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"Löschen ist nicht so endgültig, wie es klingt", lächelte Mirna. "Es wird benutzt, wenn Freundschaften beendet werden, kann aber durch 'Neu' jederzeit wieder rückgängig gemacht werden. Moni? Willst du mal probieren?"
"Ja." Eifrig tippte das Mädchen, bis sie in ihrem Archiv war.
"Mirna A066C", sagte Mirna. Monika wiederholte Namen und Code, dann hatte sie ihre erste Freundin gespeichert. Aufgekratzt wirbelte sie herum und drückte Mirna stürmisch.
"Ich würde dich gerne küssen", sagte Mirna mit schimmernden Augen. "Aber nicht direkt vor dem IS. Dadurch behindern wir andere Menschen."
"Dann gehen wir zu unserem Tisch." Monika nahm Mirna an die Hand. Marion sah ihnen lächelnd zu und folgte wesentlich langsamer.
Mirna und Monika setzten sich, dann legte Mirna ihre Hände an Monikas Wangen und küßte sie ausgiebig. Erstaunt bemerkte Marion, wie sanft und zärtlich sie war. Und Monika schien es ausnehmend gut zu gefallen; ihre Hände legten sich leicht auf Mirnas kleine Brüste.
"Ihr seid nicht aus unserer Zeit?" fragte Mirna zögernd nach dem Kuß.
"Nein. Wir hatten einen bösen Unfall, vor 76 Jahren. Wir waren 75 Jahre tiefgefroren und sind erst heute aus dem Krankenhaus gekommen."
"75 Jahre!" Mirna holte erschrocken Luft. "Ihr seid das!"
"Wer sind wir?" fragte Marion, die sich inzwischen gesetzt hatte.
"Ihr!" Sie atmete tief ein. "Verzeiht meine Aufregung. Ich werde nächste Woche die Schule beenden und dann eine Ausbildung als Historikerin machen. Ich habe schon gehört, daß zwei Menschen sehr lange im Tiefschlaf waren, aber ich hätte nie gedacht, euch einfach so über den Weg zu laufen!"
"Du möchtest Historikerin werden?" fragte Marion erstaunt.
"Aber ja!" gab Mirna ebenso erstaunt zurück. "In der Vergangenheit wurden sehr viele Fehler gemacht, und je mehr wir über die Vergangenheit wissen, um so leichter fällt es uns, diese Fehler zu vermeiden."
Marion preschte vor. "Mirna, was bedeutet dir dieses Land?"
"Alles!" gab Mirna spontan zurück. "Ich lebe glücklich, jede Sekunde meines Lebens. Ich kann tun und lassen, was ich will. Ich liebe meine Eltern, sie lieben mich. Ich liebe meine Freunde, sie lieben mich. Ich bin voller Glück, und um mich herum ist alles voller Glück. Das war in eurer Zeit nicht so, wie ich schon weiß."
"Da hast du recht", stimmte Monika bedrückt zu. "Ich sag mal, wenn ich 12 Stunden am Tag wach war, dann war ich vielleicht zwei, höchstens drei Stunden wirklich glücklich."
"Ja, das habe ich auch von anderen schon so gehört." Mirna sah Monika mitfühlend an. "Wie gefällt es euch denn an eurem ersten Tag?"
"Bombig!" grinste Monika. "Es ist einfach geil hier!"
"Wo wir dich gerade hier haben", lächelte Marion. "Mirna, wie heißt diese Stadt überhaupt?"
"Und jetzt wird's schwierig", schmunzelte Mirna. "Darf ich euch Getränke holen? Das wird jetzt nämlich etwas dauern."
"Gerne."
Mirna sprang auf und kam kurz darauf mit zwei Gläsern zurück, die sie vor Marion und Monika stellte, dann setzte sie sich wieder.
"Es gibt keine Städtenamen mehr", begann sie. "Früher, also zu eurer Zeit, war dies hier Frankfurt. Heute ist es für uns einfach: Die Stadt." Sie lächelte, als Marion und Monika sie verblüfft ansahen.
"Ihr kennt unser Schulsystem schon gründlich? Nein? Gut. Pro Tag erhaltet ihr eine Stunde Unterricht. Das reicht völlig aus, um euch auf den späteren Beruf vorzubereiten und euch mit sämtlichen Grundlagen der heutigen Zivilisation vertraut zu machen. Bei manchen stellt sich aber schon sehr frühzeitig heraus, daß sie sich für ein bestimmtes Gebiet mehr interessieren als für andere, und dann haben diese Kinder die Möglichkeit, eine weitere Stunde pro Tag mit dem Lernen dieses Gebietes zu verbringen. Bei mir war es eben Geschichte." Sie lächelte entschuldigend.
"Ich kann das am besten erklären, wenn ich mich als Beispiel nehme. Denkt bitte nicht, daß ich mich als etwas Besonderes herausstellen möchte. Ich interessiere mich sehr für Geschichte, und deswegen lerne ich eine Stunde zusätzlich pro Tag Geschichte. Es ist ein Basiswissen, was ich da bekomme, das richtige Wissen kommt erst während meiner Ausbildung. Dieses Basiswissen dauert knapp vier Wochen, also etwa 20 Stunden.
Als die Städte nach der Jahrtausendwende aufhörten, zu existieren, wurde ein neues Regierungssystem eingeführt. Das kennt ihr schon? Prima. Im Zuge dieser ganzen Änderungen wurde aber auch herausgefunden, daß die früheren Städte eine sehr starke Bindung auf die Menschen, die dort lebten, ausübten. So war es für viele schwierig, ihre gewohnte Stadt zu verlassen und in einer anderen neu anzufangen. Deswegen wurde alle Städte im ersten Jahrzehnt nach dem gleichen Muster aufgebaut. In den Innenstädten die ganzen Geschäfte und der Handel sowie die Basiswohnungen, in den Randbezirken Wohnungen und Häuser, und schließlich Industrien und Landwirtschaft außerhalb. Dadurch, daß die Städte keine Namen mehr bekamen, konnten die Menschen nicht mehr sagen: 'Ich bin ein Berliner', sondern sie sagten: 'Ich bin ein Mensch'. Wo dieser Mensch wohnte, spielte keine Rolle mehr. Er wohnte in sich, und das war viel wichtiger als eine bestimmte Adresse.
Ihr könnt ohne Probleme im Innenland wohnen, in der Nähe der Berge, am Meer oder an einem See. Ihr werdet immer die gleiche Struktur vorfinden. Was sich unterscheidet, ist die Natur der Geschäfte in der Innenstadt, aber nicht, daß die Geschäfte alle in der Innenstadt sind, umgeben von großen Plätzen, auf denen die Menschen laufen können. Das ist in jeder Stadt gleich. Wo welche Geschäfte sind, erfahrt ihr im IS. Geht auf 'Auskunft', 'Geschäfte' und dann die Art des Geschäftes. Ihr bekommt einen Stadtplan, auf dem die Geschäfte aufleuchten. Dann sagt ihr dem Auto nur noch den Namen des Geschäftes, und es fährt euch dort hin. Auch das ist in allen Städten gleich.
Die Menschen eurer Zeit bezogen einen Teil ihrer Identität aus der Stadt, in der sie wohnten. Das kam aber von außen. Städte verändern sich, und somit verändert sich auch die Identität des Menschen. Manche konnten es nachvollziehen, andere nicht. Dadurch entstand Unzufriedenheit und Unglück. Da heute jeder Mensch in sich wohnt und die Wohnung oder das Haus nur die Hülle ist, wo der Körper sich ausruht, braucht der Mensch dieses Identitätsgefühl nicht mehr. Jeder heutige Mensch weiß, wer er ist. Wo er ist, spielt dabei keine Rolle."
Monika nickte verstehend, Marion schüttelte ungläubig den Kopf. "Das alles wurde in den ersten zehn Jahren herausgefunden?"
"Ja, Marion." Mirna sah sie ernst an. "Ich weiß noch nicht alles über die Hintergründe der Entstehung unserer Zeit, aber schon vieles. Dadurch, daß sich die späteren Diktatoren aller Länder zusammengesetzt haben, wurde sehr viel herausgefunden. Nicht nur über Politik, Wirtschaft und Gesetze, sondern weitaus mehr über den Menschen an sich. Nachdem klar war, warum Menschen andere umbringen oder quälen, konnte das auch abgestellt werden. Wenn du das aber nicht weißt, kannst du auch keine Gesellschaft aufbauen, in der das nicht mehr vorkommt."
"Was denkst du von der großen Säuberung?" fragte Marion leise.
"Ich bin sehr traurig, daß viele Menschen sterben mußten", flüsterte Mirna. "Aber ich würde heute mein Leben dafür geben, um unsere Gesellschaft so zu erhalten, wie sie ist. Ich habe Videos gesehen, wie Menschen in dem alten Osteuropa und Mittelamerika gefoltert wurden. Und warum sie gefoltert wurden. Aus reinem Spaß!" Ihre Augen wurden feucht. "Wie kann man bloß so wenig Achtung vor dem Leben eines anderen haben? Das möchte ich wissen. Deswegen werde ich Historikerin. Und wenn ich das weiß, werde ich meine ganze Kraft einsetzen, damit so etwas nie wieder passiert."
"Und das wird dein Beitrag für die heutige Gesellschaft werden?" fragte Monika bewegt.
"Ja, Moni. Ich weiß nicht, ob ich das erreiche, aber ich kann es zumindest versuchen. Viele arbeiten daran, und je mehr es werden, um so größer sind die Chancen, daß jemand es herausfindet."
"Ich muß mich bei dir entschuldigen", sagte Marion verlegen. "Bei dir und allen anderen, die sich damit beschäftigen. Mirna, ich dachte bis gerade eben, daß Historiker nur in der Vergangenheit leben. Aber das ist nicht so. Ihr erweckt die Vergangenheit zum Leben, um aus ihr zu lernen."
"Genau", lächelte Mirna. "Manche beschäftigen sich mit den Motiven der einzelnen Menschen. Andere mit den Strukturen von Handel und Wirtschaft. Andere mit dem Sinn der damaligen Gesetze. Wieder andere mit den Hierarchien von Politik. Jeder mit einem kleinen Teil. Gemeinsam werden wir ein gutes und vielleicht sogar treffendes Bild der Vergangenheit erstellen können."
"Weißt du denn auch, warum Sex heute so frei ist?" fragte Monika aufgeregt.
"Sicher." Mirna lächelte ihr zu. "Die Beziehungen in eurer Zeit waren alle, soweit ich das verstanden habe, auf Besitz ausgelegt. Wenn ein Mann und eine Frau zusammen waren, bedeutete das automatisch, daß sie sich 'besaßen'. Kein anderer durfte ihnen zu nahe kommen, und anfassen schon mal gar nicht. Das erzeugte Neid und Habgier." Sie grinste breit. "Dadurch, daß mein Körper allen zur Verfügung steht, die Lust darauf haben, entsteht kein Neid. Na gut", lachte sie plötzlich fröhlich. "Vielleicht bildet sich mal 'ne Schlange, wo einer zwanzig Minuten warten muß, bis er dran ist, aber dran kommt er." Auch Marion und Monika mußten bei dieser Vorstellung herzhaft lachen.
"Deswegen ist Sex frei. Es entsteht kein Neid und keine Habgier. Wie sagtet ihr früher noch? 'Haben will!' Das gibt es bei uns nicht mehr. Wer mag, kann meinen Körper benutzen, aber besitzen kann mich niemand. Will auch niemand mehr. Denn das würde bedeuten, daß auch der Besitzer meines Körpers von einem anderen in Besitz genommen werden kann, und da sperrt sich eben alles in uns. Freiheit bis zu deiner Freiheit. Das ist die Basis. Wo meine Freiheit die eines anderen Menschen einschränkt, muß sie aufhören." Sie lächelte Monika an. "Beantwortet das deine Frage?"
"Ja, absolut." Sie erwiderte Mirnas Blick. Marion stellte erstaunt fest, daß sich zwischen den beiden Mädchen etwas zu entwickeln begann, und noch bevor sie diesen Gedanken zu Ende gedacht hatte, lagen sie sich schon wieder in den Armen und küßten sich zärtlich.
'Da hol mich doch -', dachte sie grinsend. 'Aber warum nicht? Bei Justine und mir hat's ja auch ganz schön geknistert.'
Geduldig nippte sie an ihrem Getränk und schaute sich um. Die Eisbar war gut gefüllt, von Menschen jedes Alters. Dennoch waren mehr Kinder und - um den veralteten Ausdruck zu wählen - Jugendliche hier als Erwachsene. Viele redeten und lachten miteinander, manche küßten sich, so wie Monika und Mirna, aber keiner hatte Geschlechtsverkehr. Das wurde offensichtlich also wirklich auf den Plätzen oder daheim getan.
Noch während sie diese neue Welt auf sich wirken ließ, hörte sie eine künstliche Stimme ihren Namen rufen. "Marion, ein Anruf von Valentin. Marion, ein Anruf von Valentin."
Sie sprang auf und lief zu einem IS. Während sie näherkam, sah sie Valentins Bild in der oberen rechten Ecke, und als sie davor stand, füllte er den ganzen Bildschirm aus.
"Hallo!" lächelte er. "Kommt ihr klar?"
"Ja, total!" erwiderte sie begeistert. "Moni hat offenbar schon eine wirklich gute Freundin gefunden."
"Das freut mich", sagte Valentin herzlich. "Habt ihr das große Geheimnis der Codenummern schon entdeckt?"
"Haben wir", grinste Marion. "Obwohl es was gedauert hat, bis wir unsere wußten."
"Na ja", grinste Valentin verschmitzt. "Je mehr ihr selbst herausfindet, um so wohler fühlt ihr euch am Ende."
"Da hast du recht. Mirna - Monis Freundin - hat uns sehr viel von der Geschichte der Städte erzählt und uns das IS erklärt. Sie will übrigens auch Historikerin werden."
"Mirna?" fragte Valentin überrascht. "Mirna A066C?"
"Glaub ja. Doch, das ist sie. Kennst du sie?"
"Ich habe von ihr gehört. Sie will in die Psyche der Menschen aus der Vergangenheit eintauchen. Ihr Lehrer war nicht so ganz überzeugt, daß sie es schafft, aber sie hat die erste Hürde bereits locker genommen."
"Die Videos mit den Folterungen?" fragte Marion leise. Valentin nickte.
"Ja. Sie ist fest entschlossen, herauszufinden, warum Menschen andere Menschen quälen. Was Sadismus ist. Ich habe sie noch nicht persönlich kennengelernt, aber sie hat schon jetzt einen sehr guten Ruf. Sie ist genau, gewissenhaft, und zielstrebig." Er lächelte wieder. "Rechnet damit, daß sie euch zwei ausquetscht, noch schlimmer als ich."
Marion sah kurz zur Seite. "Im Moment quetscht sie Moni aus", lachte sie dann fröhlich. "Wörtlich gemeint."
"Und was meint Moni dazu?"
"Macht begeistert mit."
"Na prima! Soweit ich weiß, hat Mirna noch keinen Partner. Noch nicht mal einen in Aussicht. Aber darüber können wir uns nachher unterhalten. Marion, ich wollte eigentlich nur Bescheid sagen, daß Valerie und ich uns jetzt etwas zurückziehen, also sucht nicht zu sehr nach uns, wenn ihr nach Hause kommt."
"Machen wir", lächelte Marion. "Viel Spaß! Oder heißt das: viel Freude?"
"Beides gleich gut", lächelte Valentin. "Bis später!"
"Tschüß!"
Lächelnd ging Marion zu ihrem Tisch zurück. Mirna wühlte gerade an Monikas Scheide herum, und als Marion sich setzte, erbebte ihre Schwester stöhnend. Mirna hielt sie zärtlich im Arm und sah Marion an.
"Moni sagte, ihr hattet noch keinen Sex?"
"Richtig."
"Ich würde Moni gerne unterrichten." Sie lächelte scheu. "Ich weiß nicht sehr viel, nur das, was alle wissen, aber ich mag sie sehr. Es wäre mir eine Freude, mein Wissen mit ihr zu teilen. In eurer Zeit warst du für sie verantwortlich, nicht wahr? Deswegen frage ich zuerst dich."
"Ich habe nichts dagegen. Aber sag mal, Mirna, wie wird dieser - dieser Sexunterricht bei Menschen wie uns gemacht? Die aus der Vergangenheit kommen?"
"Fast so wie bei uns." Sie legte ihre Wange an Monikas Kopf und streichelte sie zärtlich. "Ihr seht erst einmal Filme darüber und lernt die Techniken. In der Theorie. Dann könnt ihr euch einen Lehrer suchen. Bei wem wohnt ihr, wenn ihr mir das verraten wollt?"
"Bei Valentin. Er ist auch Historiker."
Mirna hob überrascht die Augenbrauen. "Valentin! Ja, den kenne ich. Ich hab ihn schon öfter gesehen. Er kann euch sagen, wo es diese Lehrer gibt. Über diesen Bereich bin ich noch nicht informiert. Ihr werdet dann zwei oder drei Wochen bei dem Lehrer wohnen, und in der Zeit wird er euch alles beibringen, was heute so üblich ist." Sie drehte ihren Kopf zu Monika, die langsam wieder am Leben teilnahm, und küßte sie zärtlich.
"Boah!" seufzte Monika. "War das cool!"
"Hat es dir gefallen?" fragte Mirna leise. Monika nickte mit glänzenden Augen.
"Total! Wenn ich wüßte, was du da gemacht hast, könnte ich mich auf der Stelle revanchieren."
"Ich würde es dir gerne beibringen, wenn du mir das gestattest", sagte Mirna. Sie nahm eine dicke Strähne von Monikas langem Haar und spielte damit zwischen ihren Fingern, während ihre Augen Monika fixierten. "Etwas in dir spricht mich an", sagte sie leise. "Sehr sogar."
Monika wurde rot. "Das geht mir auch so", sagte sie leise. "Als ich dich vorhin gesehen hab, da - da..." Sie schluckte. "Ich weiß nicht, aber ich hatte das Gefühl, daß ich mich verknallt habe."
"Verknallt?"
"Verliebt", half Marion lächelnd aus. Mirna nickte mit leuchtenden Augen, ohne den Blick von Monika zu nehmen.
"Ja, so ähnlich ging mir das auch. Ich war etwas enttäuscht, als du mich nach den Regeln gefragt hattest, weil ich befürchtete, dich nicht wiederzusehen, wenn ich dir deine Frage beantwortet hatte, aber als du mir dann den Roller zum zweiten Mal geschenkt hast, da wuchs mein Gefühl für dich."
"Meins wächst jetzt gerade." Verlegen schmiegte Monika ihren Kopf an Mirnas Hals.
"Meins auch." Mirna atmete tief ein und aus. "Sehr stark. Moni, heute ist Mittwoch. Darf ich dich am Wochenende besuchen? Oder ist dein Wochenende schon geplant?"
"Nein." Monika sah Mirna mit feuchten Augen an. "Nichts geplant. Ich würde mich sehr freuen, wenn du kommst. Wann möchtest du kommen? Und wie lange?"
"Wie lange möchtest du mich bei dir haben?" Mirna fuhr mit ihren Fingern über Monikas Wange.
"Lange", hauchte Monika. "Darfst du woanders übernachten?"
"Sicher!" lächelte Mirna. "Ich sage meinen Eltern, wo ich bin, und dann darf ich auch übernachten. Ich darf sogar eine ganze Woche woanders schlafen, oder einen Monat. Sie müssen nur wissen, wo ich bin."
"Kannst du dann Freitag abend kommen?" Monika schaute Mirna sehnsüchtig an. "Und bis Sonntag bleiben?"
"Du beschenkst mich mit großer Freude!" Mirna umarmte Monika herzlich. "Ja, Moni! Ich komme Freitag abend und bleibe bis Sonntag."
"Du beschenkst mich!" erwiderte Monika. "Nicht nur mit Freude, sondern sogar mit Glück."
Mirna nickte mit etwas feuchten Augen, dann stand sie plötzlich auf. "Ich ruf dich heute abend an!" Sie rannte förmlich hinaus.
"Huch!" sagte Monika erschrocken. "Was hab ich denn jetzt gemacht?"
"Nichts." Marion nahm ihre Schwester in den Arm. "Das war wohl so wie bei Justine. Sie wollte nicht, daß du ihre Tränen siehst. Moni, sie ist auch schwer verschossen in dich."
Monika grinste verlegen. "Ich sagte doch, daß ich die jungen Dinger hier aussteche!"

