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SH-059 – Hochwasser
Hochwasser .... (sh-059.zip) (Mfgg all combinations slow cons ped inc 1st job mc) (242k)
Dieter Kaminski ist Ausbildungsleiter in einem großen Metallwerk in Koblenz. Er ist 42 Jahre alt, verbittert, zynisch, und ein Frauenhasser, wie er im Buche steht. Als die Geschäftsleitung beschließt, ihm sechs 14jährige Mädchen von der Hauptschule für ein einmonatiges Praktikum unterzujubeln, rastet er beinahe aus. Daß eines der Mädchen Heroin spritzt, ein zweites ein Klassenzimmer gesprengt hat und ein drittes wegen Masturbierens im Unterricht von der Schule geflogen ist, sind noch die geringsten aller Probleme... (Für alle Freunde von Christina Witt aus "SH-016 Christina": auf euch wartet eine Überraschung!)
Der Hallenleiter
Kapitel 1
Fassungslos legte ich den Hörer zurück. Sie hatten es tatsächlich wieder getan! Und nicht nur das; sie hatten es dieses Mal sogar noch übertroffen! Hilflos schaute ich mich in meinem Büro im ersten Stock um, von dem aus ich einen guten Überblick über die gesamte Halle hatte, doch es blieb dabei: vom 2. bis zum 27. November würden sechs Hauptschülerinnen ihren Berufsvorbereitungsmonat in unserem Werk ableisten. Sechs vierzehnjährige Mädchen, denen jeder einzelne Handgriff gezeigt werden mußte, die nach der Mama schrien, wenn sie etwas streng angeblickt wurden, die nach der Polizei brüllten, wenn ihre kleinen Patschhändchen angefaßt wurden, um zu vermeiden, daß sie sich mit den Bohrmaschinen hübsche Löcher in ihre hübschen Finger bohrten. Ganz offensichtlich hatte mein seitenlanger Bericht über die fünf Jungen, die aus dem gleichen Grund im Februar bei uns gewesen waren, überhaupt nichts gebracht. Sechs kleine Mädchen in einer Halle voller Männer! Das konnte doch einfach nicht wahr sein! Wütend griff ich zum Telefon und tippte sehr kräftig auf die Tasten. Sekunden später hörte ich: "Personalabteilung, Erwin Korsten. Was kann ich für Sie tun?" Stiefellecker! "Tag!" erwiderte ich mit verstellter Stimme. "Wann kann ich kündigen? Meine Personalnummer ist 825474." "Einen Moment, bitte." Ohne erkennbare Emotion, ganz sachlich, kam die Antwort. Ich grinste hämisch, während Erwin meine Daten aufrief. Dann klickte es bei ihm. "Dieter!" lachte er. "Was reitet dich denn jetzt wieder?" Ich schwieg. Es klickte erneut. "Du hast es schon gehört?" fragte er mitfühlend. "Ja", antwortete ich knapp. "Erwin, was soll der Scheiß? Hat das mit den fünf Jungen nicht gereicht? Müßt ihr mich unbedingt vorzeitig ins Grab oder ins Irrenhaus bringen?" Ich wurde wieder wütend. "Verflucht noch eins, Erwin! Ich kann keine Mädchen hier gebrauchen! Und schon gar nicht in diesem Alter, verdammt nochmal!" "Na komm!" beruhigte er mich. Zumindest versuchte er es, aber das prallte an mir ab wie ein Gummiball an einer Betonwand. "Ich komm dir wirklich gleich rüber!" sagte ich aufgebracht. "Herr im Himmel! Erwin, hat sich einer von euch Sesselfurzern schon Gedanken darüber gemacht, wo ich die Mädchen hintun soll? Ich habe keine Umkleideräume für sie, keine Toiletten, keine Duschen, und vor allem keine Spiegel, vor denen die kleinen Schönheiten sich schminken können! Zur Hölle nochmal, Erwin, ich habe keine - einzige - Frau in meiner Halle! Ich bin darauf nicht eingerichtet, zum Henker!" "Fühlst du dich jetzt besser?" lachte Erwin. Mein Temperament war sogar schon außerhalb des Werkes bekannt, aber das interessierte mich einen Dreck. "Paß auf, Dieter", sagte er dann ruhig. "Darüber haben wir uns tatsächlich schon Gedanken gemacht. Wir haben jetzt Mitte August. Anfang September wird das ungenutzte Lager in deiner Halle umgebaut, und zwar in einen Umkleideraum mit siebzig Spinden, siebzig Duschen und ebenso vielen Toiletten und Waschbecken. Und dann", grinste er durch den Hörer, "haben die Mädchen auch ihre Spiegel. Die Kleidung kommt im Oktober." "Na schön", knurrte ich, "aber warum gerade Kinder von der Hauptschule? Zum Satan, die sind doch alle doof wie Hühnerkacke!" "Schluß jetzt!" Erwins Stimme war scharf geworden. Endlich hatte ich ihn soweit! "Dieter, behalte deine Vorurteile für dich, hörst du? Ich will -" "Was du willst", unterbrach ich ihn zornig, "interessiert mich einen Scheiß! Erwin, das ist meine Halle! Meine Verantwortung! Verdammt nochmal, die fünf Jungs im Februar waren auch von der Hauptschule, und die haben soviel Unruhe gemacht wie eine ganze Horde Terroristen!" "Ich weiß", erwiderte er kühl. "Ich habe deinen Bericht gelesen, auch wenn du das nicht glaubst. Und genau dieser Bericht gab den Ausschlag dafür, daß wir dieses Mal Mädchen ausgewählt haben, denn Mädchen in dem Alter sind erfahrungsgemäß mehr an ihrer Zukunft interessiert als Jungen. Widersprich nicht gleich, sondern mach dich diesbezüglich einfach mal schlau, Dieter. Unsere Psychologen haben darauf basierend einen neuen Test ausgearbeitet, der von den Schülerinnen, die dieses Praktikum machen möchten, im Juni ausgefüllt wurde. Die sechs, die kommen werden, sind die Elite von allen Hauptschulen in Koblenz. Noch eins, Dieter, und dieses Mal läßt du mich bitte ausreden! Deine Vorurteile sind vollkommen unbegründet. Viele Kinder sind nur deswegen auf der Hauptschule, weil ihre Eltern ihnen keine andere Ausbildung ermöglichen können, aus welchen Gründen auch immer. Oder aufgrund von anderen Umständen, die nicht unbedingt etwas mit Intelligenz zu tun haben. Gut, es mag sein, daß einige nicht besonders schlau sind, aber das ist ja wohl kaum die Schuld der Kinder, oder?" "Darauf erwartest du wohl keine Antwort?" fragte ich gereizt, als er schwieg. "Okay. Lassen wir das mal vorerst beiseite. Ganz logisch jetzt. Erwin, du weißt, wie es in einer Werkhalle, die nur mit Männern besetzt ist, zugeht. Gerade Montags. Jeder prahlt damit herum, wie viele Frauen er am Wochenende flachgelegt hat. Was er mit ihnen angestellt hat. Und wie oft. Das Ganze in sehr detaillierten und deutlichen Worten. Wie sollen bitteschön vierzehnjährige Mädchen darauf reagieren? Habt ihr in all eurer Weisheit auch daran gedacht?" "Haben wir", lächelte er. "Und wir haben noch etwas getan, was dir ganz bestimmt gefallen wird." "Und was?" fragte ich voll böser Vorahnungen. "Wir haben beschlossen", antwortete Erwin und ließ jedes Wort auf der Zunge zergehen, "daß du, in deiner Funktion als Ausbildungsleiter, die sechs Mädchen rund um die Uhr begleiten wirst. Mit anderen Worten: du wirst jede Sekunde ihrer Arbeitszeit bei ihnen sein. Das wird die Männer davon abhalten, allzu deutlich zu werden." "Wie war das?" fragte ich sehr sanft. "Ich werde von morgens bis abends mit den Mädchen zusammen sein?" "Genau!" lachte Erwin. "Ist das nicht herrlich?" Ich legte wortlos auf. So stark, daß das Gehäuse des Telefons einen weiteren Sprung bekam. Verschleißmaterial eben. Sekunden später klingelte das Mistding. Aufgebracht hob ich ab und meldete mich. "Wieder beruhigt?" hörte ich Erwins Stimme. Ich atmete tief durch. "Erwin", sagte ich dann wirklich ruhig. "Das geht schief. Glaub mir das bitte. Ich habe knapp 180 männliche Azubis hier, im Alter von 16 bis 21. Dazu noch 200 normale Arbeiter, von denen nur ein Bruchteil einigermaßen kultiviert ist. Mensch, du bist zwar Akademiker, aber du kennst die Verhältnisse doch trotzdem! Mädchen in dem Alter sind ein gefundenes Fressen für diese Meute!" "Ich weiß, Dieter", erwiderte er genauso ruhig. "Die Sicherheit ist schon informiert, daß Meldungen aus deiner Halle, die mit den Mädchen zu tun haben, mit absoluter Priorität behandelt werden müssen. Die Krankenstation wird im Oktober aufgerüstet werden, für jeden erdenklichen Notfall." "Na toll", knurrte ich. "Nur ich erfahre das alles durch Zufall. Aber sag mal, Erwin: wieso werden die Räume für siebzig Mädchen gebaut? Ich dachte, es kommen nur sechs!" "Im November, richtig. Aber ab dem nächsten Jahr werden wir, sofern das mit diesen sechs Mädchen gutgeht, was keiner von uns bezweifelt, auch Mädchen als Auszubildende einstellen. Also wundere dich nicht, wenn ab Januar Bewerbungsschreiben von Mädchen bei dir landen." "Und das alles", sagte ich sehr sanft, "erfahre ich so nebenbei? Ganz beiläufig, als ob es sich um einen neuen Nachtisch in der Kantine handelt?" "Bea ist schon dabei, alles zu schreiben", entgegnete Erwin hastig. Er wußte, was passieren konnte, wenn meine Stimme sehr sanft klang. Wie alle anderen im Werk. "Du hättest diese Informationen spätestens morgen auf deinem Tisch gehabt." "Und warum wurde ich nicht in die Planung mit einbezogen?" Meine Stimme war wie weicher Samt. "Oder seid ihr der Meinung, daß der Hallenleiter bei solchen Kleinigkeiten nicht dazugezogen werden muß?" "Natürlich sind wir das nicht", antwortete Erwin gekränkt. "Allerdings handelt es sich hierbei nicht unbedingt nur um deine Halle, sondern auch um alle anderen, die während der Ausbildung der Mädchen ab dem nächsten Jahr ebenfalls aufgerüstet werden. Insofern war das eine politische Entscheidung der Geschäftsleitung, an der die Hallenleiter - alle Hallenleiter! - nicht beteiligt worden sind, weil diese Entscheidung eben auf einer anderen Ebene stattfand." "Das paßt wieder genau in die Linie", lächelte ich grimmig. "Wir halten den Kopf für alles hin, aber ihr entscheidet. Weißt du, was ich davon halte?" "Ja", sagte Erwin schnell. "Das mußt du nicht extra betonen. Aber wie gesagt: auch ich hatte nur eine beratende Funktion, aber kein Entscheidungsrecht." "Das glaube ich, wenn die Hölle einfriert. Aber egal. Ich bekomme also im nächsten Jahr siebzig Mädchen?" "Fast. Wir beginnen mit fünfzig, das ist etwa ein Viertel des Kontingents für Auszubildende." "Fantastisch. Dann meinen allerherzlichsten Dank für die umfassende Information im Vorfeld. Schönen Tag noch. Ich bin in der nächsten Stunde nicht im Büro." Seine Antwort hörte ich schon nicht mehr. Und da wundern sich die Leute, daß ich Zyniker geworden bin...
Darf ich mich vorstellen: Mein Name ist Dieter Kaminski, 42 Jahre alt, von Beruf Ausbildungsleiter bei den Zera-Werken in Koblenz, einem Hersteller von Zubehörteilen für die Autoindustrie. Viele der Metallteile, die in einem Auto stecken, kommen von uns, von kleinen Stangen und Platten bis hin zu Fahrgestellen. Unser Werk besteht aus insgesamt 19 Werkhallen, meine - die Ausbildungshalle - hat die Nummer 7. Jährlich starten wir mit dem Maximum von 220 Azubis, doch schon nach zwei Monaten haben wir den Normalwert von ca. 170, 180 erreicht, weil viele vor dem Krach, dem Schmutz und der schweren Arbeit kapitulieren. Nur ganz wenige der Versager machen sich die Mühe und sprechen klar aus, warum sie den Job nicht schaffen; die meisten schreiben einfach nur: "Ist nicht mein Ding." Wenn sie überhaupt schreiben. Alles im Stil von: "Als ich mit 21 vorzeitich aus die Grundschule entlassen wurde". Im letzten Satz ist übrigens kein Schreibfehler. Genau diesen Stil meine ich. Mein Job ist nicht direkt die Ausbildung selbst, sondern das ganze Drumherum. Die Einstellung der Azubis nach den Bewerbungsgesprächen, die ich ebenfalls führe, das Sichten der Berichtshefte, das Erstellen der Ausbildungspläne, die Koordination mit allen anderen Hallen, das Anmelden zur Prüfung, sofern die Azubis sich für einen Beruf entscheiden, der eine Prüfung vor der IHK benötigt. Aber viele tun das nicht, sondern bleiben lieber auf dem Stand des angelernten Arbeiters stehen. Hauptschüler eben. Und ich habe die ehrenvolle Aufgabe, aus diesem ganzen Müll von Bewerbern die am wenigsten chaotischen Typen auszusortieren. Über mein Privatleben rede ich nicht sehr gerne. Meine Frau hat mich bitter enttäuscht und bei der Trennung vor sechs Jahren unsere beiden Kinder, Konrad und Marita, mitgenommen. Ich sehe die beiden seit eineinhalb Jahren nicht mehr. Sie sind Zwillinge und werden in wenigen Tagen ihren 12. Geburtstag feiern. Wie letztes Jahr ohne mich. Mein Temperament wird von Außenstehenden völlig korrekt als aufbrausend und impulsiv bezeichnet. Daß man mich Zyniker nennt, ist für mich ein Kompliment, und daß ich - aus Gründen, auf die ich hier nicht näher eingehen möchte - ein Frauenhasser bin, auch. Das ist sogar das größte Kompliment für mich. Außer Frauen hasse ich noch viele andere Dinge, aber das gehört alles nicht hierher. Streng genommen habe ich zwei Berufe, aber der Job als Hallenleiter nimmt nicht viel von meiner Zeit in Anspruch, da mein Assistent Michael mir sehr viel von dem Standardkram abnimmt. Er erstellt die ganzen Produktionsberichte, übernimmt das Ausfüllen von Unfallformularen, bearbeitet Krankmeldungen und Störungen, so daß ich nur noch unterschreiben muß, denn das darf er - aufgrund eines unglaublich intelligenten Beschlusses der Geschäftsleitung - nicht. Er macht meinen Job, hat aber keine Rechte. Daß ihn das nicht stört, wundert mich täglich mehrmals. Zu den ganzen Belastungen, die das Führen von 200 Azubis mit sich brachte, kam nun also auch noch die Last, sechs kleine Mädchen an das Berufsleben heranzuführen. Mahlzeit! Das waren die Tage, wo ich schon morgens die Nase voll hatte vom Leben. Seufzend machte ich mich an die Arbeit. Ich schnappte mir einen Ausbildungsplan unserer normalen Azubis und rechnete kurz. Jeder Azubi, der drei Jahre Ausbildung hatte, bekam pro Jahr die normalen Schulferien verpaßt, also 12 Wochen. Ergab bei drei Jahren etwa neun Monate. Dazu noch jeweils zwei Tage Berufsschule pro Woche, also achtzig Tage pro Jahr. Bei drei Jahren machte das 240 Tage oder ca. acht Monate. Von den 36 Monaten Ausbildung blieben also effektiv nur 19 Monate übrig, die der Azubi - und später die kleine Azubiene - bei uns im Werk war. Nun war es einfach. Ich teilte die Zeiten des Ausbildungsplanes durch 19, und war fertig. Mit der Arbeit und mit den Nerven. Ich hatte schlicht und einfach keinen Bock darauf, Aufpasser für sechs kleine, schüchterne, unsichere Mädchen zu spielen. Ich hatte einen ernsthaften Job, verdammt! Ich hatte momentan exakt 177 Azubis in meiner Halle, die schon mehr Zeit kosteten, als der Tag Stunden hatte, und jetzt auch noch so etwas. Ich kochte! Aber alles Kochen und Toben half nichts. Im September rückte der angedrohte Bautrupp an und verwandelte das alte Lager in einen hellen, viel zu freundlichen Umkleideraum für die Mädchen, die - was Gott verhüten möge - kommen sollten, dann wurden die Duschen, Toiletten, Waschbecken und - ich glaubte es ja nicht! - Spiegel montiert - natürlich alles mit hübschen Fliesen am Boden und an den Wänden -, und zum Schluß wurden die Spinde eingebaut, wie bei ihren männlichen Gegenstücken nur mit der Ausweiskarte zu öffnen, die jeder Angestellte und Arbeiter trug. Obwohl ich mich mit Händen und Füßen dagegen wehrte, wurde meine Karte dahingehend erweitert, daß ich auch diesen Umkleideraum betreten und die darin stehenden Spinde öffnen konnte. Bei den Jungs kippte häufig einer um, wegen zuviel Alkohol oder wegen Rauschgift, und offensichtlich wurde das gleiche Verhalten bei den Mädchen vorausgesetzt. Oder irgend jemand hatte schlicht und einfach nicht nachgedacht. Oder wollte mir eine besondere Freude machen, auf die ich aber liebend gern verzichtete. Ende September war das Lager dann endlich umgebaut, und die Gerüchteküche begann zu brodeln. Alle in der Halle freuten sich schon sehr auf den weiblichen Zuwachs. Alle bis auf einen. Im Oktober kamen die Overalls, Jacken, Kittel (alles in zweifacher Ausfertigung pro Person), und Sicherheitsschuhe für die kleinen Mädchen, und am zweiten November kamen die sechs kleinen Mädchen höchstpersönlich in mein Büro gestiefelt, angeführt von einem strahlenden Erwin Korsten, der ein positives Image versprühte. Gott, wie ich diese Heuchelei haßte! "Und hier ist Herr Dieter Kaminski", strahlte Erwin die Mädchen an, die mich schüchtern, ängstlich oder verstört anblickten. Die sechs standen dicht beieinander, wie Kaninchen, denen es kalt war. Oder die Angst hatten. Hoffentlich das zweite! "Er wird in den nächsten vier Wochen bei euch sein und euch alles zeigen und erklären." Das würde ich. Als erstes würde ich ihnen zeigen, wo der Ausgang war... Erwin stellte sein Verkaufsgehabe ab und schaute mich auffordernd an. Gemütlich erhob ich mich von meinem Stuhl und blickte auf die Mädchen. Sekunden voll gespannter Stille verstrichen, in denen die kleinen Kinder immer nervöser wurden und noch dichter aneinander rückten. Sehr gut. Angst war doch ein erstaunliches Stimulans. "Guten Morgen", bequemte ich mich endlich, zu sagen. Ein undeutliches Gemurmel erklang. Erwin funkelte mich an, aber das prallte an mir ab. "Herzlich willkommen und so weiter, den Rest spare ich mir. Das hat Herr Korsten bestimmt schon zur Genüge getan." Ich schaute die Mädchen der Reihe nach an; bis auf eines senkten alle sofort den Blick. Ich sah sie nämlich nicht sehr freundlich an. "In den nächsten vier Wochen", plauderte ich, als wäre ich auf einer langweiligen kleinen Party, "werdet ihr kennenlernen, was es heißt, zu arbeiten. Für euch wird das ein Schock sein. Glaubt mir das. Ihr