zwang und Gewalt einfach nicht mehr möglich sind. Valerie ist bei mir, weil sie das so möchte und weil ich das so möchte. Wenn einer von uns es nicht mehr will, wird das ausgesprochen, und damit ist es beendet. Ohne Streit, ohne Zorn, ohne Gewalt. Wenn sie gehen möchte, sagt sie es einfach. Sie wird dann ihre Sachen packen, sich mein Auto leihen und woanders hinfahren. Wenn ich möchte, daß sie geht, sage ich es auch. Menschlichkeit und Wahrheit. Anders läßt sich eine Zivilisation nicht führen."
Marion nickte verstehend. "Klar. Volljährigkeit beinhaltet also auch alle anderen Rechte, die ich so kenne?"
"Richtig. Das Recht auf freie Wohnungswahl, das Recht auf freie Partnerwahl, das Recht auf freie Arbeitswahl." Er lächelte schelmisch. "Wir können unsere Kinder ja schlecht mit 14 zu Erwachsenen machen und ihnen alles andere außer Arbeit verbieten, oder? Ach, Moni, Valerie wartet noch darauf, daß du ihr verzeihst."
"Hab ich doch!" erwiderte Monika verwundert.
"Dann gib ihr einen Kuß auf die Wange", schmunzelte Valentin. "Das ist das Zeichen, daß du ihr verziehen hast. Vorher wird sie dich nicht loslassen."
"Oh." Monikas Gesicht lief rot an. "Ich hab mich schon gewundert..." Sie gab Valerie einen dicken Kuß. "Alles vergeben und vergessen."
"Danke!" Valerie strahlte Monika glücklich an, dann ließ sie sie los und setzte sich wieder.
"Also kein Grund zur Sorge", seufzte Marion erleichtert. "Ich war nämlich fast schon so weit, mit Moni wieder auszuziehen."
"Das könnt ihr jederzeit", sagte Valentin leise. "Marion, ihr seid nur deswegen bei mir, um unsere Zeit verstehen zu lernen. Wenn ihr meint, ihr könnt selber damit klarkommen, dann geht einfach. Ihr werdet überall Hilfe finden, ihr müßt nur danach fragen. Bei mir könnt ihr mehr lernen, weil ich eure Zeit auch kenne, aber das heißt nicht, daß ihr hier gefangen seid."
"Schon okay", erwiderte Marion hastig. "Es ist - Na, wie Moni schon sagte. In unserer Zeit war eine - eine Verbindung zwischen Erwachsenen und Kindern überhaupt nicht gern gesehen."
"Valerie ist kein Kind mehr", schmunzelte Valentin. "Sie ist erwachsen."
"Seit einer Woche!" strahlte Valerie stolz.
"Oh Mann!" seufzte Marion. "Wir müssen wirklich sehr viel lernen."
"Dann fangt am besten gleich damit an. Valerie, würdest du mir einen großen Gefallen tun?"
"Sicher. Was denn?"
"Würdest du mit Marion und Monika in die Stadt fahren, damit sie sich etwas zum Anziehen kaufen können?"
"Ja!" Valerie sprang auf. "Zu Peckers?"
"Warum nicht? Vorher solltest du mit ihnen aber noch zum alten Bankhaus fahren, damit Marion etwas Geld abheben kann."
"Gerne. Kommt ihr?"
"Moment!" Marion sah Valentin panisch an. "Ich - ich hab aber keinen Ausweis! Keine Scheckkarte! Das ist doch alles weg!"
"Das brauchst du auch alles nicht", beruhigte Valentin sie. "Nenne dort einfach deinen Namen und dein Geburtsdatum. Das Geld, was eure Eltern euch hinterlassen haben, wird dort aufbewahrt." Ein fröhliches Funkeln zog durch seine Augen. "Wundere dich bitte nicht, wenn ihr - etwas ungewöhnlich behandelt werden solltet. Nun ab mit euch."
"Genau", grinste Valerie. "Nachher sind die besten Klamotten weg!"
"Aber -"
"Kein Aber!" lachte Monika. "Komm einkaufen! Ich bin seit 76 Jahren nicht mehr in der City gewesen. Ich hab jede Menge nachzuholen!" Lachend zog sie ihre Schwester zur Tür. Valerie schnappte sich die Scheibe für das Auto, dann folgte sie ihnen grinsend.
"Altes Bankhaus", sagte sie, als sie im Wagen saßen. Der Wagen fuhr langsam los. Valerie drehte sich zu den Schwestern herum. "Wollt ihr irgend etwas wissen? Kann ich euch irgend etwas erklären?"
"Ja." Marion sah sie etwas verschämt an. "Du - du schläfst mit Valentin?"
"Natürlich", erwiderte Valerie erstaunt. "Wieso? Ach so!" Sie lachte leise. "Kapiere. Das war zu eurer Zeit auch nicht üblich?"
"Nicht nur das", erwiderte Marion verlegen. "Es war sogar verboten. Per Gesetz."
"Ja, Valentin hat sowas mal erwähnt. Ich erinnere mich." Sie zuckte mit den Achseln. "Ich bin ehrlich froh, daß ich nicht zu eurer Zeit gelebt habe. Ihr konntet vor lauter Gesetzen ja kaum mehr richtig denken! Bei uns ist das so: in der Vorerziehung sind wir täglich 12 Stunden mit anderen Kindern im gleichen Alter zusammen. Wir sind natürlich alle nackt, weil wir ja noch Kinder sind." Marion fiel ein, daß Moni im Krankenhaus auch nackt gewesen war. Nun verstand sie, warum.
"Mit acht oder neun Jahren beginnt dann die sexuelle Erziehung", plauderte Valerie weiter. "Zwei Stunden pro Tag wird alles gründlich besprochen und gegenseitig untersucht, bis alle kapiert haben, wofür das alles ist. Mit elf Jahren kommt bei den Mädchen die Entjungferung." Ihr Gesicht strahlte in Erinnerung. "Du gehst mit einem unheimlich lieben Mann in ein ganz tolles Zimmer, und da bleibst du die nächsten vier Wochen. In der Zeit bringt der Mann dir alles bei, was du wissen mußt, und am Ende der dritten Woche entjungfert er dich. Dann bist du aber auch schon so heiß, daß du es unbedingt willst. Die letzte Woche wird nur noch gründlich getobt, bis du wirklich alles weißt. Bei den Jungs passiert das in ihrem letzten Monat der Vorerziehung, denn die werden ein Jahr später geschlechtsreif als Mädchen. Dann nimmt eine Frau sie mit in dieses Zimmer und bringt ihnen alles bei, was sie wissen müssen. Nach der Vorerziehung kommt die Schule. Die ist zu Ende, wenn du 13 bist. Und ab dann kannst du dir schon einen Freund suchen. Einen richtigen. Vorher kannst du das natürlich auch, aber es macht mehr Spaß, wenn du die Schule hinter dir hast, weil du dich dann richtig gut mit ihm unterhalten kannst. Zwischen dem Toben, meine ich." Sie kicherte fröhlich.
"Ich bin ziemlich wild in der Beziehung", gestand sie ohne Verlegenheit. "Sobald ich nach Hause komme, ziehe ich Valentin gleich ins Bett und schlaf mit ihm. Andere sind da etwas genügsamer, hab ich gehört. Kann ich zwar nicht glauben, ist aber wohl so. Ich könnte das ohne Probleme zehn- oder zwölfmal am Tag machen, aber Männer und Jungen leider nicht so oft. Nach dem sechsten Mal sind sie völlig am Ende. Valentin und ich teilen uns das gut ein. Ich steh morgens um sechs auf und mach Frühstück für uns. Nach dem Essen gehen wir noch mal ins Bett und schlafen miteinander, dann geh ich zur Arbeit. Wenn ich wiederkomme, schlafen wir wieder zusammen, dann essen wir. Nach dem Abendessen noch einmal, und wenn wir dann ins Bett gehen, das letzte Mal. So kann er sich auch was erholen."
"Verstehe", erwiderte Marion mit roten Ohren. Sie war zwar 18, aber eine knapp 14jährige so offen reden zu hören war schon etwas ungewohnt für sie. "Ist Nacktheit hier etwas Normales?"
"Ja", meinte Valerie lapidar. "Ich hab das Zeug hier nur an, weil Valentin meinte, ihr würdet sonst tot umfallen vor Schreck. Würdet ihr?"
"Wahrscheinlich", grinste Marion.
"Daran werdet ihr euch gewöhnen", sagte Valerie trocken. "Viele laufen nackt durch die Stadt, manche so angezogen wie ihr, viele so wie ich. Jeder so, wie er möchte. Ach ja! Wenn ihr das alles noch nicht kennt, dann müßt ihr eins unbedingt wissen: Sex ist total frei. Wenn ihr später mal einkaufen seid, kann es ohne weiteres vorkommen, daß ein Mann oder eine Frau euch fragt, ob ihr miteinander Sex haben wollt. Sagt Ja, wenn ihr wollt, sagt Nein, wenn ihr nicht wollt. Heute wird das nicht passieren, weil ihr Gelb tragt. Gelb heißt, daß ihr keinen Sex wollt." Nun verstand Marion auch, warum Valentin auf dieser Farbe bestanden hatte, als die Mädchen im Krankenhaus ihre Kleidung gekauft hatten.
"Und was heißt Rot?" Monika blickte auf Valeries rote Kleidung.
"Daß ich qualvoll sterbe, wenn ich in den nächsten zehn Minuten keinen Sex kriege", grinste Valerie. "Nein, das war ein Witz. Nur Gelb und Orange haben eine feste Bedeutung. Gelb heißt: kein Sex, Orange heißt: sozialer Dienst. Alles andere ist ohne Bedeutung und reine Geschmackssache. Ich meine, an sich hat jede Farbe schon eine Bedeutung, aber mehr für die Seele. Bei der Kleidung spielt das keine Rolle. Du kannst natürlich auch Sachen tragen, wo Gelb oder Orange drin vorkommt. Nur einfarbige Sachen gelten so, wie ich grad gesagt hab."
"Du sagtest", meinte Monika zögernd, "daß wir auch von - von Frauen angesprochen werden können?"
"Klar! Von Frauen oder Mädchen, von Männern oder Jungen. Es wird nicht allzu oft passieren, weil die meisten in einer festen Partnerschaft leben, aber eben nicht alle, und die sind immer auf der Suche. Am Anfang steht der Sex, und wenn das klappt, kommt die Partnerschaft und der ganze Rest." Sie schaute Monika tief in die Augen.
"Moni, Sex ist bei uns keine Sache zwischen Mann und Frau. Es ist eine Sache zwischen Menschen. Egal, welches Geschlecht sie haben. Ich weiß die genauen Zahlen nicht auswendig, aber ich glaube, daß wir ein Drittel gegengeschlechtliche Paare haben, ein Drittel weibliche Paare und ein Drittel männliche Paare. Wenn der Sex klappt, ist es doch egal, welches Geschlecht die Partner haben, oder?"
"Also würdest du auch mit einer Frau ins Bett gehen?" fragte Marion erstaunt.
"Und ob. Bin ich ja auch schon oft. Aber mit einem Mann gefällt es mir besser."
"Ab wann ist Sex denn erlaubt?" wollte Monika wissen.
"Sobald du diese vier Wochen hinter dir hast. Niemand möchte, daß der Sex enttäuschend ist, und das wird er garantiert sein, wenn du keine Ahnung hast, was da eigentlich passiert. Also Mädchen können schon mit elf ihre Partner suchen, Jungen mit zwölf. Das aber nur, weil Jungen eben ein Jahr später reif werden als Mädchen. Aus keinem anderen Grund."
"Sekunde." Marion sah aus, als wäre sie total überlastet. "Also kann es ohne weiteres passieren, daß ein 11jähriges Mädchen oder ein 12jähriger Junge auf mich zukommt und mit mir Sex haben will?"
"Genau", grinste Valerie. "Ist doch herrlich, oder? Wie gesagt, Sex ist total frei. Wenn du das nicht möchtest, ziehst du eben was Gelbes an, wenn du in der Stadt unterwegs bist, oder du sagst einfach Nein. Das war's dann eben. Niemand wird dich zweimal fragen. Früher, also in eurer Zeit, war das wohl ganz anders, oder? Valentin hat mal erzählt, daß manche Menschen andere Menschen zum Sex gezwungen haben, wenn die nicht wollten. Stimmt das?"
"Leider ja. Das ist sogar relativ häufig vorgekommen. Nicht nur bei Erwachsenen, sondern auch bei Kindern. Also daß Kinder zum Sex mit Erwachsenen gezwungen wurden."
"Das ist für mich unvorstellbar", gestand Valerie. "Ich könnte nie einen anderen Menschen zu etwas zwingen. Schon bei dem Gedanken, dich oder Moni zum Sex mit mir zu überreden, verkrampft sich alles in mir. Damit würde ich euch weh tun, und das ist das Letzte, was ich will. Einem anderen Menschen weh tun. Unvorstellbar."
"Bist du -" begann Monika und brach gleich wieder ab. "Andersrum. Wenn du mich fragen würdest, ob wir Sex haben wollen, und ich sag Nein, bist du dann enttäuscht?"
"Nein, wieso?" Valerie schaute sie erstaunt an. "Wenn du nicht möchtest, warum sollte ich dann enttäuscht sein, Moni? Es ist deine Entscheidung, Nein zu sagen, und die akzeptiere ich."
"Cool!" Monika sah ihre Schwester an. "Weißt du, wie oft ich dem Wolli aus meiner Klasse gesagt hab, daß ich nicht mit ihm ausgehen will, und er hörte einfach nicht auf, mich zu löchern?"
"Löchern?"
"Entschuldige, Valerie. Löchern heißt: immer wieder das gleiche fragen. Immer und immer wieder."
"Trotz Ablehnung?" fragte Valerie erschüttert. Moni nickte bedrückt.
"Ja. Trotz immer wieder Ablehnung. Gehst du mit mir aus? Nein. Geh doch mit mir ins Kino! Nein. Geh doch mit mir! Nein. Doch, du mußt mit mir gehen! Nein." Sie atmete tief ein und aus. "Jeden Tag das gleiche Generve, bis es mir schon zu den Ohren rauskam."
Valerie schüttelte sich heftig; so stark, daß der Wagen kurz wackelte. "Das kann doch nicht wahr sein! Moni, das - Nein. Das kann ich mir nicht vorstellen. Das heißt ja, daß er deine Ablehnung überhaupt nicht akzeptiert hat!"
"Genau." Monika starrte wütend auf den Boden.
Valeries Augen weiteten sich in plötzlichem Verstehen. "Jetzt wird mir das klar", flüsterte sie. "Jemand hat dein Nein nicht akzeptiert und mit Gewalt seinen Willen durchgesetzt, richtig?"