* * *

Trotz der Warnung hatten Marion und Monika gebadet. Es hatte bei beiden nur etwas gebrannt, aber es war erträglich. Anschließend räumten sie ihre neuen Sachen in den Kleiderschrank, was ihnen ein Gefühl von Heimat gab, dann gingen sie in die Küche, um sich das Abendessen zuzubereiten. Mit den fertigen Broten setzten sie sich an die Bar und aßen in aller Ruhe, als Valentin und Valerie zu ihnen kamen. Marion stellte sofort fest, daß Valerie wie von innen heraus leuchtete, was ihre Befürchtungen, Valentin könnte sie zu etwas gezwungen haben, endgültig zerstreute.
Die beiden hatten sich gerade zu den Schwestern gesetzt, als eine Stimme aus dem Wohnzimmer kam. "Monika, ein Anruf von Mirna! Monika, ein Anruf von Mirna!"
Monika warf ihren Hocker um, als sie losrannte. Marion konnte ihn gerade noch auffangen, was ihr vor lauter Lachen aber auch schwerfiel. Valentins sprachloses Gesicht minderte ihr Lachen auch nicht gerade.
"Das scheint ja eine große Freundschaft zu sein", meinte er schließlich, als Marion sich wieder gefangen hatte.
"Wohl viel mehr", erwiderte Marion. "Valentin, ich konnte förmlich spüren, wie das zwischen den beiden gefunkt hat!"
"Gefunkt? Ach, du meinst: wie ihr Gefühl gegenseitig übergesprungen ist?"
"Genau. Mit einem Riesensatz!" Sie lächelte einen Moment versonnen, dann sah sie Valentin ernst an.
"Valentin, die Menschen hier sind alle unglaublich höflich, zuvorkommend und nett. Woher weiß ich, wann ich für einen Menschen mehr als nur Sympathie empfinde? Ich meine, ich hätte mich heute beinahe drei- oder viermal verliebt! An einem einzigen Tag!"
"Du merkst das", sagte Valerie. "Das merkst du ganz bestimmt, Marion. Du sagtest, du hättest dich beinahe verliebt. Das passiert mir auch täglich mehrmals. Aber richtig verliebt hab ich mich bisher nur einmal. In Valentin. Das spürst du. Glaub mir das." Sie sah Marion neugierig an. "In wen hättest du dich denn beinahe verliebt?"
"Ach", grinste Marion. "In eine Verkäuferin bei Peckers, in den Typ, der uns die Schamhaare weggelasert hat, dann in einen Mann, der mir auf dem Platz begegnet ist..."
"Ist doch schön!" lächelte Valerie herzlich. "Dann spürst du doch, daß du lebst und liebst!"
"Valerie meint, daß du auf diese Art am besten erkennen kannst, daß du lebendig bist", schmunzelte Valentin. "Diese Menschen haben Glück in dir ausgelöst, und du sehr wahrscheinlich auch in ihnen."
"Ja." Lächelnd dachte Marion an Justine. "Sehr wahrscheinlich."
Während die drei sich über Glück und Liebe unterhielten, war Monika ganz aufgeregt zum IS gerannt.
"Mirna!" Überglücklich schaute sie auf das Bild ihrer neuen Freundin.
"Moni!" sagte Mirna bewegt. "Hast du gebadet?"
"Ja. Sieht man das?"
"Deine Haare sind ganz anders", lächelte Mirna. "Moni, es tut mir sehr leid, daß ich vorhin so schnell gegangen bin. Mein Gefühl wurde zu stark, und darüber mußte ich erst einmal nachdenken."
"Nachdenken?" fragte Monika verwirrt. "Heißt das, du kommst nicht am Wochenende?"
"Doch." Mirna atmete tief ein und aus.
"Moni", sagte sie dann. "Ich war noch nie verliebt. Ich habe sehr viele Freunde und Freundinnen, aber verliebt war ich noch nie. Ich mußte darüber nachdenken, woher mein Gefühl für dich kommt. Ob du mich so faszinierst, weil du aus der Vergangenheit kommst, oder weil es ein Gefühl zwischen uns ist. Deswegen wollte ich dich auch erst am Wochenende wiedersehen." Sie lächelte dünn. "Verzeih meine Aufdringlichkeit, aber wie sieht es bei dir aus? Mit deinem Gefühl?"
"Chaotisch", grinste Monika. "Mirna, ich war auch noch nie verliebt. Bei uns - also in unserer Zeit - war das total unnormal, wenn sich ein Mädchen in ein anderes verliebt. Ich hab auf der Rückfahrt mit meiner Schwester darüber gesprochen. Sie hat sich auch beinahe in ein Mädchen verliebt, deswegen konnte sie das verstehen. Sie sagt, wenn ich liebe, dann liebe ich eben." Monika grinste etwas dümmlich. "Also liebe ich, auch wenn ich keine Ahnung habe, was jetzt kommt."
Mirnas Gesicht wurde weich. "Moni!" sagte sie zärtlich. "Willst du sagen, daß du mich liebst?"
"Glaube ja", flüsterte Monika. "Mirna, ich - ich weiß es wirklich nicht! Ich hab noch nie geliebt, aber in mir dreht sich alles. Gerade jetzt, wo ich dich sehe, ganz besonders stark. Ich wünschte, du könntest schon heute bei mir sein. Oder ich bei dir. Ist das aufdringlich?"
"Nein", lächelte Mirna glücklich. "Das ist ehrlich! Möchtest du zu mir kommen? Oder soll ich kommen? Ich kann mir den Wagen meiner Eltern leihen."
"Wir haben nur ein Auto", überlegte Monika. "Ich weiß nicht, ob Valentin den braucht."
"Dann komm ich zu dir", lachte Mirna aufgedreht. "Bis gleich!" Der Monitor wurde dunkel.
"Hey!" rief Monika verzweifelt. "Du weißt doch gar nicht, wo ich wohne! Valentin!" Sie sprintete zurück in die Küche.
"Was ist?" schmunzelte Valentin.
"Mirna!" sprudelte Monika heraus. "Sie will mich jetzt besuchen kommen, aber sie weiß doch gar nicht, wo wir wohnen!"
"Doch", lächelte Valentin. "Sie kennt deinen Namen, und den gibt sie an, wenn sie im Auto sitzt. Das Auto bringt sie bis vor die Tür hier. Sie muß nur noch klingeln."
"Uff!" Monika atmete erleichtert auf. "Dann ist ja gut. Ach so! Sie möchte gerne über das Wochenende hierher kommen. Geht das?"
"Sicher geht das, Moni. Mach dir darüber bitte keine Gedanken. Möchtest du sie auch mal besuchen?"
"Da haben wir drüber geredet, aber wir haben ja nur dein Auto."
"Nicht mehr lange", entschied Marion spontan. "Valentin, wie teuer ist so ein Wagen?"
"500 Euro."
"Kann Moni so einen alleine besitzen?"
"Ja, allerdings kann sie erst einen kaufen, wenn sie volljährig ist."
"Gut. Moni, morgen fahren wir Auto kaufen. Das Geld für deinen ziehe ich von deinem Konto ab."
"Marion!" Überglücklich drückte Monika ihre Schwester. "Du kaufst mir ein Auto?"
"Das sagte ich gerade." Lächelnd strich Marion ihr über das Haar. "Dann kannst du deine ganzen Freunde, von denen du bestimmt bald sehr viele haben wirst, auch besuchen, ohne mich ständig zu nerven."
"Ich liebe dich!" sagte Monika gerührt.
"Ich dich auch, Schwesterchen. Jetzt lauf und zieh dir was Hübsches an für Mirna."
"Bin schon weg!" Lachend flitzte sie davon.
"Ich fahre euch zwei dann morgen nach dem Mittagessen in die Stadt, wenn ihr einverstanden seid." Valentin sah Marion an. "Es gibt nur einen Autohandel. Das geht auch ziemlich schnell über die Bühne. Ab dann seid ihr wieder ein Stück mehr unabhängig."
"Fast." Marion sah ihn ernst an. "Valentin, haben Moni und ich auch dieses Gen bekommen?"
"Gegenfrage, dann werde ich deine beantworten. Möchtet ihr das haben?"
Marion überlegte kurz, dann nickte sie. "Ja. Ich will, und Moni auch, soweit ich das verstanden habe."
"Gut. Nein, ihr habt das nicht bekommen. Ihr habt eine Injektion bekommen, die eine Empfängnis für drei Monate aussetzt. Die Erfahrung hat gezeigt, daß drei Monate vollkommen ausreichend sind, bis Menschen eurer Zeit Fuß gefaßt haben und wissen, was sie tun. Wenn ihr euch für das Gen entscheidet, kann das jederzeit injiziert werden. Es gibt keine Komplikationen mit der anderen Injektion."
"Und ab wann wirkt das Gen?"
"Nach 24 Stunden ist die optimale Wirkung erreicht, und auf dem Stand bleibt es dann. Falls ihr euch für ein Kind entscheidet, geht ihr mit eurem Partner in die Klinik. Dort bekommt ihr eine zweite Injektion, die nach ebenfalls 24 Stunden die Wirkung des ersten Gens neutralisiert, und zwar für zwei Wochen. Gleichzeitig sorgt dieses zweite Gen für eine erhöhte Empfängnisbereitschaft bei der Frau und für eine höhere Anzahl an Samenzellen beim Mann. Dann werdet ihr mit eurem Partner in ein - eine Suite ziehen, wie ihr das früher nanntet, und euch dort tatkräftig um Nachwuchs bemühen. Wenn die Schwangerschaft eintritt, hält sich das erste Gen im Hintergrund, bis das Kind geboren ist. Dann nimmt es seine Arbeit wieder auf."
"Verstehe. Gut. Klingt ja doch vernünftiger, als ich erst gedacht habe." Sie grinste entschuldigend. "Dann noch etwas anderes. Mirna hat uns erzählt, daß bei Menschen wie uns der Sexunterricht anders abläuft. Sie sagte etwas von Lehrern, aber genau kannte sie sich da nicht aus."
"Richtig. Das wird sie gründlich kennenlernen, sobald sie Menschen wie euch bei sich aufnimmt. Ihr zwei werdet in den nächsten Wochen sehr viele Filme sehen, Marion. Über unsere Zivilisation, über unsere Gesetze in Bezug auf die Menschlichkeit, über unser Leben an sich. Nach dem Film stehe ich euch für Fragen zur Verfügung. Solltet ihr keine haben, werdet ihr raus in die Stadt fahren und dort alles nacherleben, was euch gezeigt wurde. Ihr redet mit Menschen und vergleicht deren Reaktion mit dem, was ihr im Film gesehen habt. Ihr werdet die kleinen Unterschiede in der Rede kennenlernen und somit vermeiden, andere Menschen unabsichtlich zu verletzen. Ihr werdet die Gesten und Mimiken kennenlernen. Und natürlich auch den Sex, wie er bei uns üblich ist.
Sobald ihr alles durch habt, werde ich euch mit einer Gruppe von Menschen bekannt machen. Den Lehrern für Sex. Ihr könnt euch mit denen in aller Ruhe unterhalten. Stundenlang. Tagelang. Irgendwann werdet ihr einen herausgefunden haben, der euch am meisten zusagt, und der wird dann die nächsten zwei Wochen mit euch verbringen. Ganz abgeschieden, in einer sehr gemütlichen Atmosphäre. Nach den zwei Wochen seid ihr fit für das Leben da draußen."
"Und das müssen wir alles mitmachen?" fragte Marion unschlüssig.
"Nein, Marion." Valentin rutschte zu ihr und nahm ihre Hände in seine.
"Marion, alles was ihr in den Filmen seht, wird euch helfen, unsere Zeit zu verstehen. Wie ich schon sagte, ihr könnt gerne versuchen, das alleine zu lernen. Ich bin sicher, daß ihr es schaffen werdet. Die Filme und die Aktivitäten danach beschleunigen den Vorgang des Verstehens nur ungemein. Sie sind kein Zwang, sondern nur eine Hilfe für Menschen deiner Zeit. Wie oft hast du dich heute entschuldigen müssen oder Entschuldigungen angenommen?"
Marion nickte bekümmert. "Sehr oft."
"Gut. Wenn du die Filme gesehen hast, wird das nicht mehr so oft passieren. Garantiert nicht. Beim Sex ist es genauso. Die Kinder lernen mit acht, neun Jahren ihren eigenen Körper und den des anderen Geschlechtes kennen. Gründlich. Während der vier Wochen, die die Kinder mit den Lehrern verbringen, lernen sie aber nicht nur Sex. Sie lernen, ihrem Partner die schönsten Gefühle zu bereiten, die der Körper hervorbringen kann. Es ist ein Training, Marion. Ein Training, bei dem du deinen eigenen Körper gründlich kennenlernst, und die Reaktionen auf bestimmte Berührungen. Und natürlich gilt das für deinen Lehrer auch. Tu mir bitte einen Gefallen, Marion. Ich werde ein Wort sagen, und du antwortest spontan mit dem ersten, was dir einfällt."
"Ich hasse dieses Spiel!" lachte Marion. "Fang an."
"Sex."
"Angst." Marion erschrak leicht vor ihrer eigenen Antwort. Valentin hingegen nickte nur leicht. "Valerie? Auto."
"Freunde."
"Wohnung?"
"Heim."
"Körper?"
"Vergnügen."
"Einkaufen?"
"Verschönern."
"Sex?"
"Freude."
"Danke, Valerie. Das ist der Unterschied, Marion. Valerie kennt ihren Körper in- und auswendig, und den des Mannes ebenfalls. Warum assoziierst du Sex mit Angst?"
Marion dachte sehr lange und intensiv darüber nach.
"Weil", sagte sie schließlich, "das in meiner Zeit so war, Valentin. Sex bedeutete Körperkontakt. Gefahr von AIDS. Ausliefern. Du wußtest nie, ob dein Freund nicht plötzlich durchdreht und Sex mit Gewalt von dir wollte, oder während des Sex irgendwelche unschönen Praktiken durchführen wollte. Es war immer ein großes Risiko dabei."
"Danke für deine ehrliche Antwort." Er drückte ihre Hände. "Das ist ein weiterer großer Unterschied zu unserer Zeit, Marion. Die Kinder lernen die Körper beider Geschlechter kennen. Sie wissen, wo es der Frau und dem Mann wehtun kann. Zusammen mit dem Schwerpunkt der Menschlichkeit ist damit das Risiko, was du angesprochen hast, ausgeschlossen. Die Freude, dem Partner oder der Partnerin das größtmögliche Vergnügen zu bereiten, ist eine der angenehmsten und schönsten Freuden unserer Zeit. Niemand wird sich auf dich legen und nur an sich denken, Marion. Im Gegenteil. Jeder Mann und jede Frau legt Wert darauf, daß es für dich wunderschön sein wird." Er lächelte breit. "Es ist doch nur fair, wenn du ihnen das gleiche Vergnügen bereitest, oder?"
"Mann!" lachte Marion mit roten Wangen. "Ja!"
"Na siehst du." Er zog ihren Kopf kurz an sich, rieb ihr über das Haar und ließ sie wieder los. "Dafür gibt es die Lehrer. Sie werden dir alles beibringen, was du wissen mußt. Wie gesagt: es ist ein Angebot, Marion. Du kannst es wahrnehmen oder ablehnen. Es haben einige Frauen aus eurer Zeit abgelehnt. Nach spätestens einem halben Jahr standen sie vor meiner Tür und haben mich angefleht, sie zu so einem Lehrer zu schicken. Ihre Sexpartner haben ihnen intensivste Höhepunkte geschenkt, aber sie wußten nicht, wie sie das bei ihren Partnern machen sollten."
Marion nickte nachdenklich. "So wie Moni vorhin." Sie erzählte Valentin kurz von der Eisbar. Er nickte.
"Ja. Mirna ist noch jung, aber sie weiß trotzdem schon, wie sie einem anderen Menschen einen starken Höhepunkt geben kann. Eben durch das, was sie während der Vorerziehung gelernt hat. Moni ist natürlich entschuldigt. Andererseits... Wenn ihr zwei draußen herumlauft und tragt kein Gelb, dann kann es euch passieren, daß eure Sexpartner euch etwas merkwürdig ansehen, wenn ihr nicht wißt, was ihr machen sollt."
"Schon klar. Was ist überhaupt aus AIDS geworden? Gibt es das noch?"
"Nein. Der letzte Aids-Kranke wurde 2026 geheilt. Die Krankheit ist vom Tisch, wie ihr sagt. Es gibt keinerlei Geschlechtskrankheiten mehr. Das Immunsystem der heutigen Menschen ist so robust wie nie zuvor. Schnupfen und Erkältungen sind so gut wie ausgerottet. Das liegt aber auch daran, weil zu eurer Zeit Krankheit mehr eine Flucht vor der Welt war als wirklich eine Krankheit."
"Ja, so eine Theorie habe ich schon mal gehört."
"Glaube ich. Inzwischen ist es keine Theorie mehr. Wie geht es deinem Kopf, Marion? Du hast sehr viel erlebt und erfahren heute."
"Der brummt", grinste Marion. "Aber es geht noch. Willst du mich ins Bett schicken?"
"Nein!" lachte Valentin. "Valerie? Möchtest du Marion erklären, wie sie bestimmte Geschäfte über das IS findet? Und wie sie ihr Bankkonto vom IS aus verwalten kann?"
"Klar!" Aufgeregt sprang Valerie auf. "Kommst du?"



Während Marion gerade die tieferen Geheimnisse des IS erkundete, traf Mirna ein. Monika hatte sich extra für sie hübsch gemacht: die Wegweiser zeigten von den Schultern zu ihren kleinen Brüsten, und vom Bauch und den Beinen zu ihrem Unterleib. Um ihre Brüste kreisten zwei Roller, auf ihre Scheide schimmerte ein durchsichtiger Streifen in leuchtenden Farben. Valentin öffnete Mirna, als sie geklingelt hatte, und gleichzeitig kam Monika die Treppe herunter. Beide Mädchen starrten sich überrascht an, denn Mirna hatte ein fast identisches Outfit angelegt, nur hatte sie einen intensiv leuchtenden violetten Streifen auf der Scheide, und ihr Roller fuhr zwischen den Brüsten auf und ab.
"Das spricht ja wohl für sich", schmunzelte Valentin. "Moni, möchtest du Mirna nicht Guten Abend sagen?"
"Mirna!" Monika flog die letzten Stufen hinunter und rannte auf Mirna zu. Die Mädchen prallten lachend zusammen, drückten, streichelten und küßten sich, dann entführte Monika ihre Freundin auf ihr Zimmer.
"Es kommt mir so vor, als würde Moni viel schneller mit dieser Zeit klarkommen als ich", sagte Marion nachdenklich.
"Weil sie spürt, und nicht denkt", lächelte Valentin. "Marion, in spätestens vier Wochen habt ihr den Unterricht beendet, dann wirst du auch so weit sein, daß du dich eingelebt hast. Du hast einen sehr guten Charakter und eine gute Menschenkenntnis, das allein würde schon ausreichen, daß du klarkommst."
"Danke", erwiderte Marion geschmeichelt. "Ich schaue mir jetzt mal die Unterlagen von unseren Eltern an, Valentin."
"Ist gut, Marion. Wenn du uns brauchst, wir sind hier unten."
"Okay."
Sie ging die Treppe hinauf und in das Zimmer, wo die Aufzeichnungen ihrer Eltern untergebracht waren. Mit bangem Herzen nahm sie einen dicken Umschlag in die Hand, der auf dem Tisch lag, und öffnete ihn. Sie fand ihre eigene Geburtsurkunde und die ihrer Schwester, der offensichtliche Beweis für ihr hohes Alter, wie Marion mit einem stillen Lächeln feststellte, ihren Ausweis und sehr viele Fotos von ihrer Familie, die sie schnell beiseite legte; dafür war sie noch nicht stark genug. Außerdem die letzten Schulzeugnisse, die keinen anderen Wert mehr außer der Erinnerung hatten.
Seufzend schaute sie auf die Fotos, dann schüttelte sie den Kopf. Sie steckte den Packen Bilder zurück in den Umschlag und ging wieder hinunter.
Unterdessen hatten Monika und Mirna es sich auf Monikas Bett bequem gemacht und redeten miteinander.
"Es gibt immer genug Häuser", sagte Mirna gerade. "Viele wohnen in der Nähe der Innenstadt, die Wohnungen sind ja auch Basiswohnungen. Nach letzter Statistik leben derzeit etwas über 31 Millionen Menschen in Deutschland, aber es gibt Wohnraum für mehr als 50 Millionen."
"Also muß ich mir keine Sorgen machen?" grinste Monika.
"Nein", lachte Mirna. "Wie sieht dein Traumhaus aus, Moni? Wie soll das sein?"
"Es soll an einem See stehen", überlegte Monika. "Daß man vom Garten aus den See sehen kann. Dann sollen viele Bäume im Garten sein. Es soll... Ja, mindestens vier Zimmer haben. Eins für Marion, eins für mich, und eins für Gäste. In dem vierten schlafen wir dann."
"So soll meins auch aussehen", erwiderte Mirna erstaunt. "Ich träume auch davon, an einem schönen See zu wohnen. Und abends mit meinem Partner oder meiner Partnerin im Garten zu liegen und zu schmusen."
"Das wäre bestimmt toll! Mirna, gibt es in dieser Zeit eigentlich Hobbys?"
"O ja! Es gibt alles, was du dir vorstellen kannst. An erster Stelle steht natürlich Sport, weil viele Menschen nur noch wenig arbeiten. Du kannst Theater spielen, du kannst malen oder singen, Musik machen oder Erzählungen schreiben, du kannst mit anderen zusammen Spiele spielen... Es gibt jede Menge Hobbys. Hattest du damals eins?"
"Ja." Monika lächelte schüchtern. "Ich hab mir immer gewünscht, mal Mode zu machen. Also Kleidung zu entwerfen. Ich hab ziemlich viele Entwürfe gemacht."
"Schön!" sagte Mirna bewundernd. "Mein Hobby war Theater, daher kenne ich noch viele Leute. Aber im Moment ist ein Umbruch im Gang. In mir. Die Vergangenheit nimmt mehr und mehr Zeit in Anspruch. Ich beschäftige mich schon jetzt vier Stunden am Tag damit." Sie lachte hell, was Monikas Herz doppelt so schnell schlagen ließ. "Meine Eltern machen sich schon Sorgen, wie das erst mal werden soll, wenn ich richtig arbeite. Aber mir macht's eben Spaß. Was hast du?" Sie sah Monika fragend an.
"Dich wahnsinnig lieb", flüsterte Monika. "Das hab ich gerade ganz deutlich gespürt."
"Ich dich auch, Moni." Mirna rutschte zu Monika und nahm sie in den Arm. "Deswegen wollte ich ja unbedingt, daß wir uns heute noch sehen. Das war sehr aufdringlich und unhöflich, aber mein Gefühl, dich zu sehen, war einfach stärker als alles andere."
"Ich bin glücklich, daß du hier bist." Monika drückte Mirna sanft auf das Bett und küßte sie zärtlich. "Sehr glücklich."
"Ich auch." Sie nahm Monika in den Arm und drückte sie an sich. "Moni, was magst du an mir?"
"Dich!" kam Monikas spontane Antwort. Überglücklich drückte Mirna sie stürmisch.
Während Mirna und Monika zärtlich miteinander schmusten, rief Marion Justine an, um ihr ihre Codenummer mitzuteilen. Sekunden nach der Meldung erschien Justines Gesicht auf dem Bildschirm.
"Marion!" Justine lachte fröhlich. "Du rufst mich noch einmal an?"
"Sagte ich doch. Bist du jetzt zu Hause?"
"Ja. Hast du deinen Code herausgefunden?"
"Habe ich. Marion Linke. Da wir aus der Vergangenheit kommen, gilt unser alter Nachname als Codenummer."
"Ich verstehe. Was passierte, wenn es noch eine Marion Linke gab? Oder kam das nicht vor?"
"Manchmal schon", schmunzelte Marion. "Dann gab es Probleme. Briefe wurden falsch zugestellt, Anrufe kamen falsch... All so was eben."
"Das kann heute alles nicht mehr passieren. Marion, ich möchte mich nicht aufdrängen, aber was machst du am Wochenende?"
"Bisher habe ich noch keine Pläne gemacht."
"Hättest du Interesse, daß Nai und ich dir etwas von der Stadt zeigen? Dich etwas herumführen?"
"Gerne!" erwiderte Marion dankbar. "Macht Nai das wirklich nichts aus?"
"Nein", sagte eine fremde Stimme, dann schob sich das lachende Gesicht eines 16jährigen Mädchens ins Bild. "Ich bin Nai, und mir macht das wirklich nichts aus."
"Hallo, Nai! Schön, dich kennenzulernen."
"Die Freude gehört mir. Du hast Justine ein sehr großes Geschenk gemacht, Marion. Und damit auch mir. Ihr und mein Dank gehören dir."
"Wenn Justine glücklich ist, bin ich glücklich", erwiderte Marion automatisch. Erst als die Worte heraus waren, erkannte sie, wie wahr sie waren.
"Und wenn sie glücklich ist, bin auch ich glücklich", erwiderte Nai herzlich. "Ich habe mich in eure Unterhaltung gedrängt. Bitte verzeih mir. Aber ich mußte mich einfach bei dir bedanken."
"Es gibt nichts zu verzeihen", lächelte Marion. "Ich würde mich gerne am Wochenende von euch herumführen lassen."
"Dann wird es so sein", freute Justine sich. "Wir rufen dich am - am Freitag abend an und machen einen Termin aus, wann wir uns treffen. Hast du ein Auto?"
"Ab morgen."
"Prima. Marion, dir gehört mein ganz besonderer Dank. Ich werde heute nacht von dir träumen."
"So wie ich von dir. Schlaft schön, ihr zwei."
"Später!" Justine grinste breit. "Nai will sich nämlich noch einmal ganz genau anschauen, ob Ian wirklich nichts übersehen hat."
"Dann wünsche ich euch beiden sehr viel Vergnügen." Marion zwinkerte ihr zu.
"Danke. Bald werden wir es mit dir teilen."
"Ich freue mich darauf." Marion gab dem Bild von Justine einen Kuß. "Schlaf schön, Justine."
"Du auch, Marion. Ich denke an dich."
"So wie ich an dich." Das Bild wurde dunkel.
Lächelnd ging Marion die Treppe hinauf und in ihr Zimmer. Aus dem Nebenraum hörte sie gedämpfte Unterhaltung. Sie klopfte leise an die Tür.
"Komm rein!" rief Monika munter. Marion öffnete und steckte ihren Kopf durch die Tür.
"Na, ihr zwei?"
"Na, du eine?" grinste Monika. "Komm zu uns."
Marion ging zu dem Bett, in dem Monika und Mirna lagen, Arm in Arm, bis zum Hals zugedeckt.
"Schläft Mirna hier?"
"Nein", antwortete Mirna traurig. "Mein Vater braucht das Auto morgen früh, deswegen muß ich heute abend wieder heim. Aber bis Mitternacht kann ich bleiben."
"Hat Monika noch nichts von der großen Überraschung erzählt?"
"Überraschung?" Mirna schüttelte den Kopf. "Nein. Was denn für eine?"
"Ich habe extra nichts davon gesagt!" Monika funkelte ihre Schwester an. "Eben weil's ja eine Überraschung werden sollte!"
"Verzeihung", grinste Marion. Sie fuhr Mirna kurz über das weiche Haar. "Also, Monika wird dich morgen wundervoll überraschen, Mirna. Ich geh ins Bett. Viel Freude, ihr zwei."
"Gute Nacht, Marion", sagte Mirna. "Danke, daß du nichts gegen mich hast."
"Warum sollte ich etwas gegen dich haben?" Überrascht sah Marion das Mädchen an. Mirna verzog kurz das Gesicht.
"Ich kenne ein paar Leute aus eurer Zeit", sagte sie leise. "Einige waren strikt dagegen, daß Mädchen und Mädchen sich verbinden. Oder Jungen und Jungen. Selbst nach dem Unterricht."
"Dazu gehöre ich nicht, Mirna", sagte Marion herzlich. "Wirklich nicht. Ich finde dich nett, und Monika empfindet sehr viel für dich. Das ist das, was zählt."
Mirna schlug das Oberbett zurück, setzte sich auf und umarmte Marion kräftig. Sie war wie Monika splitternackt, der ganze Schmuck lag auf dem Tisch neben dem Bett.
"Mein Dank gehört dir", flüsterte Mirna.
"Mach Moni glücklich", flüsterte Marion, "und du machst mich glücklich. Jetzt schmuse mit ihr. Die Zeit vergeht."
"Ja!" Erfreut ließ Mirna sich wieder fallen. Monika fing sie auf, zog mit der anderen Hand die Bettdecke über sich und drehte sich zu ihr.
"Nacht, Schwesterchen", murmelte sie, dann schloß sie ihre Augen und kuschelte sich an Mirna.
"Nacht, Moni. Nacht, Mirna. Komm gut heim."
"Nacht, Marion." Mirna sah Marion nach, bis sie in ihrem Zimmer verschwunden war.
"Deine Schwester ist sehr nett."
"Logisch", murmelte Monika. "Liegt alles in der Familie."
"Aha?" kicherte Mirna. "Hat sie das also von dir geerbt?"
"Genau." Auch Monika kicherte. "Mirna?"
"Ja, Moni?"
"Sag mal... Wie machen das zwei, wenn die Partner werden wollen?"
"Das geht einfach." Mirna küßte Monika zärtlich auf den Mund. "Erst mal kennen sie sich schon etwas und sind zusammen. Also richtig gute Freunde. Dann lieben sie sich natürlich noch. Wenn einer der Partner eine Wohnung oder ein Haus hat, fragt er den anderen, ob sie Partner werden wollen. Das ist alles."
"Aha. Müssen die eine Wohnung oder ein Haus haben?"
"Wär schon besser, weil sie dann gleich zusammen leben können. Oder sie wohnen in so einem großen Haus wie dem hier." Sie fuhr Monika zärtlich durch die Haare. "Und einer von beiden sollte schon einen Beruf haben. Man kann auch Partner werden, wenn beide noch zur Schule gehen, aber das ist dann nicht so gültig. Sie können dann weniger zusammen unternehmen, weil man für viele Dinge noch die Eltern fragen muß."
Plötzlich umarmte sie Monika kräftig. "Ich liebe dich auch, Moni. Ich hätte nie gedacht, daß ich so etwas am ersten Tag sagen könnte, aber das Gefühl ist in mir. Und es wird immer stärker!"
"Bei mir auch." Monika sah Mirna mit nassen Augen an. "Mirna, auch wenn das jetzt aufdringlich ist, aber ich muß das sagen! Ich kann es schon jetzt kaum ertragen, daß du gleich wieder weg bist. Ich möchte, daß wir zusammen sind. Immer. Ich liebe dich auch, Mirna."
"Ich möchte auch nicht fahren", flüsterte Mirna erstickt. "Aber das meinte ich gerade, Moni. Wir beide gehen noch zur Schule. Deswegen können wir nicht so viel unternehmen. Valentin braucht sein Auto, mein Vater braucht seins auch. Ich kann es mir leihen, aber morgens braucht er es nun mal." Sie drückte Monika innig an sich.
"Wenn ich gewußt hätte, wie stark mein Gefühl für dich wird, dann hätte ich ihn gebeten, mich herzubringen. Ich will auch nicht weg, aber ich muß. Mein Vater vertraut darauf, daß er morgen zur Arbeit fahren kann. Ich darf ihn nicht enttäuschen."
"Schon gut, ich verstehe das. Ehrlich, Mirna." Monika hatte sich wieder gefangen. "Sag, wann bist du immer so zu Hause?"
"Ab zwölf Uhr, wegen Mittagessen. Nachmittags bin ich viel in der Stadt, einfach nur laufen, oder im Institut, was nachforschen. Aber ab sechs, halb sieben bin ich immer zu Hause. Warum?"
"Nur so. Dann weiß ich, wann ich dich anrufen kann."
"Du kannst mich immer anrufen, Moni", flüsterte Mirna. "Deine Stimme schenkt mir Freude, und dein Lachen Glück."
"Ach, Mirna!" Monika drückte sie stürmisch. "Hätt' ich doch bloß auch schon die Schule hinter mir! Ich weiß nie, wie ich auf deine schönen Worte antworten soll!"
"Deine Augen tun es für dich", lächelte Mirna. "Denn sie geben mir das schönste aller Gefühle."
"Und deine Finger", flüsterte Monika, "schenken mir ein nie gekanntes Vergnügen. Bitte mach mir die Freude und teile dein Wissen mit mir, auf daß ich auch dir dieses Vergnügen bereiten kann. Mirna, deine Augen lächeln mich an und geben mir die Gewißheit, zu leben. Dein Mund sagt Worte, die mein Herz vor Freude springen lassen. Der köstliche Duft deiner Haut läßt mich wünschen, immer in deiner Nähe zu sein und dich zu schmecken, als wärst du eine wundervolle Speise, und die Wärme deiner Haut läßt mich hoffen, daß es bald kalt wird, damit wir Tag und Nacht aneinandergeschmiegt liegen und schmusen können."
"Moni!" Überwältigt sah Mirna Monika an. "Woher kennst du das alles?"
"Ich hab einfach aufgehört, darüber nachzudenken, was ich sagen soll", grinste Monika verlegen. "Da kam das plötzlich alles."
"Hast du dein Herz sprechen lassen?" fragte Mirna mit leuchtenden Augen.
"Ja." Monika versteckte ihr Gesicht an Mirnas Hals.
"Mein Herz ist zu voll zum Reden!" schluchzte Mirna. Sie warf sich auf Monika und küßte sie von oben bis unten ab, dann vergrub sie ihr Gesicht zwischen Monikas Beinen.