werdet euch wünschen, wieder in der Schule zu sitzen und zu büffeln. Egal. Ihr wolltet es so, also lebt auch damit." Wieder ein wütender Blick von Erwin, den ich gekonnt übersah. "Ich rede immer so deutlich", erklärte ich mit einem feinen Lächeln, "weil ich fest daran glaube, daß nur Ehrlichkeit etwas bringt. Die Arbeit hier ist schwer. Und laut. Und gefährlich." Die Kleinen erschraken sichtlich. Sehr gut. "In den Papieren", plauderte ich weiter, "die ihr bekommen habt, steht drin, daß ich euch notfalls mit Gewalt von den Maschinen wegziehen darf, wenn die Gefahr besteht, daß ihr euch die Hand abhackt. Das werde ich aber nicht tun." Die Augen der Mädchen wurden groß. "Ihr wollt die Arbeit kennenlernen, und ihr werdet sie kennenlernen. Mit allen Konsequenzen." Ich spürte Erwins Wut das Büro ausfüllen. Machen konnte er jedoch nichts, denn er wußte genau wie ich, daß ich nichts als die Wahrheit sagte. Unsere Maschinen waren veraltet und verdammt gefährlich. "Gut. Nachdem das klargestellt ist, zeige ich euch, wo ihr euch umziehen könnt. Ihr habt schon eure Karten bekommen?" Schwaches, zustimmendes Gemurmel erklang. "Sehr schön. Wenn ihr eure Karte verliert, bleiben alle Türen auf dem Gelände und in dieser Halle für euch verschlossen, also gebt darauf acht." Ich drehte mich zu meinem Telefon, um es auf meinen Assistenten Micha umzustellen, und in genau dieser Sekunde klingelte es. Seufzend hob ich ab. "Zera-Werke, Kaminski. - Jonas, was gibt's? - Aha. - Aha. - Ja, ist gut. Gute Besserung." Ich legte auf und zog mein Funkgerät aus der Tasche. Ein Druck auf eine Taste, ein befriedigtes Lächeln auf dem Gesicht. Erwin sah mich erstaunt an, die Mädchen fragend. "Personal", hörte ich Beatrix Neidmann sagen. "Dieter Kaminski hier. Bea, machst du bitte eine Kündigung fertig? Jonas Linke, Azubi, 970121. Grund: trotz zweifacher Abmahnung wiederholtes Fernbleiben an einem Montag, aus Gründen, die zum Himmel stinken. Steht alles in seiner Datei. Mach was Schönes draus." "Ist gut." "Danke dir." Lächelnd steckte ich das Funkgerät zurück und sah Erwin herausfordernd an, doch zu seinem Glück schwieg er. Selbst die Personalleitung konnte sich über eine gerechtfertigte Kündigung nicht hinwegsetzen, das war einzig Sache der Hallenleiter. Stand so in meinem Vertrag. Und in den Betriebsvereinbarungen mit der verdammten Gewerkschaft. Die Mädchen waren nun restlos eingeschüchtert. Ich lächelte sie fröhlich an. So eine unerwartete Kündigung hob die Laune schlagartig an. "Können wir?" Erwin hatte sich wieder gefangen. "Der erste Tag ist immer der schwerste", munterte er die schweigenden Mädchen mit einem freundlichen Lächeln auf. "Das wird alles nicht so schlimm, wie es im ersten Moment aussieht. Herr Kaminski ist manchmal ein bißchen ruppig, aber ein ganz feiner Kerl." "Ein so feiner Kerl", lächelte ich zurück, "daß es ihm nichts ausmacht, wenn sich jemand in der Stanze den Arm abreißt und wie ein Schwein verblutet. Kommt, Kinder. Wir haben zu tun." Mit blassen Gesichtern folgten die Mädchen mir, mit hochrotem Gesicht sah Erwin uns hinterher. Meine gute Laune verschwand blitzartig, als wir an der Wand der Halle entlang nach hinten gingen, wo die Räume der Mädchen lagen. An der Wand deshalb, weil sie noch ihre Straßenkleidung anhatten und das der ungefährlichste Weg für sie war, und meine gute Laune verschwand, weil jeder, der uns sah, breit grinsen oder lachen mußte. Mit den sechs kleinen Mädchen im Schlepptau, die im Gänsemarsch hinter mir her dackelten, sah ich aber auch zu dämlich aus. Niemand wußte das besser als ich. Wütend zog ich meine Karte durch den Leser an der Tür zur Umkleidekabine und hielt sie auf. "Rein mit euch", rief ich über den Lärm in der Halle hinweg. Die Mädchen eilten hinein, ich ging hinterher und ließ die Tür zufallen. Sofort wurde es still, der Hallenlärm war nur noch ganz schwach zu hören. Die Isolierung war viel besser als bei den Männern. Noch ein Grund, Frauen zu hassen. "Setzt euch." Die Mädchen setzten sich auf die lange, schmale Bank in der Mitte des Raumes, drehten sich zu mir und schauten mich nervös an. "Als erstes möchte ich etwas zu den Räumen hier sagen. Der ganze Mist hier ist extra für euch gebaut und eingerichtet worden. Also seid so nett und behandelt es nicht so wie die Sachen bei euch zu Hause, sondern seht es als etwas an, was ihr zwar benutzen, aber wieder abgeben müßt. Wenn ihr einmal sehen würdet, wie es bei den Männern aussieht, wüßtet ihr, warum ich das sage." Die Mädchen schauten bedrückt zu Boden. "Im nächsten Jahr kommen zum ersten Mal junge Mädchen als Auszubildende hierher; hinterlaßt ihnen bitte saubere Räume, und erspart euch das Gekritzel von schweinischen Angeboten auf den Wänden. Eure Telefonnummer gehört ebenfalls nicht da hin. Wenn ihr -" Ich schluckte das Wort, das ich bei den männlichen Azubis immer sagte, hinunter und wählte ein harmloseres. "Wenn ihr Groß machen müßt, putzt hinterher kurz die Schüssel durch. Die Putzfrauen weigern sich schon fast, bei den Männern sauberzumachen; laßt es hier nicht so weit kommen. Bremsspuren gehören auf die Straße, aber nicht in die Toilette." Die Mädchen wurden feuerrot. "Soviel zu den Räumen hier. Kommen wir zu dem ganzen anderen Kram und fangen mit der Sicherheit an", begann ich meine übliche Einführungsrede. "In der Halle sind sehr gefährliche Maschinen, die euch in Nullkommanichts die Hand, den Arm oder die Haare abreißen. Mit Kopfhaut. Das soll euch keine Angst machen", log ich, "sondern es ist die reine Wahrheit. Heute ist der zweite November. Bis letzten Freitag hatten wir mehr als sechzig Arbeitsunfälle in diesem Jahr, vier davon so schwer, daß die Leute nie wieder arbeiten können. Neuere, ungefährlichere Maschinen kommen im Januar. Ihr habt noch das Pech, mit den gefährlichen arbeiten zu müssen." Mein Blick wurde kalt. "Wenn ich eine von euch dabei erwische, daß sie bewußt und vorsätzlich die Sicherheitsbestimmungen umgeht, fliegt sie. In der gleichen Sekunde. Wie alle anderen Arbeiter in dieser Halle auch. Ein Unfall bedeutet für mich nur Schreibkram, und darauf hab ich keinen Nerv." Die Mädchen sahen mich erschrocken an. "Und was ist mit dem, der den Unfall hat?" fragte eines mit langen, braunen Haaren. "Nicht mein Problem", erwiderte ich kühl. "Jeder hier weiß, daß die Arbeit gefährlich ist, und das war's. Nächster Punkt: die Karten, die ihr habt, sind auch für die Spinde gedacht. Euer Name steht oben an der Tür. Falls eine von euch nicht lesen kann, helfe ich gerne aus. Jetzt geht zu eurem Spind und macht ihn auf." Die Mädchen kamen in Bewegung und liefen zu den Spinden. Nach einem kurzen Durcheinander stand jedes vor einer Tür. Offenbar konnten alle lesen, und alle kannten den eigenen Namen. Das schien tatsächlich die Elite zu sein. "Nehmt eure Karten." Sechs Hände griffen nach sechs Karten. "Haltet sie so, daß euer Bild nach oben und zu dem breiten Teil am Leser zeigt." Vier Mädchen drehten ihre Karten in der Hand. "Jetzt setzt sie oben an und zieht sie flüssig nach unten durch. Ob schnell oder langsam spielt keine Rolle, nur flüssig." Sechs Hände fielen nach unten, es klickte sechsmal, und sechs Türen sprangen auf. Die Mädchen strahlten wie zu Weihnachten. Ich verdrehte kurz die Augen. "Gut. Ihr seht eure Arbeitskleidung. In dem Fach oben ein Overall, ein zweiter in dem Fach darunter. Auf den Bügeln zwei Jacken und zwei Kittel. Wie ihr gemerkt habt, ist es ziemlich kühl in der Halle; mit Overall, Jacke und Kittel seid ihr aber schön warm eingepackt. Auf dem Boden stehen Schuhe. Ihr zieht eine Woche lang die gleichen Sachen an und nehmt die am Freitag mit nach Hause. Wascht sie bei sechzig Grad, bringt sie am Montag wieder mit, und zieht dann den zweiten Satz an. So nutzt sich alles gleichmäßig ab. Ungefähr verstanden?" Sechs Köpfe nickten. "Na toll. Jetzt nehmt euch eure Sachen heraus und setzt euch wieder hin." Kurze Unruhe kam auf, als die Mädchen sich ihre Sachen schnappten und damit zu der Bank gingen. Sie legten den Stapel ordentlich auf die Bank und setzten sich wieder. "Wenn ihr umgezogen seid", begann ich und brach gleich wieder ab, weil ein Mädchen mit langen schwarzen Haaren sich bereits auszog. "Hey!" brüllte ich. Die Mädchen erschraken zu Tode; das Mädchen, das den Pulli bereits hochgezogen hatte und kleine Brüste entblößte, sah mich ängstlich an. "Gleich!" fauchte ich. "Wenn ich draußen bin! Wenn nix Mann mehr hier drin sein! Du verstehen?" Sie nickte schnell und strich sich den Pulli glatt. Kopfschüttelnd redete ich weiter. "Wenn ihr gleich umgezogen seid, legt eure Kleidung in den Spind, genau wie Wertsachen. Also Uhren, Ringe, Schmuck und so weiter. Das ganze Gelumpe eben, was so an euch herumbaumelt. An Geld braucht ihr nur ein paar Mark für die Kantine, alles andere laßt bitte im Spind. Wir haben einige Leute hier, die euch in die Tasche greifen, ohne daß ihr das merkt." Ich sah jedes Mädchen an und erhielt jedesmal ein Kopfnicken zur Antwort. "Schön. Ich gehe jetzt raus. Wenn ich draußen bin, zieht euch um und kommt dann geschlossen raus. Geschlossen heißt: alle zusammen, und nicht nacheinander. Klar?" Sechs Köpfe nickten eingeschüchtert. "Gut. Bis gleich." Ich ging hinaus und kochte langsam vor mich hin. Wollte die sich tatsächlich vor mir ausziehen! Frechheit, so was! Knapp fünf Minuten später kam die Truppe nach draußen geschlurft. "Probleme?" fragte ich das erste Mädchen mit schulterlangen, kupferroten Haaren grinsend. "Die Schuhe sind so schwer!" jammerte sie. "Ach, du Armes", bedauerte ich sie. "Warte mal." Ich ging zu einer Werkbank und hob eine Eisenstange auf, knapp einen Meter lang und zwei Zentimeter dick. Mit der Stange ging ich zu dem Mädchen zurück, das mich gespannt ansah. "Halt mal." Ich drückte ihr die Stange in die Hand. Das Mädchen griff danach und wurde in der gleichen Sekunde von dem Gewicht nach unten gezogen. Die Stange fiel ihr aus der Hand, genau auf die Füße, prallte ab und fiel klirrend auf den Boden. Das Mädchen erschrak zu Tode, auch die anderen blickten sehr verängstigt aus ihren Blaumännern. "Hat's wehgetan?" fragte ich zuckersüß. Das Mädchen lauschte einen Moment nach innen, dann schüttelte sie verblüfft das Ding, was sie wohl nur zum Haaretragen hatte. "Nee!" "Na, ist das nicht toll?" grinste ich breit. "Was du da trägst, mein liebes Kind, sind Sicherheitsschuhe. Verstehst du? Die haben ganz dicken Stahl in sich, damit deine süßen kleinen Zehchen nicht verletzt werden, wenn eine Mauer darauf fällt." Das Mädchen wurde feuerrot und senkte den Blick, ich wurde wieder ernst und schloß alle sechs in meinen Blick ein. "Wie ich sagte, die Arbeit hier ist gefährlich. Der Stoff eurer Arbeitskleidung ist sehr dick, damit er euch schützen kann. Genau wie die Schuhe. Ihr gewöhnt euch schnell an das Gewicht. Folgt mir." Ich hob die Eisenstange auf und warf sie mir locker über die Schulter. Leider war gerade kein Azubi hinter mir, der sie an den Kopf bekam. Na ja, man konnte nicht immer Glück haben. Ich legte die Stange zurück auf die Werkbank, dann gingen wir quer durch die Halle zum Ausgang, begleitet von breit grinsenden Gesichtern. Draußen angekommen, atmete ich erst einmal tief durch, dann drehte ich mich zu den Mädchen hinter mir. "Wir sind in Halle 7. Falls ihr euch mal verlaufen solltet, folgt einfach den Schildern in Richtung Kantine; die ist nämlich genau gegenüber." Ich deutete auf ein zehnstöckiges Gebäude, knapp zwanzig Meter entfernt, direkt auf der anderen Straßenseite. "Rechts daneben ist unser kleines Krankenhaus, falls ihr mal gegen einen Laternenpfahl lauft." Ich deutete auf ein kleineres Gebäude. "Und um wirklich ganz auf Nummer Sicher zu gehen, steht die Nummer der Halle auch noch ganz groß darauf. Halle 7. Das ist eure. Nummer Sieben." Die Mädchen schauten schweigend auf die große Ziffer neben der Tür und an der Seitenwand der Halle. Ich hoffte, daß sie sich das alles merken konnten, aber vielleicht strengten sie sich ja an und vergaßen es absichtlich. Immerhin waren es ja Frauen. Ich führte die Mädchen über die Straße. Dabei bemerkte ich, daß eines sich eine Zigarette drehte. Bestens! "Die Kantine erstreckt sich über neun Etagen", erklärte ich, als wir vor der Tür standen. "Vom Erdgeschoß bis zur dritten tummeln sich die Raucher, die Nichtraucher belegen die Etagen fünf bis neun. In der zehnten, ganz oben, sitzt die Verwaltung der Kantine. Die vierte Etage ist für Raucher und Nichtraucher gemeinsam, und genau da gehen wir jetzt hin." Das Mädchen mit der Zigarette lächelte erfreut. Als wir in der vierten Etage angekommen waren, lächelte sie nicht mehr, denn ich hatte den langen Weg über die Treppe genommen, damit die Mädchen auch wirklich viel zu sehen bekamen. So nett war ich zu ihnen. Außerdem mußten sie sich ja irgendwann einmal an die schweren Schuhe gewöhnen. Erschöpft und schwer atmend lehnten sich die sechs an die Wand und schnappten nach Luft. "Wie ihr gesehen habt", erklärte ich, ohne mir meine Schadenfreude anmerken zu lassen, "sind alle Etagen gleich aufgebaut. In jedem Stockwerk gibt es die gleiche Kantine und das gleiche Essen. Rein mit euch." Ich hielt ihnen die Tür auf. Die Mädchen schleppten sich an die Theke, um sich Getränke auszusuchen. "Bezahlen müßt ihr nicht", sagte ich zu ihnen. "Zeigt an der Kasse einfach nur eure Karten vor. Essen und Trinken geht auf Kosten des Werkes, nur wenn ihr Süßigkeiten oder so etwas haben wollt, müßt ihr dafür bezahlen." Das ließ die Gesichter der sechs strahlen. Geier, allesamt! Nachdem alle ihre Getränke hatten, setzten wir uns an einen der vielen freien Tische. "Gut", begann ich. "Etwas zur Zeiteinteilung. Wir haben etwa elftausend Leute auf dem ganzen Gelände. Die meisten arbeiten in zwei Schichten, nur etwa eintausend arbeiten nachts. Die anderen zehntausend haben ganz streng geregelte Pausenzeiten, damit sich die Leute in der Mittagspause nicht gegenseitig auf die Füße treten. Für euch gelten diese Zeiten allerdings nicht. Ihr beginnt um halb neun und hört um halb fünf auf. Dazwischen eine Stunde Mittag, und zehn Minuten Pause nach jeweils fünfzig Minuten." Das freute sie natürlich auch sehr. Die würden sich noch wundern, was ich in fünfzig Minuten alles mit ihnen machen konnte... "Diese Zeiten sind zwar auch mehr, als der Gesetzgeber für Kinder in eurem Alter erlaubt, aber ich habe das mit euren Schulen, mit dem Jugendamt und dem Ordnungsamt abgesprochen. Eure Eltern haben es unterschrieben. Alle waren einverstanden, solange ihr es aushaltet, und das meine ich wörtlich." Ich sah die Mädchen der Reihe nach an. "Die Arbeit wird für euch sehr ungewohnt sein, und sehr anstrengend. Achtet auf euch, Kinder. Wenn ihr merkt, daß ihr nicht mehr könnt, meldet euch. Ihr seid noch jung, und gerade deswegen kann sehr viel schiefgehen. Ihr werdet keine schweren Sachen schleppen, aber ansonsten werdet ihr all das tun, was die regulären Azubis auch tun müssen. Achtet darauf, ob euer Körper mitmacht. Wenn ihr spürt, daß es für euch zu schwer wird, meldet euch umgehend, und wartet nicht erst, bis ihr irgendwelche Schäden davontragt, die nicht mehr zu reparieren sind. Ihr merkt selbst, ob ihr einfach nur müde oder wirklich überlastet seid. Hört auf euren Körper!" Alle nickten ernst. "Gut. Ich hasse zwar Frauen, aber ihr seid noch Kinder, deswegen hasse ich euch nicht ganz so viel. Damit kommen wir -" "Entschuldigung?" unterbrach mich eines der Mädchen. Betont langsam drehte ich meinen Kopf zu ihr. "Was kann ich für dich tun?" fragte ich honigsüß. "Die Cola hier... Was ist das für ‚ne Marke?" "Coca Cola. Magst du die nicht?" "Nee. Ich trink nur Pepsi." "Das tut mir sehr leid", sagte ich sehr sanft, während ich sie kurz musterte. "Wie heißt du?" "Rita." "Dann paß jetzt gut auf, Rita", lächelte ich das Mädchen mit den schulterlangen, kupferroten Haaren und den blauen Augen an. "Du wirst jetzt nämlich etwas sehr Wichtiges lernen, und zwar daß du in einer Firma, in der du arbeiten wirst, mit dem klarkommen mußt, was es dort gibt. Verstehst du?" Sie schüttelte den Kopf, wie erwartet. "Nee, kapier ich nicht. Was heißt das?" "Das heißt", sagte ich noch sanfter als vorher, "daß du auf deine Scheißpepsi verzichten mußt. Es gibt hier keine Pepsi. Wo es keine Pepsi gibt, kannst du auch keine Pepsi bekommen. Nichts da. Ausverkauft. Kommt auch nicht mehr. Alle. Vorbei. Geht das jetzt endlich in deinen Wirrkopf rein?" Zwei Mädchen mit sehr guten Antennen rückten etwas von mir ab. Rita gehörte nicht dazu. "Ich will aber Pepsi!" jammerte sie. "Die Cola schmeckt viel zu süß! Und davon gehen meine Zähne kaputt! Und außerdem mag ich die nicht!" Willkommen im Kindergarten. Danke, Erwin. Vielen Dank! "Hältst du jetzt die Klappe!" fauchte ich das Mädchen an, das heftig erschrak. "Verfluchte Brut, es gibt hier keine Pepsi! Wenn du so verliebt in Pepsi bist, dann bring dir morgen einen Kasten von dem Zeug mit, aber laß mich mit diesem Kleinscheiß gefälligst in Ruhe, klar? Ich habe weder die Lust noch