"So kam das ziemlich oft", meinte Marion bedrückt. "Genau aus dem Grund, Valerie. Jemand glaubte, sich in jemand anderen verliebt zu haben, und wenn dieser andere nicht wollte, ging der erste eben mit Gewalt zur Sache."
"Anhalten!" schrie Valerie. Mit einem sanften Ruck kam der Wagen zum Stehen, das Gehäuse öffnete sich. Valerie sprang aus dem Wagen heraus, lief um ihn herum und hinter eine Reihe von Büschen, die am Straßenrand standen, wo sie sich heftig übergab. Marion und Monika waren sofort bei ihr.
"Können wir helfen?" fragte Marion besorgt.
"Nein", würgte Valerie hervor.
"Aber -"
"Marion!" Monika zog ihre Schwester weg, zum Auto. "Sie hat Nein gesagt."
Und Marion verstand plötzlich die Basis dieser Zeit. Etwas später als Monika, weil sie schon älter war.
"Hast recht", flüsterte sie. "Ob Hilfe oder Gewalt, ein Nein ist ein Nein."
Monika lächelte dünn. "Genau."
Ein paar Minuten später war Valerie wieder bei ihnen. Etwas bleich im Gesicht, ansonsten aber munter.
"Ich habe euch aufgehalten", entschuldigte sie sich. "Das tut mir leid."
"Valerie!" Marion schlang ihre Arme um das Mädchen und drückte es zärtlich. "Mädchen, wir müssen uns entschuldigen! Dir wurde nur deswegen übel, weil wir dich mit Sachen aus unserer Zeit überfallen haben."
"Das habt ihr nicht." Valerie lächelte Marion an und küßte sie zart auf die Wange. "Ich habe mir bisher nur nie klargemacht, was Zwang wirklich heißt, aber jetzt weiß ich das. Ihr habt mein Wissen erweitert. Dafür danke ich euch."
"Also alles wieder in Ordnung?"
"Ja."
"Du mußt ihre Entschuldigung noch annehmen", sagte Monika leise zu ihrer Schwester.
"Ach ja." Sie gab Valerie einen Kuß auf die Wange. "Das werde ich mir ganz schnell merken, damit ich das nie wieder vergesse."
"Nicht so schlimm", schmunzelte Valerie. "Ich find's schön, bei Moni oder dir im Arm zu sein. Wollen wir weiter?"
Zwanzig Minuten später verließ das Auto das Tageslicht und fuhr in eine breite, sechsspurige Röhre, in der ein Gewimmel von Autos war. Marion und Monika waren ziemlich nervös, aber alle Wagen hielten den gleichen Abstand voneinander ein.
"Das ist so programmiert", meinte Valerie auf eine Frage von Marion. "Wie das alles geht, kann Valentin erklären, er kennt sich damit besser aus als ich. Ich sorge nur dafür, daß die Autos fahren."
"Bei deiner Arbeit?"
"Genau. Ich repariere defekte Autos, aber nur drei Tage in der Woche. Die anderen zwei Tage arbeite ich für ein eigenes Auto."
"Dann ist die Reparatur eine - eine Basisleistung?"
"Genau. Hups!" Der Wagen machte einen plötzlichen Schlenker um einen defekten Wagen herum, genau vor ihnen. "Ach, und da kommt schon der Notdienst!" Von der Gegenspur kam ein Auto in grellem Orange heran, schlängelte sich geschickt durch den Gegenverkehr, ohne ihn zu behindern, und hielt vor dem kaputten Wagen an.
"Wenn ein Auto kaputtgeht", erklärte Valerie den staunenden Mädchen, "schickt das im selben Moment ein Signal aus. Alle zwei oder drei Kilometer steht eines der Reparaturautos und fährt sofort los, wenn so ein Signal kommt. Gerade in den Röhren hier ist das wichtig, daß die schnell wieder laufen, weil die City für Autos gesperrt ist und nur durch die Röhren erreicht werden kann. Basisleistung. Ja, genau. Viele Arbeiten hier sind Basisleistungen. Alle die, die dafür sorgen, daß der Betrieb weitergeht, wie wir sagen. Energieerzeugung. Transportwesen. Kleidungsindustrie. Bauwesen. Lebensmittelproduktion. Möbelherstellung. Eben alles das, was unser Land am Laufen hält, wie Valentin immer sagt. So, da sind wir."
Der Wagen fuhr auf einen großen, unterirdischen Parkplatz und hielt vor einem Aufzug an. Das Gehäuse öffnete sich.
"Läßt du den hier einfach so stehen?" wunderte Marion sich, als sie ausgestiegen waren und Valerie sich von dem Wagen entfernte.
"Der sucht sich selbst 'nen Platz." Ohne nach dem Wagen zu sehen, ging Valerie auf den Aufzug zu. Noch während sie redete, schloß sich der Wagen wieder und fuhr langsam los.
"Das faß ich ja alles nicht!" murmelte Marion. "14jährige Ärzte, Autos, die sich selbst einen Parkplatz suchen, Essen aus Pulver, das besser schmeckt als normales Essen."
"Und Toiletten, die dich richtig gründlich waschen", konnte Monika sich nicht verkneifen.
"Was?"
"Zeig ich dir zu Hause. Komm!"
"Die Röhren", erklärte Valerie, während sie den Aufzug betraten, "liegen etwa fünfzig Meter unter der Erde. Oberhalb der Röhren ist ein weiteres Tunnelsystem, für Warentransporte innerhalb der Stadt. Da sind aber nur Autos zugelassen, die etwas ausliefern. Oder anliefern. Da fahren dann auch die richtig großen Autos, die man sonst nur außerhalb der Stadt sieht. Als nächstes kommen die ganzen Parkplätze, darüber ist ein Netz von Leitungen für die ganze Kommunikation, und darüber ist dann die Stadt an sich. Das ist alles so weit auseinander gebaut, falls es entgegen aller Vorsichtsmaßnahmen doch mal in einer der Röhren brennen sollte. Dann werden die anderen nicht in Mitleidenschaft gezogen.
Die Autos, falls euch das interessiert, werden übrigens mit Sonnenenergie angetrieben. Die Solarzellen haben einen Wirkungsgrad von 90%, das heißt, sie wandeln 90% des Sonnenlichtes in elektrischen Strom um. Die Batterien in den Autos haben eine Lebensdauer von weit über 30 Jahren und können mit einer Ladung fast zwei Wochen lang fahren. Die Autos, die im Freien stehen, laden sich tagsüber wieder auf."
Der Aufzug hielt an. Als sich die Türen öffneten, sahen die Mädchen in eine große, helle Halle mit vielen Bildschirmen und Tastaturen davor, nur vereinzelt waren kleine Tische, an denen Menschen saßen. Entgegen Marions Befürchtungen waren sie alle ziemlich züchtig angezogen.
"Dann mal los!" sagte Valerie munter. "Sucht euch einen aus und sagt dem, wer ihr seid."
"Einfach so?" zierte Marion sich.
"Einfach so. Wollt ihr einkaufen, oder nicht?"
"Äh - ja, aber -"
"Dann los." Sie gab den Schwestern einen leichten Schubs, der sie in Gang setzte. Sie selbst wartete neben dem Aufzug.
Ziemlich unsicher gingen die Mädchen auf einen der Tische zu. Marion war zwar schon öfter in einer Bank gewesen, aber das war vor 76 Jahren. Wußte der Himmel, was hier so üblich und normal war!
"Hallo", sagte sie schließlich nervös zu einer Frau, die sie freundlich ansah.
"Hallo. Ich bin Eileen. Kann ich euch helfen?"
"Ja. Vielleicht. Keine Ahnung." Marion kicherte nervös, bei ihr ein absolut sicheres Zeichen für Streß.
"Setz dich erst mal", lächelte die Frau. "Möchtest du etwas trinken?"
"Ja. Etwas Kaltes. Danke."
"Du auch?" wandte sich die Frau an Monika, die schüchtern nickte.
"Gut. Einen Moment, bitte." Sie stand auf und kam eine Minute später mit einem Tablett zurück, auf dem zwei gefüllte Gläser standen. Gierig tranken die Mädchen einen großen Schluck von dem köstlichen Saft.
"Was kann ich denn für euch tun?" fragte die Frau, als die Gläser halb leer waren und wieder auf dem Tisch standen.
"Ja, also... Ich bin Marion Linke, und das ist meine Schwester Monika. Wir - ich meine, es soll hier ein Konto für uns geben."
"Marion Linke? Ich schau mal nach." Sie drehte sich zu ihrem Monitor und tippte Marions Namen ein, dann runzelte sie die Stirn.
"Einen Moment, bitte." Sie stand auf und ging zu einem anderen Tisch. Die Schwestern schauten ihr nervös hinterher.
"Werden wir jetzt verhaftet?" fragte Monika unsicher.
"Moni! Laß den Mist! Ich bin eh schon nervös genug!" Marion schaute sich hektisch um, während Monika schadenfroh grinste.
"Wieso bist du nervös? Vielleicht haben unsere Eltern hier das Geld eingezahlt, was sie vor der Steuer versteckt haben, und das kommt jetzt raus."
"Monika!" Marions Augen blitzten wütend. "Bitte!"
Grinsend lehnte Monika sich zurück. Die Frau kam in Begleitung einer anderen Frau zurück.
"Ich bin Margot", stellte sie sich vor. "Ihr seid Marion und Monika Linke?"
"Ja, genau."
"Wie alt seid ihr, wenn ich fragen darf?"
"Tja", grinste Marion. "Darüber gehen die Meinungen etwas auseinander. Ich bin entweder 18, 19 oder 94 Jahre alt, und Monika entweder 12, 13 oder 88 Jahre."
"Verstehe." Margot schmunzelte versteckt. "Wie lautet euer Geburtsdatum?"
Marion nannte beide Daten. Margot nickte zufrieden.
"Gut. Seid ihr schon in einem Haus einprogrammiert?"
"Ja, in das von Valentin. Wir wohnen bei ihm."
"Sehr schön. Dann kennt ihr das ja schon." Sie schob den Mädchen eine Platte zu, dann tippte sie auf der Tastatur herum. Schließlich nickte sie Marion zu, die ihre Hand auf die Platte legte. Die Fläche leuchtete kurz auf, dann fragte eine Stimme nach dem Namen. Marion nannte ihren, Monika wiederholte das Spiel.
"Stimmt alles", meinte Margot zufrieden. "Sehr gut. Einen Moment, bitte." Sie stand auf und verschwand hinter einer Tür.
"Doch verhaftet", flüsterte Monika. Marion warf ihr einen wütenden Blick zu.
Knapp vier Minuten später kam Margot zurück, etwas atemlos.
"Tut mir sehr leid, daß es so lange gedauert hat", entschuldigte sich. "Das Fach mit euren Unterlagen war sehr weit hinten. Kommt ihr bitte mit?"
Die Mädchen folgten ihr in einen kleinen Raum mit einem Tisch und vier Stühlen. Auf dem Tisch lag eine schmale Kassette, wie eine Geldbombe aus der Vergangenheit.
"Kommt raus, wenn ihr fertig seid", sagte Margot lächelnd. "Dann reden wir über alles andere." Sie ließ die Mädchen allein.
"Nun denn." Marion atmete tief durch und öffnete die Kassette. Sie fand nur einen Brief, den sie öffnete.
"Liebste Marion", las sie halblaut vor. "Liebste Monika. Falls ihr diesen Brief jemals lesen solltet, bedeutet das, daß unsere Hoffnungen sich doch erfüllt haben und ihr am Leben und gesund seid. Dann hat sich alles gelohnt, was wir getan haben.
Wir schreiben das Jahr 2028. Euer Vater und ich sind inzwischen so alt, daß wir in ein Pflegeheim müssen. Die Sorge um euch zwei hat bestimmt ihren Teil dazu beigetragen, aber das ist weiß Gott nicht eure Schuld, Kinder. Früher oder später wäre das sowieso gekommen. Nun ist es eben etwas früher.
Es war gut, daß wir damals ein Haus weit außerhalb der Stadt gekauft haben, denn die Innenstädte haben das Chaos der Jahrtausendwende nicht überlebt. Aber das werdet ihr inzwischen schon erfahren haben. Und ihr wißt nun auch, warum wir so wenig darüber erzählt haben. Wir haben es zum Teil miterlebt, wie aus Menschen Tiere wurden. Es war grausam und entsetzlich.
Jedenfalls, das Haus und das Grundstück haben überlebt. Vater und ich haben lange hin und her überlegt, ob wir es euch hinterlassen sollen, aber dann haben wir uns dagegen entschieden. Es würde zu viele Erinnerungen in euch wecken, die euch belasten. Deswegen haben wir es verkauft. Durch die fantastische neue Struktur in unserem Land brauchen wir für das Heim kaum Geld zu bezahlen. Wir tun es allerdings doch, als Spende. Der Rest des Geldes bleibt für euch, Kinder. Zusammen mit unserem Ersparten wird es reichen, für jede von euch eine neue Bleibe zu finden. Oder wollt ihr zusammenbleiben? Wie auch immer ihr euch entscheidet, ihr werdet das Richtige tun.
Liebe Töchter, auch wenn wir anfangs sehr im Streit mit dem Schicksal lagen, das euch so früh von uns getrennt hat, so wissen wir nun doch, daß ihr in einer wirklich schönen Welt aufwachen werdet, die sich von unserer alten gewaltig unterscheidet. Nutzt eure Talente, Kinder. Ihr seid nicht mehr an die alten Strukturen von Abitur und Ausbildung gebunden, sondern könnt frei entscheiden, was euch am besten gefällt. Nutzt dies aus, Kinder! Lebt euer Leben, und lebt es glücklich! Nach dreißig Jahren im Eis habt ihr euch das redlich verdient. Oder werden es sogar vierzig werden?
Wie dem auch sei. Die Zeit, die wir vier miteinander hatten, war wunderschön, und ich bete, daß eure kommenden Jahre noch sehr viel schöner werden. Denkt nicht in Trauer an uns, sondern freut euch, daß ihr lebt, und denkt nur daran, daß wir euch lieben.
Mama und Papa."



Es dauerte mehr als dreißig Minuten, bis Marion und Monika sich wieder soweit gefangen hatten, daß sie normal reden konnten. Trotzdem war ihnen der innere Aufruhr anzusehen, als sie den kleinen Raum verließen. Monika hielt den letzten Brief ihrer Eltern fest wie eine unersetzliche Kostbarkeit. Margot sah ihnen sofort an, was sie vorgefunden hatten, und schlug bewußt einen freundlichen, aber geschäftsmäßigen Ton an.