* * *

Der zweite Tag im Jahr 2074 brach an. Monika hatte sich inzwischen an die merkwürdige Toilette gewöhnt und konnte sie sogar genießen. Was sie jedoch nicht genoß, war das Gefühl der Leere. Mitten in der Nacht war sie zu ihrer Schwester gekommen, weil sie sich einfach zu einsam fühlte. Marion hatte sie gründlich in den Arm genommen und sie getröstet, bis sie eingeschlafen war. Entsprechend bedrückt kam Monika zum Frühstück herunter, doch die Aussicht auf die Schule, die ihr helfen würde, sich gleichwertig mit Mirna unterhalten zu können, und auf das neue Auto, das schon in wenigen Stunden gekauft werden würde, halfen ihr etwas auf die Beine.
Marion hingegen hatte, bis auf die kleine Störung durch Monika, die Marion allerdings in keinster Weise als Störung empfunden hatte, tief und fest geschlafen. In ihren Träumen wechselten sich Bilder ihrer Eltern mit Bildern von Justine und Bildern der Geschäfte und der Menschen ab. Nichts davon war jedoch belastend oder beängstigend, so daß sie, als sie aufwachte, fit war.
Nach dem Frühstück waren die Mädchen hellwach und aufnahmefähig. Valentin verließ mit ihnen das Haus und führte sie über eine kleine Treppe zu den Lernräumen in der ersten Ebene.
"Sie sind deshalb nicht mit dem übrigen Haus verbunden", erklärte er Marion auf ihre Frage hin, "damit die innere Trennung von Wohnung und Schule beibehalten wird. Experimente haben gezeigt, daß der Lernerfolg etwas niedriger liegt, wenn der Lernraum innerhalb der Wohnung liegt. Es ist eine psychologische Sache, die trotz ihrer offenbar gering einzuschätzenden Ursache eine unverhältnismäßig große Wirkung hat."
Die Lernräume waren ganz anders, als die Schwestern es sich vorgestellt hatten. Sie waren nur matt erleuchtet und hatten außer einem Sessel und einer kleinen Maschine mit vielen Knöpfen und Schaltern keine Möbel.
"Die Knöpfe, Hebel und Schalter sind für euch unwichtig", erklärte Valentin. "Sie sind für Spezialisierung gedacht. Das heißt, sie waren es. Die Programme, die hinter den Lernmaschinen stehen, sind inzwischen so weit modifiziert, daß sie aufgrund eures Interesses automatisch Vermerke machen, für welche Berufe ihr geeignet sein könntet."
"Wie bei Mirna?" fragte Monika aufgeregt.
"Wie bei Mirna", lächelte Valentin. "Bei euch kann das aber auch passieren. Ihr müßt eins verstehen, Kinder: in eurer Zeit war das Lernen in seiner Wirkung für die eigene Zukunft nur sehr schwer abzuschätzen. Ihr wußtet nicht, ob ihr all das, was ihr alles lerntet, jemals brauchen würdet. Das sorgte für ein Bremsen eurer Motivation. Hier ist es so, daß aufgrund eurer Reaktionen der Unterrichtsinhalt automatisch angepaßt wird, abgesehen von den Grundlagen natürlich. Ihr bekommt ein Basiswissen unserer Zeit, alles andere ist unvorhersehbar. Monika könnte zum Beispiel ein mathematisches Genie werden, obwohl sie sich bisher nie für Mathematik interessiert hat. Aber das kann auch daran gelegen haben, daß es ihr nie richtig erklärt wurde, wie faszinierend die Welt der Zahlen und Formeln sein kann."
"Hm!" Monika schaute ihn skeptisch an.
"War ja nur ein Beispiel", grinste Valentin. "Ich wollte damit nur ausdrücken, daß niemand vorhersehen kann, wo eure Interessen und Begabungen liegen. Nicht wirklich. Marion ist der Meinung, ihr würde das Reparieren von Motorrädern Spaß machen. Es kann ohne weiteres sein, daß die Lernmaschinen dies bestätigen, und damit würde Marion zu der Minderheit eurer Zeit gehören, die den Beruf hatte, der ihr zusagte. Es kann aber auch sein, daß sich herausstellt, daß sie das Talent für eine Ärztin hat. Oder für eine Chemikerin, die in fünf Jahren eine völlig neue Form von Lebensmitteln entdeckt. Niemand weiß das vorher, aber eins ist sicher, Kinder: die Lernmaschinen holen das Optimum für euer Leben aus euch heraus. Gründlicher und effektiver, als es jemals eine eurer alten Schulen getan hätte."
"Wie Lena?" fragte Marion.
"Ganz genau, Marion. Lena war in eurer Zeit auf einer Schule, die ihr einen Beruf als Ärztin niemals ermöglicht hätte. Dennoch war das Interesse und das Talent dazu in ihr. Nur die äußeren Umstände waren gegen sie. Den Lernmaschinen ist dieser 'soziale' Hintergrund vollkommen schnuppe, wie ihr sagt. Sie sahen nur, daß Lena dazu befähigt war, und haben sie entsprechend vorbereitet."
Marion ging langsam um die merkwürdige Maschine herum. Sie entdeckte eine Art Sturzhelm, vom dem eine irrsinnige Menge hauchfeiner Drähte zur Maschine ging. "Und wie läuft das ab?"
"Du setzt den Helm auf, setzt dich in den Sessel und entspannst dich. Dann siehst du einen Film. Das gesamte Wissen des Films wird per Induktion in dein Gehirn übertragen. Das bedeutet, daß winzige elektrische Felder die entsprechenden Gehirnzellen aktivieren und das Wissen übertragen. Ihr werdet während des Films merken, wie sich euer Wissen erweitert. Es ist ein sehr interessanter Prozeß, da ihr zu jeder Sekunde vollkommen Bescheid darüber wißt, was in euch passiert. Zusätzlich jedoch werden alle Fertigkeiten, die in dem Film angesprochen werden, ebenfalls in euer Gehirn übertragen. Das geschieht durch - ich sag mal, Nebenschwingungen. Wenn ihr im Film seht, wie ein Auto gebaut wird, sorgen diese Nebenschwingungen dafür, daß euer Gehirn sämtliche Bewegungen des Körpers, die dafür notwendig sind, lernt und sich daran erinnert. Natürlich ist das nur temporär. Wenn diese Bewegungen nicht durch entsprechende körperliche Übungen wiederholt und intensiviert werden, werdet ihr sie im Lauf der Zeit vergessen. Aber erinnern werdet ihr euch immer daran."
"Jetzt wird mir das klar!" Marion wandte sich aufgeregt zu Valentin. "Also hat Lena anhand dieser Filme das Operieren gelernt?"
"Exakt. Über die Filme hat sie das Wissen um die Handbewegungen bekommen, und das spätere tatsächliche Operieren war praktisch nur ein Wiederholen, durch das sich das bis dahin theoretische Wissen zu einem praktischen Wissen gewandelt hat, das somit wesentlich fester in ihrem Wissen verankert wurde."
"Könnte ich denn auch Geschichte lernen, wenn die Maschine sagt, daß das gar nichts für mich ist?" fragte Monika neugierig.
"Sicher, Moni. Du kannst in jedem Bereich, den es gibt, ein Basiswissen lernen. Das sind je Gebiet etwa 20 Stunden und gibt dir die Möglichkeit, dir all das anzueignen, was du schon immer wissen wolltest. Wenn du noch mehr darüber lernen möchtest, kommt ein Aufbauwissen von etwa 40 Stunden, und danach kommt das Spezialwissen. Das sind dann um die 150 bis 250 Stunden, je nach Gebiet. Aber selbst das kannst du später, nachdem du einen Beruf gelernt hast, für jedes andere Gebiet nachholen." Er lächelte verlegen.
"Ich könnte mich anhand der Regeln eurer Zeit auf etwa neun Gebieten als Spezialist bezeichnen, aber das wäre geprahlt. Mich interessieren einfach nur sehr viele Dinge, und deswegen habe ich viel gelernt. Aber natürlich auch wieder einiges von dem, was ich gelernt habe, vergessen, weil ich es nie angewandt habe. Theoretisches Wissen ist totes Wissen. Erst wenn es angewandt wird, ist es aktives, lebendiges Wissen."
"Vergessen?" wunderte Marion sich. "Du sagtest -"
"Ich habe die körperlichen Bewegungen vergessen", entschuldigte Valentin sich. "Ich weiß noch heute, wie ich Legierungen herstellen kann, aber ich weiß nicht mehr, welche Bewegungen meine Finger machen müssen. So ist das gemeint, wenn ich sage, ich habe es vergessen. Aber auch das theoretische Wissen verschwimmt etwas. Es wird nie ganz verschwinden, aber im Lauf der Jahre immer undeutlicher."
"Verstehe."
"Mein Fehler, Marion. Manchmal vergesse ich auch, daß so gut wie alles für euch ungewohnt ist. Liegt wahrscheinlich daran, daß ihr euch schon nach einem Tag so fantastisch eingewöhnt habt."
"Machst du Witze?" entfuhr Marion.
"Aber nein! Ich habe durch einen unverzeihlichen Fehler dein Gespräch mit Justine mitgehört, Marion. Ich habe mir aus der Küche noch etwas zu trinken geholt, aber die Lautstärke des IS war so hoch, daß ich es nicht überhören konnte. Bitte verzeih mir." Er senkte kurz seinen Kopf. "Aber was ich gehört habe, hat mich sehr bewegt. Du hast von Mensch zu Mensch geredet, Marion. Du hast Justine das Gefühl gegeben, daß sie für dich eine sehr große Bedeutung hat. Gut, du hast nicht immer das gesagt, was heutzutage üblich ist, aber das Gefühl in deinen Worten hat alles so ausgedrückt, wie es für Justine wichtig war. Moni übrigens genauso. Als Mirna gestern gegangen ist, hat sie mir freudestrahlend erzählt, wie nett und lieb Moni sie behandelt hat. Und wie schön sie mit ihr geredet habt. Das ist für Menschen eurer Zeit, verzeiht mir, sehr ungewöhnlich."
"Das hat mich auch gewundert", sagte Monika leise. "Mirna hat so tolle Sachen gesagt, daß ich mir total doof vorkam, weil ich nicht so schön antworten konnte. Und da hat plötzlich mein Kopf aufgehört, zu reden, und mein Bauch hat angefangen." Sie zuckte hilflos mit den Schultern. "Anders kann ich das nicht erklären, aber das sprudelte irgendwie alles so raus."
"In einer Woche", lächelte Valentin, "könnt ihr genauso reden. Glaubt mir das. Ihr könnt auch gerne Elemente eurer Sprache beibehalten. Gewisse Ausdrücke wie 'gefunkt' oder 'geiler Dress' sind einfach erfrischend und ganz bestimmt eine Bereicherung." Er fuhr Monika kurz durch die Haare. "Wollen wir beginnen?"
"Ja!" Aufgeregt ließ sich Monika in den Sessel fallen. Valentin reichte ihr den Helm, den sie vorsichtig aufsetzte.
"Lehn dich gemütlich an. Die Maschine dämpft eure Muskelfunktionen etwas, damit ihr völlig entspannt seid. Nach Ende des Films werdet ihr euch ein paar Sekunden lang müde fühlen. Bleibt dann noch etwas sitzen, bis eure Muskeln wieder aktiv werden. Das ist deshalb so, weil im entspannten Zustand ein effektiveres Lernen möglich ist."
"Okay." Monika setzte sich zurecht, atmete tief ein und aus, dann blieb sie still sitzen. Valentin führte Marion schnell hinaus und in ein eigenes Zimmer. Nachdem sie saß, zog Valentin sich zurück.
In ihrer ersten Stunde lernten die Schwestern die Entstehung der heutigen Zeit. Sie sahen erschreckende Szenen aus der Zeit der Jahrtausendwende, waren dabei, als die Städte brannten und explodierten, als Menschen wegen eines Stückes Brot getötet wurden. Sie waren bei den Gesprächen der späteren Diktatoren dabei, hörten, wie die Grundlagen der heutigen Zivilisation gelegt wurden, und verstanden, worauf es in dieser Zeit ankam. Sie lernten auch, was besonders Marions Ansicht über die Diktatur schwer erschütterte, daß der Diktator eines Landes nur sechs Monate regierte, dann wurde er per Los durch einen anderen abgelöst. Sie waren dabei, wie die Diktatoren Entscheidungen trafen, und lernten, daß tatsächlich immer und ausnahmslos die Freiheit und das Glück des Menschen im Vordergrund standen. Sie erfuhren, daß jeder Diktator kontrolliert wurde, und zwar von allen anderen. Jeder paßte auf jeden auf, so daß es niemals zu den Konflikten kam, wie sie aus dem früheren Machtstreben entstanden waren.
Am Ende des Films waren die Schwestern so vertraut mit den Grundlagen dieser Zeit, als wären sie hier aufgewachsen. Sie blieben noch ein paar Minuten länger sitzen, um dieses gewaltige neue Wissen zu sortieren, erst dann verließen sie die Räume; Monika etwas eher als Marion.
Valentin gab den beiden etwas zu trinken, dann nahm er sie ins Kreuzverhör. Sie mußten erst ihre Zeit verteidigen, dann die heutige. So kamen die Mädchen schließlich selbst dahinter, welche Zeit die objektiv schönere war. Sie hatten zu jeder Zeit die Kontrolle über ihre Gedanken, und gerade das versetzte sie in Erstaunen.
Gegen Mittag beendete Valentin das Gespräch.
"Ihr seht es nun selbst", sagte er sanft. "Keine Gehirnwäsche, nur reine, sachliche Informationen. Was ihr daraus macht, liegt an euch. Nach dem Essen fahren wir in die Stadt und laufen etwas. Ihr achtet dann bitte auf die Menschen, die euch begegnen. Seht ihnen ganz bewußt in die Augen, lest in ihren Gesichtern. Vergleicht das mit den Menschen aus eurer Zeit, und erst dann trefft euer Urteil. Anschließend gehen wir - wie sagtest du noch, Marion? Auto kaufen. Herrlicher Ausdruck!"
"Wie kommt Valerie denn nach Hause?" fragte Marion.
"Sie geht. Sie läuft gerne zu Fuß. Ihre Arbeitsstelle liegt etwa 4 Kilometer von hier, so daß sie eine Dreiviertelstunde geht. Selbst ich bin immer wieder überrascht, wieviel Energie in ihr steckt. Dabei kenne ich sie besser als jeder andere Mensch." Er lächelte versonnen. "Selbst ihre Eltern kennen diesen Teil nicht. Besser gesagt, alle Eltern kennen das Gefühl einer Partnerschaft nur aus eigener Erfahrung. Wenn das eigene Kind soweit ist, eine Partnerschaft einzugehen, ist das das Zeichen für die Eltern, daß die Erziehung abgeschlossen ist. Viele Eltern unterstützen ihre Kinder schon im Vorfeld, indem sie etwas Geld sparen, so daß das Kind sich eine Wohnung kaufen oder einrichten kann. Andere schenken ihnen ein Auto oder übergeben ihnen das Geschäft. Aber was immer sie auch tun, alle Eltern sind sehr überrascht, wenn das Kind sich plötzlich verändert, weil es eine Partnerschaft eingehen will. Es ist dann eine Entschlossenheit in dem Kind, die die Eltern in dieser Form nie erlebt haben. Bei Valerie ist es ein Energieschub gewesen, wie ihr es nennen würdet. Sie platzt beinahe vor Energie. Vorher war sie immer schon aktiv und munter gewesen, aber heute..." Er zuckte lächelnd mit den Schultern.
"Gehen wir essen, und dann in die Stadt."
"Eine Frage noch, bitte!" Marion sah ihn ratlos an. "Valentin, ich verstehe eins nicht. Warum wird so viel von einer eigenen Wohnung geredet? Ich meine, davon, eine zu kaufen? Mirna sagte, daß die Menschen bei uns ihre Identität aus den Städten bezogen haben anstatt aus sich selbst. Wenn ich höre, wie viele Menschen hier von einer gekauften Wohnung reden, dann..."
"Ja", lächelte Valentin. "Das hört sich im ersten Moment komisch an. Es ist so, Kinder: Die Innenstädte sind das Zentrum des Handels. Also Waren und Dienstleistungen. Direkt daran liegen die Basiswohnungen. Dort wohnen all die Menschen, die mit ihrem Grundangebot zufrieden sind. Wer nicht direkt in der Stadt wohnen möchte, wer zum Beispiel gerne in der Nähe eines Flusses oder eines Waldes wohnen möchte, der kann sich eine Wohnung oder ein Haus kaufen. Es sind übrigens nicht so viele Menschen, wie du vielleicht im ersten Moment denkst, Marion. Etwa 80% der Menschen einer Stadt wohnen im Zentrum, der Rest außerhalb. Dabei ist es jedoch kein Statussymbol, wie du vielleicht meinst. Ein Mensch mit einem riesigen Haus am Wald und ein Mensch mit einer kleinen Wohnung direkt über einem Geschäft sehen weder zueinander auf noch aufeinander herab. Es ist einfach eine vollkommen freie Entscheidung eines jeden einzelnen. Sie hängt einzig und allein davon ab, in welcher Umgebung sich ein Mensch wohl fühlt."
"Wie bei Mirna und mir!" sagte Monika mit einem sehnsüchtigen Lächeln. "Wir möchten beide gerne in einem Haus an einem See wohnen."
"Siehst du?" lächelte Valentin. "Soweit ich weiß, wohnt Mirna mit ihren Eltern in unmittelbarer Nähe des Zentrums. Ihren Eltern gefällt es dort wohl, und ihr auch. Bisher. Je älter sie wird, um so mehr ändern sich auch ihre Wünsche, und so entsteht der Wunsch, woanders zu wohnen. Das ist der einzige Grund, warum jemand umzieht. Ich kenne jedoch auch viele Partnerschaften, die in einer Basiswohnung wohnen und dort sehr, sehr glücklich sind. Einfach weil sie zusammen sind, egal wo."
"Dann ist das klar", lächelte Marion. "Danke, Valentin. Du erfüllst meinen Kopf mit Verständnis."
Valentin lachte herzhaft. "Sehr gut, Marion. Erstklassig!" Er umarmte sie kurz. "Gehen wir essen."
Während des Essens kam Monika auf die heutige Form der Sprache zu sprechen.
"Die hat sich aus mehreren Komponenten entwickelt", erklärte Valentin. "Das ist Stoff der dritten Stunde, aber egal. In der Zeit, als China die anderen asiatischen Länder überrollte, haben sich noch viele Menschen in den Westen abgesetzt. Einige nach Amerika, andere nach Europa. Einige Diktatoren bewunderten die respektvolle Form, mit der die Asiaten miteinander umgingen, und integrierten Elemente davon in die heutige Sprache. Kein Europäer würde sagen: 'Ich bin unwürdig, in deinem Licht zu gehen', aber zu sagen: 'Deine Anwesenheit erfüllt mich mit großer Freude, und daß du mit mir redest, ist ein großes Geschenk für mich', ist eine Form der Höflichkeit, die uns sehr entgegenkommt, weil sie eben Respekt ausdrückt. Und jemanden, den man respektiert, greift man nicht an. Weder mit Worten noch mit Taten. Viele Konflikte entstanden aus Worten. 'Hey, du Idiot! Mußt du gerade da stehen, wo ich hergehe?'' - 'Dann geh doch woanders, du Blödmann!' Das führte unweigerlich zu Streit. Sagt aber jemand: 'Verzeih, aber der einzige Eingang in dieses Geschäft ist behindert, weil du dort stehst, obwohl du bestimmt deine Gründe dafür haben wirst', ist dies eine respektvolle Form, die ebenso respektvoll beantwortet wird. 'Ja, mein Grund dafür ist Unachtsamkeit. Ich bin der, der um Verzeihung bitten muß.' Niemand vergibt sich etwas dabei. Es ist eine Form der Rede, die eben wieder auf Menschlichkeit und Respekt basiert. In wenigen Worten wird ein Konflikt gelöst, wobei beide das Gefühl haben, den anderen glücklich gemacht zu haben. Der, der den Eingang blockiert, ist glücklich, darauf hingewiesen worden zu sein, und der, der es gesagt hat, ist glücklich, weil er in das Geschäft gehen kann." Valentin mußte lachen, als er Marions verblüfftes Gesicht sah.
"Marion, warte noch zwei, drei Tage. In der nächsten Stunde lernst du die wirtschaftlichen Grundlagen unserer Zeit, und in der darauf die Sprache und Gestik. Dann wird dir das sehr viel klarer."
"Okay", schmunzelte Marion. "Bitte verzeih, daß ich alles auf einmal wissen will und dich dadurch von deinem Essen fernhalte."
"Das war Ironie", grinste Valentin. "Das merke sogar ich!" Lachend aßen sie weiter.
"Die respektvolle Form der Rede", sagte Valentin, als sie nach dem Essen in die Stadt fuhren, "ist hauptsächlich dafür gedacht, Konflikte zu lösen und mit Fremden umzugehen. Je besser man sich kennt, um so vertrauter wird auch der Umgang miteinander. Wir drei reden heute schon wesentlich lockerer miteinander als gestern, und so wird sich das von Tag zu Tag verändern. Sobald jedoch Streit aufzukommen droht, schaltet sich automatisch der Respekt ein und verhindert, daß harte oder sogar beleidigende Worte fallen. Marion, was ist? Warum bist du auf einmal so traurig?"
"Nichts. Ich dachte nur gerade daran, wie ich gestern fast Streit mit Valerie bekommen habe."
"Das ist vollkommen in Ordnung, Marion", sagte Valentin sanft. "Du kanntest ja die Umgangsformen noch überhaupt nicht, und ihre Signale, mit denen sie dir zu verstehen gab, daß das Thema über ihr Verständnis ging, schon gar nicht. Sie hat schließlich zur absoluten Notlösung gegriffen: symbolische Abwehr und Flucht. Das wird so anerzogen, eben um bei einem nicht lösbaren Konflikt dem Streit auszuweichen." Er lächelte mitfühlend. "Valerie hat es überlebt, Marion. Sie kennt durch meine Arbeit viel von dem Verhalten der früheren Menschen, aber direkt mit einem konfrontiert zu werden, geht einfach über ihre Möglichkeiten hinaus. Sie wußte das, da wir schon letzte Woche darüber geredet haben, aber sie wollte es trotzdem riskieren. Jetzt hat sie eben gelernt, daß frühere Menschen eine vollkommen andere Ansicht über viele Dinge haben, und das wird ihr helfen, besser mit euch umzugehen. Du hingegen hast gelernt, daß Menschen unserer Zeit es nicht zu gewalttätigen Auseinandersetzungen oder erhitzten Diskussionen kommen lassen. Somit habt ihr beide etwas gelernt."
"Also ist sie mir nicht böse?"
"Aber nicht im geringsten! Sie ist dir sogar dankbar, weil du ihr Verständnis erweitert hast. Sie will sich ab heute mit der Biologie eurer Zeit auseinandersetzen, um mitreden zu können. In zwei, drei Wochen kannst du wieder mit ihr darüber reden, und dann kann sie mithalten."
"Das tut sie?" fragte Marion erstaunt.
"Aber sicher, Marion. Sie mag euch, und sie möchte mitreden können. Das ist etwas, was sehr viele Menschen heutzutage tun. Wenn sich der Freundeskreis verändert, gehen auch viele Erwachsene noch einmal für eine kurze Zeit zu den Lernmaschinen, um das Interesse ihrer Freunde teilen zu können. Sie eignen sich ein Basiswissen an, und dadurch erhöhen sie das Gefühl der Freundschaft füreinander."
"Und das ist Stoff welcher Stunde?"
"Der vierten. Sozialstruktur und Kommunikation. In der dritten Stunde werden Sprache und Gesten behandelt, in der vierten das Sozialgefüge an sich, und das IS. Nicht die Bedienung, sondern der Hintergrund. Die Bedienung ist dann nur noch die logische Anwendung dieses Wissens."
"Das ist ja ein irrsinniges Tempo!" Marion schüttelte sich den Kopf. "Bekommen die Kinder in der Schule das auch so intensiv?"
"Noch intensiver. Ihr bekommt in zwei, drei Wochen das verpaßt, was die Kinder in acht Wochen lernen. Einfach aus dem Grund, weil ihr schon einen Großteil eurer Erziehung hinter euch habt. Aber wie bei den Kindern ist es auch bei euch nur ein Basiswissen. Die Anwendung muß tagtäglich geübt werden. Deswegen sind die Kinder auch viel unterwegs, in kleinen oder größeren Gruppen, und lernen durch den Kontakt mit anderen Menschen. So wie ihr. Bei euch ist es manchmal etwas schmerzhaft, eben weil ihr aus einer anderen Zeit kommt, aber das ist eine ganz normale Entwicklung. Je mehr ihr wißt, um so weniger Fehler macht ihr. Ihr dürft nie vergessen, daß unsere Kinder in der Zeit aufwachsen, in der sie leben. Sie werden von klein auf darauf trainiert, mit anderen Menschen auszukommen, und jedes ihrer Worte zielt darauf ab, das Glück eines anderen Menschen zu vergrößern. Das läßt sich nicht immer durchführen, aber man kann es zumindest versuchen."
Marion riß die Augen auf. "Deswegen fangen die Sätze meistens mit 'Du' an?"
"Ja, Marion. Dadurch wird mitgeteilt, daß das Gegenüber Glück in einem selbst auslöst. Oder ein anderes schönes Gefühl. Dadurch schaukelt sich die Freude praktisch gegenseitig hoch. 'Ich freue mich, daß du bei mir bist.' Oder: 'Du bist das Glück dieses Augenblicks.' Was klingt schöner für dich?"
"Das zweite."
"Warum?"
"Keine Ahnung." Marion grinste verlegen. "Es - es klingt einfach schöner."
"Es klingt deshalb schöner, weil es dich in den Mittelpunkt stellt. Nicht mich. Dich. 'Ich schenke dir meine Liebe.' Oder: 'Mach mir die große Freude und nimm meine Liebe für dich an.' Beides drückt das gleiche aus, aber von einer anderen Sichtweise. Die Ich-Form wird benutzt, wenn man etwas von sich selbst erzählt. Von den Ansichten, Interessen, Wünschen. Das Du wird dann benutzt, wenn man dem anderen mitteilen möchte, daß er oder sie schöne Gefühle in einem auslöst. Es sind nur Feinheiten, aber sie erhöhen das Gefühl füreinander ungemein."
"Darf ich fragen, wie das mit dir und Valerie zur Partnerschaft kam?"
"Sicher, Marion. Sie kam vor zwei Wochen an und sagte: 'Nicht nur Jahre, auch das Wissen trennt uns, doch das Gefühl, was deine Gegenwart in mir auslöst, ist stärker als alles andere. Schenkst du mir die Freude, jeden Morgen neben dir aufwachen zu dürfen, und jeden Abend neben dir einschlafen zu dürfen? Ist dein Gefühl für mich so stark, daß du erwägen könntest, mich als Partnerin in dein Leben aufzunehmen?' Und ich sagte: 'Die Freude deiner Gegenwart läßt mich wünschen, sie immer genießen zu dürfen. Möchtest du wirklich dein Leben mit mir teilen, so gibst du mir das größte Geschenk, daß ich jemals erhalten habe.'"
"Ist das schön!" seufzte Monika.
"Bei uns hieß das einfach nur: Wollen wir zusammenziehen?" lachte Marion. "Meine Güte! Die Jungs, die ich kenne, hätten sich die Zunge dabei gebrochen!"
"Nun ja", feixte Valentin. "Eine gewisse Schönheit in Valeries Worten läßt sich nicht leugnen."
"Eine gewisse Schönheit!" Marion starrte ihn verblüfft an. "Valentin, das war die schönste Liebeserklärung, die ich jemals gehört habe!"
"Es war der Ausdruck unserer Gefühle füreinander", sagte Valentin schlicht. "Manche sagen: 'Dein Wesen gibt mir das Gefühl, zu leben', oder: 'Durch dich entdeckte ich jeden Augenblick des Lebens neues Glück und neue Freuden'. Manche reden auch volle fünf Minuten am Stück, weil ihr Gefühl einfach überströmt. Es ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich, aber im Prinzip sind es immer nur Worte. Das Gefühl, von dem sie getragen werden, ist das, worauf es ankommt. Eine plumpe, aber ehrliche Erklärung ist weitaus schöner als eine ausgefeilte, die nicht so ehrlich ist."
"Kommt denn so etwas vor?" fragte Marion erstaunt.
"Nicht mehr. Vor - ich glaube, 30, 35 Jahren, als es noch einen Großteil der Menschen von früher gab, kam es öfter vor, daß Menschen versuchten, sich noch jemanden zu angeln, wie ihr sagt. Aber inzwischen ist diese Generation ausgestorben, und heute gibt es nur noch ehrliche Erklärungen. Jeder heutige Mensch lebt lieber alleine als daß er eine Partnerschaft eingeht, die nicht die Erfüllung für beide ist."
"Unvorstellbar!" hauchte Marion. "Valentin, weißt du, wie viele wirklich glückliche Partnerschaften oder Ehen es zu unserer Zeit gab? Kaum eine! Selbst unsere Eltern, die sich wirklich gut verstanden haben, hatten häufig Auseinandersetzungen!"
"Das geschieht auch heute noch, Marion. Der Unterschied zu früher ist nur der, daß diese Differenzen heutzutage wesentlich diplomatischer und respektvoller ausgetragen werden. So bekommt keiner das Gefühl, verloren oder gewonnen zu haben. Ein Konflikt belastet das Glück, und deswegen bemühen sich alle, diesen Zustand so schnell wie möglich zu beseitigen. Ich bin glücklich, wenn du glücklich bist. Davon lassen sich alle leiten. Das Glück des anderen ist das eigene Glück. Jeder bemüht sich darum, den anderen glücklich zu machen, und bezieht aus diesem Glück das eigene."
"So ganz langsam verstehe ich das." Marion nickte nachdenklich. "Das war bei meinem Gespräch gestern abend mit Justine so. Doch. Da hab ich das schon gemerkt, Valentin. Wenn sie glücklich war, fühlte ich mich auch glücklich. Und das kann man wirklich auf alle Menschen ausdehnen?"
"O ja!" schmunzelte Valentin. "Das kommt mit der Zeit, Marion. Ganz bestimmt. Je mehr Menschen du kennenlernst, um so mehr wirst du es erleben. Es wird irgendwann eine Grundeinstellung sein, das Glück des anderen über das eigene Glück zu stellen."
"Warte! Was, wenn Valerie morgen sagen würde, sie hätte sich in jemand anderen verliebt, und dich verläßt?"
Valentin sah sie ernst an. "Dann würde ich glücklich sein, daß ein anderer Mensch noch mehr Glück in ihr auslöst, als ich es kann. Ich würde das ihr und ihrem neuen Partner auch genau so sagen, und ihnen nur das Beste wünschen. Außen wie innen. In mir wäre keine Verbitterung, sondern nur Freude. Valerie gehört mir nicht, Marion. Trauer, Eifersucht und Neid deuten auf einen Besitzanspruch hin, den es nicht geben kann, da Valerie ein freier Mensch ist."
Marion nickte. "Gut. An dieser Stelle hört mein Verstand auf, mitzuspielen. Schicht."
"Warte einfach ab", sagte Valentin zärtlich. "Warte ab und rede mit so viel Menschen wie möglich, Marion. Dann wirst du erkennen, wovon ich rede. Wie gesagt: du kannst nicht in wenigen Augenblicken eine Zeit verstehen, die von deiner eigenen so weit entfernt ist wie diese."
Marion nickte wortlos. Nachdenklich sah sie auf die vorbeiziehenden Wände der Röhre, die sie in die Stadt brachte. Der Gedanke, daß in ihrer Zeit Liebe und Besitz fast identisch waren, machte ihr sehr zu schaffen.