die Zeit, mich mit einem störrischen Kleinkind zu streiten, kapiert? Glaubst du allen Ernstes, daß wir wegen dir neue Verträge mit den Lieferanten aushandeln? Wir -" "Bitte!" Eine sanfte Stimme unterbrach mich, eine Hand legte sich ganz leicht auf meinen Arm. Erstaunt sah ich nach rechts, zu dem Mädchen mit den langen braunen Haaren. Ihre blaugrünen Augen schauten mich ohne jede Angst an, dafür aber um so ernster und eindringlicher. Verwirrt glitt mein Blick über ihr ovales Gesicht mit den feinen Augenbrauen, den schmalen, blassen Lippen, über ihre gerade Nase zurück zu den Augen, die unverwandt auf mir ruhten, während sie mit Rita redete. "Rita, an der Theke gibt es Früchtetee; den magst du doch auch. Löffel sind ganz vorne, bei den Tabletts. Zitronensaft steht an der Kasse, bei dem Zucker." Murrend stand Rita auf und trottete zur Theke. "Wir sind alle etwas unsicher und nervös", lächelte mich das Mädchen entschuldigend an. "Rita auch. Wir können gleich weitermachen." Sie nahm ihre Hand von meinem Arm, von den anderen vier Mädchen und mir gleichermaßen erstaunt beobachtet. Ich suchte krampfhaft nach einer bissigen Bemerkung, aber in meinem Kopf war eine merkwürdige Leere. Verwirrt sah ich sie an und entdeckte eine hohe Intelligenz in ihren Augen, und sehr viel Mitgefühl. Und genau das erschütterte mich, denn Mitgefühl war für mich ein Fremdwort. Das konnte ich mir in meinem Beruf nicht leisten, und in meinem Leben schon mal gar nicht. Noch während ich versuchte, dem Wirbel in meinen Gefühlen Herr zu werden, kam Rita zurückgeschlichen. Sie schaute mich vorwurfsvoll an, setzte sich und nippte vorsichtig an ihrem Tee, dann trank sie mit kleinen Schlucken. "Gut", sagte ich, noch immer ziemlich verwirrt. "Äh... Ach ja. Wie jeder unschwer sehen kann, seid ihr junge Mädchen, und wie ihr bestimmt festgestellt habt, sind in meiner Halle nur Männer beschäftigt. Frauen sind ein Novum in der Halle. Novum", erklärte ich nach sechs verwirrten Gesichtern, "bedeutet ein vollkommen neuer Zustand, ein neuartiges, noch nie dagewesenes Ereignis. Klar?" Die Mädchen nickten kurz. "Ihr werdet sehr viele Dinge hören, die euch die Schamröte ins Gesicht treiben werden. Deshalb muß ich jede Sekunde lang bei euch bleiben, damit die Männer sich wenigstens etwas am Riemen reißen und nicht allzu deutlich werden. Trotzdem werdet ihr oft bestimmte Wörter hören, die nicht für eure jungen Ohren bestimmt sind. Tut mir, euch, und allen Männern in der Halle einen Gefallen und regt euch weder darüber auf, noch schreit gleich nach der Mami. Überhört es einfach. Wenn ihr drauf eingeht, riskiert ihr, daß die Männer über euch herfallen, und wenn ihr euch ärgert, treiben sie es um so wilder. Ignoriert es einfach. Obwohl ich Frauen hasse wie die Pest, kann ich doch nicht zulassen, daß Kinder in eurem Alter Anzüglichkeiten ausgesetzt sind." "Was heißt -" fragte ein Mädchen mit kurzen, mittelblonden Haaren, wurde aber sofort von dem mit den langen schwarzen Haaren und den blauen Augen unterbrochen. "Warum hassen Sie Frauen?" fragte es neugierig. "Ein Mann braucht klare Ziele im Leben", erwiderte ich trocken. "Mein Ziel ist, Frauen zu hassen. Ich hasse übrigens auch Omas, Opas, Männer und Kinder, aber Frauen noch mehr als eklige Insekten." Die sechs Mädchen erschraken sichtlich. "Wenn euch irgend jemand zu nahe tritt, meldet euch sofort bei mir. Und seht zu, daß ihr immer zusammenbleibt. Zu sechst seid ihr sicherer als einzeln oder zu zweit. Fragen hierzu?" "Was heißt Anzüglichkeiten?" fragte das Mädchen von vorhin. Ich lächelte sie lüstern an. "Besuch mich heute abend mal zu Hause", forderte ich sie leise auf. "Wir zwei machen es uns dann gemütlich und haben viel Spaß zusammen." Das Mädchen wurde feuerrot. Mit einem Ruck wich sie vor mir zurück. "Das sind Anzüglichkeiten", erklärte ich grinsend. "Und das war noch ganz, ganz harmlos. Was ihr in der Halle hört, ist wesentlich deutlicher. Tja", lachte ich, als die Mädchen mich erschrocken anblickten. "So geht es nun mal zu in der schönen Arbeitswelt. Aber tröstet euch, Kinder. Bei mir seid ihr sicher." "Weil Sie Frauen hassen?" fragte das Mädchen mit den braunen Haaren listig. "Ganz genau. Ich würde euch eher umbringen als euch zu nahe treten. Habt ihr Fragen dazu, oder ist bis hierher alles klar?" Die Mädchen nickten vereinzelt oder machten zustimmende Geräusche. "Fein. In den nächsten vier Wochen macht ihr einen Schnelldurchlauf durch die Welt der Metallbearbeitung. In dieser Woche werdet ihr die Grundfertigkeiten lernen, also Bohren, Fräsen, Stanzen und so weiter. In Woche Zwei und Drei kommen feinere Arbeiten dazu wie Feilen und Drehen, in der letzten Woche werdet ihr etwas herstellen, wo alles, was ihr gelernt habt, drin vorkommt. Die letzten beiden Tage werden wir nur laufen. Wir werden alle anderen Hallen besuchen und zusehen, was dort so passiert. Jetzt trinkt aus, die Arbeit wartet." Ein paar Minuten später waren wir zurück in der Halle. Wir schauten zu, wie eine kleine Metallplatte, die später einmal an der Tür eines Autos angebracht werden würde, hergestellt wurde. Eine Stanze holte zwanzig Werkstücke aus einer großen und schweren Platte heraus. Die Werkstücke fielen in einen Metallkorb unterhalb der Stanze. War der Korb voll, wurde er von einem kleinen Gabelstapler zur benachbarten Werkbank gefahren und dort auf einem Band abgestellt. Dieses Band fuhr die Körbe weiter zu den nächsten Stationen. Wir sahen, daß an dieser Station, zu der der Korb gebracht wurde, die Ränder der kleinen Platte gefräst wurden, funkensprühend und mit einem so schrillen Krach, daß die Mädchen sich die Ohren zuhielten. An der nächsten Werkbank wurden vier Löcher gleichzeitig gebohrt, an der dritten wurden die Bohrlöcher angesenkt, an der vierten wurde die Artikelnummer des Autoherstellers eingeschlagen, und an der fünften und letzten wurde das Stück eingefettet und in einen Korb gelegt, der später mit vielen anderen zu dem Fertigungswerk gefahren wurde, entweder per Lkw oder per Bahn. Die Besichtigung dauerte knapp vierzig Minuten, so daß ich die nächste Pause vorzog. Ich nahm mir sechs fertige Werkstücke, die noch nicht eingefettet waren, drückte jedem Mädchen eins davon in die Hand und ging mit ihnen wieder in die Kantine. Diesmal benutzten wir nicht die Treppe oder den Aufzug, sondern den Paternoster; einen der über 40, die in Deutschland noch im Einsatz waren. Unsicher blickten die Kinder auf die stetig vorbeifahrenden Kabinen. "Das Ding heißt Paternoster", erklärte ich, ohne mein schadenfrohes Grinsen zu unterdrücken. "Der große Vorteil dieser Dinger ist, daß alle paar Sekunden eine freie Kabine kommt. Die normalen Aufzüge werden von unseren Kollegen benutzt, die zum Beispiel gehbehindert sind, denn mit Krücken oder Rollstuhl ist es so gut wie unmöglich, einen Paternoster zu betreten. Ich warte in der vierten auf euch." Mit einem Satz war ich in der nächsten freien Kabine, die ich breit grinsend in der vierten Etage wieder verließ. Geduldig wartete ich. Acht Kabinen fuhren leer vorbei, dann kamen die ersten beiden Mädchen, das mit den braunen und das mit den schwarzen Haaren. Beide waren ziemlich blaß im Gesicht. Drei weitere Kabinen kamen leer, in der vierten waren wieder zwei Mädchen, und in der nächsten die restlichen zwei. Alle hatten überlebt. Schade. "Wieso heißen die Dinger so?" fragte das Mädchen mit den braunen Haaren, während wir in die Kantine gingen. Ich wollte etwas sehr Zynisches sagen, aber nach einem Blick in ihre Augen ging das nicht mehr. Merkwürdig. "Das ist lateinisch und heißt: Vater Unser", erklärte ich wahrheitsgemäß. "Das haben die Leute nämlich früher gebetet, bevor sie eine Kabine betreten haben." "Verständlich", schmunzelte sie. "Ich hab mich auch nicht so wohl dabei gefühlt." Ohne ein weiteres Wort schloß sie sich ihren Kolleginnen an, die sich gerade ihre Getränke aussuchten. Als wir dann schließlich alle am Tisch saßen, verteilte ich sechs Servietten und bat die Mädchen, die Werkstücke darauf zu legen, was sie auch taten. Dann deutete ich auf das mit den schwarzen Haaren. "Wie heißt du?" "Petra." "Petra, erzähle mir mal, wie diese Platte hergestellt wurde." Sie hob das Stück auf, drehte es kurz in der Hand und sah mich an. "Zuerst wurde das ausgeschnitten, dann hat diese Höllenmaschine die Ränder glatt gemacht, und -" "Reicht. Rita, was dann?" "Na... Dann wurden die vier Löcher gebohrt, dann diese kleinen Ränder an den Löchern gemacht, dann -" "Gut." Ich sah das Mädchen mit den ziemlich kurzen, mittelblonden Haaren und graublauen Augen an. "Du bist...?" "Iris. Die Nummer wurde eingestanzt, und dann wurde das Ding eingefettet und in den Korb gepackt." "Gut." Mist! Alles behalten. Das Mädchen mit den braunen Haaren schmunzelte versteckt, als würde sie spüren, was ich dachte. Ich sah auf die Uhr: es war kurz vor zwölf. "Machen wir Mittag. Holt euch was zu essen, Kinder; um halb zwei gehen wir zurück."
* * *
Nach dem Essen flitzte Petra kurz auf die Toilette, während die anderen Mädchen sich näher miteinander bekanntmachten. Ich lernte, daß das Mädchen mit den braunen Haaren Geli hieß, die Kurzform von Angelika, und die beiden anderen Mädchen, die ich noch nicht kannte, Dagmar und Bettina hießen. Bettina hatte dunkelblondes, schulterlanges Haar und braune Augen, sie war das Mädchen, das rauchte. Dagmar hatte hellblonde, ebenfalls schulterlange Haare und die dazu passenden blauen Augen. Sie gab sich auch so doof, wie sie aussah. Rita und Angelika waren in der gleichen Klasse, alle anderen kamen von unterschiedlichen Schulen. Aber nach dem, was die Kinder so von sich gaben, bezweifelte ich ernsthaft, daß sie zu Erwins "Elite" gehörten... Ein paar Minuten, nachdem Petra verschwunden war, meldete auch Dagmar sich kurz ab. Ich ignorierte die Versuche der Mädchen, mich in die Unterhaltung einzubeziehen, und beschäftigte mich lieber mit meinen Unterlagen, als plötzlich eine aufgeregte Mädchenstimme meinen Namen rief. "Herr Kaminski! Herr Kaminski!" "Das ist mein Name!" bellte ich zurück, ohne aufzusehen. "Nutz ihn nicht ab, ich brauche ihn noch!" Atemlos kam Dagmar an meine Seite gerannt. Ihre Augen blickten mich voller Panik an. "Petra! Sie liegt auf dem Klo und rührt sich nicht!" Sofort sprang ich auf und rannte hinaus, die anderen Mädchen hinter mir her. Damentoilette oder nicht, die Mädchen waren meine Verantwortung, und da konnte ich auf solche Kleinigkeiten keine Rücksicht nehmen. Ich stürmte in die Toilette und sah mich um, aber Petra war nicht zu sehen. Wütend drehte ich mich zu Dagmar. "Und?" fuhr ich sie an. "Wolltest du mich reinlegen?" "Nein!" Aufgeregt deutete sie auf eine geschlossene Kabine. "Da drin!" Ich kniete mich auf den Boden und sah Petra. Und nicht nur sie, sondern auch noch einen Löffel, ein Feuerzeug und ein paar Tropfen Blut auf dem Boden. "So eine verfluchte Scheiße!" Ich zog mein Funkgerät und drückte auf einen Knopf. "Krankenstation?" "Hört." "Kaminski hier. Kantine, vierte Etage, Frauenklo. Überdosis. Macht voran, Kerls!" "Sind unterwegs." Die Verbindung brach ab. Ich steckte das Funkgerät zurück und überlegte kurz. Wenn ich die Tür eintrat, würde sie Petras Kopf spalten, der genau in der Linie der Tür lag. Im gleichen Moment flitzte Angelika los, in die Nachbarkabine, und kletterte geschickt über die Trennwand. Sekunden später war die Tür ein Stück auf. Angelika hob Petra auf und wartete, bis ich die Tür vollständig geöffnet hatte, dann nahm ich ihr das Mädchen ab. Ich zog die bewußtlose Petra heraus und legte sie vorsichtig auf den Boden vor der Kabine; die Spritze steckte noch in ihrem linken Arm. "Du blödes Stück!" murmelte ich wütend, während ich sie bequem hinlegte. "Du bist erst 14, verdammt! Da macht man doch nicht so eine Scheiße!" Ich sah auf und begegnete Angelikas warmem Blick; die anderen Mädchen standen um sie herum. "Alles raus!" fuhr ich die Mädchen an. "Nur Angelika bleibt hier." Wortlos verdrückten sich die Mädchen. "Warum ich?" fragte Angelika leise. "Weil du nicht in Panik geraten bist", erwiderte ich, ohne sie anzusehen. Ich legte meine Hand an Petras Puls. Er ging schnell und flach. "Du hast gehandelt, ohne nachzudenken, und das einzig Richtige getan. Ich kann keine heulenden, verstörten Kinder bei so etwas gebrauchen." Die Tür ging wieder auf, der Arzt kam herein. Angelika machte ihm schnell Platz. Hans-Joachim, so der Name des Arztes, zu dem ich kein besonders gutes Verhältnis hatte, kniete sich neben Petra hin, während zwei Helfer die Trage auf den Boden stellten. Er zog als erstes die Spritze aus ihrem Arm und versorgte die stark blutende Wunde. "Wann?" fragte er knapp, ohne aufzusehen. "Sechs, sieben Minuten. Höchstens." "Gut. Dann kriegen wir sie durch." Er checkte Petra schnell durch, dann kam sie auf die Trage. Sekunden später wurde sie in den Aufzug gehievt, den Dagmar - welch Wunder! - aufgehalten hatte. Ein Pfleger stellte sich an die Rückwand und richtete die Trage mit einem Arm auf, mit dem anderen stützte er das Mädchen. Hans-Joachim, der zweite Pfleger und ich quetschten uns dazu, auch Angelika wollte mit hinein. "Du bleibst hier", befahl ich ihr. "Bleibt in der Kantine und wartet auf mich. Sag der Frau an der Theke, sie soll für euch zwei Leute von der Sicherheit anfordern." Verletzt schaute sie mich an, bis die Türen zugingen. Keine zwei Minuten später lag Petra in dem kleinen, aber gut ausgerüsteten OP, dann konnte ich nur noch warten. Während der nächsten Stunde überlegte ich, was noch auf mich wartete. Daß Rauschgift weit verbreitet war, war mir bekannt, aber daß schon 14jährige an der Nadel hingen, war mir doch ziemlich neu. Andererseits hatte Petra nicht den Eindruck einer Fixerin gemacht. Im Nachhinein fiel mir auf, daß sie den ganzen Morgen über ziemlich schweigsam gewesen war und auch stellenweise einen niedergeschlagenen Eindruck gemacht hatte, aber sie war nicht fahrig und nervös gewesen. Nur angespannt. Irgendwie ergab das alles keinen rechten Sinn. Eine Stunde, nachdem Petra in den OP gerollt worden war, kam die Entwarnung. Hans-Joachim kam aus dem Raum und nickte mir knapp zu. "Geschafft." "Na prima!" stieß ich erleichtert hervor. "Wie geht es ihr?" "Sie schläft. Das wird sie auch noch bis heute abend tun. Wollen Sie die Polizei benachrichtigen, oder -" "Nein", sagte ich schnell. "Ich rufe ihre Eltern an. Wenn sie wissen, daß die Kleine fixt, ist es gut, und wenn nicht... Dann haben sie einen lustigen Tag vor sich." "Ihr Ruf wird Ihnen gerecht", meinte Hans-Joachim mit einem dünnen Lächeln. "Aber gut, von mir aus. Ach, eines sollten Sie noch wissen, Dieter: es war ihr erster Schuß." "Aha?" machte ich überrascht. "Welche Dosis?" "Schon ziemlich riskant. Offenbar hat sie überhaupt keine Ahnung. Sie mußte mehrmals ansetzen, bis sie die Vene gefunden hatte. Anhand der Beschaffenheit des Einstichs muß sie wohl alles auf einmal reingejagt haben, mit voller Wucht. Ohne Sinn und Verstand." "Welcher Fixer hat schon Verstand. Wann ist sie ansprechbar?" "Morgen früh. Sobald sie heute abend aufwacht, bekommt sie eine Schlaftablette. Ab sechs, halb sieben etwa." "Gut. Vielen Dank." "Ist mein Job." Er winkte mir kurz zu und verschwand wieder. Erleichtert machte ich mich auf den Weg zur Kantine, wo die Mädchen ungeduldig auf mich warteten. Ich klärte sie in wenigen Worten über Petras Zustand auf, dann sah ich sie ernst und der Reihe nach an. "Rauschgift ist in diesem Werk nichts Unbekanntes, Kinder. Hasch ist an der Tagesordnung, genau wie Crack, Ecstasy und LSD. Wenn Petra eine richtige Auszubildende wäre, würde ich die Grünen anrufen und sie gnadenlos ausliefern. Was dann aus ihr werden würde, interessiert mich einen Scheiß, grob gesagt. Wißt ihr auch, warum?" Fünffaches Kopfschütteln. "Ganz einfach: weil ich jedes Jahr um die 200 neue Azubis bekomme, denen ich schon am Gesicht ansehe, ob sie saufen oder fixen. Solange sie das im Griff haben und ihren Job machen, geht mir das am Arsch vorbei. Von mir aus kann jeder einzelne sein Leben im Klo herunterspülen, aber nicht in meiner Halle! Jeder einzelne Vorfall erfordert einen Haufen Papierkram, und den hasse ich fast so stark wie Frauen." Die Mädchen wichen vor meinem eiskalten Blick zurück. "Was ihr daheim treibt, ist einzig und allein eure Sache. Aber hier wird nach den Regeln gehandelt. Bei 200 Azubis kann ich mir keinen Ausrutscher leisten. Merkt euch das für die Zukunft." Sie nickten bedrückt. "Gut. Da Petra für heute ausfällt, müssen wir eben so klarkommen. Wenn sie was verpaßt, ist es ihr Problem." Angelika wollte etwas sagen, aber ich zog mein Funkgerät und drückte einen Knopf. Angelika schwieg, wie die anderen vier auch. "Personal", hörte ich eine Stimme, die ich nicht leiden konnte. "Ingrid? Dieter Kaminski hier. Ich brauche jemanden für eine Durchsuchung." "Ist gut", kam Ingrids sachliche Stimme. "Bea kommt in zehn Minuten rüber." "Sagen wir, um halb zwei. Ich bin mit den Küken noch in der Kantine und halte ihnen eine