"Ihr seid noch nicht mit unserem Währungssystem vertraut, nehme ich an? Dachte ich mir. Unsere Währung nennt sich so wie die, die ihr noch am Rande mitbekommen habt: Euro. Allerdings wurde der Euro vollkommen neu bewertet, und zwar im Jahre 2019, als alle Länder auf dem gleichen Stand waren. Ein Euro entspricht ungefähr fünf Mark eurer alten Währung."
Langsam richtete sich die Aufmerksamkeit der Mädchen auf Margot, was sie mit dieser Einführung auch beabsichtigt hatte.
"Ihr seid die ersten Menschen aus der Vergangenheit, mit denen ich zu tun habe", lächelte Margot. "Deswegen seht es mir bitte nach, wenn ich mehr erkläre, als ihr vielleicht hören wollt.
Der Euro zu eurer Zeit war eine Mischung aus allen Währungen, von Ländern mit Inflation bis zu Ländern mit Deflation, von Ländern mit Importüberschuß bis zu Ländern mit Exportüberschuß. Ob das gutgegangen wäre oder nicht, kann heute nur noch vermutet werden. Unser Euro ist jedenfalls stabiler als der damalige Schweizer Franken. Zu dem eben genannten Kurs - fünf Mark gleich ein Euro - wurde 2019 alles Geld in Deutschland umgetauscht. Durch den enormen Aufschwung, der in den folgenden Jahrzehnten stattfand, hatten wir einen ebenso enormen Rutsch der Schuldzinsen und der Preise, während die Zinsen für Guthaben gestiegen sind. Früher kostete ein großes Brot ein Euro, heute nur noch ein Bruchteil davon. Ach ja, die kleinste Einheit, die es gibt, ist ein Cent; diese Bezeichnung haben wir zum Teil von Amerika übernommen, zum Teil wegen der Tradition stehenlassen. Ein Cent sind fünf eurer alten Pfennige.
Damit kommen wir zu eurem Kontostand." Bewußt vermied sie Formulierung: was eure Eltern euch hinterlassen haben.
"Euer Kontostand beträgt derzeit, inklusive der Zinsen der letzten dreißig Jahre, fast 80.000 Euro. Damit ihr einen Eindruck bekommt, wieviel Geld das ist, darf ich euch sagen, daß ein Haus mit sechs Zimmern etwa 30.000 Euro kostet. Mit Grundstück, natürlich. Eine Wohnung mit vier Zimmern kostet 12.000 Euro, eine Wohnung mit zwei Zimmern 5.000. Marion, von Monikas Geburtsdatum her darf auch sie über das Konto verfügen, von ihrem gesetzlichen Status her nicht, da sie noch keinen Beruf hat. Wie entscheidest du dich? Gestattest du ihr, daß sie selbst Geld abheben darf? Oder wollt ihr das erst einmal in aller Ruhe durchsprechen?"
"Wir überlegen uns das", sagte Monika schnell. "Es ist das einzige Geld, was wir haben; ich hätte Angst, es zu verschwenden."
"So schlimm ist das nicht", lächelte Margot. "Wenn ihr arbeitet, bekommt ihr pro Stunde zehn Euro. Wenn eine von euch drei Monate lang kräftig arbeitet, kann sie sich schon eine kleine Wohnung kaufen."
"Drei Monate!" Die Schwestern schauten sich verblüfft an.
"Sicher", schmunzelte Margot. "Zehn Euro pro Stunde ergibt 80 Euro am Tag, mal 63 Tage ergibt 5.040 Euro. Damit gehört euch eine kleine Wohnung mit zwei Zimmern. Also mach dir bitte keine Angst, daß du Geld verschwenden könntest. Offen gesagt, mußt du dich dafür sehr anstrengen, Monika. Die Preise heutzutage sind insgesamt um mehr als 75% billiger als zu eurer Zeit. In manchen Bereichen sogar um weit über 90%."
"Dann kann sie jederzeit an das Konto", entschied sich Marion. "Und zwar bis zur Hälfte von dem, was jetzt drauf ist."
"Marion!" Monika starrte ihre Schwester erschrocken an. "Aber -"
"Kein Widerspruch!" grinste Marion. "Du bist ja bald erwachsen. Lern schon mal, mit Geld umzugehen."
"Gut", sagte Margot. "Sollen wir für Monika ein eigenes Konto eröffnen?"
"Nein!" Monika schüttelte energisch den Kopf. "Bitte, ich - Ich hab doch überhaupt keine Ahnung, wie Geld abgehoben wird und so! Außerdem..." Sie sah auf ihren engen Anzug. "Wo soll ich denn hier Geld reintun? Da sind ja überhaupt keine Taschen!"
"Du zahlst mit deiner Hand", lächelte Margot. "Wenn du bezahlst, legst du deine Hand auf so eine Platte wie vorhin und nennst deinen Namen. Fingerabdrücke, deine persönliche Wärmeausstrahlung und deine Stimme sind eindeutig. Damit bezahlst du."
"Puh!" Monika atmete erleichtert aus. "Das krieg ich hin."
"Geben wir ihr ein eigenes Konto", entschied Marion. "Und übertragen S- äh, übertrage dann bitte die Hälfte von dem Geld auf ihres, Margot. Sie kann sich pro Monat..." Marion überlegte schnell. "Ja. Pro Monat kann sie sich bis zu 200 Euro abheben. Oder dafür einkaufen."
"Dann muß sie ziemlich viel Zeit in der Stadt verbringen", schmunzelte Margot, während sie schnell auf der Tastatur herumtippte. "Ist erledigt. Monika, du bist nun stolze Besitzerin eines eigenen Kontos in Höhe von 39.418,79 Euro. Nach den heutigen Verhältnissen bist du damit schwerreich."
Monika nickte schwach, dann schüttelte es sie plötzlich. "Buah! Kann ich nicht lieber Taschengeld kriegen?"
"Du hast keine Taschen", lachte Marion fröhlich. "Also gibt's auch kein Taschengeld."
"Dann eben Anzuggeld!" knurrte Monika. "Mann! Da könnte ich mir jetzt glatt ein Haus kaufen, wo ich mich drin verlaufe. Das macht mir echt Angst!"

* * *

Als die drei Mädchen das alte Bankhaus durch den Haupteingang verließen, traf die Schwestern ein Schock: um sie herum sahen sie viel nackte Haut und sehr wenig Kleidung. Wenn überhaupt.
"Sagte ich doch", grinste Valerie. "Schaut es euch in Ruhe an."
"In Ruhe?" Marion sah die 13jährige entgeistert an. "Valerie! Hier - hier laufen nackte Männer rum!"
"Ja!" antwortete Valerie mit einem gierigen Blick. "Wollen wir uns ein paar schnappen?" Dann mußte sie hell lachen.
"Ach, Marion!" Sie nahm das ältere Mädchen in den Arm und drückte es. "Schau dich um und gewöhn dich dran. Wenn es allen außer dir gefällt, muß es an dir liegen."
"Wahrscheinlich." Marion schluckte und riskierte mehr als nur ein halbes Auge.
Der große Platz war gut gefüllt mit Menschen jeden Geschlechtes und jeden Alters. Hier ging ein Ehepaar mit ihrem kleinen Sohn völlig nackt, dort redeten drei nackte junge Mädchen lachend und kichernd miteinander, nur die Scham mit einem kleinen Streifen Kleidung verhüllt, in Gelb. Ihre kleinen Brüste tanzten fröhlich, wenn die Mädchen sich bewegten. Eines der Mädchen entfernte gerade den Streifen und drehte ihn um. Nun war er Grün. Ein paar Schritte von ihnen entfernt ging ein Mann mit einem anderen Arm in Arm, einer vollständig nackt, der andere trug nur eine Art Hemd, das die Brust so eben bedeckte. Ihre Penisse schlackerten beim Gehen munter hin und her. Ein paar Meter weiter setzte sich gerade ein Mädchen von 12, 13 Jahren auf den Schoß eines nicht viel älteren Jungen, führte sein Glied ein und begann, mit ihm zu ficken.
"Valerie!" flüsterte Marion. "Da drüben!"
"Ohhh!" seufzte Valerie, als sie das sah. "Ich würd so gern mit ihr tauschen! Schau mal da!" Marion folgte ihrem Blick und sah ein kleines Mädchen mit flacher Brust auf einen Mann zugehen, nur ein paar Meter von ihnen entfernt. Marion sah, wie sie mit ihm redete. Der Mann nickte und nahm das Mädchen auf seine Arme, dann führte er vorsichtig sein Glied in sie ein. Das helle Stöhnen des Mädchens konnte Marion ganz deutlich hören.
"Siehst du?" sagte Valerie ganz ernst. "Es macht ihr Spaß. Sie will es. Sie hat zuerst gefragt, Marion. Sex ist total frei. Sex ist nur während der Arbeit verboten. Nicht weil es von der Arbeit abhält, sondern weil es die Unfallgefahr erhöht. Möchtest du von einem Arzt operiert werden, der sich gerade zwei Stunden lang die Seele aus dem Leib gefickt hat?"
"Auf keinen Fall!"
"Ich auch nicht. Und sonst auch niemand. Wenn ich bei der Arbeit ficken würde, wäre mir der Wagen, den ich gerade repariere, völlig egal, und genau das ist falsch. Denn dann würde ich Fehler machen, die dazu führen, daß der Wagen wieder liegenbleibt. Aber ansonsten kannst du Sex haben, wo und mit wem du willst. Manche Geschäfte haben einen gelben Ring an der Scheibe kleben; das heißt, daß innerhalb des Geschäftes kein Sex gemacht werden darf, aber das sind nur Geschäfte, wo die Sachen schnell kaputtgehen können. Glas und so. Aber die meisten machen es sowieso zu Hause oder hier auf den Plätzen. Was meinst du überhaupt dazu, Moni? Du bist so still."
"Ich lerne", grinste Monika breit. "Ist das hier immer so - so wie jetzt?"
"Ja, eigentlich rund um die Uhr. Dieser Platz hier ist nur einer von vielen in der Stadt. Es gibt manche, wo sich nur Frauen oder nur Männer oder nur Kinder treffen, aber trotzdem kann da jeder andere auch hin und mitmachen. Du hast überall diese Sitzbänke, wo du einfach nur sitzen oder sitzen und ficken kannst. Wenn wir Glück haben, dann - Da!" Aufgeregt deutete sie auf zwei junge Männer, die gerade zu einer der vielen Bänke gingen. Einer von ihnen hockte sich darauf, der andere drang von hinten in ihn ein. Marion wurde feuerrot und hielt ihrer kleinen Schwester die Augen zu.
"Ey!" rief Monika wütend und machte sich frei. "Ich will das sehen!"
"Moni", sagte Valerie leise. "Du kannst sie fragen, ob du zusehen darfst. Das kannst du alle hier fragen. Da du Gelb trägst, wird dich niemand auffordern, mitzumachen. Marion, sie wird es früher oder später sowieso sehen. Der Unterricht behandelt auch den Sex und alle Varianten sehr gründlich. Mit lebenden Menschen in den Filmen."
Marion nickte ergeben. "Und es ist außerdem nicht richtig, einem anderen Menschen zu verbieten, etwas zu sehen?"
"Genau", antwortete Valerie schüchtern. "Ich hätte das nie so gesagt, aber du hast recht. Wenn Moni es nicht sehen will, dann sieht sie eben einfach nicht hin."
"Na gut. Tut mir leid, Moni. Moni?" Monika war weg. Marion schaute sich suchend um, dann entdeckte sie ihre Schwester. Sie war bei einem Pärchen von 16, 17 Jahren, das sich gerade eine Bank ausgesucht hatte, und redete mit ihnen. Beide nickten eifrig, dann legte das Mädchen sich hin, und der Junge ging in sie. Monika schaute aufmerksam zu.
"Und das war's", seufzte Marion. "Nun ist meine kleine Schwester nicht mehr ganz so unschuldig."
"Verzeih mir, aber das ist Unsinn." Valerie sah Marion ernst an. "Marion, die Unschuld liegt im Wesen, nicht im Körper. Wissen an sich macht nie schuldig, nur die falsche Anwendung von Wissen. Sex ist für uns etwas, um den anderen kennenzulernen. Du kannst innerhalb von einem Monat mit sechzig verschiedenen Männern schlafen und trotzdem noch unschuldig sein. Erst wenn du einen Partner liebst und mit ihm lebst, dann gibst du dich ihm mit dem Körper und der Seele hin, und damit schenkst du ihm auch deine Unschuld. Sex ist total frei, Liebe ist für den Partner. Wenn du erst einmal liebst, ist nichts mehr so wie früher."
"So wie bei dir und Valentin?"
"Genau so. Vor ihm habe ich mit - ich glaube, etwa dreihundert Männern und neunzig Frauen geschlafen, aber erst bei ihm fühle ich mich richtig geborgen. Alles vor ihm war nur Ausprobieren. Suchen. Bei ihm war es Finden. Wenn ich mich wirklich einmal von ihm trennen sollte, muß sich jeder andere Mann an ihm messen lassen. Das meine ich mit Unschuld. Meine gehört Valentin."
"Tut mir leid, Valerie. Ich kenne eure Zeit noch zu wenig."
"Du mußt dich nicht entschuldigen. Komm mal runter zu mir." Sie zog Marions Gesicht an ihres und gab ihr einen ganz zarten Kuß auf den Mund.
"Das heißt", flüsterte sie, "daß ich dich mag, und daß es nichts zu entschuldigen gibt."
"Verstehe." Marion lächelte verlegen, dann gab sie Valerie einen gleichartigen Kuß.
"Ihr alle helft uns so toll", sagte sie gerührt. "Auch wenn wir einen Fehler nach dem anderen machen."
"Ach was!" kicherte Valerie. "Wenn ich plötzlich in eurer Zeit wäre, würde ich alle paar Minuten verhaftet werden, sagt Valentin."
"Kann gut sein", grinste Marion. "Aber sag mal, wer macht hier eigentlich hinterher sauber?"
"Sauber?" Valerie sah Marion verdutzt an. "Wieso sauber?"
"Na, wenn - wenn ein Mann seinen Orgasmus hat, dann kommt doch sein Samen raus."
"Was?" Valerie trat einen halben Schritt zurück. "Marion, was redest du da? Ein Mann verliert nur dann seinen Samen, wenn er mit seiner Partnerin ein Kind macht! Und dazu müssen beide in die Klinik und sich registrieren lassen!" Sie schüttelte sich. "Marion, wenn - wenn ein Mann jedesmal seinen Samen in die Frau schießen würde, wenn er mit ihr schläft, dann - dann hätten wir eine totale Übervölkerung!"
"Also ganz ruhig jetzt", sagte Marion beherrscht. "Valerie, ich bin 94 Jahre alt und habe alles vergessen, ja? Tun wir einfach mal so. Wie kann sich die Biologie innerhalb von 76 Jahren so verändern, daß ein Mann plötzlich keinen Samenerguß mehr hat, wenn er seinen Orgasmus bekommt?"