Mehr als eine Stunde saßen Marion und Monika auf einem der vielen Plätze, mit einem gelben Stirnband signalisierend, daß sie nicht bereit für Sexspiele waren, und sahen sich die Menschen an. Je mehr sie sahen, um so deutlicher wurde, was Valentin erklärt hatte. Der Respekt und die Zuvorkommenheit, mit der die Menschen miteinander umgingen, war einfach beispiellos. Sie sahen und hörten intensiv geführte Diskussionen, bei denen es nicht ein einziges Mal laut wurde. Immer wenn Marion das Gefühl hatte, daß es spätestens jetzt knallen müßte, lenkte einer der teilnehmenden Menschen ein, durch eine freundliche Geste oder ein freundliches Wort und entschärfte so den aufkeimenden Konflikt. Das ging so mühelos, daß es Marion wie ein einstudiertes Schauspiel vorkam. Aber es war echt, auch das sah und hörte sie.
Noch deutlicher als gestern registrierte sie, wieviel Lebensfreude in den Augen und Gesichtern der Menschen um sie herum zu sehen war. Von Zeit zu Zeit dachte sie, sie würde einen traurigen Menschen sehen, doch bei näherem Blick war dies nur eine tiefe Nachdenklichkeit, die sich sofort legte, wenn dieser Mensch angesprochen wurde.
"Das ist normal", schmunzelte Valentin, als Marion ihn darauf ansprach. "Wenn ich arbeite, sehe ich angespannt aus, weil sich mein Gesicht vor Konzentration verzieht. Das ändert aber nichts daran, daß mir die Arbeit Freude macht."
"Aha."
Schließlich erklärte Valentin den Unterricht für diesen Tag für beendet. Er ging mit den Schwestern zurück zu seinem Auto und fuhr mit ihnen zum Autohandel. Wie er schon gesagt hatte, ging das wirklich schnell über die Bühne. Marion legte ihre Hand auf die inzwischen schon normal gewordene Platte und bekam dafür eine Scheibe, den Schlüssel zu ihrem Auto. Die zweite drückte sie Monika in die Hand, die außer sich war vor Freude. Marion hatte ihr Auto in einem satten Grün gekauft, Monika wählte ihres in Violett, was Marion ein breites Grinsen und Monika ein unschuldiges Gesicht entlockte. Dann mußte aber auch Monika herzhaft lachen.
Valentin überließ die Mädchen sich selbst, die gleich wieder in die Stadt fuhren. Sie statteten Justine einen kurzen Besuch, die sich sichtbar freute, und gingen dann wieder in die Eisbar, um etwas zu trinken.
"Basisbedarf." Nachdenklich starrte Monika auf ihr Glas Saft. "Weißt du, wie teuer das bei uns gewesen wäre?"
"Natürlich", lächelte Marion. "Aber mich würde trotzdem die Einstellung der Menschen interessieren, die das hier herstellen."
"Verzeih", sagte eine angenehme Stimme in ihrem Rücken. Marion drehte sich um und sah in zwei freundliche Augen. Ihr Blick glitt über das offene Gesicht eines jungen Mannes, nicht viel älter als sie.
"Verzeih", sagte er erneut. "Ich arbeite in einer Fabrik, in der Lebensmittel hergestellt werden. Mein Name ist Mark. Was kann ich dir sagen?"
"Hallo", grüßte Marion etwas schüchtern. "Ich bin Marion, das ist meine Schwester Monika."
"Genannt Moni", korrigierte Monika mit einem Lächeln. "Hi, Mark."
"Moni." Er nickte mit einem freundlichen Lachen.
"Ja, was kannst du mir sagen... Wird deine Arbeit bezahlt?"
"Nein."
"Dann würde mich interessieren, warum du das tust."
Sein Gesicht verzog sich zu einem herzlichen Lächeln. "Damit du deinen Durst löschen kannst. Damit du essen kannst. Aber ich nehme an, du möchtest es etwas genauer wissen?" Marion nickte.
"Durch meine Arbeit erhalte ich das Leben von vielen Menschen", sagte Mark ruhig, ohne Prahlerei oder Arroganz. "Das ist mein Beitrag zu diesem Land. Jeder Beutel Rohstoffpulver in meiner Hand erfüllt mich mit großer Freude, einem anderen Menschen sein Leben zu erhalten. Deswegen tue ich es, Marion. Beantwortet das deine Frage?"
"Ja, danke. Deine Antwort beschämt mich, weil ich nie daran gedacht habe, daß eine derartige Motivation geben könnte."
"Bitte verzeih mir. Dich zu beschämen lag nicht in meiner Absicht. Die Worte sind leider gesagt, sonst würde ich sie zurücknehmen."
"Dein Verständnis und dein Mitgefühl erfüllen mich mit großer Freude", lächelte Marion herzlich.
"Dein Glück ist mein Glück." Mark erwiderte ihr Lächeln. "Verzeih, aber bist du neu hier?"
"Gewissermaßen. Viele Dinge sind mir noch fremd, nicht nur in dieser Stadt, sondern in diesem Land."
"Ich verstehe. Ist es sehr aufdringlich, wenn ich dir mehr über die Herstellung von Lebensmitteln erzähle?"
"O nein!" sagte Marion schnell. "Das würde mich sehr interessieren. Wenn du die Zeit dafür hast."
"Die habe ich. Meine Partnerin kommt in etwa zwanzig Minuten. Bis dahin gehöre ich dir."
"Ich nehme deine Gegenwart mit großem Vergnügen an." Marion kam sich - in ihrer Sprache - total bescheuert vor, so zu reden, aber die Wirkung ließ sich nicht leugnen: in ihr war eine so große Freude wie schon lange nicht mehr.
"Das Vergnügen ist bei mir, denn deine Schönheit leuchtet auf mich. Unsere Fabrik bekommt in der Hauptsache Obst aus Italien, Spanien, Portugal und Frankreich. Die Früchte werden in einem speziellen Prozeß getrocknet, wobei der überschüssige Saft aufgefangen wird. Saft und Frucht gehen dann getrennte Wege. Dem Saft wird das Wasser entzogen, anschließend wird das Pulver, das dann übrig bleibt, mit einem Trägerstoff vermischt. Denke bitte an einen Apfel. Konzentrierter, reiner Apfelsaft ist sehr bitter. Der Trägerstoff erhöht die Menge an Pulver und sorgt für einen etwas süßeren Geschmack. Aus dem Saft eines einzigen Apfels können am Ende insgesamt sieben große Gläser Apfelsaft gewonnen werden, jedes so wohlschmeckend wie das, was du da trinkst." Marion hob anerkennend die Augenbrauen, denn der Saft schmeckte tatsächlich besser als zu ihrer Zeit.
"Die Frucht wird auf die fast gleiche Art behandelt. Da ihr der Saft und das Wasser schon entzogen sind, wird sie direkt pulverisiert. Auch hier wird das Pulver mit einem Trägerstoff versehen. Wenn du in der Küche den Synthesizer bedienst und eine Speise mit Obst wählst, wird dieses Pulver, also die Kombination aus pulverisierter Frucht und Trägerstoff, der Speise beigemischt und in Verbindung mit etwas Wasser in eine Frucht zurückverwandelt. Der Trägerstoff bildet die Materie, auf der sich zum Beispiel die Apfelscheibe bilden kann. Und so kommt die Apfelscheibe in dein Essen."
"Genau so einfach", lachte Marion, "wie neues Wissen zu mir kommt. Ich danke dir sehr, Mark."
"Wenn du froh bist, bin ich froh", lächelte er, dann drehte er sich wieder herum.
Das war nicht das letzte Erlebnis in dieser Art. Wann immer Marion oder Monika ein gewisses Unverständnis äußerten, fand sich immer und sofort jemand, der ihnen erklärte, was sie wissen wollten. Gegen halb fünf war ihre Aufnahmefähigkeit vollkommen erschöpft. Etwas müde, aber innerlich aufgedreht, fuhren sie zurück. Monika beschäftigte sich zu Hause sofort mit dem IS, um etwas Bestimmtes herauszufinden. Befriedigt merkte sie sich schließlich eine Bezeichnung, dann ging sie baden. Marion verbrachte den Rest des Tages gemütlich im wundervollen Garten und tankte neue Energie für den nächsten Tag.
Um kurz nach sechs stand Monika neben ihr, bekleidet mit ihrem Cape voller Hologramme und zwei Streifen aus rotem Stoff, einen über der Brust und den anderen auf der Scham.
"Geht's los?" fragte Marion lächelnd.
"Gleich. Marion, ich wollte mich noch mal bei dir bedanken, für das Auto." Sie kniete sich neben ihrer Schwester auf den Boden. "Du ahnst gar nicht, wieviel mir das bedeutet."
"Doch, Moni", erwiderte Marion leise. "Ich ahne es nicht nur, ich sehe es dir an. Bist du glücklich?"
"Ja", hauchte Monika. "Sobald ich bei Mirna bin. Ich vermisse sie, wenn sie nicht da ist. Bescheuert, oder? Ich meine, ich kenne sie doch erst seit gestern."
"Sie kennt dich auch erst seit gestern, und sie fühlt genau das gleiche." Sie strich ihrer Schwester zärtlich über die Haare. "Wann möchtest du zurückkommen?"
"Wann muß ich wieder hier sein?"
Marion sah sie an und mußte lachen. "Zum Unterricht morgen früh. Und jetzt ab!"
"Danke!" Überglücklich drückte Monika ihre Schwester, dann raste sie davon. Bewegt sah Marion ihr nach.
"Das sieht ernst aus." Valerie setzte sich lächelnd zu Marion.
"War das bei dir und Valentin auch so?"
"Fast. Nicht ganz so schnell und so heftig. Ich habe ihn getroffen, als ich das Auto von einem seiner Kollegen zum Institut gebracht habe. Das Geschichtsinstitut. Valentin hat mich gesehen und mich gleich zu seinem Kollegen gebracht, damit ich dem die Scheibe geben konnte, aber ich" - sie mußte hell kichern - "hab nur noch Valentin angesehen. Am nächsten Tag bin ich nach Arbeitsende zum Institut gegangen, aber er war schon weg. Auch am übernächsten. Am dritten Tag hab ich ihn dann endlich erwischt und ihn zu einem Glas Saft eingeladen. Er hat mich vollkommen überrascht angesehen, weil er noch ganz in Gedanken war, aber dann hat er mich so richtig toll angelächelt, daß mir ganz warm wurde." Sie lächelte in Gedanken. "An dem Tag haben wir - ich weiß nicht, bis spät in die Nacht geredet und gelacht, und dann haben wir unsere Codes ausgetauscht. Am nächsten Morgen hat er mich angerufen, kurz bevor ich zur Arbeit ging, und mir einen Tag voller Freude gewünscht. Ich sagte nur, daß die Freude jetzt nicht mehr größer werden könnte, und da ist es auch schon passiert. Wir haben uns nur noch angesehen, ohne was zu sagen, aber gefühlt haben wir beide jede Menge. Ich hab mich bei der Arbeit richtig zwingen müssen, nicht an ihn zu denken. So kam das mit uns."
"Du hast da schon gearbeitet?" fragte Marion erstaunt.
"Ja. Nicht richtig, so wie jetzt. Ich machte morgens meinen Unterricht und bin dann in die Fabrik gegangen, um das zu machen, was ich gerade gelernt hatte. Ich nannte das einfach schon Arbeit. Macht jeder so. Es ist ja auch schon die richtige Arbeit, obwohl du noch lernst."
"Verstehe. Kamen dir jemals Zweifel, ob Valentin der richtige für dich ist?"
"Nein. Nie. Das wußte ich immer ganz sicher. Ich hatte vorher sehr viele Sexpartner, und auch noch viele, während wir begannen, uns kennenzulernen, aber ich hatte immer das ganz sichere Gefühl, daß er und ich füreinander vorgesehen sind."
"Ab welchem Alter beginnt denn die Suche nach einem Partner?"
"Völlig unterschiedlich, Marion. Manche fangen mit elf oder zwölf an, andere arbeiten erst mal, um sich eine wirklich schöne Wohnung einzurichten und gehen erst dann auf die Suche. Das ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich."
"Du hast mein Wissen erweitert, Valerie", sagte Marion herzlich. "Dafür gehört dir mein Dank."
Valeries Gesicht strahlte vor Glück. "Würdest du mir die große Freude machen und mir erlauben, dein Wissen noch mehr zu erweitern und gleichzeitig große Freuden zu erfahren?"
Marions Herz begann, heftig zu klopfen, als sie verstand, was Valerie damit ausdrücken wollte. Sie nickte fast automatisch.
"Sehr gerne, Valerie", sagte sie leise. "Zeige mir die Freuden dieser Zeit."
Valerie küßte sie zart auf den Mund, dann rutschte sie zwischen Marions Beine. Schon ihre ersten Berührungen ließen Marion heftig erschauern, und sie faßte den unwiderruflichen Entschluß, das Angebot eines Sexlehrers anzunehmen.