Standpauke." "O je!" lachte Ingrid, für die Mädchen deutlich hörbar. "Vergraul die armen Dinger nicht gleich am ersten Tag!" "Sie wollten lernen, wie es im Beruf zugeht", lächelte ich süffisant, "und das tun sie gerade. Bis später." "Mach's gut." Ich schaltete das Gerät aus und steckte es zurück. Die Mädchen sahen mir ängstlich dabei zu. "Mitleid ist nur etwas für Weichlinge", meinte ich trocken. "Falsch." Erstaunt sah ich zur Seite. Angelika blickte mich ernst an. "Mitleid heißt, mit einem anderen Menschen zu leiden, seinen Schmerz zu spüren, und ihm den abzunehmen oder mit ihm zu teilen." "Ganz genau", erwiderte ich lächelnd. "Das ist das, was ich sagte. Nur Weichlinge kommen mit ihren Problemen nicht klar, sondern müssen auch noch andere Menschen mit hineinziehen. Wer Mitleid braucht, ist genauso schwach wie der, der Mitleid gibt." "Das ist nicht wahr!" erwiderte Angelika ruhig. "Mitleid -" "Ist etwas", unterbrach ich sie kühl, "was nicht auf eurem Ausbildungsplan steht. Und deswegen ist das Gespräch auch hiermit beendet. Klar?" Die übrigen vier Mädchen schauten uns gebannt bis ängstlich zu. "Nein." Entschlossen hielt sie meinem Blick stand. "Warum sind Sie so?" Ihre sanfte Stimme riß ein Loch in meinen Panzer, der mich am Leben hielt. "Das geht dich einen Scheiß an!" fauchte ich. "Kind, du bist hier auf der Arbeit! Kümmere dich gefälligst um deinen Kram, und halte dich aus Dingen heraus, von denen du keine Ahnung hast!" Ich würgte ihren Einspruch ab. "Und vor allem", zischte ich leise, "halte dich aus meinen Ansichten heraus! Ich habe lange und hart dafür gearbeitet, um sie zu bekommen, und ich werde sie nicht wegen dir aufgeben!" Angelika schaute mich forschend an. "Und noch etwas", lächelte ich. "Ich gehöre zu den Menschen, die noch einmal kräftig zutreten, wenn der Gegner am Boden liegt. Weißt du, was das bedeutet?" Sie nickte leicht. "Ja. Daß Sie auch getreten wurden, als Sie am Boden lagen." Das verschlug mir doch tatsächlich die Sprache. Woher wußte dieses Kind das? Angelika ließ jedoch nicht locker, und genau das war ihr Fehler. "Wer hat Sie getreten?" fragte sie leise. "Warum wurden Sie getreten?" "Meine liebe Angelika", lächelte ich beherrscht. "Ich wünsche dir und deinen vier Kolleginnen noch einen wunderschönen Tag. Ihr fünf werdet euch jetzt umziehen und nach Hause fahren. Wenn ich euch noch eine Sekunde länger sehe als unbedingt nötig, passiert hier gleich ein Mord. Ich hatte von Anfang an etwas dagegen, sechs Kleinkinder wie euch zu bekommen, und das Verhalten, was ihr bisher an den Tag gelegt habt, bekräftigt meine Meinung nur noch. Ihr sechs gehört auf die Schulbank, aber nicht in eine Werkhalle." Ich zog mein wundervolles Funkgerät und drückte einen Knopf. Die Mädchen blickten mich zerknirscht an. "Personal." "Ingrid? Dieter nochmal. Machst du bitte eine Notiz, daß ich die fünf - die sechs Mädchen nach Hause schicke? Der erste Tag war wohl etwas zu viel für die armen kleinen Dinger." "Das geht nicht", kam Ingrids bedauernde Antwort. "Dieter, die Versicherung zahlt nur dann bei einem Wegeunfall, wenn die Mädchen ihre acht Stunden hinter sich haben. Das ist zu riskant. Nur Freitags dürfen sie eher nach Hause, sonst nicht. Das haben die Schulen der Mädchen so verlangt, damit sie wirklich etwas lernen." "Soll das heißen", fragte ich sehr sanft, "daß ich den Haufen nicht nach Hause schicken darf, wann ich will?" "Genau das. Was ist denn überhaupt los bei euch?" "Nichts." Wütend schaltete ich das Gerät aus und knallte es auf den Tisch. Ich hatte dieses Jahr schon drei davon verbraucht, und dieses würde die nächsten vier Wochen bestimmt auch nicht überleben. Die Mädchen waren so schlau, mich nicht anzusehen. Ich stieß einen sehr obszönen Fluch aus, der sie zusammenfahren ließ, dann atmete ich tief durch. "Gut. Irgend jemand in göttlichen Gefilden hat wohl geplant, daß ich entweder vorzeitig ins Grab oder ins Irrenhaus kommen soll. Sei's drum. Das eine ist mir so recht wie das andere. Räumt eure Sachen weg, die Pause ist zu Ende." Die Kinder sprangen hektisch auf und brachten ihre Tabletts zur Theke, dann machten wir uns auf den Weg zur Halle. Ich kochte vor Wut. Die Mädchen hielten einen großen Abstand zu mir, nur diese elende Nervensäge kam an meine Seite und schaute mich fragend an. "Was?" knurrte ich sie an. "Was ist passiert?" fragte sie mit ihrer sanften Stimme, die wie scharfe Krallen an meinem Panzer kratzte. "Wer hat Ihnen so wehgetan, daß Sie Gott und die Welt hassen?" Ich sah ihr nur ganz kurz in die schönen, blaugrünen Augen; mehr hielt ich einfach nicht aus. "Eine Frau", antwortete ich gegen meinen Willen. "Ihre Frau?" flüsterte sie. "Meine Ex-Frau. Und jetzt hau ab." Wortlos fiel sie ein paar Schritte zurück. Die restlichen Meter bis zur Halle genügten, um mich wieder zu fangen. Bewußt dachte ich nicht mehr über Angelika nach. Ich ging mit den Mädchen in mein Büro, wo sie sich in eine Ecke drängten, weit weg von mir. Ich hingegen holte mir Petras Unterlagen hervor und rief die dort angegebene Telefonnummer an. Wie sich herausstellte, wohnte sie in einem Heim. Ich informierte den Heimleiter mit Namen Bracke kurz, daß Petra die Nacht in der Krankenstation verbringen würde. Er war sehr dankbar, daß ich den Vorfall nicht über die große Schiene, sprich Polizei, laufen ließ. Er sagte jedoch auch, daß Petra so etwas nie vorher getan hätte, und er konnte sich nicht vorstellen, warum sie so plötzlich Rauschgift nahm. Nach dem Gespräch kam Bea an, eine junge Frau Mitte zwanzig. Sie war die anständigste von dem ganzen Verein; ich arbeitete gern mit ihr zusammen, sofern ich das überhaupt von einer Frau sagen konnte. Ich verdonnerte die Mädchen dazu, in meinem Büro zu warten, vor dem alle Arbeiter einen gesunden Respekt hatten, dann ging ich mit Bea zu den Räumen der Mädchen. "Gut schaut das aus!" meinte sie anerkennend, als wir den Umkleideraum betreten hatten. "Noch", brummte ich. "Der ist erst seit heute in Benutzung. Bereit?" "Sofort." Sie hängte sich einen kleinen Rekorder um, schaltete ihn auf Aufnahme und hielt mir ein Mikrofon vor die Nase. Ich haßte diesen Job! "Herr Kaminski", fragte sie mich mit ganz offizieller Stimme. "Haben Sie den Schrank von Petra Witorrek schon einmal geöffnet?" Bea konnte auch lesen! "Nein", sagte ich in das Mikrofon, während ich meine Karte durch den Leser zog. "Bisher bestand keine Veranlassung dazu." Die Tür sprang auf. "Fangen wir an. Eine kleine, schwarze Handtasche, eine neu aussehende blaue Jeanshose, ein weißes T-Shirt, ein dunkelblauer Pullover, schwarze Turnschuhe mit irrsinnig hohen Sohlen. Daß die Mädchen damit laufen können... Eine Swatch-Armbanduhr, eine einfache Halskette aus Kunststoff, auf Gold getrimmt, ein offener Ring, noch ein offener Ring, gleiches Aussehen, etwas größer als der andere. Freundschaftsringe?" "Möglich", meinte Bea. "Was noch?" "Das war's schon fast. Nur noch ein dünnes, silbernes Armband." "Fußkettchen", korrigierte Bea mich. "Aha." Ich sah sie kurz an. "Eine Frage: wer soll das denn sehen, wenn sie das unter der Jeans trägt?" Bea schaltete den Rekorder aus und lachte. "Männer! Mach weiter, Dieter." "Entschuldige bitte, ich will ja nur lernen." "Oh Mann! Na gut: es ist für eine Frau einfach ein schönes Gefühl, wenn sie so ein Kettchen am Fußgelenk trägt." "Wie eine Fessel. Verstehe. Paßt zu euch Frauen." "Blödmann!" lachte Bea. "Ich mach wieder an, ja?" "Tu das." Sie schaltete den Rekorder wieder an. "Wir haben eine kurze Pause gemacht", sprach sie in das Mikro, "um das Fußkettchen näher zu identifizieren, aber es ist nicht gekennzeichnet." Sie zwinkerte mir kurz zu. "Jetzt die Handtasche." Seufzend öffnete ich die Tasche. Ich tat so etwas überhaupt nicht gerne. "Eine Geldbörse aus rotem Kunstleder, eine Zehnerpackung Kondome, drei sind noch drin. Die fangen auch immer früher damit an." Petra war doch erst 14! Kopfschüttelnd suchte ich weiter. "Eine Buskarte, Young Ticket, für die ganze Stadt, ein kleiner Spiegel, ein Kamm, zwei Lippenstifte, ein Fläschchen Nagellack, ein Fläschchen Nagellackentferner, eine Packung Taschentücher. Das war's." "Die Geldbörse", erinnerte Bea mich. "Ach ja." Widerstrebend öffnete ich den kleinen Geldbeutel und erstarrte kurz. Ich zählte das Geld schnell durch. "830 Mark", sagte ich dann ziemlich erschüttert. "Ein Zehner, ein Zwanziger, der Rest Fünfziger und Hunderter. Etwa vier Mark in Münzen." "Das arme Kind!" Bea klang so, wie ich mich fühlte. Petra war nur zwei Jahre älter als meine Tochter. "Kondome, Rauschgift, soviel Geld..." Bea schüttelte traurig den Kopf. "Ja." Der Schluß lag wirklich auf der Hand. Ich packte alles wieder zurück und schloß den Schrank. "Danke, Bea. Du schreibst das alles?" "Sicher. Die Kopie bekommst du per Mail." Sie sah mich nachdenklich an. "Redest du mit ihr, oder..." "Gleich morgen früh." "Sei lieb zu ihr", bat Bea mich. "Mach ihr nicht noch mehr Probleme, Dieter." "Ich werde sehr diplomatisch sein." Bea verdrehte nur die Augen. Wir verließen den Raum gemeinsam; Bea ging wieder zurück in das Verwaltungsgebäude, ich in mein Büro, in dem die Mädchen noch immer saßen und sich angeregt unterhielten. Als ich eintrat, verstummte das Gespräch sofort. Ich ging zu meinem Schreibtisch und setzte mich darauf, das Gesicht zu den Mädchen gewandt. "Da dieser Tag so wunderschön begonnen hat", sagte ich mit genau kalkuliertem Ärger in der Stimme, "werden wir ihn auch so beenden. Ich hatte eigentlich vor, euch heute schon etwas arbeiten zu lassen, aber zu fünft haut das leider nicht hin. Deswegen werden wir gleich, wenn wir unten in der Halle sind, uns nur mit der Stanze beschäftigen. Petra kann das morgen früh sehr schnell nachholen, und ab dann geht's los." Ich sah die fünf eindringlich an. "Kinder, versucht bitte, Ärger aus dem Weg zu gehen. Egal, wie beschissen euer Leben auch aussehen mag, laßt um Himmels willen die Finger von Alkohol und Drogen. Ihr macht euch nur noch mehr kaputt, und eure Probleme werden um keinen Deut weniger. Glaubt mir das einfach, ich erlebe es hier oft genug." Angelika lächelte mich an. "Sie sind ja doch nett." "Ich bin nicht nett, zur Hölle nochmal!" fuhr ich sie grob an. Vier Mädchen erschraken, nur Angelika lächelte verschmitzt. "Und wenn du mich noch einmal so beleidigst, fegst du heute abend die ganze Halle aus! Mit einer abgenutzten Zahnbürste!" "Ja, Chef!" kicherte sie. "Jetzt raus mit euch, die Arbeit wartet." Ich scheuchte die fünf hinunter in die Halle und an die Straße, die extra für die Mädchen reserviert war. Ich versammelte die fünf um mich. "Wofür die Maschinen sind, habt ihr heute morgen schon gesehen", sagte ich laut, um den Krach um uns herum zu übertönen. Die fünf nickten eifrig. "Eigentlich wollte ich euch heute nachmittag an die sechs Stationen stellen, damit ihr euch zuarbeiten könnt, aber da Petra fehlt, machen wir das erst morgen. Ist nicht so schlimm." Ich griff in das Fach unterhalb des Tisches und holte ein Paar Handschuhe und einen Ohrenschutz heraus. "Iris?" "Was?" Das Mädchen mit den kurzen, mittelblonden Haaren und graublauen Augen erschrak sichtlich. Ich lächelte sie an und reichte ihr die Handschuhe. "Wärst du so nett?" "Äh - was soll ich denn machen?" "Blumen pflücken?" schlug ich freundlich vor. Sie wurde rot und nahm die Handschuhe entgegen. Schnell steckte sie ihre Hände hinein, dann sah sie mich unsicher an. Ich hob eine der schweren Platten auf die Stanze. "Diese Platten", erklärte ich den fünf, "haben auf der Unterseite Führungen, die hier in der Halle hineingefräst werden. Das Verschieben geht ganz leicht, ihr braucht dazu nicht viel Kraft. Sobald die Platte richtig liegt, faßt ihr den Griff hier oben an und drückt mit den Daumen auf beide Knöpfe gleichzeitig." Ich nickte Iris zu. Unsicher ging sie zur Maschine. Ich gab ihr den Ohrenschutz, den sie sich aufsetzte, dann atmete sie tief durch und versuchte, die Platte zu verschieben. Es gelang ihr auf Anhieb, da unter der Platte leichtlaufende Kugellager waren. Ich ließ sie es etwas ausprobieren, bis sie das Gefühl dafür hatte, dann wurde es ernst. Sie schob die Platte in die Ausgangsposition, legte die Hände an den Griff und drückte beide Knöpfe. Die Stanze fuhr herunter und knallte laut auf die Platte, aus der ein kleines Stück in den Korb fiel. Die vier Mädchen klatschten begeistert Beifall. Iris errötete und drückte unwillkürlich ein zweites Mal auf die beiden Knöpfe. Wieder fuhr die Stanze herunter, diesmal jedoch ins Leere. Iris erschrak zu Tode. Mit einem Satz sprang sie zurück, dabei prallte sie gegen einen Azubi, der konzentriert an einem Werkstück arbeitete. Auch er erschrak, als Iris gegen ihn stieß, und ließ die Feile fallen, die klirrend auf den Boden knallte und zerbrach. Iris schlug erschrocken die Hände vor den Mund und starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an, wie die anderen vier auch. Ich klatschte begeistert Beifall. So liebte ich das! Iris lief feuerrot an, ihr Blick war beschämt auf den Boden gerichtet. Mit zittrigen Fingern zog sie sich die Handschuhe aus, sah kurz auf, begegnete meinem Blick und schaute sofort wieder auf den Boden. Ich sagte kein Wort. Sie klemmte die Handschuhe unter der Achsel ein, nahm den Ohrenschutz ab und hielt ihn in der zitternden Hand. Noch immer schwieg ich. Iris sackte sichtlich in sich zusammen, als sie versuchte, sich im Boden zu verstecken. Perfekte Panikreaktion. "Sie hat's kapiert", hörte ich plötzlich Angelikas Stimme. "Du sollst dich doch aus meinen Angelegenheiten heraushalten", erwiderte ich, doch nach einem Blick in ihre Augen war meine Schadenfreude weg wie Schnee im Hochsommer. Ich seufzte lautlos und sah wieder zu Iris. "Mach weiter." Nervös stülpte sie sich den Ohrenschutz über. Ich schickte Ahmad, den Azubi, dessen Feile zerbrochen war, ins Lager, um eine neue zu holen, während Iris sich wieder die Handschuhe anzog. Voller Angst ging sie zurück an die Maschine und stanzte konzentriert die restlichen neunzehn Stücke heraus. Aufatmend trat sie anschließend von der Maschine zurück, sichtbar froh, diese Aufgabe lebend überstanden zu haben. Ich bemerkte, daß Angelika sie aufmunternd ansah, und sofort strahlte Iris wieder. Dann sah Angelika zu mir. "Darf ich?" "Sicher." Ich legte eine neue Platte auf, nachdem ich die alte in einen Korb gestellt hatte. In der Zwischenzeit machte Angelika sich fertig. Als alles bereit war, ging sie an die Maschine, bewegte die neue Platte probeweise hin und her, und dann konnte ich nur noch staunen. Konzentriert und sehr gleichmäßig schob sie die Platte hin und her, griff zu den Knöpfen, als hätte sie ihr Lebtag nichts anderes getan, und holte in unvorstellbar kurzer Zeit alle zwanzig Stücke aus der Platte. Nach dem letzten trat sie zurück, zog die Handschuhe aus, setzte den Ohrenschutz ab und reichte mir beides, mit einem fröhlichen Schimmern in den Augen. "Da hol mich doch -" entfuhr mir. Das Mädchen unterdrückte ein Kichern und hüpfte zu ihren Kolleginnen. "Ist ganz leicht", schwächte sie ihre Vorstellung ab. "Ihr müßt nur keine Angst haben, dann klappt das auch." "Ich will!" Bettina drängte sich nach vorne und riß mir Handschuhe und Ohrenschutz aus den Händen. Kurz darauf stand sie an der Maschine und stanzte. Nicht so schnell wie Angelika, aber auch nicht so nervös wie Iris. Ich begann, Angelika zu hassen. Ich ließ die Mädchen sich abwechseln, bis ihre fünfzig Minuten um waren, dann gingen wir vor die Tür, wo Bettina sich schnell eine rauchte. Um vier Uhr machte ich Schluß und schickte die Mädchen duschen, damit sie pünktlich um halb fünf draußen waren. Ich begleitete sie noch bis zum Tor. "Vergeßt morgen früh eure Karten nicht", schärfte ich ihnen ein. "Ohne die kommt ihr nicht rein. Falls ihr die vor lauter Tanzen und Knutschen heute abend vergeßt, könnt ihr mich von hier aus anrufen. Bis morgen." "Ja!" - "Tschö!" - "Bis morgen!" - "Schönen Feierabend!" Vier Mädchen hüpften fröhlich davon, das fünfte sah mich forschend an. "Und Petra?" "Die bleibt hier", verriet ich Angelika lächelnd. "Heute nacht kommt nämlich ein Menschenhändler, der für sie einen guten Preis zahlt. Dem verkaufe ich sie." "Sie sind süß!" lachte Angelika leise. "Im Ernst! Was passiert mit ihr?" "Obwohl es dich nichts angeht, Kleines: sie schläft bis morgen, und dann werde ich mit ihr reden." Angelika nickte nachdenklich. "Geht mich wirklich nichts an", gab sie zu. "Aber es interessiert mich trotzdem." "Je weniger du weißt, um so weniger Sorgen mußt du dir machen. Jetzt ab mit dir, deine Eltern warten." "Bis morgen, Herr Kaminski." Sie lächelte mich kopfschüttelnd an. "Sie sind wirklich ein feiner Kerl." "Hau ab!" fauchte ich. Sie kicherte und lief hinter den anderen vier Mädchen her. "Was ist das denn für ein Haufen?" hörte ich Martin, einen der Sicherheitsleute an der Pforte, sagen. Ich schaute ihn nur bedrückt an. "Frag das nicht, Martin. Frag mich das bitte nie wieder!" Sein Lachen folgte mir, als ich zu meiner Halle zurückschlich.