Valerie wurde blaß. "Willst du etwa sagen, daß in deiner Zeit ein Mann bei jedem Orgasmus seinen Samen verloren hat? Jedesmal?"
"Ja!" Marion verlor langsam die Geduld. "Jedes einzelne Mal! Und Übervölkerung ist doch auch Blödsinn. Es gibt ja Verhütungsmittel."
Plötzlich benahm Valerie sich sehr merkwürdig. Sie stellte sich ganz gerade hin, Füße zusammen, Kopf gesenkt, Hände auf Kopfhöhe erhoben, Handflächen nach vorne.
"Mein Verständnis reicht nicht aus, deinen Worten zu folgen", sagte sie mit spröder Stimme. "Dafür bitte ich um Verzeihung. Bitte erlaube mir, ein anderes Thema zu wählen, über das wir reden können. Oder erlaube mir, mich zu entfernen, wenn du nicht mehr mit mir reden möchtest."
"Valerie!" Marions gereizte Stimmung verflog im Nu. Sie ging schnell zu Valerie und drückte sie an sich.
"Valerie", flüsterte sie bekümmert. "Es tut mir so leid, Mädchen. Stell dich wieder normal hin, ja? Bitte! Laß uns über etwas anderes reden." Sie hob Valeries Kopf an, um ihr einen satten Kuß auf den Mund zu geben. Valerie lächelte scheu, aber ihre Augen schauten Marion verstört an.

* * *

Valentin nickte langsam. "Verstehe. Deswegen habt ihr den Einkauf abgebrochen?"
"Ja." Marion saß geknickt auf dem bequemen Sofa, Monika neben ihr. Valerie war im Badezimmer, baden.
"Direkt nach der Geburt", sagte Valentin, nachdem er sich zu Marion und Monika gesetzt hatte, "bekommen Jungen wie Mädchen ein Gen gespritzt, Kinder. Dieses Gen verhindert bei den Mädchen, daß sie - wie ihr das wohl kennt - ihre monatliche Blutung bekommen, und bei den Jungen, daß sie ejakulieren. Wenn sich zwei Partner einig sind, daß sie ein Kind bekommen möchten, gehen sie in eine Klinik und verbringen dort zwei Wochen miteinander. In diesen zwei Wochen wird die Funktion des Gens außer Kraft gesetzt, und sie können ein Kind zeugen. Dieses Wissen ist Spezialwissen, deswegen konnte Valerie dir einfach nicht mehr folgen, Marion. Es gehört zum medizinischen Bereich. Sie wird es erst dann kennenlernen, wenn sie mit ihrem Partner ein Kind zeugen möchte. Ich kenne es auch nur, weil ich viel mit Menschen aus der Vergangenheit zu tun habe und ihnen diese Dinge erklären muß." Er lehnte sich nachdenklich zurück.
"Wenn ich mich recht erinnere, lebten zum Ende eures Jahrhunderts etwa 80 Millionen Menschen in Deutschland. Durchschnittlich zehn Prozent, also 8 Millionen, waren ohne Arbeit, zumindest in den Großstädten. Heute leben etwa 30 Millionen Menschen in Deutschland, und so soll es auch bleiben. Es wurden damals, in eurer Zeit, viel zu viele Kinder gezeugt, weil das Geld für Verhütungsmittel fehlte. Oder weil sie vergessen wurden. Oder absichtlich nicht genommen wurden. Oder weil gerade keine zur Hand waren. Heute werden Kinder in liebevoller Umgebung gezeugt. In den Kliniken gibt es wunderschöne Räume, in denen ein Paar diese zwei Wochen verbringt. Es sind - Ja, Ferien würdet ihr es nennen. So ist das Gefühl ungefähr. Ein Kind, das auf diese Art gezeugt wird, ist ein Wunschkind. Ein Kind, dem schon während der Schwangerschaft die schönsten und wertvollsten Gefühle entgegengebracht werden. Würde es zugelassen, daß reihenweise Kinder gezeugt werden, dann könnt ihr euch selbst ausmalen, wohin unsere Zivilisation führen würde."
"Das ist Körperverletzung!" ereiferte Marion sich.
"Vollkommen richtig, Marion", erwiderte Valentin gelassen. "Der Körper wird ein kleines bißchen verletzt, um viel größere Schäden zu vermeiden. Stell dir das bitte als Krebs vor. Wenn Krebs nicht behandelt wird, wuchert er unkontrolliert und zerstört schließlich den gesamten Körper. Wenn die Flut von Kindern nicht verhindert wird, die es bei euch damals gab, würde sie unser Land zerstören. Wenn zugelassen wird, daß ungewollte Kinder geboren werden, wird damit automatisch auch zugelassen, daß ungeliebte Kinder geboren werden. Ungeliebte Kinder können nicht lieben, und damit haben wir wieder das, was wir gerade glücklich hinter uns gebracht haben." Er sah Marion tief in die Augen.
"Nämlich eine Kultur, in der Menschen nicht die gleiche Basis haben. Und somit auch nicht die gleichen Möglichkeiten, sich zu verändern. Ja, ich gebe dir recht, Marion. Zu deiner Zeit wurde bewußt entschieden, ob und wann verhütet wurde. Aber: konnten die Frauen und Mädchen, die vergewaltigt wurden und nicht verhüteten, konnten sie entscheiden, ob sie das Kind, das dabei in ihnen gezeugt wurde, wollten? Es wurde ihnen aufgezwungen, Marion, und die armen Frauen und Mädchen hatten dann noch zusätzlich das Problem, mit den Folgen eines Schwangerschaftsabbruchs klarzukommen. Jetzt tu mir bitte den Gefallen und vergiß einmal die von dir so hochgeschätzte Freiheit des einzelnen. Wenn du die Wahl hättest zwischen einer Gesellschaft, in der 10jährige Kinder vergewaltigt und umgebracht werden, und einer, in der dafür gesorgt wird, daß eben solche Täter gar nicht mehr entstehen können, wofür würdest du dich dann entscheiden?"
"Das ist eine unfaire Frage!" rief Marion erbost. "Dann ist die Antwort ja schon von vornherein klar!"
"Genau, Marion", sagte Valentin sanft. "Wenn die Frage anhand von Freiheit, Unabhängigkeit und Glück beantwortet wird, ist die Antwort wirklich klar."
"Aber es ist nicht die freie Entscheidung der Kinder, so - so sterilisiert zu werden!"
"Das werden sie ja auch nicht, Marion. Sie werden unfruchtbar gehalten, bis sie sich entscheiden, ein Kind zu empfangen. Diese Freiheit haben sie. Sie haben außerdem die Freiheit, so oft und so lange Sex zu haben, wie sie wollen, ohne ungewollt ein Kind zu zeugen. Sie sind unabhängig von Angst vor ungewollten Schwangerschaften. Sie sind glücklich, daß sie jederzeit Sex haben können, wann sie wollen. Frag bitte Lena, was sie davon hält. Sie weiß es ja nun am besten, wie das passiert. Frag alle weiblichen Angehörigen im sozialen Dienst, die das auch wissen. Frag sie alle, Marion. Ich gebe dir gerne die Namen von anderen Mädchen und Frauen, die ebenfalls aus eurer Zeit kommen. Frag sie alle, Marion. Alle haben sich anfangs furchtbar darüber aufgeregt, genau wie du, dann haben sie sich still in eine Ecke gesetzt und nachgedacht." Er nahm Marions Hände und streichelte sie zärtlich.
"Marion, wir sind nicht wie die Nazis aus euren Dreißiger und Vierziger Jahren. Wir kastrieren niemanden, wir verstümmeln niemanden. Wir stoppen nur zeitweise einen ganz natürlichen Vorgang, bis die Menschen bereit dafür sind, mit diesem Vorgang bewußt umzugehen. Dann nimmt die Natur ihren Lauf, und der Vorgang wird wieder gestoppt, wenn das Kind geboren ist. Die Eltern, die das erlebt haben, wissen natürlich auch, was mit ihnen passiert, und ich habe von keinem einzigen gehört, der sich darüber aufgeregt hat. Nimm Valerie. Sie spart im Moment für ein Auto. Wenn sie jetzt schwanger werden würde, könnte sie nicht mehr arbeiten, weil keine schwangere Frau arbeiten darf. Ihr Auto würde sich um mindestens neun Monate verzögern. Vielleicht würde sie sich über das Kind freuen, aber unbewußt würde sie immer wissen, daß sich durch das Kind ihr Auto verzögert. Das ist ein immer präsenter Vorwurf, den sie dem Kind machen würde, auch wenn sie es gar nicht bewußt weiß. Kennst du Frauen in deinem Alter, die schon ein Kind haben?"
"Ja."
"Wie gehen sie damit um, Marion? Immer und ausnahmslos liebevoll? Oder manchmal genervt und gestreßt?"
Marion nickte zögernd.
"Damit hast du die Antwort, Marion. In unserer Zeit wirst du nie erleben, daß ein Vater oder eine Mutter ihr neugeborenes Baby frustriert schüttelt, nur weil es schreit."
Marion kniff die Lippen zusammen.
"Laß gut sein, Marion." Monika legte ihren Arm um ihre Schwester. "Ich hätte es auch nicht gerne, wenn jemand an mir rumschnippelt, ohne daß ich es weiß, aber ich hätte noch viel weniger gern plötzlich ein Baby. Ich meine, ich hab ja keine Ahnung vom Sex und so, außer das, was ich vorhin gesehen hab, aber wenn ich manchmal gesehen hab, wie Mütter ihre Kinder auf dem Spielplatz bei uns behandelt haben... Hier mal eben eine Ohrfeige, da mal eben ein Schütteln, dort mal eben ein Anbrüllen. Hast du vorhin in der Stadt gesehen, daß Eltern mit ihren Kindern schimpften? Ich nicht."
Marion sah ihre Schwester erstaunt an. Im Geiste sah sie wieder die Kinder vom Nachmittag. Sie konnte sich nur an glückliche oder aufgeregte Gesichter erinnern, aber an kein einziges unglückliches oder weinendes. Erschüttert sah sie zu Valentin, der nickte, als ob er ihre Gedanken lesen könnte.
"Moni hat recht", sagte er leise. "Wenn du dich gründlich umsiehst, Marion, wirst du vielleicht mal ein Kind sehen, das weint. Aber das weint, weil es hingefallen ist oder sich irgendwo gestoßen oder geschnitten hat. Du wirst kein einziges Kind sehen, das weint, nur weil die Eltern grob zu ihm waren. Kein einziges, Marion. Jedes Kind, was du siehst, ist ein Wunschkind. Ein liebevoll gezeugtes und mit Wärme und Liebe erzogenes Kind. Wie viele solcher Kinder kennst du? Dich? Deine Schwester? Gab es bei euch nur Sonnenschein? Oder auch manchmal Regen?"
Marion nickte resigniert. "Ja. Es gab oft genug Regen."
"Gut. Moni? Du siehst aus, als hättest du noch eine Frage."
"Ja... Valerie sagte, daß die Kinder 12 Stunden am Tag in der Vorerziehung sind. Aber trotzdem waren da draußen jede Menge Kinder! Wie paßt das?"
"Das paßt schon", lächelte Valentin. "Hat sie gesagt, daß die Kinder 12 Stunden am Tag eingesperrt sind, oder daß sie 12 Stunden am Tag unter sich sind?"
"Äh... Sie sagte, daß sie 12 Stunden am Tag mit Kindern im gleichen Alter zusammen war."
"Aha. Kann sie das auch draußen in der Stadt sein?"
"Okay", grinste Monika. "Frage damit erledigt."
"Prima. Manchmal sind Kinder aber auch mit ihren Eltern unterwegs, weil sie zum Arzt gehen, oder weil sie bestimmte Sachen brauchen, bei denen ihre Eltern etwas bezahlen oder das zu schwer für sie ist, um es selbst tragen zu können.
Marion? Nimm dir die Scheibe für das Auto und fahr mit Moni in die Stadt. Ihr braucht noch Sachen zum Anziehen. Sag einfach 'Peckers', dann hält der Wagen schon richtig. Wenn ihr fertig seid, fahrt mit dem gleichen Aufzug wieder runter und drück auf die Scheibe. Dann kommt der Wagen zu euch. Es kann nichts schiefgehen."
"Ich weiß nicht..." Unsicher sah Marion Valentin an. "Es kann jede Menge schiefgehen. Wir könnten uns verlaufen. Wir könnten einen Unfall haben. Wir -"
"Marion!" Monika stöhnte laut. "Nun komm! Du hast doch gesehen, wie der Wagen vorhin ganz alleine ausgewichen ist. Und wenn wir uns verlaufen, fragen wir uns eben durch! Nun hoch mit dir! Ich will auch so 'n geilen Dress haben wie die Blonde vorhin."
"Geiler Dress?" Valentin sah zum ersten Mal etwas verwirrt aus. Monika mußte grinsen.
"Ja, das war so 'n schmaler Gürtel über der Brust, und so 'ne Art Blume für - für unten. Sah geil aus."
"Na schön." Seufzend stand Marion auf. "Haben eigentlich alle so Probleme wie ich? Ich meine, die aus der Vergangenheit."
"Ja, Marion. Je älter sie sind, um so größer sind die Probleme." Er legte seine Hand an Marions Hals.
"Hör einfach auf dein Gefühl, Mädchen", sagte er leise. "Wie Moni. Kinder spüren, ob etwas in Ordnung ist oder nicht. Erwachsene denken viel zu viel nach. Spür einfach."
"Okay." Marion lächelte scheu. "Tut mir leid, daß ich manchmal so an die Decke gehe."
"Muß es nicht." Er gab ihr einen Kuß auf die Wange. "Gerade das macht dich so attraktiv. Außerdem halten mich die Diskussionen mit dir jung. Du hast eine sehr gute Art, Schwachstellen in den Argumentationen zu entdecken."
"Ja, das kann ich", grinste Marion breit. "Hat meine Eltern auch immer an den Rand des Wahnsinns getrieben. Also los, Moni. Gehen wir ein paar geile Sachen kaufen und heizen ein paar Leute an."



Der Wagen hielt wieder vor einem Aufzug und öffnete sich. Offenbar war so gut wie jedes Haus hier mit einem Lift ausgestattet. Die Mädchen stiegen in den Aufzug ein, der sofort nach oben fuhr. Als die Türen sich wieder öffneten, standen sie in einer Art Passage und sahen direkt auf mehrere Geschäfte. Eines davon war Peckers, und das betraten sie aufgeregt.