Aufgeregt saß Monika in ihrem neuen Auto, doch ihre Gedanken waren nur bei Mirna. Sie konnte es kaum abwarten, endlich bei ihr zu sein.
Nach viel zu langer Fahrt hielt der Wagen schließlich vor einem Aufzug. Monika sprang heraus, dachte im letzten Moment noch daran, die Scheibe mitzunehmen, dann hüpfte sie mit einem Satz in den Aufzug, dessen Türen sich schlossen, aber nicht losfuhr. Fragend schaute sie sich um, doch sie sah weder Namensschilder noch Knöpfe.
"Ähm", räusperte sie sich schließlich. "Mirna A066C." Der Aufzug fuhr los und hielt wenig später.
"Linke Tür", sagte eine leise Stimme. Monika erschrak, dann grinste sie über sich selbst. Mit stark klopfendem Herzen ging sie zur linken Tür, sah sich kurz suchend um und drückte dann auf die Klingel. Ein melodisches, leises Summen erklang. Eine Frau von etwa 40 Jahren öffnete ein paar Augenblicke später die Tür und sah Monika freundlich an.
"Hallo, ich bin Denise. Was kann ich für dich tun?"
"Hallo!" erwiderte Monika aufgeregt. "Ich bin Monika. Ich wollte Mirna besuchen."
"Mirna wird erfreut sein, dich zu sehen", lächelte die Frau. "Bitte, komm herein."
Schüchtern betrat Monika die Wohnung, die, das sah sie auf den ersten Blick, geschmackvoll und gemütlich eingerichtet war. Ein breiter, rechteckiger Flur, von dem weitere Türen abgingen, lag direkt hinter der Eingangstür. In einem Zimmer sah Monika einen Mann in Denises Alter, der ihr freundlich zuwinkte. Sie winkte scheu zurück.
"Mirna ist in ihrem Zimmer", sagte Denise. "Das ist hier vorne." Sie deutete auf eine Tür neben dem, was Monika als Wohnzimmer einschätzte.
"Vielen Dank", strahlte sie Denise an. "S- Äh, du gibst mir große Freude!"
"Die Freude gehört mir", lächelte Denise herzlich. "Wenn Mirna glücklich ist, bin ich glücklich." Sie strich Monika über die Haare, dann ging sie zu ihrem Mann. Mit starkem Herzklopfen pochte Monika leise an die Tür zu Mirnas Zimmer.
"Ja?" hörte sie Mirnas erstaunte Stimme. Monika öffnete die Tür ein Stück und schaute grinsend in das Zimmer.
"Moni!" Mirna sprang so schnell auf, daß ihr Stuhl umfiel. Mit zwei großen Sprüngen war sie bei Monika und drückte sie mit aller Kraft an sich.
"Du besuchst mich!" schluchzte sie überwältigt. "Du schenkst mir ein Glück, das ich noch nie verspürt habe!"
"Das Glück gehört mir", erwiderte Monika mit nassen Augen. "Denn du bist jetzt bei mir."
Sehr lange hielten sich die beiden Mädchen einfach nur umarmt, dann hob Mirna ihren Kopf.
"Hat dich jemand hergefahren?"
"Verrate ich nicht", grinste Monika. "Das ist die Überraschung. Hast du Zeit?"
Mirna schaute unschlüssig. "Ich habe noch Arbeit für etwa zehn Minuten. Wäre es sehr unhöflich, dich zu bitten, diese Zeit auf mich zu warten?"
"Ich warte gerne auch länger", flüsterte Monika. "Ich sehe dich, das ist das Wichtigste für mich."
"Ich beeile mich auch." Mirna drückte Monika noch einmal, dann schob sie ihre Freundin zu ihrem Bett. "Setz dich, Moni. Ich bin gleich fertig."
"Danke." Moni ließ sich fallen, Mirna ging wieder zu ihrem Schreibtisch. Sie hob den Stuhl hoch und stellte ihn richtig, dann setzte sie sich hin. Monika sah sich derweil in Mirnas Zimmer um. Es sah so aus wie jedes Zimmer, das sie kannte, nur daß die Form der Möbel viel moderner war. Aber das war ja auch zu erwarten gewesen. Die Unterschiede wurden erst auf den zweiten Blick sichtbar. Oder, im Falle von Mirnas Bettwäsche, fühlbar. Der violette Stoff war sehr weich und dabei angenehm kühl, aber Monika spürte sofort, daß er gleichzeitig auch sehr warm hielt. Das Kopfkissen zeigte ganz schwach die Umrisse von Mirnas Kopf, so als ob es sich ihrer Kopfform anpassen würde. Das Oberbett war nur hauchdünn, aber das kannte Monika schon von ihrem Bett.
Offenbar gab es in dieser Zeit nur noch sehr wenig Bücher; Monika entdeckte jedenfalls kein einziges in Mirnas Regal neben dem Bett. Dafür war es vollgestopft mit Figuren, die Monika noch nie gesehen hatte. Auf dem Schreibtisch stand so etwas wie ein Miniatur-IS, auf das Mirna konzentriert blickte und auf dem sie von Zeit zu Zeit etwas herumtippte. Neugierig stand Monika auf, stellte sich hinter Mirna und sah ihr über die Schulter. Mirna sah kurz zu ihr auf, mit leuchtenden Augen, dann blickte sie wieder auf den Bildschirm. Monika sah eine Art Bericht über den Strafvollzug aus dem Jahre 1989. Wehmütige Erinnerungen wurden in ihr wach, die sie schnell verdrängte. Immerhin hatte sie an ihrem zweiten Tag in dieser neuen Zeit schon ein eigenes Auto und seit einem Tag eine Freundin, mit der sie bereits sehr viel verband.
Sie legte ihre Hände sanft auf Mirnas freie Schultern. Mirna ließ ihren Kopf zur Seite fallen, drückte ihre Wange kurz an Monikas Hand, dann richtete sie ihren Kopf wieder auf und las weiter, nur unterbrochen von gelegentlichen Notizen. Schließlich drückte sie einige Knöpfe. Der Monitor wurde dunkel, und Mirna stand auf.
"Fertig. Danke, daß du auf mich gewartet hast."
"Danke, daß ich deinen Anblick genießen durfte." Monikas Gesicht wurde weich. "Mirna, ich liebe dich. Ich kann das noch nicht so schön sagen wie ihr, aber ich liebe dich wirklich."
"Ich dich auch, Moni." Sie schmiegte sich an Monika. "Ich habe bisher noch überhaupt nicht daran gedacht, mir einen Partner zu suchen", sagte sie leise. "Ich wollte meine Schule beenden, dann die Ausbildung machen. Dann wollte ich mir ein Auto und ein Haus an einem See kaufen und dort arbeiten. Und plötzlich trittst du in mein Leben und schenkst mir mehr Freude, als ich jemals zu bekommen erwartet habe."
"Das kannst du doch immer noch alles tun", flüsterte Monika mit zitternden Knien.
"Ich weiß", hauchte Mirna. "Aber all das ist mir auf einmal nicht mehr so wichtig." Sie lächelte plötzlich schüchtern.
"Wir haben ja noch viel Zeit. Was ist das für eine Überraschung, von der du gesprochen hast?"
"Dafür muß ich dich mitnehmen", feixte Monika. "Darf ich dich zum Essen einladen, Mirna?"
"Gerne!" Mirnas Augen leuchteten vor Glück. "Ich sage eben meinen Eltern Bescheid, dann können wir gehen."
Keine Minute später standen sie im Aufzug und fuhren hinunter. Mirna trug eine Toga in Violett, die ihren Rumpf vollkommen verhüllte, und wie Monika ein gelbes Stirnband. Über der Schulter hatte sie den schmalen Riemen ihrer kleinen Tasche hängen.
"Dein Cape ist wunderschön", sagte sie bewundernd. "Woher hast du das?"
"Von Lombardt." Schnell schlüpfte Monika aus dem Cape und legte es ihrer Freundin über die Schulter. "Für dich", flüsterte sie, dann gab sie Mirna einen sanften Kuß auf die Wange.
"Monika!" Mirna sah sie ungläubig an. "Du schenkst mir das?"
"Ja. Es steht dir gut!" Monika sah ihre Freundin bewundernd an. "Es steht dir sogar sehr gut!"
Mirna stand einige Sekunden lang völlig starr, dann wickelte sie sich rasend schnell aus ihrer Toga, legte sie Monika mit einem verliebten Blick über die Schulter, zog sich das Cape an und drückte es dann an ihre nackte Haut.
"Jetzt bist du immer bei mir!" flüsterte sie gerührt.
Monika sah sie kurz an, dann entfernte sie ihre zwei Streifen Stoff, legte sie Mirna an und zog die Toga so an, wie Mirna sie vorher trug.
"Und du bei mir."
Der Aufzug hielt. Mirna zog Monika schnell nach draußen, in das Parkhaus, dann schaute sie ihre Freundin ernst an.
"Monika", sagte sie feierlich. "Würdest du mir die Freude machen, meine liebste und beste Freundin zu werden? Damit wir oft zusammen sein können? Damit wir herausfinden, wie gut wir zueinander passen? Damit wir uns so gut kennenlernen, daß wir später einmal Partner werden können?"
"Ja, Mirna", antwortete Monika mit einem Kloß in der Kehle. "Und würdest du, Mirna, mir die Freude machen, als meine allererste Freundin in dieser Zeit mir diese Welt zu erklären? Mich auf meine Fehler hinzuweisen? Und mir zeigen, wie auch ich dich glücklich machen kann? So glücklich, wie du mich machst?"
"Das werde ich, Monika." Aufgewühlt umarmte Mirna Monika und küßte sie leidenschaftlich, dann hielten sich die Mädchen glücklich im Arm und sahen sich aus weniger als zwei Zentimeter Entfernung in die Augen.
"Moni, hat das Essen noch etwas Zeit? Ich möchte dir auch gerne etwas schenken."
"Klar! Was denn?"
"Das wird auch eine Überraschung." Mirna lächelte verschmitzt. "Sag, warum bist du mit mir in das Parkhaus gegangen?"
"Wegen meiner Überraschung. Die kommt jetzt an." Monika zog die Scheibe für das Auto unter ihrem Stirnband hervor und drückte drauf. Mirna zog überrascht die Luft ein, als sie sah, was auf sie zukam.
"Dein Auto?" flüsterte sie ungläubig. Monika nickte grinsend. "Und in der Farbe meiner Haare! Moni, du beschämst mich! Wie groß muß dein Gefühl für mich sein!"
"Genau so groß wie deins für mich." Monika drückte sie zärtlich an sich. "Genau so groß, Mirna. Nicht größer und nicht kleiner."
"Laß uns einsteigen!" lachte Mirna mit nassen Augen. "Oder ich lege dich gleich hier auf den Boden und bleibe bis morgen früh auf dir!"
"Das könnte mir gefallen!" grinste Monika. Sie öffnete ihr Auto. "Auf welche Seite möchtest du?"
"Auf die, wo du sitzt." Mirna drückte Monika stürmisch an sich. "Moni, ich dachte, daß ich ein glückliches Leben hatte, aber das stimmte nicht. Erst seit ich dich kenne, bin ich glücklich. Sehr glücklich."
"Ich auch, Mirna." Monika gab ihr ein paar sanfte Küsse auf den Hals. "Ich war lange sehr traurig, weil ich meine Eltern verloren habe, aber ich habe dich dafür gewonnen. Meine Schwester hat übrigens gesagt, daß ich erst morgen früh zum Unterricht zurück sein muß."
"Moni!" Mirna quietschte regelrecht. "Du schläfst bei mir? In meinem Zimmer? In meinem Bett?"
"Oder auf deinem Schreibtisch." Monika zwinkerte ihr zu. "Laß uns einsteigen. Nach dir, Mirna."
"Danke!" Überglücklich strahlte Mirna Monika an, dann ließ sie sich rückwärts in das Auto fallen, rutschte ganz an die Lehne und streckte Monika die Arme entgegen.
"Komm zu mir!"
Monika legte sich neben sie. Die Mädchen waren nicht dick, deswegen passten sie gut nebeneinander liegend auf die Bank, auch wenn die Beine etwas zu lang waren. Aber unter viel Kichern und noch engerem Körperkontakt klappte auch das schließlich.
"Welt der Koffer", sagte Mirna laut. Das Auto schloß sich und fuhr los.
"Du hast deine Eltern verloren", sagte Mirna mitfühlend. "Ja, das dachte ich mir schon. Das tut mir wirklich leid, Moni. Ich fühle deinen Schmerz wie meinen eigenen."
"Danke." Monika küßte sie flüchtig. "Lena - unsere Ärztin in Zentral 49 - hat sehr lange und viel mit mir geredet." Monika lächelte traurig. "Ich habe meine Eltern sehr geliebt, und als ich hörte, daß ich 75 Jahre im Eis gepennt habe und sie tot sind... Tat schon weh."
"Aber sie haben dafür gesorgt, daß du und Marion leben könnt", sagte Mirna leise. "Dafür liebe ich sie."
"Ich auch. Sonst hätte ich dich nie kennengelernt."
"Moni!" Mirna drückte sie herzlich. "Und du behauptest, du könntest keine schöne Sachen sagen? Du sagst laufend wunderschöne Sachen!"
"Du doch auch." Die Mädchen küßten sich kurz, dann fragte Monika:
"Mirna, feiert man hier eigentlich auch Geburtstag? Marion hat nächsten Monat."
"Klar! Und wie!" Mirna lachte hell. "Zum Geburtstag lädst du alle deine Freunde ein, meistens ins Hopper oder ins Kiba, und da geht's dann richtig rund! Wer Geburtstag hat, darf sich als erstes fünf Sexpartner aussuchen. Dann wird kräftig gefeiert, richtig mit Kuchen und Musik, und dann wird getanzt. Nach dem Tanzen erzählt dann der, der Geburtstag hat, von dem, was er im nächsten Jahr alles machen möchte, dann wird sich unterhalten, und dann wirst du von den fünf Sexpartnern gründlich verwöhnt. Aber richtig gründlich!" Sie kicherte ausgelassen. "Bei meinem letzten Geburtstag war ich am nächsten Tag richtig wackelig auf den Beinen!"
"Du kleines Wildes!" lachte Monika und knabberte an Mirnas Hals. Mirna quietschte leise und wand sich etwas, dann schlich sich ihre Hand zwischen Monikas Beine.
"Wann hast du Geburtstag, Moni?"
"Am 25. Januar. Und du?"
Mirna starrte sie sprachlos an. Monika stutzte, dann bildete sich eine Gänsehaut in ihrem Nacken.
"Du auch?" flüsterte sie. Mirna nickte stumm. Ihre Augen wanderten über Monikas Gesicht, als sähe sie ihre Freundin zum ersten Mal.
"Wie alt wirst du dann?"
"Tja...", grinste Monika. "13, 14, oder 89, das kann ich mir aussuchen. Nein, ich werde 13."
"Ich auch!" Mirna stieß überwältigt den Atem aus. "Moni, das ist unglaublich! Laß uns am Wochenende viel miteinander reden, ja? Ich möchte alles von dir wissen, und ich werde dir alles von mir erzählen. Erzähle von deiner Vergangenheit, und ich erzähle von meiner. Wollen wir das tun?"
"Aber ganz bestimmt, Mirna." Sie fuhr mit ihren Fingern sanft über Mirnas Lippen. "Und du erzählst mir von deinen Eltern, und ich dir von meinen."
Mirna nickte glücklich.
Knapp zwanzig Minuten später standen die Mädchen im "Welt der Koffer". Monika schaute sich überwältigt um. Ein Geschäft über vier Ebenen, voller Koffer, Taschen, Beutel und Körbe, in buchstäblich allen Formen, Materialien und Farben.
"So!" meinte Mirna bestimmt. "Jetzt suchst du dir eine schöne Tasche aus, in der du die Scheibe unterbringen kannst. Nachher verlierst du sie noch, wenn wir mal so richtig im Freien toben."
"Du kaufst mir eine Handtasche?"
"Ja." Mirnas Augen leuchteten vor Glück. "Moni, ich verdiene im Monat nur 20 Euro, aber ich würde sie mit Freuden restlos ausgeben, um dir Geschenke zu kaufen. Dein Glück ist mein Glück!"
"Und deine Gegenwart", flüsterte Monika, "ist die Freude meines Lebens." Sie zog Mirna an sich und küßte sie innig. Schließlich löste sie sich mit einem Grinsen von ihrer Freundin.
"Wir sollten mal voranmachen, ich hab Hunger."
"Ich auch!" kicherte Mirna. "Auf dich!"
Monika legte lachend ihren Arm um Mirnas Taille und ging mit ihr durch das riesige Geschäft. Monika kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Als erstes über die Farben, die zum Teil ihrer Auffassung nach sehr schrill und grell waren, dann über die Formen. Es gab Taschen, die aussahen wie Butterbrotdosen oder wie kleine Fernseher, es gab lange schmale und dicke breite Taschen, kurze und hohe, dreieckige und runde... Es gab buchstäblich alles.
Monika entschied sich schließlich für eine Tasche, wie Mirna sie hatte: klein und schmal, mit einem langen Riemen, dessen Länge verstellt werden konnte. Die Farbe war dunkelrot, konnte aber durch ein kleines Rad in der Tasche verändert werden. Monika verstellte das Rädchen, bis die Tasche violett schimmerte, was Mirna wieder ein strahlendes Lächeln entlockte. Daß die Tasche nur 22 Cent kostete, war für Monika inzwischen schon fast normal.
Nach diesem Einkauf lockte Monika ihre Freundin noch zu Lombardt, wo sie ihr ein zweites Holo-Cape, wie die übliche Bezeichnung lautete, schenkte. Natürlich in Violett. Mirna stand kurz vorm Durchdrehen vor Glück. Sie faltete ihr neues Cape vorsichtig und brachte es in ihrer Tasche unter, was Monika sehr erstaunte. Aber der Stoff war trotz der Hologramme sehr dünn.
Schließlich ging es zum Essen. Als die Mädchen im Auto waren, sagte Monika: "Zum Barden."
"Zum Barden?" fragte Mirna, während der Wagen sich in Bewegung setzte.
"Ja", lächelte Monika aufgeregt. "Laß dich überraschen. Mirna, darf ich dich mal etwas fragen?"
"Du kannst mich alles fragen, Monika", antwortete Mirna ernst. "Es gibt keine Geheimnisse mehr zwischen uns."
Monika nickte unsicher. "Bist du dir da sicher, Mirna? Wir kennen uns erst seit gestern."
"Ich bin mir ganz sicher, Moni. Ich spüre, was ich spüre, und ich weiß, das es nicht größer werden kann. Was möchtest du wissen, Moni?"
"Wegen der Arbeit... Ich habe gehört, daß pro Stunde 10 Euro verdient werden. Aber ich kapiere nicht, wie! Ich meine, die Sachen kosten doch fast alle nichts. Wie kann eine Verkäuferin bei Peckers 10 Euro die Stunde verdienen, wenn sie den ganzen Tag nur Basisbedarf verkauft? Das raff ich einfach nicht."
"Ach so!" Mirna lachte hell. "Moni, wenn du noch mal einkaufen gehst, schau dir die Verkäuferin mal ganz genau an. Ganz besonders ihre Ohren."
"Ihre - Ohren?"
"Ihre Ohren!" kicherte Mirna ausgelassen. "Wenn du ganz genau hinsiehst, wirst du ein winzig kleines Gerät entdecken. Einen Sensor. Dieser Sensor reagiert auf bestimmte Worte und Redewendungen. Wie teuer ist das? Was kostet das? Wieviel muß ich dafür bezahlen? So in der Art. Der Sensor registriert dann über die Gehirnströme der Verkäuferin, was der Kunde haben möchte, und schickt diese Information an die Kasse. Den Begriff haben wir beibehalten, obwohl es keine Kasse in dem Sinne mehr ist. Egal. Jedenfalls schickt die Kasse sofort den Preis zurück an den Sensor, und der überträgt den Preis dann wieder per Gehirnströme an die Verkäuferin. Das funktioniert auch für die ganzen Details. Wenn du zum Beispiel wissen möchtest, wie die Verbindungen bei deiner Tasche hergestellt werden, dann kommt diese Information so zurück, daß die Verkäuferin sie dir erklären kann. Und damit kommen wir zu den 10 Euro pro Stunde. Das ist der Satz, was ausgebildete Arbeiter verdienen. Also alle die, die ihr Jahr Ausbildung hinter sich haben und einen Beruf ergreifen, der nicht zu den Basisdiensten gehört. Gärtner, zum Beispiel. Die kümmern sich um die Schönheit unserer Umwelt, und dafür erhalten sie ihren Lohn."