Am nächsten Morgen war ich um sieben in der Krankenstation. Eine junge Schwester führte mich zu Petra, die in einem kleinen Einzelzimmer lag und schon wach war. Ich bat die Schwester, zu bleiben, doch sie lachte mich nur aus. "Du und was mit Mädchen anfangen! Nie!" Sie hatte ja vollkommen recht. Petra sah mich bedrückt an, als ich mich zu ihr auf das Bett setzte. "Guten Morgen, Kleines", sagte ich sanft. "Wie geht es dir?" Sie zuckte nur die Schultern. "Geht so", antwortete sie leise. "Warum machst du so einen Unsinn, Petra? Du bist nicht süchtig, das weiß ich. Warum also?" Sie atmete tief durch. "Wegen meinem Freund", gestand sie flüsternd. "Glaubst du, er mag dich mehr, wenn du fixt?" "Nein", hauchte sie. "Er - er sagte, wenn's mir dreckig geht, dann würde mir das helfen." "Und? Hat es geholfen?" "Nein." Ihre Augen wurden feucht. "Mir wurde nur ganz komisch, und dann bin ich hier aufgewacht." "Warum ging es dir denn gestern dreckig, Kleines?" fragte ich leise. Sie zog die Nase hoch. "Auch wegen meinem Freund." Sie hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. "Ich wollte ihm was schenken, aber er wollte das nicht haben." Mir fielen die beiden Ringe in ihrem Spind ein. "Einen Ring?" "Ja." Eine Träne stahl sich aus ihrem Auge. Wieder dachte ich daran, daß Petra nur zwei Jahre älter als meine Tochter war, dann geschah der Rest automatisch. Ich streckte meine Arme aus. Petra sah mich nur kurz an, dann warf sie sich an mich und weinte sich aus. Ich hielt das arme Kind fest, bis es sich einigermaßen beruhigt hatte, murmelte dabei tröstende Worte und strich Petra leicht über das Haar. Schließlich seufzte sie laut und hob ihren Kopf, um mich anzusehen. "Jetzt ist besser", lächelte sie verlegen. "Schön." Ich drückte sie noch einmal kurz und ließ sie sofort danach los. "Jetzt erzähl von Anfang an, Kleines. Warum mußt du Geld verdienen, und warum auf diese Art?" "Wegen meinem Freund." Sie schaute mich entschuldigend an, aber auf die Idee, mich zu fragen, woher ich wußte, was sie tat, kam sie nicht. Elite. "Sprich einfach, Petra", munterte ich sie auf. "Ich werde keinem erzählen, was du sagst." "Okay." Sie sortierte ihre Gedanken, dann fing sie an. "Mein Freund ist 19. Er hat ein Auto geknackt und ist damit losgefahren, aber auch gleich vor ‚nen Baum. Da kannten wir uns aber noch nicht. Wir haben uns erst was später kennengelernt. Na, letztens kam so ‚n Brief an, wo drin stand, daß er für das Auto bezahlen muß. Er kann aber nicht arbeiten, deswegen hab ich gesagt, ich mach das schon für ihn." "Halt mal", unterbrach ich sie. "Willst du allen Ernstes sagen, daß du auf den Strich gehst, weil dein Freund ein Auto versenkt hat, obwohl du ihn da noch nicht kanntest?" Das konnte doch einfach nicht sein! "Ja", murmelte sie verlegen. "Er kann doch nicht arbeiten, Herr Kaminski! Er hat doch nur mich!" "Warum kann er nicht arbeiten, Kleines?" "Na, er hat ganz oft so Bauchschmerzen, oder Kopfweh, oder Schnupfen, oder der Rücken tut ihm weh." "Petra!" Ich ergriff ihre Hände und sah sie fassungslos an. "Kleines, glaubst du ihm diesen Müll etwa? Kind, weißt du, wie viele Azubis mich morgens anrufen, weil sie todkrank sind, und eine Stunde später tollen sie munter durch die Stadt?" "Das macht er auch", gab Petra nachdenklich zu. "Da hab ich mich sowieso schon drüber gewundert." Ich schwor mir, mit Erwins geliebten Psychologen ein ernstes Wort wegen ihrer Tests zu reden. Das konnte doch alles nicht wahr sein! "Hör mir jetzt bitte gut zu, Kleines", bat ich sie eindringlich. "Findest du es wirklich in Ordnung, für die Schulden deines Freundes zu zahlen?" "Wer soll das denn sonst machen?" fragte sie mit ihren ach so unschuldigen blauen Augen. "Ich sag's anders, Kleines. Er baut Scheiße, und du zahlst. Ist das okay?" Das verstand sie. Nachdenklich kaute sie auf ihrer Unterlippe herum und schüttelte schließlich den Kopf. "Nein." "Dann sag ihm das, Kind! Mach um Himmels willen Schluß damit! Petra, du kannst dich doch nicht von wildfremden Leuten ficken lassen, verflucht und zugenäht!" "Das ist nicht so schlimm", meinte sie verlegen. "Mir gefällt's ja. Ich hab schon mit - mit 13 gefickt. Ich find's toll. Aber daß er meinen Ring nicht wollte..." Sie sah mich traurig an. "Ich hab ihm den gestern abend gegeben. Er sagte nur: ‚Will ich nicht', und hat ihn mir wiedergegeben. Dann hat er mich auf die Straße geschickt, Geld verdienen." "Mein Gott, Petra!" Ich drückte das Kind an mich. "Kleines, bist du wirklich so naiv? Der nutzt dich doch nur aus! Merkst du das nicht?" "Weiß nicht." Sie schmiegte sich schutzsuchend an mich. "Wir sind ja nicht so oft zusammen. Erst seit er den Brief bekommen hat, ruft er mich täglich an und fragt, ob ich Zeit habe." "Ah ja. Und wenn du Zeit hast, schickt er dich auf die Straße, damit du für seine Schulden die Beine breit machst." Sie nickte nur schwach. "Seit wann machst du das, Petra? Seit wann verdienst du für ihn Geld?" "Seit letzten Montag." Sie schaute mich ganz stolz an. "Ich hab schon zweitausend Mark verdient!" "Das ist schön für dich, Kleines. Wieviel hast du ihm gegeben?" "Zwölfhundert, am Freitag. Den Rest wollte ich ihm gestern abend geben, aber..." Sie schaute sich kurz in dem Zimmer um und zuckte mit den Schultern. "Hat ja nicht geklappt." "Okay." Ich beherrschte mich, ihr diesen ganzen Unsinn nicht mit ordentlichen Ohrfeigen auszutreiben. "Paß bitte gut auf, Kleines. Dein Freund klaut ein Auto und ist auch noch so bescheuert, es vor einen Baum zu setzen. Dafür muß er bezahlen, nicht du. Verstehst du das? Du hast damit überhaupt nichts zu tun, Kleines. Wenn er wirklich dein Freund wäre, würde er sich den Arsch aufreißen und arbeiten bis zum Umfallen, aber statt dessen sitzt er gemütlich zu Hause rum und läßt dich auf den Strich gehen. Hast du dir das unter einer Freundschaft vorgestellt, Mädchen? Daß dein Freund dich seelenruhig von anderen Männern ficken läßt und abkassiert?" Petras Augen wurden riesengroß, als sie tapfer versuchte, meine Gedanken nachzuvollziehen. Wie von selbst setzte sich schließlich ihr Kopf in Bewegung und drehte sich von einer Seite zur anderen. "Nein", hauchte sie fassungslos. "Sowas macht der? Sowas läßt der mich machen?" "Sieht wohl so aus." Ich drückte kurz ihre Hände, die ich noch immer festhielt. "Kleines, wenn du wirklich glaubst, daß ein richtiger Freund dich so etwas machen läßt, dann bist du ganz schön schief gewickelt. Ein wirklicher Freund würde versuchen, dich aus dem ganzen Streß herauszuhalten, er würde dich aber auf keinen Fall mit hineinziehen. Und schon gar nicht auf diese krumme Tour. Geht das in deinen Schädel rein?" "Ja!" lachte sie überwältigt. "Das hab ich kapiert!" "Na fantastisch." Ich verkniff mir einen weiteren Kommentar. "Dann weißt du jetzt wohl auch, was du zu tun hast?" "Ja! Ich geb ihm die achthundert Mark, und dann kann er mich mal!" "Das tust du nicht, verdammt!" brüllte ich sie an. Petra erschrak zu Tode, und eine Schwester kam angelaufen. Aber das interessierte mich nicht. "Verflucht noch eins, du bescheuertes Ding!" fuhr ich Petra an. "Du wirst das verdammte Geld behalten, aber du wirst es diesem Arschloch auf keinen Fall in den Hintern schieben! Ist das klar?" Sie nickte ängstlich. "Herr Kaminski!" ermahnte mich die Oberschwester streng. "Das Mädchen braucht jetzt Ruhe!" "Das Mädchen braucht eine Gehirnwäsche, zur Hölle nochmal!" fauchte ich den Pinguin an. "Die Kleine ist so verdreht, daß es schon zum Himmel schreit!" Wütend stand ich auf. "Kümmern Sie sich gefälligst um die Kranken, die es nötig haben. Petra braucht eine anständige Abreibung, aber was sie auf keinen Fall braucht, ist Ihre Anwesenheit!" "Das reicht!" Die Oberschwester blitzte mich in gerechter Empörung an. "Sie verlassen auf der Stelle das Krankenhaus! Haben Sie mich verstanden?" "Geh woanders gackern, du Henne!" fuhr ich sie an. "Petra, zieh dich an. Du bist gesund." "Das Kind bleibt hier, bis der Arzt sagt, daß sie gehen kann!" tobte die Oberschwester. "Nein!" Petra setzte sich entschlossen auf. "Ich geh! Er hat ja völlig recht. Ich bin ganz schön doof gewesen." Sie schaute die Oberschwester wütend an. "Ist doch wahr! Ich soll mich von tausend Fremden ficken lassen, nur damit dieser Arsch seine Schulden zahlen kann? Wer bin ich denn? Sein Sklave, oder was?" Wütend warf sie das Oberbett zurück und stand auf, eine Sekunde später flog das Nachthemd auf den Boden. Ich blickte schnell zur Seite, denn außer ihrem Höschen trug sie nichts. Die Oberschwester stand kurz vor einem Schlaganfall; ihr Gesicht wurde abwechselnd rot und weiß. "Na, Schwester?" grinste ich sie an, während Petra schnell ihre Sachen zusammensuchte. "So fängt der Tag doch richtig gut an, was?"
* * *
Nach diesem gelungenen Start in den neuen Tag gingen wir erst einmal ausgiebig frühstücken. Petra hatte Hunger bis in die Haare; sie hatte seit gestern mittag auch nichts mehr gegessen. Mitten im Frühstück meldete sich mein Funkgerät. Viel später, als ich erwartet hatte. "Kaminski", grinste ich in die Muschel und legte den Finger auf die Lippen, während ich Petra ansah. Sie nickte schnell. "Ingrid hier. Dieter, wir haben eine Beschwerde aus der Krankenstation über dich vorliegen." "Ich weiß. Pack sie zu den anderen, oder mußt du schon einen neuen Ordner anfangen?." "Beinahe. Das werden langsam zu viele", sagte Ingrid leise. "Kannst du dich nicht etwas zusammennehmen?" "Warum sollte ich?" lachte ich. "Ingrid, du hättest die Oberschwester sehen sollen! Wie ein Luftballon, der in der nächsten Sekunde platzt. Das war es mir wert." "Mann, Mann, Mann", seufzte Ingrid. "Ich will dich nur warnen, Dieter. Noch ein bißchen, und du bist deinen Job los." "Ingrid?" sagte ich sehr sanft. "Ja?" fragte sie nervös. "Sagen dir die Buchstaben L - M - A - A etwas?" Keine Sekunde später war die Verbindung tot. Grinsend steckte ich das Gerät zurück. "Was hieß das denn?" fragte Petra neugierig. "Iß dein Brot, Kleines", schmunzelte ich. "Du mußt nicht alles wissen." Sie lächelte zurück. "Das klingt schön", sagte sie leise. "Kleines. Fühl ich mich wohl bei." Ich wollte gerade etwas erwidern, was Petras gute Laune vernichtet hätte, schluckte es aber runter. Sie hatte genug Mist mitgemacht für einen Tag. So ließ ich ihr das durchgehen und aß mein Frühstück weiter. Keine zwei Minuten später piepste mein Gerät wieder. Erwin. "Dieter?" fragte er ziemlich unterkühlt. "Ingrid sagt, du hättest sie schwer beleidigt." "Was?" lachte ich. "Ich weiß doch gar nicht, welche Perücke sie heute aufhat, da kann ich sie doch gar nicht beleidigen." "Laß den Scheiß!" fauchte er. Petra biß sich in den Finger, um nicht laut loszulachen. "Du weißt ganz genau, worum es geht!" "Beim besten Willen nicht, Erwin. Erzähl. Was hab ich getan?" "Du hast ihr - ein sehr unhöfliches Angebot gemacht. Eines, was ich auf keinen Fall durchgehen lassen kann." "Werd deutlich, Erwin", bat ich ihn. "Was soll ich ihr angeboten haben? Daß sie meine schmutzigen Socken wäscht?" "Nein, verdammt! Du hast ihr gesagt, sie soll dich am Arsch lecken! War das deutlich genug?" "Völlig", erwiderte ich ruhig. "Aber auch völlig unzutreffend. Ich habe Ingrid nur gefragt, ob ihr die Buchstaben L - M - A - A etwas sagen. Mehr nicht. Was sie daraus macht, ist einzig und allein ihre Sache. Außerdem kennst du mich. Ich würde einer Frau niemals erlauben, mein edelstes Körperteil auf diese Art zu berühren. Aber wo wir gerade von Ingrid reden: frag sie doch mal bitte, warum sie ihre Vorschriften übertritt und mich vor Dingen warnt, die noch gar nicht akut sind. Möchte diese Mitarbeiterin eurer Personalabteilung etwa einen leitenden Angestellten einschüchtern? Oder ihm sogar drohen?" "Was? Unmöglich!" "Frag sie einfach", lächelte ich. "Warte." Ich hörte gedämpfte Stimmen, wovon eine - nämlich die von Ingrid - immer lauter wurde, dann war Erwin wieder da. "Vergiß das Gespräch." Die Verbindung war tot. "Na also." Zufrieden lächelnd steckte ich das Gerät wieder ein. "Und wieder eine Frau erledigt." "Was?" Petra sah mich verwirrt an. "Nichts, Kleines. Iß dein Frühstück." Ich tätschelte kurz ihre Hand. "Weißt du, Kleines, das macht am meisten Spaß: wenn die Frauen sich selbst in der Falle fangen, die sie einem Mann stellen wollten. Das genieße ich bis zum letzten Tropfen." Petra lächelte unsicher und biß in ihr Brot. Wir dehnten das Frühstück bis viertel nach acht aus, dann gingen wir langsam die Treppe hinunter. Auf dem Absatz zur ersten Etage blieb Petra stehen und sah mich an. "Sie sind wirklich nett! Ich würd gern mal mit Ihnen ficken", sagte sie leise. "Und ich würde dich gerne vor den nächsten Laster schmeißen, der hier vorbei rast", fuhr ich sie an. "Einigen wir uns beide darauf, das nicht zu tun? Ich werfe dich nicht vor den Laster, und du sagst mir nie wieder, was du mit mir tun möchtest?" Sie nickte ängstlich. "Gut." Wütend eilte ich die Stufen hinunter, aus dem Gebäude heraus und über die Straße.
Um halb neun waren die sechs zarten Pflanzen in meinem Büro versammelt. Ich schickte sie gleich zum Umziehen. Petra ging mit, obwohl sie schon ihren Blaumann anhatte, aber in meinem Büro wollte sie auch nicht bleiben. Kein Wunder, nach den eisigen Blicken, die ich ihr zugeworfen hatte... Zehn Minuten später, die ich vor der Tür gewartet hatte, kamen sie heraus. Wir gingen wieder an die Stanze, wo Petra insgesamt achtzig Stücke stanzen mußte, dann war auch sie so fit, daß ich die Mädchen verteilen konnte. Angelika blieb an der Stanze, Petra kam an die nächste Station zum Fräsen, Rita an die dritte zum Bohren, Dagmar an die vierte zum Senken, Iris an die fünfte zum Nummern stanzen, und Bettina an die sechste zum Einfetten und Einpacken. Auf diese Art verbrachten wir den Vormittag. Alle zwanzig Minuten rutschten die Mädchen eine Station weiter, bis sie alle sechs einmal hinter sich gebracht hatten. Ich konnte während der ganzen Zeit meine Augen nicht von Angelika nehmen. Sie war dermaßen sicher an den einzelnen Maschinen, daß ich fast den Eindruck hatte, sie hätte ihr Leben lang nichts anderes getan. Sie brauchte ein oder zwei Minuten, um sich an das Gerät zu gewöhnen, dann legte sie mit einer Sicherheit und einem Tempo los, das viele langjährige Arbeiter nicht hatten. Ich wurde nicht schlau aus diesem Mädchen. Mit den Pausen zwischendurch war es nach der sechsten Station bereits elf Uhr, so daß wir noch eine kleine Runde hinterher schoben und um kurz nach zwölf essen gingen. Auf dem Weg über die Straße hielt Angelika mich auf. "Was möchtest du?" seufzte ich. "Warum sind Sie so?" fragte sie leise. Ihre Augen schienen bis auf den Grund meiner Seele zu blicken. "Angelika!" warnte ich sie. "Hör mit diesen Spielchen auf, Kleines. Du könntest dir ganz gewaltig die Finger verbrennen." "Warum sind Sie so?" "Verdammt!" fauchte ich. "Laß mich in Ruhe!" "Warum sind Sie so?" Ich widerstand dem sehr starken Impuls, ihr eine zu kleben, und ging mit schnellen Schritten zur Kantine. Trotz meiner Wut auf sie behielt das Pflichtgefühl die Oberhand; ich wartete an der offenen Tür auf sie. Sie kam näher und sah mich dabei unentwegt an. "Darf ich dir etwas sagen?" fragte ich sie höflich, als sie neben mir war. "Sicher. Was denn?" "Es ist eine sehr gesunde Einstellung, Beruf und Privatleben voneinander zu trennen." Ich schaute sie eindringlich an. "Wenn beides vermischt wird, gibt das nur Probleme. Klar?" "Ja." Sie lächelte verschmitzt. "Und Probleme wollen wir doch nicht, oder?" "Ganz genau. Ich bin froh, daß wir uns verstehen." "Tun wir. Ich hab meine Probleme, Sie haben Ihre." "Völlig richtig, Kleines. So soll das auch bleiben." "Kapiert." Sie grinste breit. "Warum sind Sie so?" Mit einem Satz, und noch bevor ich reagieren konnte, war sie in eine Kabine gesprungen und ließ sich nach oben tragen. Geladen wie eine Hochspannungsleitung stieg ich in die nächste Kabine. ‚Warum sind Sie so?' Blöde Frage! Das sollte sie meine Ex fragen, die konnte darauf wesentlich besser antworten als ich. Nach dem Essens räusperte Petra sich plötzlich, dann sah sie mich an. "Ich wollte mich entschuldigen", sagte sie verlegen. "Wegen heute morgen." "Schon gut, Kleines", lächelte ich. "Vergeben und vergessen." "Was war denn heute morgen?" fragte Bettina neugierig. Auch die anderen Mädchen spitzten die Ohren. "Nichts", erwiderte ich. "Petra und ich hatten nur ziemlich Zoff mit der Oberschwester." "Ja!" kicherte Petra los. "Herr Kaminski hat ihr gesagt, sie soll woanders gackern gehen! Die ist beinahe geplatzt!" "Wieso das denn?" wollte Angelika wissen. "Ach", winkte ich ab. "Kleinigkeiten. Petra wollte aufstehen, aber die gute Frau wollte sie nicht gehen lassen. Da flogen eben die Fetzen." "Nein!" protestierte Petra. "Das kam doch, weil -" "Petra!" fauchte ich sie an. "Hältst du die Klappe! Dir ist die Schlaftablette wohl nicht bekommen, oder was? Sie wollte dich nicht gehen lassen!" "Ist doch gar nicht wahr!" Petra sah mich verblüfft an. "Ich sagte, daß ich -" "Schluß jetzt!" Meine Augen schossen Blitze in ihre Richtung. "Petra, nach Feierabend kannst du reden, was du willst, aber nicht hier! Ist das klar?" "Ja", murrte sie verletzt. Schmollend schaute sie auf ihr Tablett, doch plötzlich hob sie den Kopf. Ihre Augen leuchteten. "Ich soll das nicht sagen!" verkündete sie stolz. "Weil keiner wissen soll, was ich gemacht hab! Stimmt's?" "Du hast es erfaßt", stöhnte ich. "Und natürlich will keines der Mädchen, die dich jetzt so neugierig anstarren, wissen, was du gemacht hast." Erst jetzt bemerkte Petra die Blicke der anderen Mädchen. Sie wurde feuerrot. "Gratuliere, junge Dame", meinte ich ätzend. "Das hast du sauber verbockt." Kopfschüttelnd stand ich auf, um mir einen neuen Kaffee zu holen, doch bevor ich ging, sah ich noch einmal zu Petra, die nicht wußte, wo sie sich verstecken sollte. "Weißt du, Kleines, wenn es einen Preis für