"Hallo", begrüßte sie ein junges Mädchen von 15 Jahren. Sie war in eine Art Toga gekleidet, einen breiten Streifen Stoff, der so gelegt war, daß er sowohl ihre linke Brust als auch die rechte Hälfte ihrer Scheide freiließ. Das Mädchen war nicht sehr groß, Marion schätzte es auf etwa 1,50. Ihre Haare waren apfelgrün gefärbt und sahen ziemlich struppig aus, wie bei einem streunenden Hund. Aber es paßte zu ihr und ließ sie sehr niedlich aussehen. "Ich bin Justine. Kann ich euch helfen?"
"Ja, gerne." Monika drängelte sich vor. "Ich bin Moni, das ist Marion, meine Schwester. Wir brauchen komplett neues Outfit."
"Kein Problem. Wißt ihr schon, was, oder wollt ihr euch erst mal etwas umsehen?"
"Ja, das würden wir gerne. Können wir dich rufen, wenn wir Hilfe brauchen?"
"Natürlich. Dafür bin ich ja da."
"Klasse!" Aufgeregt ließ Monika sich vor den vielen Fächern nieder und schaute sich gründlich um, genau wie Marion. Das ältere Mädchen schaute sich in aller Ruhe die Kleidung an, die dort auslag. Es gab offenbar nur eine Größe, aber da das Material, aus dem die Kleidung bestand, sehr flexibel war, machte das nichts aus.
Marion wählte als erstes eine Art Badeanzug, dessen Seitenteile so hoch ausgeschnitten waren, daß sie sogar die Ränder der Brüste freiließen. Von vorne sah es aus wie ein Dreieck aus Stoff, dessen Spitze nach unten zeigte, von der Seite wie ein Dreieck aus Haut, dessen Spitze nach oben zeigte. Sie sah sich unsicher um, und schon war Justine neben ihr.
"Kann ich das mal anprobieren?" fragte Marion zögernd.
"Sicher."
"Und wo?"
"Hier." Justine schaute sie fragend an. "Seid ihr neu in Deutschland?"
"Äh - ja, sozusagen."
"Ach so. Zieh dich einfach hier um. Das machen alle so."
Marion schaute sich etwas hilflos um. Keine drei Meter neben sich entdeckte sie eine Frau Anfang Dreißig mit ihrer etwa achtjährigen Tochter. Beide zogen sich ohne Scheu aus und probierten etwas an. Seufzend schälte Marion sich aus ihrem Anzug und zog den Einteiler an. Sie musterte sich im Spiegel. Stand sie seitwärts, war gut ein Viertel ihrer Brust zu sehen, von vorne jedoch überhaupt nicht.
"Du bist ein scharfes Häschen", murmelte sie ihrem Spiegelbild zu, als Justine plötzlich neben ihr stand.
"Darf ich mich entschuldigen?" sagte das Mädchen schüchtern. "Ich habe an deinem Anzug gesehen, daß du aus Zentral 49 kommst. Ich hätte dir mehr helfen sollen. Es tut mir sehr leid."
"Schon gut", lächelte Marion herzlich. Sie beugte sich zu dem Mädchen herunter und küßte es sanft auf den Mund. Justine strahlte glücklich.
"Hey, Marion!" unterbrach Monikas Stimme sie. "Schau mal!"
Marion drehte sich um und erstarrte. Monika trug über der Brust nur einen winzigen dunkelblauen Streifen, der nicht einmal ihre Brustwarzen bedeckte, und an der Scheide einen ebenso blauen Streifen, der knapp ihren Schlitz verbarg.
"Sieht das nicht total geil aus?" fragte Monika aufgedreht. "Justine, gibt's den Streifen auch als Blume?"
"Sicher!" Sie hüpfte davon und kam Sekunden später mit einem Korb an. "Hier!"
"Geil!" Schon war der Streifen weg. Monika suchte eine grellrote Blume heraus, preßte sie für ein paar Sekunden an die Scheide, dann hielt sie von alleine.
"Wie hält das?" fragte Marion verwundert. Monika zuckte die Schultern.
"Keine Ahnung. Aber du kannst prima damit gehen. Das hält bombig!"
"Das Material verbindet sich an einigen Stellen mit der Haut", erklärte Justine. "Wie eine chemische Verbindung. Es geht aber ganz leicht ab und hält trotzdem sehr fest. Du kannst damit sogar schwimmen gehen, ohne daß es sich löst. Die Blüte sitzt übrigens oberhalb der Scheide, damit die Oberschenkel beim Laufen nicht dagegen stoßen und gereizt werden."
"Verstehe." Marion kam sich in ihrem Einteiler plötzlich wie eine Hundertjährige vor.
"Bin ich ja eigentlich auch", murmelte sie grinsend. "Justine? Kannst du mir bitte ein paar richtig knackige Sachen zeigen?"
"Knackig?"
"Ja. Schön knapp, sexy und herrlich eng."
"Ach so! Sofort!" Fröhlich tanzte sie davon.
"Ist das alles irre!" Aufgelöst kam Monika zu Marion, die gerade ihren Einteiler auszog. "Ich find's nur komisch, daß nirgendwo ein Preis draufsteht. Ist das nicht Pflicht?"
"War bei uns jedenfalls so. Was hast du alles?"
"Das hier." Monika holte jede Menge knapper Streifen in allen möglichen Farben aus ihrem Korb. "Das hier find ich total megageil." Sie zeigte Marion einen schmalen, durchsichtigen Streifen, den sie kurz an ihre Scheide preßte und dann losließ. Marion schaute genauer hin. Je nachdem, wie Monika sich drehte, schimmerte der Streifen in den leuchtendsten Farben oder war vollständig durchsichtig.
"Nicht schlecht", sagte sie anerkennend. "Bist du sicher, daß du das auf der Straße tragen willst?"
Monika nickte aufgeregt. "Bin ich. Die anderen haben ja auch nicht viel mehr an. Wetten, daß ich mit meinen 88 Jahren jedes junge Mädchen hier aussteche?"
"Garantiert", lachte Marion. "Du hast kaum Gelb dabei."
"Hm-m. Justine sagte, daß ein gelber Haarreif schon reicht." Sie holte ein leuchtend gelbes Stirnband aus dem Korb und legte es sich um. "Siehst du? Damit bin ich tabu. Entweder ein ganz gelber Dress, oder ein gelbes Stirnband oder ein Haarreif oder so. Gelb am Kopf heißt auch: Finger weg. Egal, was du sonst anhast."
"Aha?" Marions Gesicht zeigte ein listiges Lächeln. "Darf ich diesen - diesen bunten Streifen mal probieren?"
"Klar! Justine sagte, daß die Dinger alle vollkommen hygienisch sind. Muß am Material liegen. Die Sachen weisen alle Bakterien ab, deswegen kann man die auch ganz locker anprobieren. Sie geht abends her und wirft alles kurz ins Wasser, dann sind sie am nächsten Tag wie neu. Das macht sie aber nur wegen Staub, sagt sie. Genau so sollen wir die auch waschen. Ein paar Minuten ins Wasser, und fertig."
"Ist ja geil!" Aufgeregt drückte Marion den irisierenden Streifen an ihre Scheide, dann ging sie zum Schaufenster und drehte sich im Sonnenlicht. Das Material leuchtete im direkten Sonnenlicht auf wie ein Regenbogen.
"Cool. Absolut cool. Wo gibt's die Dinger?"
"Bei mir." Monika drückte ihr einen zweiten in die Hand. "Ich hab mir sechs davon eingepackt."
"Danke!"
Justine kam in diesem Moment zurück, mit einem Korb voller kleiner Stücke. Schon das erste ließ Marions Herz höher schlagen. Es war ein Streifen aus schmalem, sehr weichem Kunststoff, mit drei Enden. Das vordere bedeckte die Scheide, die beiden hinteren legten sich auf die Pobacken.
"Das nenn ich knackig", grinste Marion, als sie das Teil angelegt hatte. "Justine, wie gefalle ich dir?"
"Sehr gut", sagte das Mädchen mit leuchtenden Augen. "Wenn du jetzt noch die Haare vorne abmachen würdest, würde ich dich heute abend glatt zu mir einladen."
"Das war doch mal ein Kompliment", grinste Marion verlegen. "Meinst du, die stören echt?"
"Ja." Nun wurde sie wieder schüchtern. "Verzeih mir bitte. Aber ihr seid neu, und deswegen versteht dies bitte nur als freundlichen Hinweis. Als Rat. Haare auf der Scham sind nicht so gern gesehen, weil - Na ja, manchmal verstecken sich da Bakterien oder andere Dinge, und außerdem kitzelt das unangenehm, wenn dich jemand dort küßt. Mich persönlich würde das sehr stören. Ich spüre gerne nur die Haut meiner Partnerin, aber nicht ihre Haare. Verzeih mir bitte."
"Das ist in Ordnung." Sie gab Justine einen weiteren Kuß auf den Mund, etwas länger als das erste Mal, was der 15jährigen sehr gut gefiel. "Sag, Justine, hast du etwas, um die Haare wegzumachen?"
"Ja, aber das Mittel ist nicht so gut, weil es nicht die Wurzeln entfernt." Nun war sie vollkommen verlegen.
"Bitte sag es", bat Marion leise. "Wir nehmen dir nichts übel, Mädchen. Wir lernen doch auch gerne dazu."
"Na gut." Justine kämpfte einen Moment mit sich, dann nickte sie entschlossen. "Wenn ihr quer über den Platz geht, seht ihr ein Geschäft mit bunten Perücken. Die entfernen auch die Haarwurzeln. Es ist nur sehr teuer, deswegen wollte ich es erst nicht sagen. Das kostet 70 Euro. Pro Person. Aber es entfernt die Haare für das ganze Leben. Und dauert nur knapp zehn Minuten." Sie schaute so sehnsüchtig auf besagtes Geschäft, daß Marion sofort Bescheid wußte. Sie rechnete kurz. 70 Euro waren in ihrer alten Währung 350 Mark. Ihres Wissens nach kostete eine Haarwurzelbehandlung damals jedoch weit über tausend Mark, wenn nicht sogar noch mehr. Sie faßte einen Entschluß.
"Wie lange mußt du arbeiten, Justine?"
"So lange ich möchte. Warum?"
Marion lächelte schelmisch. "Sag, wie entfernst du deine Haare da unten?"
"Mit unserem Mittel. Ich hab mir gerade eine Wohnung gekauft, und jetzt spare ich für ein richtig großes Bett und schönere Möbel. Das ist mir im Moment wichtiger als meine Haare."
"Mußt du jemandem Bescheid sagen, wenn du eine kurze Pause machst?"
"Nein. Es wäre höflicher, wenn ich es tue, aber ich muß es nicht. Warum fragst du das alles?"
"Ganz einfach." Marion strich dem Mädchen kräftig über das Haar. "Du zeigst mir jetzt noch mehr tolle Sachen wie das hier, und als Dankeschön lade ich dich ein, mit uns zu gehen. Dann werden wir drei unsere Haare entfernen lassen."
"Du lädst mich ein?" Justines Augen leuchteten wie die Sonne. "Meinst du das ernst?"
"Aber sicher. Oder, Moni?"
"Hundert Pro", grinste Monika. "Wenn es um Schönheit geht, macht Marion keine Witze. Dann zeig ihr mal ein paar tolle Sachen, Justine. Ach ja! Justine, wieso steht hier nirgendwo ein Preis drauf?"
"Weil die Sachen alle nichts kosten", erwiderte das Mädchen. "Das ist Basisbedarf."
"Echt? Und es ist egal, ob ich eins oder hundert haben will?"
"Ja. Wenn du der Meinung bist, du brauchst hundert, dann nimm dir hundert. Es ist Basisbedarf." Sie mußte lächeln, als sie Monikas verblüfftes Gesicht sah. "Im Lager stehen noch Dutzende von Kartons davon. Selbst wenn du tausend haben möchtest, kannst du sie haben."
"Aha." Marion sah das Mädchen an. "Habt ihr denn auch - Nicht-Basisbedarf?"
"Ja, nebenan. Das kostet dann aber wieder etwas."
"Schon klar", lächelte Marion. "Könntest du uns das bitte zeigen?"
"Sehr gerne. Kommt ihr bitte mit?"
Sie folgten Justine durch das Geschäft. Hinter einem Vorhang war ein zweiter Raum, so groß wie der erste. Marion verstand auf den ersten Blick, warum er abgetrennt war. Alle Stücke, die hier lagen, funkelten und blitzten, als wären Tausende von Scheinwerfern darauf gerichtet. Es tat schon fast in den Augen weh.
"Der Unterschied zu den Sachen vorne", erklärte Justine, "liegt in der Haltbarkeit. Die Sachen vorne halten zwei bis drei Jahre, dann verblassen die Farben. Das ist keine Absicht, es liegt einfach am Material. Diese Dinge hier halten die Farbe ewig. Deswegen leuchten oder schimmern sie auch intensiver."
"Wow!" quietschte Monika plötzlich auf. "Marion, schau dir das an!" Sie stürzte auf ein Regal zu, in dem schmale, golden blitzende Dreiecke lagen, mit sehr schmaler Basis.
"Das sind Wegweiser", lächelte Justine. "So heißen die. Du kannst sie auf den ganzen Körper kleben und so eine Spur legen, wo jemand hinsehen soll. Manche machen sich den Spaß und lenken den Blick auf das Knie oder den Po, andere machen's wieder ganz deutlich und zeigen nach unten, auf die Scheide oder den Penis."
"Wahnsinn! Wie teuer sind die?"
"Pro Stück drei Cent. Damit's gut aussieht, brauchst du etwa zehn oder zwölf. Weniger sieht nicht aus."
"Dreißig Cent!" Marion sah verblüfft zu ihrer Schwester. "Jetzt kapiere ich, was Margot meinte!"
"Daß ich mich anstrengen muß, um Geld auszugeben?"
"Genau!" Marion schaute auf eine kleine Kiste mit bunten Murmeln. "Was ist das?"
"Roller." Justine nahm eine der Murmeln, rollte sie langsam von der Schulter bis zur Kehle, dann ließ sie die Murmel los. Die Schwestern starrten sprachlos auf die Murmel, die völlig selbständig zurück zur Schulter rollte und wieder zur Kehle. Sie rollte so lange, bis Justine sie abnahm.
"Die sind aber wirklich teuer!" warnte sie die Mädchen. "Pro Stück 20 Cent. Dafür garantieren wir aber auch, daß sie nicht abfallen, selbst beim Sport nicht. Wenn doch, bekommt ihr Ersatz."
"Teuer!" Monika sah kurz zur Decke. "Justine, das ist geschenkt!"
"Moni meint", sagte Marion hastig, "daß dort, wo wir herkommen, so ein - ein Roller mindestens 10 Euro gekostet hätte."