"Sekunde!" sagte Monika hastig. "Also ein Gärtner wird für die Arbeit bezahlt, aber ein Arzt nicht?"
"Genau. Ein Arzt sorgt dafür, daß Menschen gesund sind und bleiben. Oder werden. Gesundheit ist ein Basisgut. Jeder Mensch hat ein Recht darauf, gesund zu sein. Ein schöner Garten ist aber kein Basisdienst. Du kannst einen verwilderten Garten haben, oder einen gepflegten. Es gibt übrigens auch Gärtner, die einen so schönen verwilderten Garten anlegen können, daß du dir vorkommst wie im Urwald. Das hab ich einmal gesehen. Fantastisch war das! Das werde ich dir einmal zeigen. Jedenfalls ist der Gärtner kein Basisdienst, sondern Verschönern. Deswegen kostet das auch was, nämlich die 10 Euro pro Stunde. Das ist aber auch der Höchstsatz, wie wir sagen. Die ganzen freiwilligen Tätigkeiten wie zum Beispiel Verkäufer, Servierer, Autowäscher und so weiter liegen unterschiedlich. Das hängt immer von dem Geschäft ab. Nehmen wir Peckers, das kenne ich ganz gut, weil ich da auch ab und zu arbeite. Peckers zahlt pro Stunde 1 Euro, weil die eben sehr viel Basisbedarf anbieten und nur wenig Extrabedarf, wie es heißt. Die Welt der Koffer, wo wir gerade waren, bietet eigentlich nur Extrabedarf an, deswegen zahlen die 3 Euro pro Stunde. Peckers macht jetzt folgendes: sobald du als Verkäuferin in den Raum für Extrabedarf gehst, fängt die Zeit an, zu laufen. Oh, ich habe falsch angefangen. Bitte verzeih. Peckers, wie alle anderen Geschäfte, die viel Basisbedarf verkaufen, zahlen nur dann für deine Arbeit, wenn du Extrabedarf verkaufst oder dabei berätst. Wenn du den ersten Raum mit dem ganzen Basisbedarf verläßt und den Raum mit dem Extrabedarf gemeinsam mit dem Kunden betrittst, registriert der Sensor das, und wenn du ihn dann mit dem Kunden zusammen wieder verläßt, hört die Zeit auf, zu laufen. Die Zeit, die du dort mit dem Kunden verbracht hast, wird berechnet. Und so kommst du auf deinen Verdienst."
"Au weia!" Monika sah Mirna verblüfft an. "Also wenn ein Verkäufer den ganzen Tag nur Basisbedarf verkauft, verdient er nichts?"
"Genau."
"Und das macht dem nichts aus?"
"Warum sollte es?" fragte Mirna erstaunt. "Jeder weiß das, und jeder ist damit einverstanden. Es gibt sehr viele Menschen, die sich nur mit Basisbedarf versorgen und bekleiden; warum sollte denen anders geholfen werden als denen, die Extrabedarf kaufen?"
"Das könnte ich nicht!" sagte Monika überzeugt. "Stundenlang die Beine in den Bauch stehen und dann nichts verdienen... Nein, das könnte ich nicht."
"Warum nicht, Moni?" fragte Mirna leise. "Du hilfst anderen Menschen, sich das auszusuchen, was ihnen gefällt. Du machst sie dadurch glücklich. Dein Glück ist mein Glück. Ob du Geld dafür bekommst oder nicht, spielt keine Rolle. Viele arbeiten in den Dienstleistungen, weil sie andere Menschen glücklich machen wollen. Das Geld kommt erst an zweiter oder dritter Stelle. Oder vierter oder fünfter oder sechster. Wenn jemand wirklich Geld verdienen will, wegen einem Auto oder Möbel, dann sucht er sich eine Arbeit neben seiner richtigen Arbeit. Natürlich nur, wenn seine richtige Arbeit eine Basisarbeit ist. Es wird dich vielleicht interessieren, daß nur knapp 3% unserer Bevölkerung eine Arbeit haben, die keine Basisarbeit ist. Alle anderen arbeiten für das Land und für das Glück anderer Menschen. Und dadurch für ihr eigenes Glück." Sie nahm Monikas Hand in ihre und lächelte sie an.
"Versuch es mal, Moni. Hilf mal irgendwo für einen Nachmittag oder zwei aus. Erstens lernst du viele Menschen kennen. Einige davon werden deine Freunde. Du kannst mit ihnen reden. Du lernst ihre Ansichten kennen. Du erfährst Glück und Freude. All das ist so viel wichtiger als ein paar Euro in deiner Tasche. Glaub mir das, Moni. Geld ist heute nicht mehr wichtig. Der Basisbedarf reicht für ein angenehmes Leben völlig aus. Was du vorhin in meinem Zimmer gesehen hast, ist bis auf ein Teil alles Basisbedarf. Nur die Bettwäsche ist Extrabedarf. Ich schlafe gerne im Kühlen, und die Wäsche ist herrlich kühl. Sie hält meine Körperwärme nachts fest, so daß ich nicht friere, aber sie kühlt mich auch gleichzeitig, so daß ich nie das Gefühl habe, schwitzen zu müssen."
"Wie lange arbeitest du denn für deine 20 Euro?"
"Fünf Stunden. Einmal im Monat gehe ich ins Institut und sortiere und übertrage alte Dokumente in unser System. Dafür zahlt das Institut 4 Euro pro Stunde. Wenn ich Lust habe, neue Menschen kennenzulernen, arbeite ich als Serviererin oder als Verkäuferin. Moni, bitte verzeih mir, wenn ich jetzt ganz offen spreche und dich vielleicht auch dadurch beschäme, aber Geld ist für uns nicht mehr so wichtig wie zu eurer Zeit. Wir nutzen es nur, um von Zeit zu Zeit unser Leben zu verschönern. Ich arbeite nur deshalb, um meinen ganzen Freunden eine Kleinigkeit schenken zu können. Und um mich mit einem Geschenk bei meinen Eltern zu bedanken, daß sie mir ein glückliches Leben ermöglichen. Ansonsten arbeite ich, um unter Menschen zu sein. Um mit ihnen reden zu können. Um Freude zu geben und zu empfangen."
Monika nahm ihre Freundin in den Arm und spielte nachdenklich mit ihren Haaren.
"Das war bei uns ganz anders", sagte sie leise. "Wenn du in die Stadt gegangen bist, hat alles etwas gekostet. Der Parkplatz für das Auto. Das Getränk oder das Eis. Das Essen. Je mehr Geld du hattest, um so mehr konntest du dir kaufen. Ich hab zum Beispiel 50 Mark - äh, 10 Euro Taschengeld im Monat bekommen. Manche bekamen weniger, manche mehr. Wer mehr hatte, konnte sich mehr kaufen."
"Was kostete das alles so, wenn ich fragen darf?"
"Na... Ein Getränk, wenn du durstig warst, so um die 30, 40 Cent. Ein Essen knapp 1 Euro. Ein preiswertes. Ein gutes, leckeres Essen mindestens 3 oder 4 Euro, und wenn du mit Freunden weg warst, kostete das mit Essen und Trinken ganz locker 6 bis 8 Euro."
"Kaum vorzustellen." Mirna hob ihren Kopf. "Das heißt also, wenn du nicht verhungern oder verdursten wolltest, mußtest du pro Tag mindestens 2 Euro bezahlen?"
"So etwa. Man kam auch mit weniger über die Runden, aber das war dann eben das Billigste, was es gab. Und schmeckte auch nicht besonders gut."
"Dann verstehe ich das", flüsterte Mirna. "Die Menschen mußten arbeiten, um zu leben. Richtig?"
"Richtig. Wer nicht arbeitete, bekam etwas Geld vom Staat, aber nicht viel. Aber darüber weiß ich nicht so viel. Marion kann dir darüber wahrscheinlich mehr sagen. Frag sie doch mal danach."
"Werde ich tun. Und um nicht zu verhungern, mußten sie manchmal eine Arbeit ausführen, die ihnen nicht zusagte?"
"Nicht nur manchmal", seufzte Monika. "Sogar ziemlich oft. Essen kostete Geld, Trinken kostete Geld, Kleidung kostete Geld, Wohnung kostete Geld. Eigentlich kostete alles Geld."
"Entsetzlich." Mirna schüttelte sich leicht. "Sogar die Wohnung! Weißt du, was für eine Wohnung bezahlt werden mußte?"
"Laß mich nachdenken... Ich glaube, so von 100 Euro für eine kleine bis 200 Euro für eine große."
"Das ist doch eigentlich noch viel weniger als bei uns."
"Im Monat, Mirna. Du hast sie nicht gekauft, sondern nur gemietet. Sie gehörte dir nicht, du durftest sie nur benutzen."
"Was?" Das Mädchen erschrak heftig. "Du mußtest für eine kleine Wohnung jeden Monat 100 Euro zahlen? Dein ganzes Leben lang?"
"Ja."
"Warte." Mirna setzte sich auf. "Mit 14 ziehe ich aus. Ich werde vielleicht 90 Jahre alt. Das sind 76 Jahre. Macht 912 Monate. Ergibt 91.200 Euro. Für eine kleine Wohnung, die mir nicht einmal gehört." Sie lachte fröhlich. "Moni, das ist doch nicht wahr! Du erlaubst dir einen Scherz mit mir!"
"Doch." Monika nickte mit düsterem Gesicht. "Das ist wahr, Mirna. Meine Eltern haben für unser Haus um die 150.000 Euro bezahlt. Als sie es gekauft haben."
"Dafür bekomme ich hier fünf große Häuser." Mirna war ganz ernst geworden. "Die Menschen deiner Zeit mußten für ihr Essen, für ihre Kleidung und für ihre Wohnung bezahlen. Richtig? Gut. Sie mußten manchmal - nein, ziemlich oft etwas arbeiten, was ihnen nicht gefiel, aber sie mußten es dennoch tun, weil sie eben für Essen und so weiter bezahlen mußten. Auch richtig? Aha. Und jemand, der mehr Geld hatte, konnte sich auch mehr kaufen. Das ist logisch. Aber in Verbindung mit dem anderen..." Sie schüttelte sich. "Das mußte Neid schüren. Völlig logisch. Das war doch praktisch die Konsequenz. Ja. Jetzt wird mir sehr viel klar. Und auch, warum Habgier entstand. Und Wut. Doch. Sag, Moni, gab es auch Unterschiede in der Bewertung von Arbeit? Im Ansehen, meine ich?"
"O ja!" Monikas Gesicht verdüsterte sich noch mehr. "Mirna, meine Schwester hat gelernt, Motorräder zu reparieren. Als ihre Freunde hörten, daß sie mit ihren Fingern arbeitet, haben sie sich lustig über sie gemacht. Alles, wobei man sich schmutzig machte, war niedere Arbeit. Auch Mama und Papa waren nicht so begeistert darüber, aber wir haben Marion mal auf ihrer Arbeit besucht und gesehen, wieviel Freude sie daran hat. Da waren unsere Eltern dann still. Aber Unterschiede gab es jede Menge. Ein Arzt hatte zum Beispiel immer recht. Ein Handwerker nie. Da gab es jede Menge Unterschiede. Einer sah auf den anderen herab. Sogar die Kinder machten das schon. 'Was? Dein Vater ist Klempner? Meiner ist aber Ingenieur!' Damit machten sich die Kinder gegenseitig fertig."
"Das muß ja furchtbar gewesen sein!" sagte Mirna entsetzt. "Du sagst also, daß sich ein Mensch tatsächlich für - für besser oder wertvoller hielt als ein anderer?"
"Ja."
"Das ist absolut menschenunwürdig." Mirna schüttelte fassungslos in den Kopf. "Moni, das kann ich nur sehr schwer verstehen. Bist du einverstanden, daß wir morgen oder übermorgen erneut darüber reden? Du hast mir sehr vieles gesagt, was mein Verständnis etwas übersteigt, und darüber muß ich erst einmal nachdenken."
"Gerne." Monika drückte sie sanft. "Laß uns über was anderes reden. Warum sind eigentlich Autos kein Basisbedarf? Die Stadt ist doch noch immer sehr groß."
"Ach ja!" lachte Mirna. "Ihr wart bisher nur auf den Plätzen, richtig? Dachte ich mir. Wenn du auf einen Stadtplan schaust, wird dir auffallen, daß die Innenstädte aussehen wie ineinander verschachtelte Sterne. Mit den Plätzen als Mittelpunkten. Sagen wir einfach mal, von einem Platz geht eine Straße nach Norden ab. Nur als Beispiel. Nach einiger Zeit gehen von dieser Straße wieder einige ab, und von denen wieder andere. Alle wichtigen und großen Straßen haben Laufbänder, so daß du nicht gehen mußt. Du kannst es, wenn du magst, aber du mußt es nicht. Alte Leute, die schon etwas Mühe mit dem Gehen haben, nutzen die Laufbänder sehr gerne, weil sie so schnell in die Stadt kommen, ohne sich allzu sehr anstrengen zu müssen. Die Laufbänder reichen bis in die Straßen dritter Ordnung. Verzeih, ich erkläre es genauer. Die Straßen, die direkt an den Plätzen sind, sind Straßen erster Ordnung. Die richtig großen und breiten Straßen, für sehr viele Menschen. Davon gehen die Straßen zweiter Ordnung ab. Auf denen teilen sich die Menschen in ihre Wohnbezirke. Die Straßen dritter Ordnung unterteilen dann noch etwas mehr, nämlich in Wohnblocks, und die Straßen vierter Ordnung führen dann zu den Häusern und Wohnungen. Jeder Mensch muß höchstens zweihundert Meter gehen, dann hat er ein Laufband erreicht und kann so die ganze Stadt erreichen. Jeden Platz und jedes Geschäft. Da haben sich die ersten Diktatoren gründlich Gedanken gemacht. Wie über alles andere auch."
"Dann ist das klar. Sag mal, das Ding, was du auf dem Tisch stehen hast, was ist das?"
"Ein spezielles IS. Das ist mit dem Institut gekoppelt. Es kann auch Anrufe empfangen und einleiten, aber es ist hauptsächlich für meine Nachforschungen gedacht."
"Ist so was teuer?"
"O ja", grinste Mirna. "Das kostete mich einmal 'Bitte' sagen." Sie umarmte Monika lachend. "Nein, das kostet nichts. Hattet ihr schon Sozialstruktur und Kommunikation? Nein? Aha. Dann werde ich auch nicht zuviel verraten. Jede Wohnung und jedes Haus hat ein Basis-IS für Anrufe und Auskünfte. Wenn du mehr machen möchtest, zum Beispiel über das IS einkaufen und so, dann brauchst du ein größeres. Das größte, was ich kenne, kostet 60 Euro und bietet sogar die Möglichkeit, über das IS mit deinen Freunden bestimmte Spiele zu machen. Seit etwa drei Monaten gibt es eins, was sehr beliebt ist. Es nennt sich 'Flug 21'. Bis zu 300 Menschen können an einem Spiel teilnehmen. Wenn die Runde komplett ist, wird ein Pilot per Los ausgewählt, und der muß dann versuchen, bei seinen ganzen Passagieren - den anderen Spielern - das größtmögliche Glück hervorzurufen. Ich kenne einen Jungen aus meiner alten Theatergruppe, der dabei seine Partnerin kennengelernt hat."
"Wie geht das denn?"
"Der Pilot hat auf seinem IS eine Art Konsole, mit der er jeden einzelnen Sitz - also das IS jedes anderen Spielers - steuern kann. Natürlich nur innerhalb des Spiels. Durch die geäußerten Wünsche der Spieler bekommt er Meldungen auf seiner Konsole, die er ganz schnell bearbeiten muß. Wenn er alles richtig macht, dann erhöht er das Glück, macht er was falsch, sinkt das Glücksgefühl. Es ist ein sehr spannendes Spiel, aber es dauert auch bis zu vier Stunden." Sie kicherte fröhlich. "Einmal ist das Flugzeug sogar abgestürzt! Das war, als der Junge, von dem ich gerade gesprochen habe, sich nur noch um das Mädchen gekümmert hat, in das er sich verliebt hat. Er hat mit ihr geredet und geredet und alles mögliche für sie getan und gemacht, und plötzlich kam überall die Meldung: 'Flugzeug im Ozean notgelandet'. Alle haben gelacht und ihm gratuliert, daß er seine Partnerin gefunden hat. Das war an dem Abend, wo ich mal mitgespielt habe. Aber so was soll doch ziemlich oft vorkommen, hab ich gehört. Auch das macht das Spiel so spannend. Ein anderes Spiel heißt: 'Unser Kind'. Das spielt man alleine oder mit dem Partner. Es beginnt damit, daß du und dein Partner sich entscheiden, ein Kind zu bekommen, und in dem Spiel wird dann all das gemacht, was man auch bei einem richtigen Kind machen muß. Das ist bei Partnern beliebt, bei denen gerade ein Kind unterwegs ist, sehr beliebt. Ein drittes geht zum Beispiel so, daß du dein IS auf eine bestimmte Uhrzeit einstellst, zu der es dann per Zufall irgendwelche Leute anruft, die auch bei diesem Spiel mitmachen. Auch dabei haben sich schon sehr viele Freunde und auch einige Partner gefunden. Nanu? Wo sind wir denn hier?" Das Auto hatte die Röhre verlassen und hielt nun auf einem winzigen Parkplatz, auf den knapp 60 Wagen paßten. Vielleicht 40 Autos standen schon dort.
"Bei meiner Überraschung." Monika drückte sie zärtlich. "Danke, daß du mir soviel erklärt hast."
"Dein Glück ist mein Glück", erwiderte Mirna mit leuchtenden Augen.
Die Mädchen verließen das Auto und fuhren mit dem Aufzug hinauf. Als sie ihn wieder verließen, blieb Mirna überwältigt stehen.
"Moni! Woher kennst du das?"
"Aus dem IS. Extra für uns herausgesucht. Komm." Sie nahm ihre Freundin an die Hand und ging mit ihr zu einem kleinen Tisch am Fenster. Sprachlos vor Glück ließ Mirna sich nieder und sah hinaus. Das Restaurant "Zum Barden" lag an einem kleinen See mit herrlichen Seerosen und Pflanzen. Es war gut besucht und so gebaut, daß es wie ein schmaler Schlauch ein Viertel um den See herum reichte. Von jedem Tisch aus hatte man einen fantastischen Blick auf das Wasser, das sich unter einem leichten Wind sanft kräuselte. Die schon etwas tief stehende Sonne tauchte den See in ein mildes, nur ganz leicht rötliches Licht.
"Ist das schön!" seufzte Mirna leise, ohne den Blick von dem Wasser zu nehmen. "Moni, du schenkst mir so viel Glück!"
"Du mir doch auch", erwiderte Monika, gerührt über die Reaktion ihrer Freundin. "Wenn es gleich dämmert... Nein, das ist Teil Zwei der Überraschung. Du magst doch Musik, oder?"
"So viel Glück!" Mirna sah Monika mit feuchten Augen an. "Deinen Eltern gehört meine ganze Liebe, daß sie dich in diese Zeit geschickt haben."
"Meine auch. Je mehr ich mit dir zusammen bin, um so weniger vermisse ich sie. Auch du schenkst mir mehr Glück, als ich jemals vorher verspürt habe." Monika blinzelte mehrmals, um ihre Augen freizubekommen. "Jetzt essen?"
"Ja!" Aufgekratzt schaltete Mirna den kleinen Monitor ein, der im Tisch versenkt war. Monika wiederholte ihre Aktionen an dem Monitor auf ihrer Seite. Es war ein ziemlich schnell zu verstehendes System, ähnlich aufgebaut wie die Speisekarten der früheren Zeit. Monika kam schnell damit klar und wühlte sich durch die verschiedenen Speisen und Getränke.
"Wie wird bestellt?" fragte sie Mirna schließlich.
"Du tippst auf das, was du haben möchtest. Das leuchtet dann hell auf. Drücke anschließend auf die breite Taste mit dem Pfeil, damit schickst du die Bestellung ab." Sie sah erstaunt auf. "Moni, das kostet aber alles etwas."
"Ich weiß. Das Restaurant unterstützt die Forschung nach neuen Filteranlagen für Wasser, deswegen ist das hier etwas teurer."
"Und das machst du mit?" Mirnas Blick wurde weich. "Das ist sehr lieb von dir, Moni. Ich wußte gar nicht, daß es dieses Restaurant gibt."
"Es ist mir eine Freude, dein Wissen zu erweitern", grinste Monika schelmisch. Mirna lächelte verliebt.
"Und mir wird es eine Freude sein", flüsterte sie, "gleich deine Freuden zu erhöhen."
"Dann laß uns schnell essen, damit wir genug Kraft haben", kicherte Monika.