Dummheit gäbe, dann... Ach, vergiß es." Wütend drehte ich mich um. "Das war nicht nett!" hörte ich Angelikas Vorwurf. Ich blieb stehen und drehte mich zu ihr. Sie schaute mich traurig an. "Das war wirklich nicht nett. Petra ist sehr lieb, und Sie sind so gemein zu ihr. Warum?" "Ich sagte doch, daß ich noch einmal zutrete, wenn mein Gegner am Boden liegt. Glaubst du mir das jetzt endlich?" "Nein." Zu meinem absoluten Erstaunen lächelte sie plötzlich fröhlich. "Jetzt hab ich endlich kapiert, wie Sie sind. Je gemeiner Sie werden, um so besorgter sind Sie." Sie legte Petra einen Arm um die Schulter. "Kapierst du, Petra? Er macht sich nur riesig Sorgen um dich, sonst würde er sich nicht so aufregen." "Meinst du?" fragte Petra voller Hoffnung. Alle Mädchen ignorierten meine Warnsignale: rotes Gesicht, blitzende Augen, zusammengeballte Fäuste. "Klar!" rief Angelika begeistert. "Achte mal drauf! Er sagt immer Kleines, wenn er was Nettes sagt, aber wenn er schimpft und tobt, dann macht er sich richtig große Sorgen. Ganz sicher!" "Stimmt das?" fragte Petra mich. "Natürlich", lächelte ich sie an. "Ich mache mir so große Sorgen um dich, daß ich dich am liebsten in zehntausend kleine Stücke sägen würde!" "Das heißt, er mag dich", grinste Angelika. Das war zuviel! "Du verfluchtes Miststück!" fuhr ich sie an. "Hältst du jetzt endlich dein verdammtes Schandmaul? Oder willst du im nächsten Schmelzofen landen?" "Und das heißt dann, daß er in dich verliebt ist, oder was?" fragte Petra zweifelnd. Angelika wurde rot vor Verlegenheit, ich wurde rot vor Wut, die anderen vier Mädchen wurden rot vor Lachen. Entweder brachte ich sie alle auf der Stelle um, oder... Ich entschied mich für das Oder. Wütend stapfte ich zur Theke, wo ich die nächsten Minuten damit verbrachte, mich abzukühlen. Als ich zurückkam, hatte die Stimmung am Tisch sich verändert. Petras und Angelikas Augen lachten, und auch die anderen vier Mädchen hatten längst nicht mehr so viel Angst vor mir wie noch wenige Minuten vorher. Selbst Iris nicht. Seufzend setzte ich mich hin und starrte in mein Glas Wasser. "Na schön", sagte ich wie zu mir selbst. "Wenn sie Krieg haben wollen, können sie den haben. Sie sind noch achtzehn Tage hier. Achtzehn Tage mal acht Stunden. Plus heute. Das ist eine verdammt lange Zeit, in der noch sehr viel passieren kann." Ich spürte förmlich, wie die Angst wieder Einzug hielt. "Er tut nur so", hörte ich Angelika lachen. "Er will uns nur Angst machen." "Das reicht." Ich sah auf. "Angelika, würdest du mir bitte erklären, warum du gegen mich bist?" "Ich bin nicht gegen Sie", sagte sie sanft. "Das sind Sie doch schon selbst." Selbst die anderen Mädchen spürten, daß dies ein Schritt zuviel war. Ich nickte leicht. "Gut. Ich will dich nach Feierabend in meinem Büro sehen." "Ich komme", sagte sie ruhig. "Ich wollte auch mit Ihnen reden." "Setz dich." Angelika, die sich bereits umgezogen hatte, setzte sich in einen der Stühle. Die anderen Mädchen hatten schon Feierabend gemacht und waren auf dem Weg nach Hause. Ich atmete tief durch, dann sah ich sie an. "Was ist los mit dir, Kleines? Hat dir niemand beigebracht, wie man mit seinem Vorgesetzten umzugehen hat?" "Doch", erwiderte sie leise. "Aber darum geht es nicht." "Worum dann?" "Warum bist du so?" "Angelika!" Meine Fäuste knallten auf den Tisch. "Verflucht noch eins, wieso duzt du mich plötzlich?" "Warum bist du so?" "Das reicht!" Ich öffnete eine Schublade und holte die Unterlagen der sechs Mädchen heraus. "Ich werde deine Eltern anrufen und mal ernsthaft mit ihnen reden. So geht das nicht weiter, junge Dame." "Besuch uns doch einfach heute abend", schlug sie vor. "Was?" Ich war so fassungslos, daß mir sogar die schmalen Hefter aus der Hand fielen. "So um acht?" fragte Angelika. "Dann kannst du mit uns essen. Heute gibt es Spaghetti, mit ganz leckerer Tomatensoße. Die mache ich, wenn ich nach Hause komme, aber vorher muß ich noch was einkaufen, und deshalb -" "Angelika!" Sogar die Fensterscheiben klirrten, als ich losbrüllte. "Zur Hölle nochmal, was für ein Dämon reitet dich?" "Du kannst vor dem Haus parken", redete sie ungerührt weiter. "Da sind immer viele Plätze frei." Sie lächelte entschuldigend. "Es haben nicht viele ein Auto, da wo ich wohne. Ist keine besonders gute Gegend, aber -" "Sekunde!" Ich warf beide Hände nach oben. "Laß mich mal eben bitte rekapitulieren, ja? Ich wollte mit dir reden, um dich zusammenzuscheißen. Du läßt mich aber nicht zu Wort kommen, sondern lädst mich fröhlich zum Essen ein. Hab ich das bis dahin verstanden? Ist das so gelaufen?" "Ja", kicherte sie. "Um acht Uhr heute abend?" Sie stand auf. "Meine Adresse steht auf dem Zettel von der Schule. Ich freu mich schon drauf!" Sie winkte mir zu und lief hinaus. Ich starrte noch sehr lange auf die Tür, durch die sie gegangen war. ‚Warum bin ich hier?' Diese Frage fuhr mir wieder und wieder durch den Kopf, während ich aus dem Wagen stieg, ihn verschloß und langsam zu dem Haus ging, wo Angelika wohnte. Ich konnte nicht sagen, warum ich hier war, warum ich ihrer Einladung gefolgt war. Ich hatte wirklich versucht, zu Hause zu bleiben, aber etwas trieb mich hierhin. Seufzend drückte ich auf den untersten Knopf. Sekunden später hörte ich laute Schritte, dann flog die Tür auf. "Dieter!" strahlte Angelika mich an. "Du bist da! Komm rein!" Vollkommen aufgedreht ließ sie mich in den Hausflur, dann lief sie vor in die Wohnung. "Papa ist im Wohnzimmer", sprudelte sie los. "Ich bin grad in der Küche und mach Essen. Geh rüber und red was mit ihm, ich ruf euch, sobald ich fertig bin. Dauert nur noch ein paar Minuten! Ich beeil mich auch! Extra für dich!" Aufgekratzt gab sie mir einen Schubs in Richtung Wohnzimmer. Seufzend ging ich die paar Schritte und stand in einem Raum, der selbst für meine Verhältnisse sehr dunkel eingerichtet war. Doch meine Aufmerksamkeit richtete sich sofort auf Angelikas Vater, der mir mit seinem Rollstuhl entgegengefahren kam. Er hatte keine Beine, sein Körper hörte direkt an der Hüfte auf. "Herr Kaminski!" begrüßte er mich herzlich, aber nicht übertrieben oder laut. Einfach nur herzlich. Wir tauschten einen Händedruck aus. "Nehmen Sie Platz, wo Sie möchten." Während ich mich setzte, ordnete ich ihn anhand seiner Sprache schnell ein. Mittlere Schulbildung, wahrscheinlich Realschule, offen und direkt. "Geli hat so viel von Ihnen erzählt", schmunzelte er, "daß ich das Gefühl habe, Sie schon richtig zu kennen." "Dazu braucht es auch nicht viel", feixte ich. "Knurrig und gereizt, damit bin ich am besten beschrieben." "Geli erzählt was anderes. Knurrig und gereizt, ja, aber auch besorgt und einfühlsam. Wie Sie diese Petra wieder auf die Beine bekommen haben..." "Das hat Angelika erzählt?" fragte ich sehr sanft. "Ja klar, wieso auch nicht? Was Geli erzählt, muß Petra von Ihnen total begeistert sein. Das Kind schleppt sich seit Wochen mit diesem Idioten durch, macht für ihn, was kein anderes Mädchen in dem Alter tun würde, und erkennt nicht mal, was sie da eigentlich treibt. Und Sie gehen her und rücken ihren Kopf in zwei Minuten zurecht. Respekt!" "Ich werde mich morgen mal mit den beiden Mädchen unterhalten", sagte ich mit einem feinen Lächeln. "Und ihnen beibringen, daß bestimmte Dinge nicht aus dem Werk herausgetragen werden dürfen." "Lassen Sie das mal besser", grinste Herr Walter. "Petra ist wieder auf der Reihe, nur das ist doch wichtig. Was halten Sie übrigens von Geli? Fachlich, meine ich?" "Ein Rätsel." Ich zuckte mit den Schultern. "Die Kleine benimmt sich, als hätte sie seit Jahren nichts anderes getan, als mit Metall umzugehen. Aber wenn ich sie darauf anspreche, lächelt sie nur geheimnisvoll. Sie kennt die Sicherheitsbestimmungen, geht sofort von der Maschine weg, wenn sich zum Beispiel eine Strähne Haar aus dem Haarnetz löst, hat jederzeit alles im Griff... Wie gesagt, ein Rätsel." "Nicht mehr lange. Geli wird Ihnen das nach dem Essen erklären. Sagen Sie, Herr Kaminski, wie viele Lehrlinge können bei Ihnen unterkommen?" "Jährlich genau 220. Mit dieser Zahl starten wir jedes Jahr nach den Sommerferien, aber im Herbst sind das dann nur noch um die 170, 180. Der Rest hat aufgegeben." "Ja, war bei Thyssen, wo ich früher gearbeitet habe, nicht anders. Was verdienen die Anfänger denn bei Ihnen?" "Da wir wissen, daß im ersten Lehrjahr viele vorzeitig die Segel streichen, fangen wir ziemlich niedrig an. 850,- im ersten, im zweiten dann schon glatt 1.000,-, und im dritten dann 1.150,-. Was danach kommt, hängt von der jeweiligen Leistung ab, und natürlich, ob eine Prüfung vor der IHK abgelegt und auch bestanden wird. Deswegen kann ich das auch nicht so pauschal -" "Essen!" unterbrach Angelikas Stimme unser Gespräch. "Essen! Essen!" "Reicht!" lachte ihr Vater. "Wir haben es gehört!" "Dann kommt!" rief sie ungeduldig. "Ich füll nämlich schon auf!" "Dieses Mädchen!" grinste Herr Walter. "Gehen wir essen." Er rollte vor, ich folgte ihm in eine Küche, die fast genauso dunkel wie das Wohnzimmer war. Geli hatte die Nudeln schon auf die Teller verteilt und kippte gerade die Soße auf den dritten Teller. Sekunden später saßen wir am Tisch und aßen. Für die Soße erhielt Angelika ein dickes Lob von ihrem Vater; auch ich mußte anerkennen, daß sie leckerer war als alle, die ich vorher gegessen hatte. Das Mädchen strahlte vor Stolz. Nach dem Essen räumte sie schnell in der Küche auf, dann kam sie zu uns ins Wohnzimmer, hockte sich auf die Lehne des Sofas und hielt die Hand ihres Vaters fest. "Hast du ihm schon alles gesagt?" fragte sie neugierig. "Nein, du warst zu schnell mit dem Essen fertig." "Ah so", kicherte Angelika. "Dieter? Hast du dich erschrocken, als du Papa gesehen hast?" "Nein", erwiderte ich ruhig. "Menschen mit körperlichen Behinderungen sind nichts Neues für mich." Ich sah ihr tief in die Augen. "Und seit ich dich kenne, sind auch Menschen mit geistigen Defekten nichts Neues mehr." "Siehst du?" grinste Angelika ihren Vater an. "Das meinte ich!" "Schon klar", lächelte ihr Vater. Angelika sah wieder zu mir. "Interessiert dich, wie das mit Papa passiert ist?" "Nein." Angelika erschrak. "Wieso nicht?" "Weil", lächelte ich fein, "es deinen Vater weder schlechter noch besser macht. Es bewegt mich, es trifft mich auch, aber ich gehöre nicht zu den Menschen, die gleich mit dem Finger auf eine Verletzung dieser Art zeigen und fragen, wie das kam. Wenn er davon erzählen möchte, werde ich zuhören, aber ich werde nicht fragen." "Ach so. Papa? Erzählst du?" "Wenn dein Chef es wirklich hören möchte..." Ich nickte lächelnd. "Das war vor - Das passierte, als Geli neun Jahre alt war", korrigierte er sich. "Ich hatte gerade meine Frau von der Arbeit abgeholt und fuhr mit ihr auf die Stadtautobahn, als es auch schon knallte. Geisterfahrer, sagte man mir hinterher. Meine Frau war sofort tot, bei mir stand es ein paar Tage auf der Kippe. Schließlich war ich wieder zurück im Leben, aber über Wochen und Monate hinweg habe ich mir gewünscht, tot zu sein." Das kam mir sehr bekannt vor. "Irgendwann wurde mir dann klar, daß ich noch eine kleine Tochter habe, die ihren Vater brauchte, aber das war nur halbherzig, wenn Sie verstehen. Ein Teil von mir wollte sich um sie kümmern, ein anderer Teil wollte meiner Frau folgen." Ich nickte. "Schließlich hat Geli die Sache in die Hand genommen. Sie hat stundenlang an meinem Bett gesessen, mich mit ihren Kinderaugen angeschaut und immer nur eine Frage gestellt: ‚Warum bist du so?'" Angelika erwiderte meinen wütenden Blick mit einem unschuldigen Strahlen. "Irgendwann wurde mir dann klar, warum ich so war." Er lächelte Angelika zu, die ihn kurz umarmte. "Ich machte mir klar, daß ich gleichzeitig leben und sterben wollte, aber das ging ja nicht, und so mußte ich mich entscheiden. Für Geli, und für das Leben. Von da an ging es aufwärts. Geli ist zu jeder Gymnastikstunde mitgekommen und hat jede einzelne Übung mitgemacht, damit sie mir zu Hause besser helfen konnte. Bis ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, wohnte sie bei meiner Schwester, und als wir wieder daheim waren, hat sie mir sehr geholfen. Nicht durch ihre Kraft; sie war ja noch ein kleines Kind. Mehr durch ihren Beistand. Immer, wenn ich mutlos wurde, war sie da und munterte mich auf." Vater und Tochter umarmten sich herzlich. "Vor über zwei Jahren begann der eigentliche Ärger", erzählte Herr Walter weiter. "Die Miete für meine Wohnung, die wir damals hatten, sollte erhöht werden, und das konnten wir uns nicht mehr leisten. Das Sozialamt zahlt ja nur einen bestimmten Satz, und meine Invalidenrente war auch nicht sehr hoch. Gelis Waisenrente half zwar etwas, aber es war jeden Monat verdammt eng. Die angekündigte Erhöhung war einfach nicht mehr drin. Es ging nicht. Meine Schwester hat sich für uns nach einer neuen Wohnung umgesehen, und ich..." Er grinste. "Ich hatte den Ärger mit der Versicherung am Hals. Die hat sich nämlich geweigert, eine zweite Wohnung behindertengerecht einzurichten. Na ja, als alles nichts half, war ich wieder kurz vorm Aufgeben. Ich hatte einfach keine Kraft mehr, zu kämpfen. Und schon war Geli wieder da. ‚Du zeigst mir alles', sagte sie ganz ernst, ‚und ich bau das dann für dich.' Ich hab sie natürlich für bescheuert erklärt. Aber sie hat einfach nicht lockergelassen, und so hab ich ihr eben alles beigebracht, was ich wußte, bis sie schon eine halbe Fachkraft war." Jetzt kapierte ich. "Geli hat in unserem alter Keller stundenlang geübt und gemacht und getan, bis sie sogar schweißen konnte. Ein paar Wochen später hatte meine Schwester dann diese Wohnung gefunden. Herr Kaminski, Geli wird Ihnen gleich zeigen, was sie hier alles auf die Beine gestellt hat. Und glauben Sie mir bitte: ich habe kaum etwas dazu beigetragen. Das Kind hat fast alles alleine gemacht. Ich konnte ja nicht viel machen, außer ihr ein paar Dinge zu erklären oder zu zeigen." Geli sprang auf und streckte mir ihre Hand entgegen. "Komm!" forderte sie mich aufgeregt auf. "Ich zeig dir alles." "Ich kann alleine aufstehen", knurrte ich, während ich mich erhob. "Ist er nicht süß?" kicherte Geli. "Angelika!" warnte ich sie. "Bin ja schon still", grinste sie. "Komm mit!" Sie führte mich in das Schlafzimmer ihres Vaters. Ich bemerkte sofort die stabilen Stangen, die von der Decke herabhingen, so daß ihr Vater sich selbst aus dem Bett in den Rollstuhl bringen konnte. "In der Decke sind Dübelschrauben", erklärte sie ruhig. "Plastikdübel rissen immer wieder aus, deswegen hab ich die genommen." "Respekt!" sagte ich anerkennend. "Hast du die Stangen auch gebogen?" "Nein. Einen Winkel gesägt und dann geschweißt, dann abgeschmirgelt. War einfacher." "Unglaublich." Ich fuhr mit den Fingern über die Schweißnähte. Nicht perfekt, aber für ein Mädchen ihres Alters unvorstellbar gut. Und dicht. Angelika wurde etwas verlegen unter meinem Blick. "Papa hat mir das richtig gut gezeigt", meinte sie schüchtern. "Komm weiter." Wir gingen ins Bad, und da konnte ich wirklich nur noch staunen. An der Decke hing ein Gewirr aus Stangen, im ersten Moment chaotisch, aber dann erkannte ich den Sinn. Ihr Vater konnte sich selbst aus der Wanne heben und über die Stangen zur Toilette und zum Waschbecken hangeln. Außerdem waren an der Wand neben der Wanne noch Stützen angebracht, damit er sich mit einer Hand festhalten und mit der anderen dann waschen konnte. "Das hast du gemacht?" fragte ich ungläubig. Sie nickte, gleichzeitig stolz und verlegen. "Ja. Stangen geschweißt, Löcher gebohrt, die Manschetten angebracht... Alles eben." "Warum hast du so breite Manschetten genommen?" Ich musterte die kleinen, runden Platten, mit denen die Stangen an der Decke befestigt waren. "Die Decke hat eine Tragkraft von 50 Kilogramm pro Quadratzentimeter", erläuterte sie leise. "Papa wiegt jetzt nur noch 50 Kilo, aber wenn er sich hangelt, ist der Zug größer. Die breiten waren sicherer. Jetzt verteilt sich der Zug auf insgesamt fünf Quadratzentimeter, weil die Dübelschrauben ja auch noch was übernehmen." "Das hast du berechnet?" Ich konnte sie nur noch anstarren. Sie nickte verlegen. "Wir haben es ausprobiert. Der Plastikdübel riß bei 50 Kilo aus." Sie grinste. "Soviel wiege ich mit Wintersachen, Handschuhen, Schal und dicken Stiefeln." "Du bist doch verrückt", lächelte ich herzlich. "Das hast du wirklich getan? Dich baumeln lassen und gewartet, ob es ausreißt?" "Ja, anders ging das nicht. Von dem Haus gab es keine Bauunterlagen mehr, und wo der Architekt wohnt, wußte auch keiner mehr. Komm, laß uns zurückgehen." "Und?" fragte ihr Vater, als wir wieder im Wohnzimmer saßen. "Was meinen Sie?" "Unglaublich, und das ist meine ganz ehrliche Meinung. Für ein Mädchen in Angelikas Alter ist das einfach unglaublich gut." Angelika errötete heftig. "Also würde sie bei Ihnen eine Lehrstelle bekommen?" "Das auf jeden Fall. Nicht wegen dem, was sie hier auf die Füße gestellt hat, sondern wegen ihrer Arbeit im Werk. Sie ist zwar erst zwei Tage dabei, aber nach dem, was ich bisher gesehen habe, könnte sie sehr schnell aufsteigen." Ich schaute Angelika nachdenklich an. "Warum hast du mir das nicht vorher gesagt, Kleines? Ich hab dich doch oft genug gefragt!" "Du hättest mir das nicht geglaubt", meinte sie schlicht. "Ja, wahrscheinlich", gab ich zu. "Doch, du hast recht. Das hätte ich dir bestimmt nicht geglaubt." "Siehst du", schmunzelte sie. "Kann ich denn wirklich bei euch anfangen?" "Unter einer Bedingung. Zwei Bedingungen." Ich beugte mich vor. "Erstens: du hältst im Werk deine vorlaute Klappe und widersprichst mir nicht immer. Zweitens: du hörst auf, mich zu duzen. Sowohl im Werk aus auch privat. Klar?" "Das ist mein Fehler", sagte ihr Vater schnell. "Herr Kaminski, machen Sie Geli deswegen bitte keinen Vorwurf. Ich habe ihr gesagt, daß sie Menschen, die sie mag, ruhig duzen soll. Allerdings hätte ich