"Wieviel?" Justine wurde richtig blaß. "Aber das ist doch Betrug! Die kosten in der Herstellung 16 Cent, mehr nicht! Der Computer innen kostet 9 Cent, die Hülle 2, und die Beschichtung, damit der Roller haftet, 5 Cent!"
"Wow!" quietschte Monika dazwischen. Sie zeigte Marion eine Halskette aus lauter Kugeln, jede etwa einen Zentimeter dick, die permanent ihre Farbe veränderten, so daß die Kette aussah wie ein langsames Lauflicht.
"Ja, die ist wirklich schön", lächelte Justine. "Die kostet 10 Cent."
Marion verkniff sich einen Kommentar. "Was ist das da vorne?" Sie deutete auf eine Art Stirnband.
"Notruf." Grinsend setzte sich Justine den Reifen auf, der sofort losblitzte wie ein Blaulicht aus der Vergangenheit. Monika klatschte begeistert in die Hände.
"Ist ja affengeil! Was kostet der?"
"8 Cent. Die Batterie da drin hält zwei Jahre, bei acht Stunden täglicher Nutzung. Eine neue kostet 1 Cent. Das wird viel auf Partys benutzt, auf den Plätzen weniger."
"Und das?" Monika hielt eine sehr lange, merkwürdig verschlungene Kette hoch.
"Liebesfesseln. Damit bindest du deinen Partner oder deine Partnerin beim Liebesspiel an dir fest, und wenn der Orgasmus richtig stark ist, springen die auf."
"Und wenn er nur schwach ist?" schmunzelte Marion.
"Dann muß man es nochmal versuchen." Justine grinste neckisch. "Als meine Partnerin und ich die mal ausprobiert haben, haben wir beide am nächsten Morgen total verschlafen. Da kannten wir uns aber auch erst drei Tage und wußten noch nicht so genau, wie wir es uns richtig schön machen konnten."
"Dann ist das verständlich." Marion zwinkerte dem Mädchen zu.
"Na dann!" ließ Monika ihren Kampfruf los. "Also: ich möchte gerne 50 von den Wegweisern. Dazu 10 Roller. Ach was. 20 Roller. 2 Halsketten. Und einen Notruf." Sie rechnete kurz. "Das wären dann 5,78 Euro?"
"Genau." Justine packte geschwind die gewünschten Mengen in ein kleines Kästchen. "Marion? Siehst du auch etwas, was dir gefällt?"
"Mir gefällt eigentlich alles", sagte Marion sehnsüchtig. "Aber ich werde erst mal die Kleidung versuchen."
"Schaust du dann mal bitte hier?" Sie führte Marion in die zweite Reihe. Dort lagen ähnliche Kleidungsstücke wie im vorderen Raum, nur mit wesentlich intensiveren Farben.
"Ja, genau so!" lächelte Marion erfreut. "Silber stand mir schon immer gut."
Sie wählte einen von den Streifen mit drei Enden in glänzendem Silber, genannt Dreistrahl, dazu eine Art Bikinihöschen, das aber nur aus einem schmalen Dreieck vorne und zwei Seitenriemen bestand, die bis zur Taille reichten, außerdem noch einen BH aus einem schimmernden, durchsichtigen Material, das alle paar Sekunden völlig undurchsichtig wurde, und einige Streifen in einem kräftigen Grün, die sich unter Sonnenlicht laufend von Hellgrün zu Dunkelgrün veränderten. Ihre Einkäufe kosteten ganze 1,53 Euro.
Monika war überaus stolz, als ihre Hand an der Kasse akzeptiert wurde. Vor lauter Freude schenkte sie Justine gleich zwei der Roller, worüber sich das Mädchen unwahrscheinlich freute. Sie sagte schnell Bescheid, daß sie mal kurz weg wäre, dann führte sie Marion und Monika zu dem besprochenen Geschäft, wo sie von einem nackten Mann Anfang Zwanzig begrüßt wurden.
"Hallo", grüßte er fröhlich. "Ich bin Ian. Was kann ich für euch tun?"
"Uns schöner machen", grinste Monika, die wie ausgewechselt war. "Einmal Haare entfernen. Ähm - dreimal."
"Sehr gerne. Folgt ihr mir, bitte?"
Er führte sie in einen sehr sauberen Raum mit einer Liege. Über der Liege schwebte ein langer, gelenkiger Arm aus Metall, und eine Kamera.
"Wer möchte beginnen?"
"Ich mach mal", meldete Marion sich.
"Legst du dich dann bitte hin? Vorher ausziehen."
"Das war mir schon klar", grinste Marion schief. Sie schlüpfte aus ihrem Anzug und legte sich hin.
"Bitte die Beine öffnen."
Marion atmete tief durch, dann brachte sie ihre Füße auseinander. Ian schaute sich ihre Scham kurz an, dann nickte er.
"Ja, kein Problem. Manchmal sind die Haare bis tief zwischen den Beinen, aber bei dir nicht. Das geht schnell. Ich muß deine Oberschenkel und die Hüfte festbinden, weil sonst die Gefahr besteht, daß der Laser zu tief in die Haut geht, wenn du dich bewegst. Bist du damit einverstanden?"
"Mach mal", seufzte Marion. "Hauptsache, ich brenne nicht an."
"Das passiert nicht!" lachte Ian. Schnell war Marion verschnürt, dann setzte er eine rot gefärbte Brille auf und bat Monika und Justine, sich zu setzen. Er griff nach einem kleinen Kästchen unterhalb der Liege.
"Zuerst wird die Kamera kurz über deinen Unterleib fahren", erklärte er, "und ein geographisches Bild erstellen, nach dem der Laser dann arbeiten kann. Wichtig ist nur, daß du ganz ruhig und entspannt liegen bleibst. Der Laser selbst ist wie ein winzig kurzer Nadelstich, den du aber nicht als Schmerz, sondern nur als Druck spürst. Wenn es weh tut, melde dich bitte sofort, dann muß die Kamera ein zweites Mal ans Werk. Bereit?"
"Ja."
"Gut." Er drückte auf einen Knopf. Die Kamera fuhr herab und bewegte sich in kleinen Kreisen über Marions Unterleib, dann ging sie wieder hoch. Gleich darauf senkte sich der Arm mit dem Laser. Er schickte sehr schnelle Lichtstrahlen heraus, die Marions Haare verdampften. Nach insgesamt sechs Minuten war es vorbei.
"Sehr schön", lächelte Ian. Er schnallte Marion los, dann wischte er ihre Scham sanft mit einem warmen, feuchten Lappen ab.
"Das ist Hautöl", erklärte er. "Es kann sein, daß es morgen früh etwas brennt. Wenn es zu schlimm wird, komm vorbei, dann bekommst du noch etwas von dem Öl. Und bitte, erst morgen mittag waschen, vorher wird es zu weh tun."
"Okay. Danke, Ian." Marion stand vorsichtig auf, dann ging sie mit leichten O-Beinen zum Spiegel, während Moni Justine zur Liege schob.
"Jetzt du. Du mußt noch arbeiten."
"Tut ihr das wirklich für mich?" fragte das Mädchen ungläubig. Marion nickte ihr im Spiegel zu.
"Ja, Justine. Zieh dich aus und leg dich hin."
Glücklich schlüpfte Justine aus ihrer Toga, legte sich schnell hin und öffnete ihre Beine sehr weit. Ian schaute wieder angestrengt nach.
"Du nimmst 'Wator'?" fragte er dann. Sie nickte.
"Ja. Ist das schlimm?"
"Nein, es ist ein gutes Mittel. Jedoch, und verzeih mir bitte, daß ich das sage, reicht es nicht bis ganz unten. Auf deinen Schamlippen beginnt auch ein leichter Haarwuchs."
"Verstehe." Sie zog ihre Knie an und ließ sie weit nach außen fallen. "So besser?"
"Ja. Ich danke dir."
Monika schaute mit leuchtenden Augen auf Justines weit geöffnete Scheide, dann zu Ians weichem Penis, der gemütlich auf seinem Oberschenkel ruhte, und wieder zu Justines Unterleib. Der Gedanke, daß in wenigen Minuten sie dort liegen würde, auch mit geöffneten Beinen, verursachte ein leichtes Schamgefühl und ein sehr starkes Kribbeln im Unterleib, wie bei der Toilette, als sie so ohne Vorwarnung gewaschen und getrocknet worden war.
Bei Justine dauerte es fast neun Minuten, dann waren sämtliche Haare entfernt. Mit vor Glück feuchten Augen stand sie auf und musterte sich im Spiegel, während Monika sich bereitmachte.
"Gefällt es dir?" fragte Marion leise. Justine nickte.
"Ja. So wollte ich das schon immer haben. Meine Partnerin hat schon keine Haare mehr, aber sie hat sehr viel Geduld mit mir. Auch deswegen liebe ich sie."
"Darf ich dir eine Frage stellen, Justine?"
"Sicher!"
"Wenn du eine Partnerin hast oder einen Partner, darfst du dann trotzdem andere Menschen umarmen und küssen?"
"Selbstverständlich!" Justine sah sie ernst an. "Sex ist frei. Darf ich ganz offen reden, Marion?"
"Ich bitte darum", schmunzelte Marion.
"Nun ja, ihr kommt aus einer anderen Zeit, von der ich so gut wie nichts weiß, und vielleicht wähle ich die falschen Worte... Sagen wir so: auch wenn ich täglich mit hundert Frauen schlafen würde, würde das meine Liebe zu Nai - meine Partnerin - überhaupt nicht berühren. Ich mag sehr viele Menschen, junge Mädchen bis reife Frauen, aber Nai liebe ich, und daran wird sich auch nichts ändern."
"Verstehe. Und deine Nai sieht das genauso?"
"Sie ist nicht meine Nai", sagte Justine langsam. "Niemand gehört einem anderen Menschen. Wenn ich 'meine Partnerin' sage, dann bedeutet daß, es ist die Partnerin, mit der ich zusammenlebe, aber 'meine Nai' würde bedeuten, daß Nai mir gehört, und das ist unmöglich. Niemand gehört einem anderen Menschen." Sie lächelte Marion schüchtern an.
"Die offizielle Formulierung lautet: 'Der Mensch, mit dem ich zusammenlebe', aber das ist für ein normales Gespräch viel zu lang, deswegen hat sich 'meine Partnerin' oder 'mein Partner' eingebürgert. Das wird von allen akzeptiert, drückt aber keinen Besitz aus. Denn niemand kann einem anderen Menschen gehören oder einen anderen Menschen besitzen."
"Ich verstehe. Justine, das, was du mir gesagt hast, hat mir geholfen, viel von dieser Zeit zu verstehen. Ich würde dich gerne umarmen, um mich zu bedanken."
"Und ich würde dir gerne einen Kuß geben, um mich zu bedanken", lächelte Justine. "Du hast mir einen Traum geschenkt, den ich mir erst in mehr als vier Monaten hätte erfüllen können."
"Dann komm her", grinste Marion. "Zahlen wir unsere Schulden."
Justine sah sie einen Moment verwirrt an, dann zog ein Lachen über ihr Gesicht. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um der großen Marion etwas entgegenzukommen, dann küßten sich die beiden Mädchen zärtlich, mit geschlossenen Lippen. Monika sah gebannt zu, wie die beiden sich leicht im Rücken streichelten.
"Ruf mich mal an, wenn du möchtest", sagte Justine nach dem Kuß. "Kennst du das IS?"
"Äh - nein. Was ist das?"
"Unser Informationssystem. Wenn du das einschaltest, hast du mehrere Optionen. Drücke auf 'Kontakt', dann auf 'Persönlich', dann nenne meinen Namen. Justine 2X93B. Dieser Code unterscheidet mich von allen anderen Justines und sorgt dafür, daß dein Anruf mich immer erreicht, wo ich auch gerade bin. Und vielleicht möchtest du mich mal besuchen."
"Das werde ich ganz bestimmt tun." Marion strich ihr zärtlich durch die struppigen Haare. Gleichzeitig ließ Justine ihre Fingerspitzen sanft über Marions Brüste gleiten, was Marion einen angenehmen Schauer verursachte. Im Gegensatz zu ihren Freunden von früher spürte sie nicht die geringste Angst, und sie wußte im gleichen Moment, woher das kam. Bei ihren Freunden war sie sich nie sicher gewesen, ob sie nicht vielleicht doch die Kontrolle über sich verlieren würden. Hier, in dieser Zeit, war das vollkommen ausgeschlossen.
Jetzt blieb nur noch eine einzige Frage offen...
"Ich danke dir noch einmal, Justine." Sie drückte das Mädchen herzlich an sich. "Du hast mir wirklich sehr geholfen."
"Ich bin froh, wenn du froh bist." Justine schaute mit leuchtenden Augen zu ihr hoch. Und aufgrund dieses einen Satzes verstand Marion plötzlich wieder etwas mehr von dieser Zeit.
"Fertig!" Monika kam zu ihnen. "Fühlt sich komisch an. Bei dir auch?"
"Etwas fremd", lächelte Marion schief. "Tut dir was weh?"
"Nö. Dir?"
"Nein." Marion beugte sich zu ihrer Tasche, in der ihre Einkäufe waren, holte den silbernen Dreistrahl heraus und legte ihn an. Ian hielt sich diskret im Hintergrund.
"Das sieht jetzt viel besser aus", strahlte Justine.
"Da gebe ich dir recht." Marion musterte sich im Spiegel. Ihr ganzer Leib kribbelte vor Erregung bei dem Gedanken, so nach draußen zu gehen.
"Justine?" fragte Monika. "Sag mal, wo gibt es diesen - diesen Stoff, den du trägst?"
"Etwa zweihundert Meter weiter", erklärte Justine. "Wenn ihr dieses Geschäft verlaßt, wendet euch nach links und bleibt auf dieser Seite des Platzes. Dann kommt ihr genau da hin. Das Geschäft heißt Lombardt. Dort findet ihr auch sehr viele andere Sachen aus Stoff. Unser Geschäft hat nur Kleidung aus Kunststoffen."
"Irre!" Monikas Augen leuchteten. "Wie lange braucht man eigentlich, um alle Geschäfte zu kennen?"
"Das lernst du alles in der Schule." Justine sah sie fragend an. "Warst du noch nicht in der Schule?"
"Wir fangen morgen an", erklärte Marion. "Wir sind erst heute morgen aus dem - aus Zentral 49 entlassen worden."
"Entschuldigt." Justine blickte verlegen zu Boden. "Das wußte ich nicht."
"Schon okay." Diesmal umarmte Monika das Mädchen, küßte es erst auf beide Wangen, dann auf den Mund. "Das konntest du doch auch nicht wissen."
"Ihr seid sehr nett!" strahlte Justine glücklich. "Kann ich euch noch etwas zeigen? Wollt ihr noch etwas wissen?"