* * *

Vier Wochen können sehr schnell vergehen, wenn interessante Dinge getan werden. Für Marion und Monika verflogen die nächsten vier Wochen geradezu. Sie hatten zwei Wochen lang Unterricht bekommen und kannten diese Zeit nun fast so, als wären sie in ihr aufgewachsen, und sie hatten auch an den Unterweisungen für Sex teilgenommen, was im Vorfeld vor allem Monika etwas Angst gemacht hatte, aber ihre Bedenken zerschlugen sich sofort am ersten Tag. Wie Valentin ihnen erklärt hatte, machte er sie mit einer Gruppe von Männern bekannt, mit denen sie sich schon nach wenigen Minuten prächtig verstanden und lange Gespräche über alle möglichen Themen außer Sex führten. Am zweiten Tag kristallisierte sich bei Marion eine bestimmte Vorliebe für einen jungen Mann Mitte Zwanzig heraus, aber sie hielt ihre Entscheidung zurück, bis auch ihre Schwester ihre Wahl getroffen hatte. Monika hielt sich an einen Mann Anfang Dreißig, für den sie sich am Ende des zweiten Tages endgültig entschied.
In den darauffolgenden zwei Wochen lernten die Schwestern mehr, als sie jemals für möglich gehalten hatten. Speziell Marion war der Meinung gewesen, daß der Körper nur ein bestimmtes Potential an Vergnügen zuließ, doch der Unterricht widerlegte diese Meinung gründlich. Wesentlich erfahrener und selbstsicherer kehrten sie nach diesen zwei Wochen zu Valentin zurück.
"Ihr seht gut aus", lächelte er bei der Begrüßung. "War es doch nicht so schlimm?"
"Überhaupt nicht!" lachte Marion aufgedreht. "Valentin, ich hätte niemals gedacht, daß ein kleiner Unterschied im Druck soviel Unterschied im Gefühl ausmachen kann!"
"Das freut mich für dich, Marion. Moni, Mirna hat öfter angerufen und sich nach dir erkundigt. Sie erwartet deinen Anruf voller Freude. Wie Justine deinen, Marion. Mirna ist übrigens seit zwei Wochen schon in der Ausbildung, Moni."
"Soll ich sie gleich anrufen?"
"Sie sagte, ab drei Uhr. Dann ist sie bereit für dich. Spürt ihr irgendwelche Nebenwirkungen von dem Gen?"
"Ja!", grinste Marion. "Ich will raus in die Stadt und ausprobieren!"
"Es ist schön, daß deine Angst weg ist", lächelte Valentin zärtlich. "Moni, wie war es bei dir?"
"Am Anfang nicht so schön. Ich meine, als wir alle dagesessen und geredet haben. Ich dachte erst immer, es würde sich sofort jemand auf mich stürzen, aber so war das gar nicht. Wir haben uns erst miteinander bekannt gemacht, und dann, als ich jemanden gefunden hatte, sind wir in ein ganz tolles Zimmer gegangen. Auch da ging es nicht sofort los. Der Kyle hat mir erst mal tagelang erklärt, wie ich selbst was an mir machen kann, und als ich dann wußte, was ich machen muß, hat er ganz langsam angefangen, mitzumachen. Da war ich aber auch schon richtig heiß!" kicherte sie mit roten Ohren.
"Das freut mich sehr!" Valentin stieß den Atem aus. "Gut, Kinder. Jetzt, da ihr das hinter euch habt, möchte ich euch etwas sagen. Ich kenne etwa 300 Menschen aus eurer Zeit persönlich, die ich auf diese Zeit vorbereitet habe. Etwa 20 von ihnen haben diesen Unterricht überhaupt nicht vertragen. Sie haben ihn mittendrin abgebrochen. Aus dem Grund, weil sie einfach zu verklemmt waren, die Freuden ihres Körpers zu genießen. Selbst viele und lange Gespräche haben nicht geholfen. Ich war mir nicht sicher, wie ihr reagieren würdet, aber vorher mit euch darüber zu reden hätte keinen Sinn gehabt. Es stellt sich immer erst dann heraus, wenn dieser Unterricht läuft. Ich bin sehr froh, daß ihr nicht zu dieser Minderheit gehört, denn nun könnt ihr unsere Zeit wirklich ohne jede Einschränkung genießen." Er drückte beide Mädchen bewegt an sich.
"Es bedeutet mir Kummer", sagte er leise, "wenn Menschen nicht in der Lage sind, Glück zu empfangen. Aber ich kann sie nicht dazu zwingen. Ich kann nur reden und ihnen anhand unserer Menschen zeigen, was ich meine. Irgendwo da draußen sind 20 Menschen, die sich kaum auf die Straße trauen. Das bereitet mir großen Kummer."
"Das ist unnötig, Valentin", erwiderte Marion sanft. "In unserer Zeit gab es immer noch viele Menschen, die so streng religiös erzogen waren, daß sie, wie sie es nannten, allen fleischlichen Genüssen abgeschworen haben. Ich meine, ich hab nie rumgemacht oder so, aber selbst ich fand das ziemlich übertrieben. Valentin, das ist so stark in ihnen, daß da niemand etwas machen kann. Da haben selbst Menschen unserer Zeit versagt."
"Deine Worte trösten mich und lindern meinen Kummer", lächelte Valentin traurig. "Das habe ich auch gemerkt, Marion. Sie redeten nur von Sünde." Er seufzte tief. "Ihr habt es erlebt und seid nun so gut wie bereit für unsere Welt. Damit kommen wir zu euren Berufen. Wollt ihr den Test gleich machen oder erst mal in die Stadt, etwas erleben?"
"Test!" rief Monika sofort. Marion nickte.
"Machen wir den Test. Je eher ich weiß, was ich hier machen kann, um so eher wirst du uns wieder los."
"Immer noch so bissig?" grinste Valentin. "Na gut, wenn du unbedingt auf eigenen Füßen stehen willst..." Er drückte die beiden noch einmal, dann ließ er sie los.
"Der Test dauert fast zwei Stunden", erklärte er ihnen. "Wie gesagt, ihr habt einen sehr komprimierten Unterricht bekommen, den ihr jederzeit weiterführen und vertiefen könnt. Die Lernmaschinen sind frei und überall in der Stadt zu finden. IS, Arbeit, Ausbildung, Lernen, dann findet ihr sie. Bei unseren Kindern stellt sich durch den längeren Unterricht sehr schnell heraus, welches Gebiet sie interessiert, bei euch müßte das noch evaluiert werden. Deswegen dauert es so lange. Ihr bekommt kurze Bilder aus jedem Bereich gezeigt. Auch wenn ihr schon frühzeitig für einen der Bereiche großes Interesse zeigen solltet, werdet ihr alles sehen, was unsere Zeit bereithält. Dann wird vertieft. Die für euch interessanten Bereiche werden näher gezeigt, und anhand eurer Reaktionen wird dann separiert und noch mehr vertieft, bis ihr und die Maschine sicher seid, den richtigen Beruf gefunden zu haben. Anschließend kommt ein kurzer Kontrollgang, in dem alle euch interessierenden Berufe noch einmal gezeigt werden, und dann steht es fest, was ihr wollt."
"Dann auf."
Zwei Stunden später stand es fest. Marion sollte einen Beruf in der Fahrzeugentwicklung ergreifen, was selbst Valentin verwunderte, da dieser Bereich durch das existente Automodell gründlich abgedeckt war. Monika hingegen jubelte lauthals. Für sie empfahl die Maschine Kleidungsdesign.
"Gut", meinte Valentin, noch immer etwas verwirrt. "Moni, erledigen wir dich zuerst. Kleidungsdesign bedeutet etwa 180 Stunden Unterricht. Du lernst Chemie wegen der ganzen Kunststoffe, mit denen du es zu tun haben wirst, du lernst Rohstoffe für die späteren Stoffarten kennen, und du bekommst Werkzeug- und Maschinenkunde, um die entworfenen Modelle auch herstellen zu können. Wenn du magst, kannst du noch 20 Stunden Basistanz anhängen oder gleichzeitig machen, um die Modelle vorführen zu können."
"Geil!" Monikas Augen strahlten vor Glück.
"Dann lauf mal zum IS und schau nach, wo du die Ausbildung machen kannst. Empfehlenswert wäre eine Lernmaschine in der Nähe einer Fabrik, aber du hast ja schon ein Auto."
"Ja!" Monika rannte los.
"Nun zu dir." Valentin sah Marion nachdenklich an. "Da weiß ich ehrlich gesagt nicht, was ich tun soll, Marion. Fahrzeugentwicklung. Dieser Beruf ist seit gut fünf Jahren nicht mehr gefragt. Darf ich dich bitten, in deinen Worten zu erklären, was du darunter verstehst?"
Marion atmete laut ein und aus. "Das ist schwierig", bekannte sie. "Valentin, ich hab mir schon als Kind gewünscht, Motorrad zu fahren. Für einen Tag konnte ich das ja auch." Sie lächelte schief. "Eigentlich wollte ich so ein Dreirad bauen und fahren. Die gab es zwar schon, aber trotzdem! Ich wollte immer so eins bauen. Als ich dann in der Schule lernte, daß ich dazu Maschinenbau und Ingenieur und weiß der Henker was noch alles lernen mußte, hab ich's weggepackt und mich auf Mechaniker gestürzt. Das hat mir auch sehr viel Spaß gemacht." Sie zuckte mit den Schultern.
Valentin nickte nachdenklich. "Das wäre in der Tat eine große Herausforderung, Marion. Ein selbststeuerndes Fahrzeug mit drei Rädern, ohne Fahrgastzelle, mit IS... Es tut mir leid, Marion. Mein Verständnis reicht dafür nicht aus." Er grinste breit. "Muß es ja auch nicht. Tja... Weißt du, was dieser Beruf bedeutet?"
"Basteln!" kicherte Marion. "Nein, keine Ahnung."
"Du lernst Maschinenbau, wie du schon sagtest. Du lernst, Maschinen zu bauen, die Maschinen bauen. Du lernst, Fabriken zu entwerfen, in der die Maschinen stehen, die Maschinen bauen. Du lernst, diese Maschinen zu programmieren. Du lernst, anderen Menschen beizubringen, diese Maschinen zu bedienen und zu benutzen. Alles zusammen etwa 220 Stunden. Hmm... Sollte die Zeit tatsächlich wieder reif sein?"
"Zeit? Reif?"
"Was? Oh, verzeih mir bitte. Ich war in Gedanken. Marion, vor etwa zehn Jahren kam das heutige Auto auf den Plan. Es löste das vorherige Modell ab. Wie gesagt, seit fünf Jahren ist es nun unverändert. Andererseits sind auch keine neuen Ideen aufgekommen, ein neues Modell herzustellen, weil dieses eigentlich allen Ansprüchen genügt." Er dachte kurz nach.
"Marion, erlaubst du mir, weitere Informationen einzuholen, die dir weiterhelfen werden?"
"Sicher, Valentin. Ich wüßte nicht einmal, wo ich anfangen sollte.
"Das weiß ich noch", schmunzelte Valentin. "Mehr aber auch nicht. Warten wir, bis Moni ihre Informationen beisammen hat, dann lege ich los."
"Mein Dank gehört dir", sagte Marion gerührt. "Wie mein neues Leben, das ich ebenfalls dir verdanke."
"Wenn du glücklich bist, bin ich glücklich. Du und Moni bringt Farbe ins Spiel, wie ihr sagt. Ihr habt unsere Zeit und unsere Gebräuche nahtlos in eure Persönlichkeiten integriert, ohne etwas von euch aufzugeben. Das ist eine enorme Bereicherung und doch etwas ungewöhnlich. Die meisten gehen her und vergessen, wie sie früher waren. Ihr behaltet es bei."
"Gut jetzt!" lachte Marion verlegen. "Ich werde noch rot!"
Valentin erschrak. "Du erfüllst mich mit Entsetzen! Das bedeutet, mein Unterricht hat versagt! Die Lernmaschinen haben versagt! Alle haben versagt! Marion wir noch immer rot! Zu Hilfe!"
"Valentin!" Lauthals lachend warf sich Marion an seinen Hals und drückte ihn stürmisch. "Du bist ein total durchgeknallter Typ!"
"War das in deiner Zeit ein Kompliment?"
"So wie ich das meine, ja!"
"Dann ist ja gut." Lachend drückte er sie an sich. "Nein, Marion, bleib so. Du bist wirklich eine Bereicherung für unsere Zeit. Und wenn das klappt, was ich von deinem Beruf erwarte, wirst du sehr viele Menschen mit Glück erfüllen. Sag mir bitte, was genau ist so ein Dreirad?"
Marion trocknete sich die vor Lachen nassen Augen und riß sich zusammen.
"Das ist wie ein Motorrad, nur daß es eben zwei Hinterräder hat statt nur eins. Die, die ich gesehen habe, hatten einen Sitz, also für eine Person. Mir schwebte aber immer eins mit zwei Sitzen vor."
"Verstehe. Wie ein Motorrad, das umfällt, wenn niemand draufsitzt, aber durch die drei Räder hat es genügend Standfestigkeit. Wie wird das gelenkt?"
"Mit dem Lenker. Das Problem war - oder ist nur, daß die umkippen, wenn die zu schnell in die Kurve gehen. Aber bei 25 Km/h wird das wohl kaum passieren. Oder falls doch, müßte man eben den Radstand der hinteren Achse vergrößern und den Schwerpunkt sehr niedrig legen."
"Meine Ohren hören sehr interessiert zu", schmunzelte Valentin.
"Heißt das in deiner Zeit, daß du nichts verstehst?"
"Ja!" Er schlug sich lachend auf die Schenkel. "Marion, baue das Ding und zeige es mir. Vorher verstehe ich doch nicht, wovon du redest."
"Ach ja?" grinste Marion. "Und du bereitest Menschen aus meiner Zeit für die heutige Zeit vor? Au weia!"
"Vielen Dank!"
"Gern geschehen."
Sie sahen sich nur kurz an, dann mußten sie wieder laut lachen.
"Darf ich mitlachen?" Monika warf sich mit leuchtenden Augen auf das Sofa neben Marion.
"Zu spät!" Marion drückte ihre Schwester stürmisch. "Was gefunden?"
"Ja! Es gibt zwei Stellen, wo Lernmaschinen und eine Fabrik für Kleidung dicht beieinander sind. Nur knapp fünf Minuten zu Fuß auseinander. Und eine Fabrik von den beiden macht sogar gleichzeitig Kunststoff und Stoff, außerdem noch Metall und Leder! Und jetzt kommt der Hammer!" Sie sah ihre Schwester aufgeregt an. "Diese zweite Fabrik liegt ganz in der Nähe von einem See, und in der Umgebung sind noch viele schöne Häuser und Wohnungen frei!"
"Moni!" Marions Augen wurden feucht vor Glück über ihre Schwester. "Denkst du dabei an Mirna?"
"Ja. An sie und an mich." Die Freude in Monikas Augen erlosch plötzlich. "Ich möchte dich aber nicht alleine lassen", sagte sie bekümmert.
"Das wirst du auch nie", erwiderte Marion zärtlich. "Wir sind Schwestern, Moni. Wir bleiben immer zusammen, auch wenn wir getrennt wohnen. Valentin, kann Moni schon eine eigene Wohnung haben?"
"Theoretisch wie praktisch nein. Sie wird mit vielen Problemen konfrontiert werden, wozu sie immer deine Zustimmung brauchen wird. Es geht, aber es ist sehr schwierig und äußerst unbequem. Sie wird praktisch jede Sekunde des Tages daran erinnert, daß sie noch nicht volljährig ist. Das fängt schon beim Essen an, Marion. Wenn sie ihre Rohstoffe abholt, quittiert sie den Empfang, aber genau das wird nicht gehen, weil die Wohnung nicht auf ihren Namen eingetragen ist. Und das geht erst, wenn sie volljährig ist."
"Das hat Mirna auch schon gesagt", stimmte Monika zu. "Sie sagte, einer der Partner sollte schon einen Beruf haben."
"Da hat sie völlig recht, so leid es mir auch tut, Marion. Du würdest Moni damit keinen Gefallen tun. Ein Auto ist in Ordnung, aber eine Wohnung zieht zu viele Schwierigkeiten nach sich. Sobald sie ihren Beruf erlernt hat, ist das etwas völlig anderes. Nach der letzten Stunde der Ausbildung wird im System vermerkt, daß sie ihren Beruf erlernt hat, und damit ist sie automatisch volljährig."
"Dann warte ich", entschied Monika entschlossen. "180 Stunden? Das sind... Neun Monate. Das schaff ich."
"Es geht auch schneller", warf Valentin leise ein. "Es ist zwar unüblich, aber nicht unmöglich. Die Lernmaschinen kennen kein Wochenende, die Fabriken auch nicht. Wenn du auch Samstags und Sonntags lernst, kannst du es in knapp 26 Wochen erreichen, Moni. Ein halbes Jahr." Er überlegte kurz.
"Es ginge vielleicht noch schneller. Ich kenne den Inhalt deines Unterrichtes nicht so genau, aber ich meine mich zu erinnern, daß bestimmte Inhalte völlig unabhängig voneinander sind und nicht aufeinander aufbauen. Materialien und Werkzeuge, zum Beispiel. Du könntest morgens das eine und nachmittags das andere lernen. Aber das ist eine ziemlich große Belastung, weil... Nein, doch nicht. Du hast ja rund um die Uhr mit diesen Dingen zu tun, und wie eine Schere gehalten und benutzt wird, weißt du ja schon."
"So gerade!" kicherte Monika aufgekratzt. "Kann ich denn auch zwei Stunden gleich hintereinander machen?"
"Nein!" Valentin sagte dies so entschieden, daß die Schwestern erschraken. "Aus einem Grund nicht, Moni: das würde dein Gehirn zum Kochen bringen. Buchstäblich. Du würdest mit so viel Wissen vollgepumpt, daß du hinterher überhaupt nichts mehr wissen würdest. Sechs Stunden Abstand sind das absolute Minimum." Er entschuldigte sich nicht einmal für seinen heftigen Ausbruch, und gerade das machte den Mädchen mehr Angst als alles andere vorher.
"Gut", gab Monika schließlich leise nach. "Ein halbes Jahr ist ja auch schon viel schneller, als ich gedacht habe. Was muß ich überhaupt machen, um anfangen zu können?"
"Morgens zur Lernmaschine gehen und anschließend in die Fabrik. Sobald du da erscheinst, wird dich jemand ansprechen und fragen, ob dir geholfen werden kann. Dann sagst du Ja und erklärst, daß du gerade deine Ausbildung begonnen hast. Dann wird dir jemand zeigen, wo alles ist, und du kannst loslegen."
"So einfach?" fragte Monika ungläubig.
"So einfach", lächelte Valentin. "Hast du den Code für die Lernmaschine?"
"Ja. LMKCL5."
"Gut." Er sah Marion an. "Marion, es ist übrigens überhaupt kein Problem, eine Wohnung oder ein Haus auf einen anderen Volljährigen zu übertragen. Das geht sogar in wenigen Sekunden über das IS, aber das weißt du ja schon."
Marion riß die Augen auf. "Ja!" Ihr Kopf drehte sich aufgeregt zu ihrer Schwester. "Moni? Was hältst du davon, wenn wir uns mit Mirna heute abend mal so ein paar Wohnungen ansehen?"
"Wozu?" Monika hatte noch nicht so recht erfaßt, was Marion beabsichtigte. "Wir müssen ja doch noch warten."
"Tja, dein Pech", meinte Marion lakonisch. "Ich werde mir heute abend jedenfalls ein Haus am See ansehen und vielleicht auch schon kaufen."
Jetzt endlich klickte es.
"Jetzt ganz langsam!" sagte sie voll unterdrückter Aufregung. "Du willst dir heute abend ein Haus am See kaufen?"
"Mal sehen", schmunzelte Marion. "Mit ein paar Zimmern, damit ich meine ganzen Sachen überall herumliegen lassen kann... Doch, das klingt nett. Das mache ich vielleicht sogar."
"MARION!" Monika warf sich so heftig auf sie, daß Marion rücklings auf das Sofa fiel. "Marion! Kann ich dir das dann abkaufen, wenn ich volljährig bin?"
"Na endlich!" lachte Marion. "Bist ja doch nicht so doof, wie ich dachte!"
"Ich stopf dir deine blöde Zunge gleich in den Hals!" lachte Monika mit tränenden Augen. "Machst du das? Machst du das wirklich?"
"Wenn ich heute abend noch lebe..." Sie umarmte ihre Schwester herzlich. "Ja, Moni. Wenn ihr zwei ein schönes Haus findet, das euch gefällt, kaufe ich das, und du kaufst es mir später ab. Valentin? Können Moni und Mirna schon zusammen wohnen?"
"Wenn ihre Eltern einverstanden sind, sicher. Und so, wie das Gefühl zwischen den beiden ist, wird Mirna gar nicht lange reden müssen." Er schüttelte lächelnd den Kopf. "Keine fünf Wochen, und schon so selbständig. Unglaublich."
Marion lächelte mit nur einer Spur Traurigkeit. "Ich trauere noch um unsere Eltern, aber die Dankbarkeit, daß ich leben darf, wird von Tag zu Tag größer."
"Bei mir auch. Ich vermisse sie nur noch ganz selten." Auch Monika lächelte. "Meistens nachts, wenn ich mal aufs Klo muß. Wenn ich hinterher wieder im Bett liege, dann denk ich an sie, aber ich schlaf meistens gleich wieder ein."
"Das erfüllt mich mit großer Freude." Valentin stand auf. "Marion, ich lasse dich wissen, was ich erreicht habe."
"Dafür gehört dir mein Dank."
"Nun brich dir mal keinen ab." Valentin zwinkerte ihr zu und eilte zur Treppe. Marion sah ihm grinsend nach.
"Ich frag mich langsam, wer hier wen erzogen hat."



"Hallo, Denise! Das ist meine Schwester Marion. Ist Mirna da?"
"Hallo, Moni. Hallo, Marion. Es ist eine Freude, euch zu sehen. Mirna ist auf dem Weg nach Hause, ich erwarte sie jeden Moment. Bitte, kommt herein."
Die Schwestern folgten Denise in das Wohnzimmer. Denise versorgte sie mit Getränken, dann setzte auch sie sich.
"Dein Gesicht drückt große Aufregung aus", lächelte Denise verschmitzt. "Mirna hat sehr viel von dir erzählt. Auch von dir, Marion. Möchtest du die Freude deiner Gefühle mit mir teilen, Moni, oder sind sie nicht für mich bestimmt?"
"Doch, in gewisser Weise schon." Moni holte aufgeregt Luft. "Denise, Marion und ich wollen uns gleich ein paar Häuser ansehen. Unser Unterricht ist beendet. Morgen fange ich meine Ausbildung an."
"Meine Glückwünsche gehören euch. Sag, Moni, wird das Haus so groß sein, daß ihr Mirna aufnehmen könnt, wenn sie den Wunsch danach verspüren sollte?"
Monika strahlte. "Ja, Denise. Genau das wollte ich fragen. Ob Mirna bei uns wohnen kann, wenn sie möchte. Sobald ich volljährig bin, wird Marion mir das Haus verkaufen, bis dahin wird sie alles Notwendige für uns erledigen."
"Du erfüllst mein Herz mit sehr großem Glück, Monika. Daß unsere Tochter so viele schöne Gefühle in dir auslöst, macht uns sehr, sehr glücklich. Ja, Moni, sie kann gerne bei euch wohnen, wenn sie das möchte. Sie redet mehr von dir als von ihrer Arbeit. Bevor sie dich kannte, redete sie nur von ihrer Arbeit. Wie sieht es mit deinen Gefühlen für sie aus, wenn du mir dies mitteilen möchtest?"
"Genau so stark." Monika sah Denise ernst an. "Ich hatte früher viele Freundinnen, aber ich habe niemals so ein Glück verspürt wie jetzt. Wenn Mirna und ich zusammen sind, ist das für mich wie ein ganz neues Leben. Hat sie erzählt, daß Marion und ich einen schweren Unfall hatten?"
"Ja, Moni. Ich weiß, was mit euch war, und daß ihr heute wieder unverletzt und glücklich leben könnt, ist eine große Freude für uns alle."
Marion klinkte sich in das Gespräch ein. "Die Freude ist bei uns, Denise, denn Mirna hat Monika sehr geholfen, in dieser Zeit Freude und Glück zu finden. Denise, du und dein Partner seid selbstverständlich jederzeit bei uns willkommen. Kommt zu uns, wann immer ihr das Bedürfnis nach Mirnas Gegenwart verspürt. Bitte mach uns die Freude, unsere Codes entgegenzunehmen, um jederzeit mit uns über Mirna reden zu können." Das war, wie Monika sich wegen ihrer Aufregung verspätet erinnerte, ein Teil des heute üblichen Vorgangs, wenn man sich einen noch nicht volljährigen Partner erwählte. Denise strahlte auch sofort.
"Das Glück ist bei mir, denn unser Freundeskreis ist jetzt um Menschen erweitert worden, die uns Freude und Glück geben. Mit der größten Freude werde ich euer Angebot annehmen." Das war die freundlichste Art, es zu sagen, denn üblich war nur: 'Mit großer Freude'.
"Du schenkst uns sehr viel mehr Glück, als uns zusteht", lächelte Marion dankbar. Auch das war eine Steigerung der üblichen Formel. Aber Denise übertraf es noch.
"Macht mir die große Freude und erlaubt mir, euch Kinder zu nennen." Damit standen Monika und Marion in Denises Gefühl wie ihr eigenes Kind. Das war weit mehr, als Marion jemals erwartet hatte.
"Das Glück, wieder eine Familie zu haben", erwiderte Marion mit zitternder Stimme, "ist zu groß, als das ich es in Worte fassen könnte. Bitte erlaube mir, es dir so zu zeigen, wie ich es empfinde." Sie stand auf und ging zu Denise, die sie mit offenen Armen empfing. Auch Monika warf sich dazu. Die Schwestern hatten größte Mühe, ihr Schluchzen zu unterdrücken.
In diesem Moment betrat Mirna den Schauplatz der aufgewühlten Emotionen. "Offenbar muß ich mir eine Arbeit suchen", sagte sie trocken, "die ich von zu Hause aus erlernen kann, denn die wirklich interessanten Dinge haben sich entschieden, an mir vorbeizugehen."
"Die wirklich interessanten Dinge kommen unerwartet zu dir", lachte ihre Mutter. "Mirna, setz dich zu mir."
Mirna ließ sich mit fragendem Gesicht neben ihrer Mutter nieder, Monika und Marion setzten sich wieder auf ihre Plätze. Sowohl Monika als auch Mirna hielten ihre Wiedersehensfreude im Zaum.
"Mirna", sagte ihre Mutter dann mit hörbarer Freude in der Stimme, "Monika möchte dir etwas mitteilen."
Monika stand auf, ging zu Mirna und kniete sich zwischen ihren Beinen auf den Boden, dann sah sie Mirna an. "Mirna", sagte sie voller Gefühl für ihre Freundin, "würdest du mir die große Freude machen, mit uns zu fahren, um ein Haus am See auszusuchen, in dem wir beide gemeinsam leben können? Zuerst als Freundinnen, und später, wenn wir beide bereit dafür sind, als Partner? Würdest du mir das Glück schenken, deine Anwesenheit so oft wie möglich genießen zu dürfen?"
"Moni!" Mirnas Brust hob und senkte sich aufgeregt. Sie sah schnell zu ihrer Mutter, die gerührt nickte, und dann zu Marion, die ihr zuzwinkerte.
"Ja, Monika", sagte sie dann feierlich. "Dein Angebot, unser Leben gemeinsam zu verbringen, nehme ich mit dem größten Glücksgefühl an. Du schenkst mir einen Traum, den ich schon habe, seit ich dich das erste Mal sah und mit dir redete. Möge das Glück, was du mir in diesem Moment schenkst, immer bei mir sein und auf dich zurückfallen, solange ich lebe. Und möge die Liebe, die zwischen uns ist, in diesem Moment erst richtig beginnen."
"Und wachsen mit jedem Blick, den wir uns schenken, und mit jedem Wort, das wir uns sagen. Du sollst der erste Mensch überhaupt sein, mit dem ich mein neues Wissen teile." Monika senkte ihren Kopf. Marion erschrak, als sie erkannte, daß ihre Schwester begann, Mirna zu verwöhnen, doch dann siegte das neue Wissen in ihrem Kopf. Der laute Schrei, mit dem Mirna keine zwei Minuten später ihre Freude verkündete, ließ sogar die Augenbrauen ihrer Mutter ein gutes Stück höher wandern.
Als Mirna wieder bei sich war, drückte sie Monika überwältigt an sich. "Dein Wissen ist sehr viel anders als meines", flüsterte sie gerührt. "Laß uns oft zusammen üben, damit wir uns gegenseitig nur die schönsten Gefühle schenken können."
"Das werden wir." Monika schmiegte sich kurz an sie, dann schaute sie Mirna an. "Wann hast du Zeit, Mirna? Wegen dem Haus, meine ich."
"Jetzt. Meine Arbeit ist für heute getan. Ich zieh mich nur schnell um, ja?"
"Ich warte gerne auf dich."