nie erwartet, daß sie das auch bei einem Vorgesetzten tun würde." Er lächelte breit. "Wenn sie das nochmal tut, geben sie ihr in meinem Namen eins hintendrauf." "Das Angebot nehme ich sehr gerne an." Angelika erschrak. "Nicht, Papa! Du, der macht das!" "Garantiert", lächelte ich. "Also du duzt Menschen, die du magst? Auch Erwachsene?" "Das tut sie", antwortete ihr Vater an ihrer Stelle. "Außerdem hängt sie sich immer nur an Menschen, die viel älter sind als sie selbst. Das hat sie schon als kleines Kind getan. Sie hat immer dabeigesessen, wenn meine Frau und ich Besuch hatten, und einfach nur zugehört." Er lächelte etwas traurig. "Geli kommt mit Menschen in ihrem Alter gut klar, aber ihr Interesse hängt an älteren Menschen. Menschen in unserem Alter, Herr Kaminski. Ich rede ihr da nicht rein; sie ist vernünftig genug, um zu wissen, wem sie vertrauen kann, und sie ist so intelligent, bei den meisten Gesprächen mitzuhalten." "Aha. Dazu hätte ich eine Frage, Herr Walter. Wenn Sie erlauben. Wenn Geli wirklich so intelligent ist, warum ist sie dann auf der Hauptschule?" "Weil ich das so wollte." Angelika sah mich ernst an. "Dieter, nach Mamas Tod war ich auch total daneben, und als Papa dann wieder zu Hause war, war das gerade die Zeit, wo ich auf das Gymnasium kommen sollte." Sie zuckte entschuldigend mit den Schultern. "Ich wollte ihm helfen, und das ging nur, wenn ich ziemlich früh Geld verdienen würde. Deswegen hab ich mich dafür entschieden." "Leider!" seufzte Herr Walter bekümmert. "Geli hätte das Abitur ohne Probleme geschafft, und das sage ich nicht nur, weil ich ihr Vater bin. Sie steht in allen Fächern Eins bis Zwei. Auch der Schuldirektor hat sie schon aufgefordert, doch auf das Gymnasium zu gehen, aber sie will nicht. Sie will schnell Geld verdienen. Andererseits... Um ganz ehrlich zu sein, Herr Kaminski: jede Mark hilft uns. Es gibt Monate, wo wir in den letzten Tagen nur sehr wenig essen, weil das Geld einfach alle ist. Das ist zwar bitter, aber es ist so. So ungern ich das auch sage: dieser Monat, wo Geli bei Ihnen im Werk essen kann, hilft uns sehr. Ich bin 35 Jahre alt, und Sie wissen selbst, wie hoch eine Rente nach dieser Zeit ist. Bei einem Einkommen von monatlich weniger als dreitausend brutto. Weit weniger." Ich nickte langsam. "Ja, die Zahlen sind mir bekannt." Also ging es ihm wie mir. Bettelarm. "Aber selbst da hat Geli schon ihre Pläne. Sie möchte nach der Schule eine Lehrstelle, und abends dann das Fachabitur nachholen. Das geht doch, oder?" "Sicher geht das." Das Mädchen stieg in meiner Achtung. "Die genauen Stundenzahlen habe ich im Moment nicht im Kopf, aber die Unterlagen darüber sind in meinem Büro. Die kann sich Ihre Tochter gerne einmal ansehen, wenn sie möchte." "Cool!" jubelte Geli. "Papa! Dann klappt das doch!" Vater und Tochter drückten sich herzlich, und das war der Moment, wo ich platzte. Ich rannte regelrecht aus dem Wohnzimmer hinaus, schnappte meinen Mantel und flüchtete nach Hause. Das Glück zwischen diesen beiden tat mir körperlich weh. * * * "Heute vormittag", sagte ich am nächsten Morgen zu den sechs Mädchen in meinem Büro, "werdet ihr das gleiche machen wie gestern, allerdings bleibt jede von euch die ganzen fünfzig Minuten an einer Maschine. Dadurch bekommt ihr schon mal einen Eindruck, wie es ist, den ganzen Tag lang eine einzige Arbeit zu machen. Nach der kleinen Pause wird gewechselt. Nachdem jede von euch alle sechs Stationen durch hat, machen wir Schluß und gehen in die Kantine. Dann habt ihr genug getan für heute. Jetzt geht euch umziehen." Fünf Mädchen standen auf, eines blieb sitzen. "Du bitte auch", sagte ich, ohne Angelika anzusehen. "Warum bist du gestern abgehauen?" fragte sie sanft. "Geh dich umziehen, Kleines. Bitte!" "Okay." Sie stand auf. "Warum nennst du uns Kleines?" "Ist eine alte Angewohnheit. Jetzt geh bitte!" "Seit wann ist sie weg?" flüsterte sie. "Seit sechs Jahren", antwortete etwas in mir. "Und jetzt hau endlich ab, verdammt!" Sie flüchtete hinaus. Bebend vor Wut ging ich ihr nach und wartete wie jeden Tag vor der Tür, bis die sechs umgezogen waren und herauskamen. Es war sicherer so, den Blicken nach zu urteilen, die viele Männer auf die Tür zu den Räumen der Mädchen warfen. Etwas baute sich auf, das roch ich. Als die Mädchen fertig waren, führte ich sie wieder an die Straße von gestern, die für uns reserviert war, und schickte sie an die Arbeit. Den ganzen Morgen über arbeiteten sie sehr konzentriert, wie auch den Nachmittag. Um drei machte ich Schluß und ging mit ihnen in die Kantine. "Okay", meinte ich, als alle ihre Getränke und etwas zu naschen vor sich hatten. "Morgen machen wir das gleiche Spiel noch einmal, aber dann werden wir keine Pause machen." Ich sah die sechs der Reihe nach an. "Morgen werdet ihr so arbeiten wie alle anderen in der Halle. Das heißt, keine Pause. Ihr selbst seid dafür verantwortlich, daß ihr spürt, wann eure Konzentration nachläßt. Ich werde höllisch auf euch aufpassen, aber ich werde erst dann eingreifen, wenn es wirklich lebensgefährlich für euch wird. Nicht vorher!" Die Mädchen nickten ernst. "Achtet auf euren Körper, Kinder. Achtet auf die Warnsignale: zitternde Hände, schmerzende Muskeln, tränende Augen und so weiter. Das gehört mit zur Arbeit." "Wie machen die anderen das denn?" fragte Angelika. "Genauso. Sobald jemand merkt, daß er nicht mehr kann, hört er an der Maschine auf und geht an eine andere, um andere Muskeln zu belasten und die belasteten auszuruhen. Oder er macht eine kurze Pause vor der Tür, reckt und streckt sich. Genau das gleiche erwarte ich von euch. Versucht nicht, übermäßig ehrgeizig zu sein, sondern macht dann Schluß, wenn ihr anfangt, unkonzentriert zu werden. Alles andere ist zu riskant. Klar?" Sechs Köpfe nickten nachdrücklich. "Prima. Dann würde ich jetzt gerne von euch etwas erfahren, wenn ihr erlaubt. Warum seid ihr auf der Hauptschule?" Angelika meldete sich sofort. "Wegen Geld", sagte sie leise. "Mein Vater sitzt im Rollstuhl, und wir haben nicht so viel Geld, daß ich auf das Gymnasium gehen kann. Das dauert einfach zu lange, bis ich da Geld verdienen kann." Das wußte ich zwar schon, aber es löste die Spannung. Dagmar war die nächste. "Ich bin faul", bekannte sie offen. "Ich bin von der Realschule geflogen, weil ich keinen Bock hatte, zu lernen." "Ich auch", grinste Rita verlegen. "Das war alles so furchtbar nervig! Jetzt streng ich mich aber mehr an." "Ich bin vom Gymnasium geflogen", sagte Bettina mit roten Wangen. "Warum, möchte ich nicht sagen." "Mußt du auch nicht, Kleines. Sag mir nur, ob du jemanden umgebracht hast." "Nein!" lachte sie verlegen. "Ich - ich hab was ganz Dummes gemacht." "Schon gut, behalte es ruhig für dich. Petra?" "Wegen dem Heim, wo ich bin." Sie zuckte mit den Schultern. "Die schicken jeden auf die Hauptschule, damit die schnell Geld verdienen und ausziehen." "Verstehe... Iris?" Iris wurde feuerrot und schaute auf den Tisch. "Ich hab ein Klassenzimmer gesprengt", flüsterte sie. "Was hast du?" lachte ich laut. "Ein Klassenzimmer in die Luft gejagt." Sie schaute auf, mit ängstlichen Augen wie ein Kaninchen. "Wir hatten gerade Chemie neu, und ich bin in den Raum gerannt, um ganz vorne zu sitzen, und dabei ziemlich stark gegen so ‚nen Glasschrank gestolpert, der da rumstand. Alles da drin ist durcheinander gefallen, alles mögliche ist zerbrochen, und das fing furchtbar an, zu zischen und zu qualmen. Der Lehrer hat voll die Panik gekriegt und die ganze Schule räumen lassen. ‚n paar Minuten später hat's furchtbar geknallt. Da hatten wir keinen Chemieraum mehr." Unser dröhnendes Lachen half ihr nicht gerade, aber wir konnten nicht anders. "Na ja", meinte sie schüchtern, als wir uns wieder beruhigt hatten. "Mein Vater mußte dafür bezahlen. Der war stinksauer und hat mich gleich von der Schule genommen. Die anderen Schulen wollten mich auch nicht haben, und so blieb nur die Hauptschule." Bevor ich etwas sagen konnte, meldete Bettina sich zu Wort. "Ich hab an mir rumgespielt", gestand sie mit dunkelroten Ohren. "Was hast du?" Hatte ich das richtig gehört? "An mir rumgespielt." Sie holte tief Luft. "Mir war langweilig, und da hab ich das eben gemacht. Ich saß zwar in der letzten Reihe, aber wahrscheinlich war ich etwas zu laut. So kam das raus." "Schluß!" lachte ich mit tränenden Augen. "Bettina, davon darf ich nichts hören!" "Na gut", meinte sie schulterzuckend. "Trotzdem war der sehr schön. Und richtig stark! Deswegen war ich wohl auch was laut." "Bettina!" "Bin ja schon still." Sie grinste verlegen unter den Blicken der anderen fünf Mädchen. "Na schön", sagte ich, als ich mich wieder gefangen hatte. Zwei faule Mädchen, eine Terroristin, eine Exhibitionistin, und zwei bitterarme. Mindestens vier Mädchen, die von ihrer Intelligenz her ohne weiteres auf anderen Schulformen klargekommen wären. Vielleicht hatte Erwin mit seinen Ansichten über Hauptschüler doch recht. Na ja, auch ich lernte täglich etwas dazu. "Danke für eure Offenheit, Kinder. Habt ihr noch Fragen an mich?" "Ja." Angelika sah mich an. "Ich hab gehört, daß man auch aufsteigen kann. Stimmt das? Wie geht das?" "Durch eine Kombination von mehreren Dingen. Erstens müßtest du in Notfällen die richtige Entscheidung treffen. Genauso in angespannten Situationen, wenn zwei oder mehr Leute sich fetzen. Zweitens müßtest du, was die Arbeit angeht, besser sein als alle anderen. Drittens müßtest du mit Menschen umgehen können, sie motivieren und führen. Wenn das alles zusammenkommt, dann kannst du Gruppenleiter werden. Und nerv mich jetzt bloß nicht mit der weiblichen Form Gruppenleiterin! Alles Unfug!" Die Mädchen kicherten hell. "Und was kommt dann?" fragte Petra. "Viel Arbeit. Der Gruppenleiter verwaltet eine Straße. Straße, falls ihr das schon vergessen habt, ist eine Gruppe von Maschinen, die ein Werkstück von Anfang bis Ende bearbeiten. Wie die sechs Maschinen, an denen ihr bisher wart. Das ist eine Straße. Ein Gruppenleiter hat die Aufsicht für eine Straße, bei sehr kleinen auch mal mehr. Aber er leitet ungefähr zehn Leute. Das Gehalt ist nicht viel höher; der Gruppenleiter ist eigentlich nur ein Test für beide Seiten, ob er mit seinem Job klarkommt, oder ob es nur Krach in der Gruppe gibt. Pro Schicht gibt es übrigens einen Gruppenleiter. Wenn ihr so verrückt seid, noch eine Stufe höher krabbeln zu wollen, kommt der Produktionsleiter. Der verwaltet vier bis fünf Straßen oder fünfzig Leute. So um den Dreh. Er sorgt für die Einhaltung der Produktionszahlen, gibt die Anweisungen von oben an seine Gruppenleiter weiter, und stellt die Berichte seiner Leute zu einer Liste zusammen. Auf dem Level ist also mehr Papierkram zu erledigen als an den Maschinen zu arbeiten." "Warum sind wir verrückt, wenn wir aufsteigen wollen?" fragte Bettina neugierig. "Weil jeder, der hier arbeitet, verrückt ist", schmunzelte ich. "Sie auch?" fragte Angelika mit schimmernden Augen. Erleichtert stellte ich fest, daß sie offenbar sehr gut wußte, wann sie welche Form der Anrede wählen mußte. "Ich vor allem", erwiderte ich trocken. "Also seid schön vorsichtig bei mir, denn Verrückte sind immer auch sehr gefährlich." Wie ich schon befürchtet hatte, glaubte mir das niemand. "Wie geht's dann weiter?" fragte Iris. "Was kommt nach dem Produktdingsda?" "Nach dem Produktionsleiter kommt der Hallenleiter. Der ist zuständig für den Materialeinkauf, für das Lager, für die Planung der Produktion, für die Wartung der Maschinen, für das Personalwesen allgemein und für die ganzen Berichte an die Geschäftsleitung. Darüber beginnt dann das sogenannte Management; das sind Leute, die eine Halle nur einmal von innen gesehen haben, die aber meinen, sie wüßten alles besser." "Und wo sitzen die ganzen Leute?" fragte Dagmar. "Die Gruppenleiter in der Halle bei ihren Leuten, aber die sitzen nur sehr wenig. Die sind meistens in Bewegung. Die Produktions- und Hallenleiter sitzen oben, wo auch mein Büro ist. Das Management in den Verwaltungsgebäuden Eins und Zwei, die sind gleich am Tor, wenn ihr rein kommt." "Wer ist denn unser Hallenleiter?" fragte Rita. Ich winkte ab. "Den braucht ihr nicht. Der hat mit euch nichts zu tun. Für euch ist nur der Ausbildungsleiter wichtig." Rita schmollte. "Würd mich aber trotzdem interessieren!" "Wer darf denn Azubis einstellen und entlassen?" fragte Angelika. "Der Ausbildungsleiter?" "Nein." Ich schaute sie wütend an, weil sie, ohne es zu wollen, mich enttarnt hatte. "Einstellen und entlassen darf nur der Hallenleiter." Zwölf große Augen schauten mich an. "Sie sind Hallenleiter?" "Ja", knurrte ich Petra an. "Und jetzt? Fällst du jetzt auf die Knie und betest mich an?" Petra schüttelte schnell den Kopf. "Aber geht das denn?" fragte Rita erstaunt. "Ich meine, daß Sie zwei Berufe haben?" "Eigentlich nicht. Zum Glück habe ich einen sehr guten Assistenten, der mir sehr viel von der Arbeit als Hallenleiter abnimmt." Ich grinste schief. "Dummerweise gibt es nur ein Gehalt, und nicht zwei. Wenn Hallenleiter und Ausbildungsleiter zwei Leute sind, dann empfiehlt der Ausbildungsleiter, wer eingestellt oder entlassen werden soll, und der Hallenleiter richtet sich danach." "Darf ich mal was fragen?" Ich seufzte. "Frag los, Angelika." "Wie sind Sie Ausbildungsleiter geworden? Und warum?" "Wie ich das geworden bin? Ich habe mich nicht laut genug dagegen gewehrt." Alle außer Angelika lachten. "Und warum?" Unter dem Blick ihrer blaugrünen Augen konnte ich auf einmal nicht mehr lügen oder Witze reißen. "Es hat mir einmal sehr viel bedeutet", sagte ich leise. Dann war es plötzlich wieder vorbei. "Okay. Ich habe noch Durst." Schnell stand ich auf und holte mir etwas zu trinken, begleitet von dem Gedanken, was dieses Mädchen an sich hatte, daß ich in ihrer Gegenwart so viele Dinge preisgab, die keinen Menschen etwas angingen. Als ich zum Tisch zurückkam, hatte ich mich wieder im Griff. "So, Kinder. Wenn ihr mich genug ausgequetscht habt...?" "Fast." Natürlich wieder meine Lieblingsnervensäge. "Kann man neben der Lehre hier auch noch Schule nebenbei machen?" Das Mädchen war wirklich intelligent. Geschickt wiederholte sie das, was sie mich gestern abend gefragt hatte, ohne auch nur die Andeutung zu machen, daß ich sie und ihren Vater besucht hatte. "Das kann man, Kleines. Du kannst entweder abends bei der VHS Kurse belegen, oder bei privaten Instituten, oder über das Telekolleg im Fernsehen." "Echt?" Petra beugte sich aufgeregt vor. "Kann ich da auch die Mittlere Reife nachmachen?" "Klar!" Erstaunt sah ich sie an. "Willst du das denn?" "Sicher! Mit dem Abschluß von der Hauptschule kann ich doch nichts anfangen!" Woher kam denn plötzlich diese Einsicht? Diese Frage muß in meinem Gesicht gestanden haben, denn Petra wurde plötzlich rot. "Ich bin manchmal ein bißchen schwer von Begriff", gestand sie leise. "Aber was ich will, weiß ich doch. Meistens jedenfalls." "Verstehe." Ich lächelte ihr zu. "Schon gut, Kleines. Ich erlebe es nur sehr, sehr selten, daß sich jemand wirklich für die eigene Zukunft interessiert. In den letzten fünf Jahren waren es genau vier Leute." Ich nickte nachdrücklich, als die Mädchen mich erschrocken anschauten. "Vier Leute in fünf Jahren, die vorankommen wollten. In den anderen Hallen sieht es genauso aus, wie auch in den anderen Werken in Koblenz. Ich habe mich da letztes Jahr mal umgehört. Alle beklagen sich darüber, daß kaum ein Mensch leitende Funktionen wahrnehmen will." "Jetzt verstehe ich", meinte Angelika leise. "Ist das der Grund, warum Sie immer so grantig sind?" "Unter anderem, Kleines. Es macht mir wirklich Sorgen. Daß Arbeiter mit dreißig, vierzig Jahren aufgeben, ist nichts Ungewöhnliches. Aber daß es so wenig Jugendliche gibt, die an ihre Zukunft glauben, gibt mir wirklich zu denken." Angelika nickte leise. "Wie denn auch?" fragte Rita zögernd. "Ich meine, unsere Lehrer kümmern sich einen Dreck um uns, Herr Kaminski. Die labern vorne rum, und wir müssen schlucken. Wenn wir was nicht verstehen, erklären die das so bescheuert, daß wir erst recht nichts kapieren." "Da hat sie recht", stimmte Angelika zu. "Rita und ich gehen zweimal die Woche in die Bücherei und schauen was nach. Mitnehmen können wir die Bücher leider nicht. Wegen Geld." "Bei uns ist das auch so", meinte Dagmar leichthin. "Aber wen juckt's? Ich sitz meine Zeit ab, und dann such ich mir ‚ne Arbeit." "Ich weiß nicht", widersprach Bettina nachdenklich. "Ich meine, ich finde Schule auch zum Kotzen, aber wie willst du später mal richtig Geld verdienen?" "Mir doch egal", erwiderte Dagmar trocken. "Mir nicht", sagte Iris. "Ich möchte einen schönen Beruf haben. Aber mit Hauptschule kannst du das vergessen. Da nimmt dich ja keiner." "Genau." Rita schaute bedrückt in die Runde. "Die von der Realschule kommen immer irgendwo unter, aber wir Hauptschülerinnen... Sieht ganz böse aus. An der Kasse kannst du immer arbeiten, oder als Putze, aber das bringt doch alles nichts." "Na und?" Dagmar stützte die Ellbogen auf. "Such dir eben einen reichen Mann und laß dich fick-" "Dagmar!" Ich sah sie streng an. "Bitte keinen schlimmen Wörter, ja?" "Machen doch viele", erwiderte sie trocken. "'ne Tante von mir hat das so gemacht. Sich ‚nen reichen Typen geangelt, läßt sich jeden Abend von dem - äh, verwöhnen, und hat ansonsten die Taschen voller Geld." "Tolle Aussicht." Angelika sah sie fragend an. "Stellst du dir das unter deiner Zukunft vor?" "Gibt Schlimmeres." Sie warf Petra einen schnellen Seitenblick zu. "Anschaffen gehen könnte ich nicht, aber manche können das anscheinend ohne Probleme." Petra wurde flammend rot. Offenbar hatte Petra nicht nur Angelika verraten, was sie so getrieben hat. "Dagmar?" sagte ich sehr sanft. Das Mädchen sah mich an. "Wo du das Thema schon auf den Tisch gebracht hast: eine Frau, die offen bekennt, daß sie auf den Strich geht und auf