"Du kannst uns was zeigen, wenn wir dich besuchen", flüsterte Marion grinsend. "Einverstanden?"
"O ja!" Justine sah aus, als würde sie gleich abheben vor Glück. "Darf Nai mitmachen?"
"Selbstverständlich. Nai", sagte sie zu Monika, "ist Justines Partnerin." Monika nickte verstehend.
"Wir lernen erst mal die Grundlagen eurer Zeit", versprach Marion, "und dann rufen wir dich an. Versprochen."
"Ich kann es nur schwer abwarten", lächelte Justine. Sie nahm sich ihre Toga, wickelte sie sich um den Bauch und verknotete sie so, daß die beiden Enden an ihren Hüften herabhingen. Brust, Unterleib und Po blieben sichtbar.
"Nun zurück an deine Arbeit", lächelte Marion. "Dein Bett will verdient werden."
"Ich werde es mit euch einweihen", versprach Justine mit fast schon heiligem Ernst. "Ihr habt mir ein so großes Geschenk gemacht, daß dies das Geringste ist, womit ich mich erkenntlich zeigen kann." Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und lief hinaus.
"Was war das denn jetzt?" fragte Monika erstaunt.
"Sie ist gerührt." Ian sah die beiden Mädchen an. "Sie ist so gerührt, daß sie nicht wollte, daß ihr ihre Tränen seht. Es bedeutet ihr wohl sehr viel, was ihr für sie getan habt. Ihr kommt aus der Vergangenheit? Verzeiht meine Neugier, aber euer Gespräch war nicht zu überhören."
"Schon in Ordnung", lachte Marion. "Ja. Wir waren 75 Jahre im Eis, nach einem sehr schweren Unfall."
"75 Jahre!" Ian starrte sie fast erschrocken an. "Dann müßt ihr sehr schwer verletzt worden sein. Soweit ich weiß, konnten alle Organe und Knochen schon um 2040 wieder regeneriert werden."
"Richtig." Marion nickte leicht. "Aber das Gehirn erst seit 2070, und da haben wir auch jede Menge abbekommen. Durch den Unfall wurden Knochensplitter tief in das Gehirn gedrückt. Es waren sehr wichtige Zentren verletzt worden."
"Mein Bedauern gehört euch", sagte Ian ernst, "wie auch meine Glückwünsche, daß ihr heute zwei sehr hübsche junge Frauen seid."
"Danke." Marion wurde tatsächlich wieder etwas rot. "Dann mal auf zur Kasse. Ian, darf ich eine Frage stellen?"
"Sicher."
"Warum ist das hier so teuer? Ich meine, im Vergleich zu allem anderen, was es so gibt?"
Ian nickte. "Der normale Preis für diese Behandlung beträgt 7 Euro. Das ist gut eine Stunde Arbeit, also kann es sich wirklich jeder leisten, selbst Schulkinder. Ich bin deswegen so teuer, weil von dem Geld, was ich dafür nehme, 90% nach Afrika gehen. Ich unterstütze ein Projekt, das die Wüste in fruchtbaren Boden umwandelt. Ihr wißt, daß die Sahara sich jedes Jahr um ein ganzes Stück ausdehnt? Nein? Ist aber leider so. Sie hatte vor etwa fünf Jahren schon begonnen, bewohntes Gebiet zu gefährden. Da Afrika von den Weißen keine Hilfe annimmt und schon gar keine Almosen, wie sie es nennen, wurde ein Projekt ins Leben gerufen, daß erstens die Sahara bremst und zweitens, als Ausgleich gewissermaßen, eine Universität in Casablanca unterstützt, auf der Weiße und Schwarze gemeinsam studieren. Noch ist auf beiden Seiten großes Mißtrauen wegen der Vergangenheit, aber mit jedem Jahr wird es besser. Die erste Institution überhaupt seit der Jahrtausendwende, in der Schwarz und Weiß zusammen sind, und derzeit die einzige afrikanische Stadt, in der Weiße erlaubt sind. Mein Beitrag dazu ist nur klein, aber jeder Cent hilft." Er lächelte entschuldigend.
"Es gibt noch ein weiteres Geschäft, knapp siebenhundert Meter von hier, das die Schamhaare entfernt, zum normalen Preis. Vorne an meiner Tür hängt das Symbol eines Kopfes, zur Hälfte schwarz, zur Hälfte weiß. Das ist das Zeichen für Geschäfte, die neben den Basisleistungen auch andere Leistungen anbieten, sich diese aber sehr teuer bezahlen lassen, weil sie eben dieses oder ein anderes Projekt in Afrika unterstützen. Die Weißen haben in meinen Augen eine hohe Schuld an den Schwarzen zu bezahlen. Aber das ist nur meine ganz persönliche Ansicht. Bitte verzeiht, wenn sie euren Ansichten widerspricht. Falls ihr dies nicht wußtet oder nicht unterstützt, werdet ihr nur den normalen Preis zahlen."
"Auf keinen Fall!" erwiderte Monika ernst. "Ich hab mich auch immer darüber aufgeregt, daß Weiß und Schwarz da unten so ein Theater gemacht haben. Ich meine, beide können doch weinen und sich freuen, oder? Beide haben doch Gefühle!"
"Völlig richtig." Ian lächelte ihr zu. "Heute weiß das auch jeder Mensch in Europa, aber vor hundert Jahren... Nun, das ist ja wohl kaum eure Schuld, wie ich sehe."
Marion bezahlte, auch für Monika, dann gingen sie langsam über den Platz und sahen sich um. Monika trug den schimmernden Streifen auf der Scham und das gelbe Stirnband, Marion ihren silbernen Dreistrahl und ebenfalls ein gelbes Band um die Stirn.
"Ich dachte eigentlich, ich müßte tot umfallen, wenn ich so auf die Straße gehe", kicherte Monika leise. "Aber uns sieht ja kaum einer an!"
"Meinst du?" schmunzelte Marion. "Ich sehe da zwei Jungs von etwa 16, die dich sehr sehnsüchtig anstarren."
"Echt? Wo?" Aufgeregt drehte Monika ihren Kopf und entdeckte die beiden, die langsam hinter ihnen hergingen. Ihre Blicke waren in der Tat sehr sehnsüchtig.
"Wow!" flüsterte Monika. "Bei mir kribbelt schon wieder alles!"
"Gedulde dich noch etwas", bat Marion sie. "Ich möchte Valentin noch etwas fragen, bevor... Du weißt schon."
"Was denn fragen?"
"Ob wir auch dieses Gen bekommen haben. Bevor ich das nicht ganz sicher weiß, lege ich mein Stirnband nicht ab."
"Wär wohl besser", stimmte Monika zögernd zu. "Aber andererseits... Ich hätte vor einer Woche meine Tage bekommen sollen, aber sie kamen nicht. Kann natürlich auch daran liegen, daß wir so lange eingefroren waren, aber..."
"Aber." Marion nickte. "Du sagst es. Wir sollten es wirklich genau wissen."
"Hast recht." Monika schmiegte sich an Marion, die ihren Arm um ihre Schwester legte.
"Wie gefällt es dir hier?" fragte Marion leise. "Ganz ehrlich, Moni."
"Ganz ehrlich?" Monika schaute sich kurz um. "Ich find's toll. Einmal, wie in den Geschäften mit uns geredet wird. Dann, wie die Leute hier überhaupt miteinander umgehen. Alles so - so freundlich, und respektvoll. Nirgendwo 'Kauf doch dies!' oder 'Kauf doch das!'. Kein Geschrei. Kein Streit. Ich habe hier noch keinen einzigen Streit gesehen. Kein Besoffener hängt zwischen den Bänken rum und lallt Unsinn. Keine Polizei, die ihren Gummiknüppel schwingt und die Knarre an der Seite hängen hat." Sie sah zu ihrer Schwester auf. "Es ist Frieden, Marion. Und dir?"
Marion lachte leise, aber fröhlich. "Ich habe versucht, das alles zu verstehen, was hier so passiert. Ging nicht. War alles zu fremd für mich. Vorhin, bevor wir gefahren sind, hat Valentin gesagt, ich solle spüren, was abgeht. Nicht verstehen, sondern spüren. So wie du es gerade gesagt hast, Moni. Du spürst den Frieden hier, ich habe versucht, ihn gedanklich zu verstehen." Sie seufzte glücklich.
"Mir gefällt es hier auch sehr gut. Sobald ich den Kopf abschalte, merke ich, wie ruhig es ist. Nein, ruhig ist es nicht. Die Menschen sind ja laut, aber sie lachen. Wenn es bei uns laut wurde, gab es fast immer Streit. Hier nicht. Hier sind sie laut, weil sie sich freuen. Guck den Leuten doch bloß mal in die Augen, Moni! Jeder einzelne lacht! Siehst du irgendwo Kummer oder Probleme?"
"Ja", grinste Monika. "Bei den beiden 16jährigen Jungs, die noch immer hinter uns her schleichen." Lachend drückte sie ihre große Schwester an sich.
In dem Stoffgeschäft wurden sie von einem 17jährigen Jungen begrüßt, der sie herumführte und ihnen wunderschöne Togen und Capes zeigte. Monika verliebte sich sofort in ein knallrotes Cape, das am Hals verknotet wurde und nur bis knapp zum Po reichte. Sie schnappte sich dies, und ein weiteres in Pink. Marion kaufte sich eine Toga, die sie gleich anlegte wie einen Schal. Der Stoff war so lang, daß die Enden sowohl ihren Po als auch die Scham bedeckten, aber beim Gehen öffnete sich der leichte Stoff und entblößte alles. Als Monika das sah, griff sie sich auch gleich eine davon.
Als sich herausstellte, daß diese Kleidungsstücke auch "Basisbedarf" waren, fielen die Mädchen fast aus allen Wolken. Jedoch gab es auch hier eine Abteilung mit kostenpflichtigen Stücken, und da waren dann die wirklich interessanten Sachen zu finden.
"Ist das schön!" hauchte Monika überwältigt. Sie hielt ein dunkelrotes Cape hoch, in dem Hologramme eingearbeitet waren, die Landschaften zeigten. Berge, Seen, Wälder. Der Schnitt des Capes war unglaublich. Es reichte fast um den ganzen Körper herum. Der Busen war frei, Bauch und Rücken bedeckt. Po und Scham waren wieder sichtbar, Oberschenkel wiederum verdeckt. In der Mitte blieb ein kleiner Schlitz frei, vom Hals bis ganz nach unten. Monika probierte es gleich an. Ihre Schwester nickte anerkennend.
"Unglaublich! Wie teuer ist das?"
"40 Cent."
"Warum frage ich überhaupt noch?" grinste Marion. "Moni, nimmst du eins für mich mit?"
"Klar! Rot oder Blau oder Grün oder..."
"Hmm... Mach Grün. Das paßt dann zu den anderen Sachen."
"Okay! Was hast du da?"
"Weiß ich noch nicht." Marion schaute auf eine Art Slip, der aber vorne und hinten nur zwei kleine Dreiecke aus Stoff hatte, mit einem Ring aus ganz feinem Stoff verbunden.
"Probier es an", lächelte Jonas, wie der Junge hieß. "Dann siehst du es."
"Na gut." Schnell stieg Marion in den Slip und sah.
"Ist das geil!" lachte sie fröhlich. Das vordere Dreieck flatterte kräftig auf und ab, obwohl es vollkommen windstill in dem Geschäft war. Das hintere benahm sich nicht ganz so wild.
"Es reagiert auf deine Körperwärme", lächelte Jonas. "Es wird von der Wärme abgestoßen und kühlt sich ab. Das geschieht so schnell, daß es flattert wie eine Fahne."
"Ist ja der reine Wahnsinn! Das kostet...?"
"13 Cent. Es gibt ein preiswerteres Modell für 8 Cent, das flattert aber nicht so stark." Sein Lächeln vertiefte sich. "Wenn du an dieser Stelle richtig heiß bist, steht das Dreieck vorne gerade in der Luft, damit es nicht im Weg ist, wenn der Mann in dich geht."
"Kapiert. Hinten auch?" konnte sie sich nicht verkneifen, zu fragen.
"Hinten auch. Allerdings ist die Hitze hinten nicht so groß, auch wenn du noch so erregt und geil bist. Vorne ist es deutlicher."
"Wer kann dazu schon Nein sagen?" grinste Marion. "Ist gekauft. Was ist das hier?" Sie deutete auf einen etwa vierzig Zentimeter langen und knapp fünf Zentimeter breiten Streifen Stoff.
"Darf ich?" Jonas nahm den Stoff und legte ihn vorsichtig auf Marions Brust. Erstaunt sah sie, wie der Stoff sich von ganz alleine fest um ihre Brust und die Seiten legte.
"Auch das reagiert auf deine Wärme. Es schmiegt sich um so fester an, je heißer deine Haut ist." Er lächelte schelmisch. "Wenn es abfällt, solltest du ganz schnell wieder ins Haus gehen und dich wärmen lassen."
"Klingt gut. Gekauft." Sie zog vorsichtig an dem Stoff, der sich nur widerstrebend, aber ohne große Kraft lösen ließ.
"Du kannst ihn überall tragen", erklärte Jonas noch. "Die meisten tragen es so auf der Brust, wie ich es dir gerade gezeigt habe, aber viele Männer legen es sich auf den Unterleib. Manche Frauen tragen zwei, über Kreuz, oder von jeder Brust nach unten. Das sieht auch sehr gut aus."
"Kann ich mir denken. Moni? Lebst du noch?"
"Ja-a!" Monika kam zu Marion, in der Hand ein paar Stücke Stoff. "Jonas, was ist das?"
"Darf ich?" Er nahm ihr die Sachen ab und wählte ein etwa sechzig Zentimeter langes und knapp zehn Zentimeter großes Stück, das an einem Ende in zwei Streifen überging. Er drückte das obere Ende zwischen Monikas kleine Brüste, dann strich er den Stoff glatt, bis die beiden unteren Enden auf ihre Oberschenkel deuteten.
"Geil!" jubelte Monika. "Wie teuer?"
"4 Cent."
"Du, kann man die Sachen auch kombinieren? Ich meine, diesen Streifen unter dem Cape tragen?"
"Aber sicher!" Jonas sah die Mädchen lächelnd an. "Es gibt keine Vorschriften, was wozu paßt. Tragt das, was euch gefällt, und wie es euch gefällt. Auch wenn es vielleicht etwas aufdringlich ist, aber darf ich euch trotzdem noch etwas zeigen?"
"Du bist nicht aufdringlich." Marion küßte ihn sanft auf die Wange. "Was möchtest du uns zeigen?"
"Das hier." Jonas brachte ihnen einen kleinen Korb mit vielen quadratischen Stücken Stoff, in Weiß. "Darf ich?"