Die Schwestern hatten gelernt, daß jedes unbewohnte Haus oder ein Haus mit einer oder mehreren unbewohnten Wohnungen einen eigenen Code hatte, der es dem Auto ermöglichte, es anzufahren. Marion hatte sich inzwischen einen kleinen Handcomputer zugelegt, der unter anderem als Notizbuch diente, denn Papier wurde nicht mehr verwendet. Nacheinander fuhren sie die Häuser ab, die Marion sich notiert hatte, und das siebte schlug Monika und Mirna sofort in seinen Bann.
Es war ein Haus mit einer Ebene und vier großen Zimmern, einem Badezimmer mit einer Wanne, die für zwei Personen ausgelegt war, und einer Dusche, ebenfalls für zwei, sowie einer sehr geräumigen Küche mit Bar, wie Valentin sie hatte. Es war die Erfüllung der heimlichen Träume beider Mädchen. Das Wohnzimmer zeigte auf eine sehr große Terrasse, die sich über die gesamte Breite des Hauses erstreckte, und auch von einem der beiden anderen Zimmer aus zugänglich war. Der Garten war sehr gepflegt und grenzte sogar direkt an einen See, der etwa dreihundert Meter im Durchmesser maß.
"Alle leeren Häuser und Wohnungen werden einmal in der Woche gereinigt und gepflegt", erklärte Mirna. "Das ist auch eine Basisarbeit. Wie teuer ist das Haus?"
"17.000 Euro", antwortete Marion nach einem Blick auf ihren Handcomputer. "Gefällt es euch?"
Monika nickte strahlend, und Mirna sagte mit nassen Augen: "Es ist genau wie das Haus, von dem ich immer geträumt habe, Marion. Eine Wiese mit dichtem Gras, und direkt dahinter der See. Ja, Marion. Es gefällt mir sehr, sehr gut. Es kann kein schöneres geben."
"Dann ist es entschieden." Sie ging zu dem IS im Wohnzimmer und aktivierte es. Nach nicht einmal fünfzig Sekunden war der Kauf vollzogen, und Marion war als Besitzer eingetragen. Gleichzeitig war der Kaufpreis von ihrem Konto auf das des früheren Besitzers übertragen.
"So schnell kauft man ein Haus. Cool. Dann kommt mal mit, ihr zwei", schmunzelte sie. Sie verließen das Haus und versammelten sich vor der Tür. Marion öffnete sie wieder mit Hilfe der Platte am Eingang, dann wiederholte sie das, was Valentin vor fast fünf Wochen mit ihnen gemacht hatte.
"Zwei neue Bewohner", sagte sie zu der Platte. "Mirna A066C, 25.1.2062." Sie nickte Mirna zu, die aufgeregt näherkam und ihre Hand auf die Platte legte. Es piepste kurz, dann bat eine künstliche Stimme: "Deinen Namen, bitte."
"Mirna A066C."
"Erkannt. Zweiter Bewohner?"
"Monika Linke, 25.1.1986."
Monika trat vor, legte ihre Hand auf die Platte und wiederholte nach der Aufforderung ihren Namen, dann war auch sie erkannt. Marion versuchte etwas, von dem sie hoffte, es würde klappen.
"Hauptbewohner", sagte sie zu der Platte, "sind Mirna A066C und Monika Linke."
"Anforderung kann nicht erfüllt werden", sagte die Stimme, sogar mit einem deutlichen Bedauern. "Keiner der genannten Bewohner ist volljährig."
"Na gut", seufzte Marion. "War ein Versuch. Wollen wir uns Möbel aussuchen?" Sie zog die Tür wieder zu, als die beiden Mädchen aufgeregt nickten, dann fuhren sie zurück in die Stadt.
"Mirna, möchtest du deine Möbel von Zuhause mitnehmen?" fragte Marion während der Fahrt.
"Nein, das ist nicht nötig. Monika und ich wollen uns ein gemeinsames Bett kaufen, und alle anderen Sachen auch gemeinsam aussuchen. Wenn ich ausgezogen bin, werden meine Eltern meine alten Möbel für eine Basiswohnung freigeben. Sie werden dann abgeholt, überarbeitet und in einer freien Wohnung aufgestellt. Ich werde nur das IS vom Institut und meine persönlichen Sachen mitnehmen."
Mirna war sehr anspruchslos, wie Marion im Möbelgeschäft feststellte. Sie begnügte sich mit den Basismöbeln. Monika jedoch auch. Die beiden hatten schon Wohn- und Schlafzimmermöbel ausgesucht, als Marion noch immer unentschlossen zwischen mehreren Betten hin und her pendelte.
"Leg dich einfach hin", riet Monika ihr. "Aber schlaf nicht ein! Wir gehen noch was anderes gucken, ja?"
"Macht das."
"Sie braucht immer so lange", meinte Monika lapidar, während sie mit Mirna zur Bettwäsche ging. Mirna nickte lächelnd, dann sah sie Monika an.
"Moni, ich würde die erste Nacht in unserem neuen Heim gerne mit Marion verbringen. Als Dank für all das, was sie für uns tut."
"Es ist eine Freude für mich, zu hören, daß du sie ebenso magst wie ich." Monika nahm Mirna während des Gehens in den Arm. "Tu das, Mirna. Es wird sie bestimmt sehr freuen. Kommt deine Wäsche von hier?"
"Ja. Da hinten in dem Regal liegt sie."
"Was magst du eigentlich so an Violett?" fragte Monika neugierig.
"Es gibt mir Ideen." Mirna lächelte schüchtern. "Es hilft mir beim Denken."
Monika grinste hinterhältig. "Dann sollten wir Marion ganz schnell was Violettes umlegen, damit sie sich entscheidet."
"Moni!" Mirna drückte sich lachend an sie. "Dein Humor ist wundervoll!"
"Meine Eltern meinten immer, er wäre ein bißchen zu grob."
"Du meinst es doch nicht grob." Mirna gab ihr einen zärtlichen Kuß. "Ich weiß, daß du Marion liebst. Ich sehe hinter die Wörter."
Sie waren inzwischen bei dem Regal angelangt. Mirna wühlte sich schnell durch die verschiedenen Größen, dann hatte sie ihre Wäsche.
"Jetzt du", sagte sie ernst zu Monika. "Du wählst auch eine Farbe. Bitte nimm die, die du magst."
"Okay." Monika sah kurz auf das Schild an Mirnas Bettwäsche, dann wählte sie die gleiche Größe in Dunkelrot.
"Das mag ich sehr. Es gibt mir ein Gefühl von Wärme und Geborgenheit."
"Dann", sagte Mirna ernst, "werde ich mich morgen Dunkelrot anmalen."
"Besser nicht." Monika drückte sie liebevoll. "Nachher denke ich noch, du bist eine Erdbeere, und beiße dich."
Mirna legte ihre Hände an Monikas Wangen, ihre Augen wanderten verliebt über Monikas Gesicht und verharrten schließlich bei ihren Augen. "So kurz kennen wir uns erst", sagte sie leise. "Und doch denke ich manchmal, daß wir uns besser kennen als Menschen, die schon viele Jahre miteinander leben. Moni, ich liebe dich."
"Du erwiderst meine Gefühle für dich", lächelte Monika bewegt. "Das ist das schönste Geschenk, was ich jemals erhalten habe. Auch ich liebe dich, Mirna."
"Wie hättest du in der Sprache deiner Zeit geantwortet?" fragte Mirna neckisch.
"Hm... Soll ich?"
"Ja!"
Monika machte ein sehr cooles Gesicht. "Liegt wohl daran, daß wir beide auf der gleichen Wellenlänge funken, Kleine. Hättste Lust, heute abend was Geiles zu erleben? Mal bei der richtig vollen Action mitzumachen?"
"Moni!" Mirna atmete aufgeregt ein. "Moni, das klingt richtig wild und aufregend!"
"Aber lange nicht so schön." Monika legte ihre Wange an die von Mirna. "Eure Sprache gefällt mir sehr viel besser", flüsterte sie. "Sie ist sanfter, liebevoller, und sehr viel freundlicher als unsere."
"Wir suchen wohl immer das, was nicht in uns ist." Mirna küßte sie zärtlich. "Bist du wild, suchst du das Sanfte, und bist du sanft, suchst du das Wilde."
"Ich liebe das Sanfte in dir." Monika ließ ihre Zunge sacht über Mirnas Lippen gleiten. "Die Berührung deiner zärtlichen Finger läßt mich erzittern vor Freude. Das Wilde ist gut für den Augenblick, aber das Sanfte dauert ein Leben lang an." Ihre Finger drückten leicht auf Mirnas Brüste.
"Du weißt", sagte Mirna erregt, "daß dieses Geschäft einen gelben Kreis an der Tür trägt?"
"Ja."
"Gut." Ihre Zunge kam heraus und leckte sanft über die von Monika, dann beherrschten sich die Mädchen und sahen nach Marion, die endlich ihre Wahl getroffen hatte.
"Als ich das Bett hatte, ging's leicht", grinste sie breit. "Ich hab alles. Nein, doch nicht. Wo gibt's Bettwäsche?"
"Ich zeige es dir." Mirna nahm sie an die Hand und führte sie. Marion fand schnell etwas, was ihr gefiel.
"Gut, dann schauen wir mal." Sie sah Mirna und Monika an. "Ihr habt ein Bett und die kleinen Tische dazu. Das habe ich auch. Kleiderschränke sind im Haus eingebaut. Ich habe einen Tisch, zwei Stühle und ein Regal. Mirna, was brauche ich noch in meinem Zimmer?"
"Den Grundbedarf hast du", erwiderte Mirna. "Für das Wohnzimmer haben wir zwei kleine Sofas und zwei Sessel. Einen Tisch ebenfalls, Regale haben wir auch. Ebenso die Hocker für die Küche, und den Grundbedarf an Besteck und Gedecken. Moni hat noch an einen kleinen Schrank für den Eingangsbereich gedacht, auf den wir unsere Taschen legen können. Für das Zimmer, in dem Moni und ich arbeiten werden, haben wir einen breiten Tisch und zwei Stühle sowie ein großes Regal. Marion, ich habe nicht darauf geachtet, ob im Badezimmer eine Warmluftdüse ist. Wenn es die nicht gibt, dann brauchen wir noch Handtücher."
"Doch, da ist eine. Sogar zwei. Eine neben der Dusche und eine über dem Becken für die Hände. Was brauchen wir an Reinigungsmitteln, Mirna? Das wurde in unserem Unterricht leider nicht behandelt."
"Es ist mir eine Freude, euch helfen zu können", lächelte Mirna glücklich. "Kommt ihr bitte mit?"
Wenig später war auch dies erledigt. Als Marion hörte, daß alle ausgesuchten Teile innerhalb der nächsten sechzig Minuten vor ihrem Haus wären, war das für sie der stärkste Beweis, daß sie in der Zukunft war.
"Echt cool. Mirna, darf ich dich noch einmal belästigen?"
"Wann und wo du willst", lächelte Mirna mit schimmernden Augen. "Eine Belästigung von dir ist für mich ein Vergnügen."
"Abwarten." Marion zwinkerte ihr zu. "Monika sagte, du hättest ein besonderes IS erwähnt, das sehr viele Funktionen hat. Wenn wir das Haus schon neu einrichten, können wir es auch gleich gründlich tun. Wo gibt es diese Dinger?"
"Laß mich nachdenken, bitte... Ja. Vielleicht fünf Minuten von hier, zu Fuß. Da ist ein Geschäft, das IS verkauft."
"Dann nichts wie hin." Die drei marschierten los.
"Mirna, wie werden die IS angeschlossen?"
"Jeder Raum hat mindestens drei, meistens vier Anschlüsse dafür, Marion. Sie beziehen ihre Energie für den Betrieb aus der Solaranlage des Hauses, die mit den Anschlüssen verbunden ist, so daß du es hinstellen kannst, wo du möchtest."
"Du bist uns eine große Hilfe, Mirna. Wann bist du bereit, zu uns zu kommen?"
"Sobald ihr sagt, daß ich kommen kann."
"Dann morgen? Heute richten wir alles ein, und morgen ziehen wir um."
"Dann werde ich mich heute abend von meinen Eltern verabschieden und voller Freude auf den morgigen Tag einschlafen."

* * *

Marion hatte Mirna auf ihren Wunsch nach Hause gehen lassen, damit sie schon ihre Sachen einpacken konnte. Ihre Mutter hatte bereits einige große und stabile Tüten für sie besorgt. Bewegt stand sie in der Tür und sah zu, wie ihre Tochter ein Teil nach dem anderen einpackte.
"Ich freue mich für dich", sagte sie, als Mirna eine kleine Pause machte, nachdem ihre ganzen Figuren von der Theatergruppe verstaut waren.
"Ich mich auch." Mirna drehte sich im Sitzen um und strahlte ihre Mutter an. "Ich verdanke euch so viel!"
"Dein Glück ist unser Glück." Denise setzte sich neben sie auf den Boden. "Wann wirst du gehen?"
"Morgen. Nach dem Unterricht werden Moni und ich uns treffen. Sie kommt mit hierher, dann fährt sie mich zu dem neuen Haus."
"Ein Haus am See", lächelte Denise. "Mit Garten direkt am See. Dein Traum wird wahr, Mirna."
"Ja, Mutter." Mirna umarmte sie voller Liebe. "Und ein zweiter, noch gar nicht geträumter, auch. Sag, würdest du mir erlauben, heute abend bei Vater zu übernachten? Ich möchte mich auch bei ihm bedanken."
"Natürlich, Mirna. Wenn meine Gegenwart euch nicht stört, würde ich eure Freuden gerne vergrößern."
"Du bist mehr als willkommen!" Mirna schmiegte sich glücklich an ihre Mutter. "Bist du wirklich mit Moni einverstanden, Mutter?"
"Ich sehe ihre Augen, und ich sehe ihr Gefühl für dich. Ich höre ihre Worte. Ich weiß um ihre Vergangenheit. Ja, Mirna. Ich bin mehr als nur einverstanden mit ihr. Moni liebt dich, und du liebst sie. Sie erfüllt deine Träume und Wünsche, noch bevor du selbst sie kennst. Mehr Glück kann eine Mutter für ihr Kind nicht erhoffen." Sie drückte ihre Tochter zärtlich an sich.
"Mirna, nimm es bitte nicht übel, daß ich in diesem wunderschönen Moment von Geld rede, aber ich glaube, du wirst verzeihen. Bei deiner Geburt haben dein Vater und ich ein Konto für dich angelegt und seitdem für den Tag deiner Partnerschaft versorgt. Wenn du morgen mit deinem Besitz diese Wohnung verläßt, werde ich es für dich aktivieren, und wenn du bei Moni wohnst, wirst du darauf Zugriff haben. Es sind keinerlei Beschränkungen darauf außer denen, die für dein Alter gelten. Bitte Marion, in deinem Namen ein Fahrzeug für dich zu kaufen, wenn du dies möchtest, oder benutze es so, wie du es für richtig hältst."
"Mutter!" Aufgelöst umarmte Mirna ihre Mutter. "So viel Glück!"
"Du schenkst uns auch viel Glück, Mirna." Denise strich ihr über die Haare. "Vom ersten Tag deines Lebens an hast du das getan. Doch verzeih! Ich halte dich von deiner Arbeit ab."
"So wie ich dich nun von deiner Arbeit abhalten werde." Sie drückte ihre Mutter auf den Boden und legte sich auf sie.
Bei Valentin und Valerie war der Abschied ähnlich bewegt, nur daß die Schwestern nicht so viel einzupacken hatten. Ihr Besitz paßte in jeweils eine kleine Tüte.
"Also eure Möbel stehen schon?" fragte Valentin staunend. "Ihr seid ja noch schneller, als ich gedacht hatte. Offensichtlich liegt euch sehr viel daran, endlich von uns wegzukommen."
"Valentin!" Marion sah ihn strafend an. "Erst sagst du uns, daß du uns auf diese Zeit vorbereiten willst, und wenn es dann soweit ist, ist es auch nicht recht. Sag doch gleich, daß du dich viel zu sehr an uns gewöhnt hast."
Valentin sah zu seiner Partnerin, die breit grinste. "Es wird wirklich Zeit, daß sie verschwinden", seufzte er. "Sie fangen an, mich zu durchschauen."
Marions Blick wurde weich. "Du bist nicht nur ein liebes Kerlchen, Valentin. Du bist ein ganz feiner Mensch."
"Dieser Aussage", meinte Monika mit einem feierlichen Gesicht, "kann ich mich nur voll und ganz anschließen. Valentin, kann Mirna auch mal irgendwann Menschen wie uns aufnehmen?"
Dankbar für den Themenwechsel nickte Valentin. "Ja, Moni. Sobald sie drei Jahre in ihrem Beruf gearbeitet hat."
"Gibt es denn noch viele wie uns?" Marion kräuselte ihre Stirn. "Lena sagte was von 14.000 Patienten..."
"Laßt mich vorne beginnen, Kinder", lächelte Valentin. "Zentral 49 wurde 2012 ins Leben gerufen, als sich herausstellte, daß die Krankenhäuser einfach keine Kapazität mehr hatten, Tiefschlafkammern aufzunehmen. Ihr könnt übrigens von Glück reden, daß sämtliche Einrichtungen, die Schwerverletzte eingefroren haben, per Atomstrom versorgt wurden. Sonst wärt ihr heute nicht hier."
"Da hab ich mir auch schon Gedanken drüber gemacht", gestand Marion. "Als ich hörte, daß für Wochen der Strom weg war... Aber ich wollte nicht länger drüber nachdenken. Ich meine, daran zu denken, daß man stirbt, ohne es mitzukriegen..." Sie schauderte leicht.
"Richtig, Marion. Das ist kein angenehmer Gedanke. Wie gesagt, als sich herausstellte, daß europaweit sehr viele Tiefschlafkammern existierten, wurde Zentral 49 ins Leben gerufen. Die Zahl 49 steht für die alte Telefonvorwahl vom Ausland aus, die erst um - ich glaube, 2025 oder so abgeschafft wurde. Egal. Zentral 49 wurde die Anlaufstelle für alle Schwerverletzten, die momentan noch nicht geheilt werden konnten. Oder die schon seit Jahren im Koma lagen. Nach der Jahrtausendwende waren das sehr viele." Er schwieg für einen Moment bedrückt.
"Zentral 49 hat im Lauf der Zeit mehr und mehr Komapatienten eingefroren und erst dann wieder erweckt, als die Medizin dafür geeignet war. Ja, es gibt noch viele wie euch, Marion. Pro Monat werden etwa zehn Patienten erweckt. Deutsche Patienten bleiben hier, die aus anderen Ländern werden nach dem Erwecken in ihr Heimatland transportiert und dort umgehend in einen Regenerationstank gesteckt. Soweit ich weiß, sind noch fast 4.000 aus Deutschland in Zentral 49. Diese Menge auf einmal zu erwecken übersteigt nicht nur die technischen Möglichkeiten des Krankenhauses, sondern auch die der Helfer, die dafür sorgen, daß diese Menschen in unserer Zeit zurechtkommen. Es wird geschätzt, daß Zentral 49 in etwa 50 Jahren nur noch das Forschungszentrum für Gentechnik ist, was derzeit etwa 25% des Volumens dort ausmacht. So gesehen stehen die Chancen recht gut, Moni, daß Mirna auch eines Tages zwei solche Chaoten wie euch bekommt."
"Danke!" rief Marion lachend aus.
"Gern geschehen." Valentin zwinkerte ihr zu. "Nun denn, Kinder. Morgen wollt ihr umziehen?"
"Ja. Moni fängt am Montag mit dem Unterricht an, den Rest der Woche und das Wochenende will sie sich nur um das Haus und vor allem um Mirna kümmern. Und ich selbst kann auch ein paar ruhige Tage vertragen."
"Die braucht ihr auch." Valentin sagte dies mit ernstem Nachdruck. "Mädchen, ihr zwei habt in Rekordzeit Fuß gefaßt in dieser Zeit, die auch jetzt die eure ist. Laßt alles, was ihr gelernt habt, erst einmal gründlich sinken. Marion, immer noch wütend, daß wir uns erdreisten, das Wetter zu kontrollieren?"
"Nein!" grinste Marion. "Mit einem Häuschen am See und einem Garten nicht mehr. Geile Idee, es nur nachts regnen zu lassen."
"Na also. Aber immer erst maulen."
"Klar! Ich könnte ja auch mal recht haben!" Lachend warf sie sich an ihn.
"Nie!" Valentin drückte sie kurz, dann ließ er sie frei. "Kommt Mirna heute oder morgen?"
"Ich hol sie morgen ab", meldete Monika sich. "Gleich, wenn sie ihren Unterricht beendet hat."
"Gut. Würdet ihr mir dann die Freude machen und heute abend mit Valerie und mir Essen gehen?"
Das stieß auf sehr großen und begeisterten Zuspruch.



Der nächste Morgen begann leicht hektisch. Marion und Monika liefen mehrmals durch die gesamte Wohnung, um sicherzugehen, daß sie wirklich nichts vergessen hatten. Schließlich standen sie marschbereit im Wohnzimmer.
"Schön." Valentin stand auf und kam zu ihnen.
"Bitte nehmt meine besten Wünsche für eure Zukunft mit in euer neues Heim", sagte er dann sanft. "Ihr habt eure Welt verloren, doch dafür eine gewonnen, die ebenfalls sehr viel zu bieten hat. Viele Dinge kennt ihr schon, um jeden Tag mit Freuden zu beginnen und zu beenden, alles andere wird euch begegnen, wenn ihr die Augen offenhaltet und danach sucht. Die Hilfsbereitschaft der Menschen wird immer um euch sein. Möge das Glück jeden eurer Schritte lenken und begleiten." Er umarmte erst Monika, dann Marion.
"Unser Dank gehört dir", sprach Marion dann gerührt. "Du hast uns eine Welt nahegebracht, die uns sehr fremd sein würde, wenn dein Verständnis und deine Güte sie uns nicht so liebevoll ans Herz gelegt hätte. Unser Verlust wurde dadurch mehr als ausgeglichen. Mögest du mit deiner Partnerin lange Zeit glücklich sein." Sie umarmte ihn erneut, dann küßte sie ihn zart. "Danke."
"Auch mein Dank gehört dir", sagte Monika dann. "Ohne dich würde ich heute heulend in der Ecke liegen, doch statt dessen lebe ich. Und das sogar glücklich. Danke, Valentin." Auch sie küßte ihn, allerdings etwas forscher als Monika.
"Euer Glück ist mein Glück." Valentin mußte tatsächlich blinzeln. "Nun geht in eure neue Zukunft." Er schob die Mädchen zur Tür und winkte ihnen noch nach, bis sie in ihren Autos verschwunden waren, dann seufzte er tief und ging zum IS. Sekunden später war er mit Lena verbunden.
"Hallo, Lena. Die Schwestern sind soeben ausgezogen, bereit für die neue Zukunft. Was hast du als nächstes für mich vorgesehen?"
Während Valentin sich um die nächsten Gäste bemühte und die Schwestern aufgeregt ihrem neuen Haus entgegenfuhren, war Mirna die Ruhe selbst. Sie stand gelassen auf, machte sich in aller Ruhe fertig, aß gemütlich ihr Frühstück und ging zur gewohnten Zeit zur Lernmaschine. Erst als die Stunde vorbei war, wuchs die Aufregung in ihr wieder. Und tatsächlich: als sie aus dem Gebäude kam, wartete Monika schon auf sie.
"Moni!" Mirna warf sich stürmisch in ihre Arme.
"Mirna!" Bewegt drückte Monika ihre Freundin an sich. "Was hast du heute Schönes gelernt?"
"Unterschiede der verschiedenen Gesetzgebungen. Kenn ich zwar schon, ist aber diesmal wesentlich tiefer als beim Basiskurs. Seid ihr schon umgezogen?"
"Ja. Marion wirbelt durch das ganze Haus und macht sauber, obwohl alles sauber ist."
"Das kenne ich", schmunzelte Mirna. "Ich hol mir immer was Süßes aus dem Synthesizer, wenn ich aufgeregt bin. Meine Sachen stehen alle bereit."
"Dann los." Sie nahm Mirna an die Hand und ging mit ihr zu ihrem Haus. Ein paar Minuten später waren alle Tüten im Auto verstaut.
"Wir können gleich los", sagte Mirna, als Monika zögerte. "Ich habe mich bereits gestern von meinen Eltern verabschiedet."
"Ah ja. War's schön?"
Mirna nickte mit leuchtenden Augen.
"Dann steig ein, deine neue Wohnung wartet."
"Und mein neues Leben an deiner Seite." Geschmeidig ließ sich Mirna in den Sitz fallen. Monika rutschte neben sie.
"Nach Hause", sagte sie laut. Der Wagen schloß sich und fuhr los. Monika rutschte von Mirna weg, dann ließ sie sich mit ihrem Kopf auf Mirnas nackte Beine fallen.
"Das tut gut!" lächelte sie mit geschlossenen Augen. Sie drehte sich zu Mirna und knabberte zärtlich an ihrem Oberschenkel.
"Wir sind wie Magnete", sagte Mirna leise, während ihre Finger zärtlich durch Monikas Haare fuhren. "Du bist nach außen wild und beim Sex sehr sanft. Ich bin nach außen sanft und beim Sex sehr wild. Auch da ergänzen wir uns."
"Ich und sanft beim Sex?" grinste Monika. Sie drückte Mirnas Beine auseinander und leckte sie kurz, aber kräftig. Mirna atmete erregt aus.
"Mach noch mal!"
Gehorsam fuhr Monika mit ihrer Zunge ein weiteres Mal über Mirnas Scheide, dann setzte sie sich wieder auf und kuschelte sich mit dem Gesicht an Mirnas Hals.
"Jetzt wohnen wir zusammen", flüsterte sie verliebt. Mirna nickte leicht.
"Ja, Moni. Jetzt wohnen wir zusammen." Ihre Finger glitten sanft über Monikas Brüste. "Du schenkst mir ein Glück, das ich weder so früh noch in dieser Intensität erwartet hatte. Jetzt, da ich es spüre, kann ich es kaum fassen. Mir kommt es vor, als wäre selbst die Partnerschaft noch zu wenig für uns. Gibt es noch eine Steigerung?"
Monika nickte mit feuchten Augen. "Ja, Mirna. Die Liebe zwischen uns kann noch wachsen, so wie wir mit jedem Tag wachsen. Es gibt Momente, da möchte ich dich so eng an mich drücken, daß wir zwei verschmelzen. Diese Momente werden mehr und mehr, je öfter ich dich sehe."
Mirnas Augen leuchteten auf. "Und der Tag wird kommen, an dem dieser Moment so lange dauert wie das Wachen. Ist es das, was du sagen willst?"
"Ja, Mirna. Im Schlafen bist du schon bei mir. Ich träume jede Nacht von dir."
"So wie ich von dir." Mirna schwang ein Bein über Monika und setzte sich auf ihre Oberschenkel. "Laß uns gleich im See schwimmen gehen, ja?" flüsterte sie erregt.
"Und wenn das Wasser kalt ist?" fragte Monika skeptisch. Mirnas Augen funkelten vor Vergnügen.
"Das wird es nicht lange bleiben!"





Ausblick:

Am Freitag, dem 4. Januar 2075, erlebte Monika ihre letzte Unterrichtsstunde und wurde somit volljährig. Das erste, was sie tat, als sie nach Hause kam, war, ihrer Schwester das Haus abzukaufen. Mirna schloß ihre Ausbildung keine zwei Monate später ab und bekam sofort eine Arbeit im Institut. Monika entwarf in den folgenden Wochen eine Kollektion aus hauchdünnem, durchsichtigem Plastik, deren Höhepunkt ein Ganzkörperanzug war, der im Sonnenlicht schimmerte wie ein Prisma. Natürlich hatte der Anzug winzig feine Löcher, damit die Haut atmen konnte.
Marion schloß einen weiteren Monat später ihre Ausbildung ab. Ein halbes Jahr später fuhr der Prototyp ihres Dreirades durch die City, mit ausdrücklicher Erlaubnis des derzeitigen Diktators namens Daniel, der es sich nicht nehmen ließ, ebenfalls eine Probefahrt damit zu unternehmen. Als Marion sah, daß seine Augen nach der Fahrt leuchteten wie bei einem kleinen Kind, verschwand auch der letzte Rest an Vorbehalten, die sie gegenüber der Diktatur noch hatte.
Als die Serienproduktion anlief, zog sie aus, in eine Basiswohnung in der Innenstadt. Sie verbrachte viel Zeit auf den Plätzen, mit einem gelben Haarband, und nach und nach lernte sie viele Leute kennen, darunter auch einen Mann in ihrem Alter, mit dem sie sich von Tag zu Tag länger unterhielt. Es dauerte fast ein ganzes Jahr, bis sie merkte, daß sie in Ingo - wie er hieß - unsterblich verliebt war, doch als sie sich das eingestand, war es zum Erkennen, daß auch Ingo sie sehr liebte, nicht mehr weit. Einige Wochen später zogen sie als Partner zusammen.



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