Er nahm sich vier der Stücke und drückte sie sanft auf Monikas Brüste, den Bauch und die Scham. Dann wartete er.
Nach knapp zehn Sekunden begannen die Stoffe, sich sanft zu wellen, wie Wasser, das ruhig fließt. Gleichzeitig veränderte sich das Weiß zu einem sanften Rot.
"Wow!" flüsterte Monika überwältigt. "Das sieht geil aus! Und fühlt sich noch viel besser an!"
"Das ist für Ruhe gedacht", erklärte Jonas. "Wenn ihr euch ausruht, aber niemand da ist, der euch sanft verwöhnen könnte. Wenn euer Partner oder eure Partnerin zur Arbeit oder einkaufen ist. Es erregt nicht, es verwöhnt nur."
"Also mich erregt's!" gestand Monika mit schimmernden Augen. Jonas schaute sie fragend an.
"Das kann eigentlich nicht sein", meinte er erstaunt. "Jeder, der schon mal Sex hatte, wird davon nur verwöhnt, aber nicht erregt."
"Moni ist etwas aus der Übung", lächelte Marion. "Ist schon gut, Moni. Wie teuer sind die?"
"Vier Stücke kosten 3 Cent."
"Nehmen wir. Für mich auch vier, bitte."
Sie verbrachten noch weit über eine Stunde in diesem und einem weiteren Geschäft, dann erholten sie sich bei einem großen und sehr leckeren Eis.
"Jetzt kapiere ich auch, warum der Kleiderschrank nur kleine Fächer hat", meinte Marion nachdenklich, während sie einem Pärchen von knapp 20 Jahren zusah, das sich auf einer Bank vergnügte. Es war inzwischen für sie schon so normal, was hier auf den Plätzen geschah, daß sie es nur noch unbewußt wahrnahm.
"Kleine, aber davon jede Menge", stimmte Monika zu. "Oh, ist die niedlich!"
"Wer?" Marion folgte Monikas gebanntem Blick und sah ein junges Mädchen von 12, 13 Jahren, das fröhlich auf die Eisbar zukam. Sie hatte ganz volles, violett gefärbtes Haar, das sich bei jedem Schritt aufbauschte und wieder locker zusammenfiel. Sie trug eine violette Blume auf der Scham, eine kleine Tasche in der linken Hand, und ein bezauberndes Lächeln auf dem Gesicht.
"O ja!" stimmte Marion lächelnd zu. "Sie ist sehr hübsch. Schenk ihr doch einen Roller."
"Au ja!" Aufgeregt kramte Monika in ihrer Tüte. Gerade, als das Mädchen die Eisbar betreten und sich ein Glas mit hellblauer Limo besorgt hatte, hatte Monika eine der Kugeln in der Hand. Sie stand schnell auf und ging zu dem Mädchen, das sie strahlend anblickte.
"Ja? Kann ich was für dich tun?"
"Nein", lächelte Monika. "Ich - ich finde dich nur wahnsinnig süß, und deswegen - deswegen wollte ich dir das schenken." Sie drückte dem Mädchen die Murmel in die Hand.
"Danke!" Überrascht sah das Mädchen auf die Kugel, dann leuchteten ihre Augen auf.
"Ein Roller!" Aufgeregt rollte sie die Kugel um ihre linke Brust herum und ließ sie los. Fasziniert beobachtete Monika, wie die Kugel von alleine den Kreis wiederholte. Das Mädchen sah Monika aufgeregt an, dann erlosch die Freude in ihren Augen.
"Was ist?" fragte Monika verdutzt. "Hab ich was falsch gemacht?"
"Nein." Das Mädchen sah zu Boden. "Du trägst ein gelbes Stirnband."
"Das kann man ändern." Entschlossen riß sich Monika das Band herunter und drückte es ihrer grinsenden Schwester in die Hand. "So. Weg."
"Ich bin Mirna", sagte das Mädchen, das nun wieder aufgeregt lächelte.
"Ich heiße Moni. Ähm... Wir sind neu in der Stadt und kennen die ganzen Regeln noch nicht so genau. Wie man andere anspricht und so."
"Es wird mir ein Vergnügen sein, sie euch zu erklären", sagte Mirna höflich. "Wenn ihr die Zeit dafür habt, heißt das."
"Die haben wir." Marion klopfte auf den Sitz. "Setz dich doch zu uns, Mirna. Ich heiße Marion. Möchtest du auch ein Eis?"
"Ich habe gerade gegessen, vielen Dank. Aber die Freude eurer Gesellschaft nehme ich gerne an." Sie wartete, bis Monika sich hingesetzt hatte, dann nahm sie neben ihr Platz und stellte ihr Glas auf den Tisch.
"Ja, die Regeln... Wenn du mit jemandem schlafen möchtest, gehst du einfach auf ihn oder sie zu und fragst. Da gibt es keine bestimmten Worte für. Du kannst fragen: 'Wollen wir miteinander schlafen?', oder du kannst fragen: 'Würdest du mir die Freude machen, eine Weile deinen Körper genießen zu dürfen?' Wie ihr das fragt, liegt ganz bei euch." Sie lächelte Monika an.
"Du mußt mir nichts schenken, um mit mir zu schlafen. Das mußt du bei keinem. Geschenke sind etwas, was man Menschen macht, die man zu Freunden haben möchte. Oder die man sehr mag." Mit leichtem Bedauern legte sie den Roller vor Monika hin.
"Sex ist frei", führte sie ihre Erklärungen fort. "Wenn du Sex möchtest, geh einfach raus und frag. Wenn du Freunde haben möchtest, also Menschen, die dich besuchen oder die du besuchst, dann redest du erst mit ihnen. Wenn ihr euch sympathisch seid, werdet ihr Freunde. Ihr erkennt das Angebot einer Freundschaft entweder an kleinen Geschenken, oder daß euch jemand die eigene Codenummer für das IS mitteilt. Den Namen kennt jeder, aber der Code wird nur an Freunde gegeben. Oder an solche, die es werden sollen. Und wollen."
"Verstanden." Monika lächelte Mirna an. "Mirna, das ist ein Geschenk für dich, weil ich dich sehr nett finde." Sie legte den Roller zurück. Mirnas Augen leuchteten glücklich auf. "Ähm - Marion, was ist unsere Codenummer?"
"Das weiß ich nicht", gestand Marion. "Wenn ich das wüßte, hätte ich sie Justine schon gegeben."
"Seid ihr schon in einer Wohnung programmiert?" fragte Mirna hilfsbereit.
"Ja, warum?"
"Weil die Programmierung aus mehreren Teilen besteht. Eurem Namen mit Codenummer, eurem Geburtsdatum, eurem Wärmeparameter, und eurer Stimme." Sie legte ihre süße Stirn in Falten. "Von daher, verzeiht mir, müßtet ihr eigentlich euren Code wissen."
"Und Klick!" lachte Marion. "Klar! Moni, wir - wir haben unseren Nachnamen als Code! Todsicher!" Sie sah aufgeregt zu Mirna. "Kann man das irgendwie herausfinden?"
"Sicher! Im IS. Da vorne ist gleich eins." Sie deutete auf ein Gerät an der Wand. "Kennst du dich damit aus?"
"Noch nicht."
"Es ist ganz einfach. Es wird mir eine Freude sein, es euch zu erklären."
"Vielen Dank, Mirna." Marion lächelte das hübsche Mädchen herzlich an. "Sind alle Menschen so hilfsbereit wie du?"
"Aber ja!" erwiderte das Mädchen erstaunt. "Ihr braucht Hilfe, und wenn ihr die nicht bekommt, seid ihr unglücklich. Wenn ihr froh seid, bin ich auch froh. Euch glücklich zu machen, macht mich glücklich." Marion kannte Menschen, die diese Worte wie eine hohle Phrase klingen lassen konnten, aber bei Mirna kamen sie aus tiefstem Herzen. Ihr fielen Valeries Worte vom Nachmittag ein. Sie beschloß, den Sinn zu verwenden.
"Du erweiterst unser Wissen", sagte sie zu Mirna. "Dafür gehört dir unser Dank, Mirna." Sie kam sich zwar ziemlich aufgeblasen vor in diesem Moment, aber Mirnas glücklich strahlende Augen wischten dieses Gefühl sofort beiseite.
"Das Glück gehört mir", erwiderte das Mädchen. "Denn ihr erweitert mein Gefühl um Freude. Darf ich euch das IS erklären?"
"Sehr gerne."
Die Schwestern folgten Mirna zu dem Terminal, das in die Wand eingelassen war. Eine große Tastatur mit breiten Tasten ragte aus der Wand hervor.
"Ihr seht", begann Mirna, indem sie auf den Monitor zeigte, "mehrere Möglichkeiten. Kontakt. Auskunft. Arbeit. Wohnung. Einkauf. Und so weiter. Wenn ihr jemanden anrufen möchtet, legt den Finger auf 'Kontakt'." Sie tippte leicht auf das Feld. Das Bild änderte sich sofort.
"Nun seht ihr andere Möglichkeiten. Persönlich. Verzögert. Nachricht. Nachricht bedeutet, ihr hinterlaßt eine Information. Wenn ihr mich anrufen würdet, könntet ihr mir so Bescheid geben, wann wir uns wo treffen würden. Zum Beispiel. Verzögert kommt dann in Frage, wenn ihr erst mal eine Feststellung treffen möchtet, die aber noch nicht ganz sicher ist. Eine Verabredung zum Essen, zum Beispiel. Ihr könntet bei dem ersten Anruf sagen, wann wir essen gehen, und beim zweiten, wo. Das System baut daraus eine einzige Nachricht und leitet sie an mich weiter.
Wenn ihr mit jemandem sofort reden wollt, drückt auf 'Persönlich'." Sie tippte auf das Feld. "Nun könnt ihr entweder aus eurem eigenen Archiv eine Nummer wählen, oder den Namen mit Codenummer direkt sagen." Sie drehte sich zu den Mädchen um.
"Versuch es, Marion. Leg deine Hand auf die Platte, dann sag den Namen, den du anrufen möchtest."
"Okay." Mutig legte Marion ihre Hand auf das Gerät. Es blitzte kurz auf.
"Nun ist es bereit", erklärte Mirna.
"Also dann. Justine 2X93B", sagte sie in das Gerät. Sofort leuchtete eine Zeile auf: "Kontakt wird hergestellt". Sekunden später erschien Justines Gesicht auf dem Bildschirm.
"Marion!" Die Freude in ihrem Gesicht war überdeutlich. "Eine große Freude, dich zu sehen!"
"Hi, Justine. Ich hoffe, ich störe dich nicht bei deiner Arbeit."
"Nein, überhaupt nicht. Ich habe einen Kunden, der genau weiß, was er will." Sie kicherte fröhlich. "Aber ich will nicht, und deswegen schaut er sich nun alleine um. Was kann ich für dich tun?"
"Ähm - Moni hat ein süßes Mädchen kennengelernt, das uns gerade das IS erklärt. Ich habe es mal ausprobiert."
"Und da rufst du mich an?" Justines Gesicht wurde ganz weich. "Dein erster Anruf in dieser Zeit ist für mich! Marion, du schenkst mir sehr große Freude!"
"Durch deine Hilfe und Worte hast du uns auch sehr große Freude geschenkt", sagte Marion zärtlich. "Justine, wir probieren gerade aus, was Monis und meine Codenummer ist. Wenn wir das genau wissen, kann ich dich dann wieder anrufen?"
"Ich warte mit Ungeduld darauf, deine Stimme wiederzuhören", erwiderte Justine aufgeregt. "Hat das Mädchen euch schon das Archiv erklärt?"
"Wollte ich gleich." Mirna schob sich ins Bild. "Hallo, Justine."
"Mirna!" Justine überschlug sich fast vor Freude. "Trägst du noch die Blume?"
"Sicher!" lachte das Mädchen. "Du hast sie mir so schön angebracht, daß ich sie gar nicht mehr ablegen möchte."
"Ich werde dir gerne beim Abnehmen helfen", lächelte Justine verschmitzt. "Und beim Anlegen. Oh! Verzeiht mir, ich werde gebraucht. Mirna, es war schön, noch einmal mit dir zu reden. Marion, meine Gedanken sind bei dir. Viel Freude!"
"Dir auch!" Das Bild wurde dunkel.
"Jetzt probier uns mal!" meinte Monika aufgeregt.
"Na gut. Monika Linke", sagte Marion deutlich. Sofort piepste es auf der anderen Seite der Wand, und eine Stimme sagte: "Monika, ein Anruf von Marion. Monika, ein Anruf von Marion". Monika und Mirna liefen schnell zu dem zweiten IS hinüber, dann sah Marion das Gesicht ihrer Schwester auf dem Bildschirm.
"Das ist es!" strahlte die 12jährige. "Mirna, ist der Knopf da unten zum - Auflegen oder Beenden oder so?"
"Ja. Marion? Drückst du mal den Knopf ganz unten? Den breiten?" Marion drückte darauf, und Monikas Gesicht verschwand. Sekunden später wurde der Monitor wieder hell und zeigte Monikas Gesicht.
"Ich hab jetzt dich angerufen!" strahlte das Mädchen.
"Also scheint das zu klappen. Prima!"
Die Mädchen beendeten ihren Test und versammelten sich wieder vor einem Gerät.
"Das Archiv", erklärte Mirna, "sammelt eure Freunde. Ihr könnt sie alle dort eintragen." Sie lächelte schüchtern. "Normalerweise zeigt man das keinem anderen Menschen, weil die Codes eben nur an Freunde gegeben werden, aber ihr seid neu, und ihr müßt das lernen." Sie tippte kurz auf den Monitor, legte ihre Hand auf die Platte und tippte auf 'Archiv'. Staunend sah Monika auf eine ganze Latte von Namen.
"Hier unten", erklärte das Mädchen, "seht ihr 'Neu', 'Ändern', 'Löschen'. Neue Kontakte werden ganz einfach eingegeben." Sie tippte auf 'Neu', dann sagte sie Monikas vollständigen Namen. Sofort erschien er in der Liste, an der richtigen Stelle, sortiert nach dem Vornamen.
"Ändern muß man nur wenig. Diese Option kommt noch aus der Zeit, als der Name anhand der Adresse bestimmt wurde. Heute ist es so, daß das IS jederzeit weiß, wo wer ist oder wohnt. Das wird anhand eurer Wärmeparameter festgestellt. Wenn ihr von einem IS zum nächsten geht, wird diese Information festgehalten, und ein Anruf für euch kommt immer auf dem IS an, in dessen Nähe ihr seid. Wenn ihr direkt davor steht, geht es sofort an, ansonsten piepst es und sagt euren Namen sowie den Namen des Anrufers. Dessen Bild wird noch zusätzlich gezeigt, um Verwechslungen auszuschließen." Nun verstand Marion.
 

 

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