diese Art ihr Geld verdient, ist mir tausendmal lieber als eine Frau wie deine Tante. Die erste ist nämlich wesentlich ehrlicher zu sich und zu ihrer Umwelt als die zweite, die meiner Meinung nach ihren Mann belügt und betrügt und ihm nur vorgaukelt, daß sie ihn liebt. Jede billige Hure, die sich für zwanzig Mark verkauft, ist mir da lieber." Petra strahlte mich freudig an, genau wie Angelika. Rita, Iris und Bettina stimmten per Kopfnicken zu, Dagmar zuckte nur die Schultern. "Und wenn schon", meinte sie gleichgültig. "Für mich ist die Hauptsache, daß ich bequem leben kann. Wie, ist doch egal. Finde ich." "Dann viel Glück", sagte Angelika ohne jede Ironie. Sie wandte sich zu mir. "Haben Sie denn Unterlagen über so Kurse?" "Abi und Mittlere Reife? Ja, in meinem Büro. Ich kopiere sie euch für morgen früh." Ich sah schnell auf die Uhr. "Okay, Kinder. Zeit zum Duschen für euch." Wir brachen auf. Vor dem Paternoster hielt Angelika mich auf. "Wie drehen sich die Dinger?" fragte sie neugierig. "Ich meine, wenn die ganz oben oder unten sind? Kippen die dann um?" Das war eine Frage, die Angelika sich selbst beantworten konnte, wenn sie etwas nachdachte. Die Kabinen in Richtung Auf und Ab waren nämlich nur einen Meter voneinander entfernt, also zu nah beieinander, um umzukippen. Aber da sie es wissen wollte... "Finden wir es heraus." Ich zog sie in die nächste leere Kabine, die nach oben fuhr. Erschrocken hielt sie sich an mir fest. "Ist das nicht gefährlich?" "Sogar lebensgefährlich", grinste ich. "Ab der achten Etage stehen Schilder." Das stimmte sogar. Voller Angst sah Angelika auf die Schilder wie: "Achtung! Lebensgefahr! Nicht über die 10. Etage hinausfahren!" Dann rauschte die zehnte vorbei. Es wurde stockdunkel um uns herum. Panisch klammerte Angelika sich an mir fest, als es plötzlich knirschte und krachte. Dann gab es einen heftigen Ruck zur Seite, einen zweiten nach unten, und die zehnte Etage glitt wieder vorbei, nur dieses Mal nach oben. "Mann!" Angelika stieß den Atem heraus. "Wir hätten draufgehen können!" "Ach was!" lachte ich herzhaft. "Pro Jahr geschieht nur ein tödlicher Unfall, und den hatten wir schon im Sommer." Anstatt mir eine zu scheuern, womit ich ernsthaft gerechnet hatte, umarmte Angelika mich urplötzlich. "Ich hab dich sehr gern, Dieter", flüsterte sie. Sofort stieß ich sie zurück. "Laß den Scheiß!" fauchte ich sie an. "Ich habe einen Ruf als Frauenhasser zu verlieren, klar?" "Warum bist du so?" Wieder brach ein dickes Stück aus meinem Panzer heraus. "Angelika Walter!" Meine Stimme zitterte vor Wut und Beherrschung. "Mädchen, hör mit diesem Scheiß auf! Du spielst mit Dynamit, Kind! Ist dir klar, was passiert, wenn ich richtig sauer werde? Du hast mich bald soweit!" "Ich hab dich gern, Dieter", sagte sie sanft. "Ich weiß, daß ich dir helfen kann. Warum bist du so? Sag es mir!" Mein Panzer fiel fast auseinander. "Ich sage dir nur so viel", zischte ich voller Wut. "Wenn du mich weiter löcherst, werde ich zum ersten Mal in meinem Leben bei einem Weib bewußt gewalttätig!" Ich verließ die Kabine mit einem sehr riskanten Sprung und rannte die letzten drei Etagen über die Treppe hinunter. Ich kam sogar noch vor Angelika im Erdgeschoß an. Außer mir vor Zorn eilte ich über die Straße; hinter mir hörte ich ihre schnellen Schritte, als sie versuchte, mit meinem Tempo mitzuhalten. In der Halle angekommen, sah ich das, was ich außer dem Rauschgift von Petra ebenfalls erwartet hatte: Rita, Iris, Bettina und Petra standen ängstlich zusammengedrückt an der Wand, vor ihnen zwei junge Männer mit sehr bösen Gesichtern und Eisenstangen in den Händen. Drei Meter davon entfernt war Dagmar. Hinter ihr war ein Arbeiter, der sie festhielt und eine Hand auf ihren Mund gepreßt hatte, und vor ihr einer, der in ihrem Overall herumwühlte. Ein fünfter stand mit dem Rücken zu uns, vollkommen unbeteiligt. Genau das, was ich jetzt brauchte, um mich abzuregen! Ich rannte zu der Gruppe, die erstarrte, als ich dazukam. Gegen Leute mit Eisenstangen hatte ich zwar überhaupt keine Chance, aber ich war der Hallenleiter, und genau den ließ ich jetzt raushängen. "Laßt das Mädchen los!" brüllte ich mit der ganzen Autorität meiner langjährigen Erfahrung. Sofort war Dagmar frei. Das arme Kind rannte gleich zu mir, aufgelöst und heulend. Ich nahm sie beschützend in den linken Arm. "Eure Karten!" fuhr ich die vier Männer an. Wie ich erwartet (und gehofft!) hatte, fielen die Stangen zu Boden. Vier Hände streckten sich mir entgegen. Ich riß ihnen die Karten aus den Händen, legte sie auf eine Werkbank und zog mein Funkgerät. Die vier wurden bleich. Hatten sie auch allen Grund zu. "Personal." "Bea? Dieter Kaminski. Mach bitte zwei Kündigungen fertig. Fristlos." Ich gab die Namen und die Personalnummern durch. "Grund: Tätlicher Übergriff gegen eine Praktikantin und versuchte Vergewaltigung derselben." "Ach du Scheiße!" entfuhr Bea. "Wie geht es dem Mädchen?" "Sie ist sicher und unverletzt. Bleib bitte dran, gleich kommt noch was." "Okay." Ich sah die beiden Männer an. "Ihr zwei zieht euch um, dann verschwindet ihr. Sollte ich euch noch einmal auf dem Gelände erwischen, hetz ich die Sicherheit auf euch!" Sie verschwanden wortlos. Der Gruppenleiter, der inzwischen dazugekommen war, begleitete sie, um sicherzustellen, daß sie kein Firmeneigentum mitnahmen. "Nun zu euch!" Ich sah die beiden jungen Männer an. "Mit Eisenstangen gegen kleine Mädchen! Soll das beweisen, daß ihr Männer seid, oder was sollte der Scheiß?" Sie hatten immerhin soviel Anstand, rot zu werden. "Ihr seid doch jämmerliche Bastarde!" Ich schob Dagmar, die sich wieder gefangen hatte, zu Angelika und ging zu dem Mann, der noch immer mit dem Rücken zu uns stand. "Fritz! Was ist mit dir los, Kerl? Mensch, du hast doch selbst zwei Töchter! Warum hast du nicht -" Er drehte sich zu mir. Ich erschrak. Fritz hatte ein blaues Auge, seine Nase und die Oberlippe bluteten. "Hab's versucht", nuschelte er. "Aber nach dem Tritt in die Eier..." "Tut mir leid", entschuldigte ich mich betroffen. "Ich hätte dich besser kennen sollen. Geh rüber zum Arzt, und dann nach Hause. Ich unterschreibe für dich." "Danke." Unsicher torkelte er hinaus. Ich wandte mich wieder an die beiden jungen Männer. "Wer war das?" fragte ich sehr sanft. "Wer von euch hat Fritz geschlagen?" Keine Antwort. Ich griff nach dem Funkgerät. "Bea?" "Ja?" "Zwei weitere Kündigungen, ebenfalls fristlos." Namen und Nummern folgten. "Grund: Beihilfe zu dem von gerade und vorsätzliche Körperverletzung eines Arbeiters, der dem Mädchen helfen wollte. Du kannst das besser formulieren als ich." "Mach ich. Ist er schwer verletzt?" "Nein. Wenn er das wäre, bräuchte ich keine Kündigung, sondern zwei Särge." Ich steckte das Gerät zurück und sah die beiden an. "Verschwindet! Für euch gilt das gleiche wie für die beiden anderen!" Geknickt schlichen sie davon. Ich ging zu den Mädchen zurück. "Wie geht's?" fragte ich Dagmar. Sie lächelte schon wieder fröhlich. "Wieder gut. War ja nicht das erste Mal, daß mich jemand da vorne angepackt hat, aber die... Die gingen gleich so voll zur Sache, daß ich doch Angst bekommen hab." "Also wirst du es überleben?" schmunzelte ich. "Klar!" lachte sie. "Tapferes Mädchen. Kommt mit hoch, bitte." Wir gingen in mein Büro, wo die Mädchen sich setzten. "Jetzt erzählt. Wie kam das?" "Das ging so furchtbar schnell", sagte Bettina. "Wir kamen rein, wollten zu den Duschen gehen, und da ging's auch schon los." "Genau", stimmte Rita zu. "Dagmar ging vorne, deswegen hat es sie erwischt." "Das heißt", sagte Angelika leise, "daß es jede von uns hätte treffen können. Geht das jetzt jeden Tag so?" Plötzliche Angst zog in den Gesichtern der Mädchen auf. "Nein, Kinder." Ich sah sie ernst an. "Genau aus dem Grund habe ich vier Leute entlassen. Ihr glaubt gar nicht, wie schnell das die Runde machen wird. Die werden es sich jetzt gründlich überlegen, ob sie euch noch einmal zu nahe kommen. Aber zur Sicherheit..." Ich drückte einen Knopf auf meinem Telefon. Sofort war ein lautes Heulen in der Halle zu hören. Die Mädchen schauten erschrocken hinaus. "Achtung", sagte ich in das Telefon. Meine Stimme erklang verstärkt in der Halle. Innerhalb weniger Sekunden standen alle Maschinen still. "Hier spricht der Hallenleiter. Soeben wurden vier Leute entlassen, weil sie einer unserer Praktikantinnen gegenüber zudringlich geworden sind. Ich möchte alle männlichen Mitarbeiter darauf hinweisen, daß Übergriffe gegen die Mädchen in keinster Weise geduldet werden! Außer der sofortigen Entlassung werde ich persönlich dafür sorgen, daß der betreffende Mitarbeiter eine Strafanzeige bekommt. Ende." Ich ließ den Knopf los. "Das sollte reichen. Noch etwas, Kinder. Ihr vier hättet sofort und sehr laut um Hilfe brüllen müssen. Es sind viele Arbeiter in der Halle, die Kinder haben und die euch sofort geholfen hätten. Aber - und das ist ein sehr großes Aber! - die Leute müssen ihre Zahlen erfüllen und achten deshalb kaum auf das, was um sie herum vorgeht. Außer, es brüllt jemand um Hilfe." Die Mädchen verstanden. "Macht euch keine Sorgen mehr, Kinder. Ich hätte bei euch bleiben sollen, also trifft auch mich die Schuld. Es ist ja zum Glück gutgegangen, und für die Zukunft wißt ihr Bescheid." Ich sah Dagmar an, die mich anlächelte. "Gut. Jetzt geht duschen, Kinder. Ich warte vor der Tür." Eine halbe Stunde später waren die Mädchen fertig. Angelika fragte, ob sie noch kurz die Unterlagen über die Fortbildung durchsehen könnte, deswegen rief ich einen der Sicherheitsleute zu uns, der die fünf anderen zum Tor brachte. Angelika und ich gingen in mein Büro, wo ich die Sachen heraussuchte. Sie schnappte sich den Stapel und setzte sich damit hin. Während sie sich damit beschäftigte, tippte ich schon mal eine Tageszusammenfassung in meinen Computer, um für den Wochenbericht genügend Material zu haben. Erwin würde sich noch umsehen! Keine fünf Minuten später war ich fertig. Ich sah zu Angelika, die mit den Unterlagen, einem Notizblock auf ihren Beinen und einem Kugelschreiber hantierte. "Komm rüber, Kleines", forderte ich sie auf. "Setz dich an den Tisch, da kannst du besser schreiben." Ich stand auf und machte ihr Platz. Angelika stand auf und lächelte mich dankbar an, während sie ihre Sachen auf dem Tisch deponierte. Dann setzte sie sich vorsichtig in meinen Stuhl. "Geiles Gefühl!" kicherte sie ausgelassen. "Könnte ich auch Hallenleiter werden?" "Darüber reden wir, wenn es soweit ist", schmunzelte ich. Je weniger sie von der Geschäftspolitik wußte, um so besser für sie. Noch ein Punkt für den Bericht. "Warum möchtest du die Sachen denn überhaupt abschreiben, Kleines? Du bekommst doch morgen die Kopien!" "Weil ich so noch bei dir sein kann", lächelte sie schüchtern. "Papa hat nichts dagegen." "Vielleicht habe ich aber etwas dagegen", sagte ich sehr sanft. "Und vielleicht solltest du dir klarmachen, daß du erstens noch ein kleines Mädchen bist und daß zweitens ein Hallenleiter, der sich mit einem kleinen Mädchen einläßt, die längste Zeit Hallenleiter gewesen ist. Und drittens habe ich überhaupt nicht die Absicht, mich mit dir einzulassen." "Schon gut", lächelte sie. "Wir haben ja noch viel Zeit." Sie sah wieder auf ihre Unterlagen, während ich mir lebhaft ausmalte, Angelika Stück für Stück unter die Stanze zu schieben. Bei gedrückten Knöpfen, versteht sich. Angelika schrieb und schrieb. Endlich hob sie den Kopf und sah mich traurig an. "Geht nicht." "Was geht nicht, Kleines?" "Die Schule nebenbei. Kostet zuviel." "Tut sie nicht." Ich ging zu ihr. "Das hast du ausgerechnet?" "Ja. Das würde das pro Monat kosten, und das haben wir nicht." "Tja", lächelte ich. "Dann habe ich wohl keine andere Wahl." "Wahl?" Sie schaute mich verwirrt an. "Was für eine Wahl?" Ich grinste breit. "Der Hallenleiter darf noch etwas", sagte ich schön langsam, um sie schmoren zu lassen. "In berechtigten Fällen darf der Hallenleiter entscheiden, daß der Azubi... Willst du das wirklich hören?" "Ja!" Aufgeregt zappelte sie auf dem Stuhl hin und her. "Was denn?" "Daß der Azubi... Nein, das willst du nicht hören." "Dieter!" Angelika hopste auf und ab. "Sag!" "Na gut. Wenn der Hallenleiter der Meinung ist, daß der kleine Azubi - oder, in deinem Fall, die kleine Azubiene - einen Fortbildungskurs bestehen würde, dann darf der Hallenleiter entscheiden, daß das Werk die Kosten für die Fortbildung übernimmt." "Echt?" fragte Angelika fassungslos. "Ist das wahr?" "Ja, Kleines." Ich bremste ihr Freude. "Allerdings trifft das bisher nur auf die männlichen Azubis zu. Es steht zwar nirgendwo, daß es nicht für weibliche Azubis gilt, aber das müßte ich noch abklären." Ich lächelte ihr zu. "Lassen wir das erst mal, Kleines. Wenn du wirklich vorankommen willst, dann wirst du das auch schaffen. Viele Betriebe bieten Fortbildungsmaßnahmen an. Bis du hier oder woanders anfängst, dauert es ja noch fast zwei Jahre. Okay?" "Okay." Sie räumte ihre Sachen zusammen. "Machen das wirklich viele?" "Ja, Angelika. Ich hasse Frauen, aber ich lüge nicht." Das brachte sie zum Lachen. "Ich weiß! Ich lüge auch nicht, aber ich mag dich sehr. Ach so! Papa fragt, ob er dich mal anrufen kann, wegen dem Fachabi." "Des Fachabis. Genitiv. Sicher kann er das." "Genitiv kenn ich nicht", schmunzelte sie. "Ich treib mich nicht in solchen Ecken rum. Außerdem geh ich nie tief." "Was?" "Genitiv. Geh nie tief." "Aua!" stöhnte ich. "Schreib dir eben meine Nummer auf, aber gib sie um Himmels willen nicht weiter, Kleines! Ich habe keine Lust, auch noch am Wochenende von meinen Azubis genervt zu werden. Deswegen steht sie nicht im Telefonbuch." "Versprochen." Sie schrieb die Nummer auf ihren Block, dann packte sie ihren Kram in die Tasche. "Bringst du mich noch raus?" "Sehr gerne", grinste ich hämisch. "Dann bin ich wenigstens sicher, daß du weg bist!" "Ich hab dich auch gern", lächelte sie still. "Sag mal, Kleines, würde es mir dein Vater sehr übelnehmen, wenn ich dir den Hals umdrehe?" "Glaub schon", kicherte sie. "Außerdem darfst du keine Mädchen im Werk anfassen!" "Du hast Feierabend, Kleines", erinnerte ich sie lächelnd. "Du bist Freiwild." Der Scherz kam nicht an. "Hab ich gemerkt", sagte sie leise. "Dieter? Tun die uns wirklich nichts mehr?" "Nein, Geli - Angelika. Der Schock der vier Entlassungen hat gewirkt, glaub mir das bitte. Jeder hier weiß, wie schwer es ist, eine neue Stelle zu finden. Um es ganz deutlich zu sagen: auch wenn die Kerle noch so geil sind, die Sorge um Geld ist größer, und genau das wird sie bremsen. Vertrau mir." "Mach ich." Sie lächelte dankbar. "Gehen wir?" Der vierte Tag brach an und brachte gleich morgens Kummer. Iris fühlte sich gar nicht gut, sie sah auch richtig übernächtigt aus und war kreidebleich. "Ich hab mich die ganze Nacht übergeben", entschuldigte sie sich. "Gestern abend gab's Frikadellen, und die hatten wohl einen weg." "Willst du wieder heim, Kleines?" fragte ich sie besorgt. "Nein", antwortete sie schnell. "Ich würd gerne so ‚n Vitaminsaft aus der Kantine trinken." Kurzfristig warf ich meine Pläne für den heutigen Tag um. "Kein Problem, Kleines. Zieht euch um, dann gehen wir eben rüber." Keine Viertelstunde später saßen wir in der Kantine. Iris schüttete ein Glas Vitaminsaft nach dem anderen in sich rein, bis sie langsam wieder Farbe bekam. Ich holte ihr noch eine kleine Packung Zwieback, damit sie etwas im Bauch hatte. Schließlich war sie wieder einigermaßen fit. "Schön", sagte ich dann. "In dem Zustand hat das, was ich heute mit euch machen wollte, für Iris keinen Sinn. Deswegen mache ich folgendes: ihr werdet heute von anderen Azubis etwas trainiert. Ihr werdet lernen, Metall zu sägen und zu feilen. Alles mit der Hand, damit ihr ein Gefühl für die verschiedenen Metallsorten bekommt. Iris, wenn du merkst, daß du abbaust, melde dich bitte sofort, ja? Ihr sollt den Beruf hier kennenlernen, aber euch nicht kaputtmachen." Ich grinste boshaft. "Das kommt später, wenn ihr hier tatsächlich die Lehre anfangen solltet. Dann mache ich euch einzeln und mit Genuß fertig!" "Wir finden Sie auch sehr nett!" grinste Petra. Alle Mädchen kicherten fröhlich. "Petra? Möchtest du heute die ganze Vogelscheiße vom Hallendach abkratzen?" "Nö!" "Dann halt's Maul!" "Ja, Chef!" grinste sie. "Braves Kind." Gegen meinen Willen fing ich an, mich für die sechs Mädchen zu erwärmen. "Wie gesagt, Kinder: das ganze hier soll für euch nur ein Test sein, ob euch der Beruf zusagt. Viele der Arbeiten sind laut, schmutzig und gefährlich, aber es ist eine Sache der Einstellung, wie man damit umgeht. Kennt ihr die Geschichte von den zwei Maurern, die an einer neuen Kathedrale arbeiten?" Die Mädchen schüttelten ihre Köpfe. "Beide werden gefragt, was sie da machen. Der erste sagt: Ich setze Steine aufeinander. Der zweite sagt: Ich helfe mit, eine Kathedrale zu bauen." "Und was ist Ihre Einstellung?" fragte mein Lieblingsmädchen. "Meine? Ich mache Azubis fertig. Hoch mit euch, die Arbeit wartet." Zurück in der Halle teilte ich die Mädchen ein. Petra kam zu Ahmad, das war der Azubi, mit dem Iris am ersten Tag zusammengestoßen war. Bei ihm hatte ich das Gefühl, daß er sich sehr gerne mehr um Petra kümmern würde, wogegen ich überhaupt nichts hatte. Ahmad war fast 17, und sehr zuverlässig. Er gehörte zu meinen besten Azubis. Angelika schickte ich zu Roland, meinem besten Arbeiter in der Halle. Von ihm konnte sie viel über Fräser lernen. Darüber wußte sie nämlich noch nicht so sehr viel. Dagmar und Rita, die beiden faulen Mädchen, kamen zu Werner, dem Meister der Feile, wie wir ihn nannten. Er konnte damit besser umgehen als jeder andere, den ich kannte. Wo andere eine Drehbank brauchten, benutzte er nur die Feile, mit dem gleichen Ergebnis. Bettina und Iris steckte ich zu Achim, der Metall sägen konnte wie andere Leute weiches Holz. Von ihm konnten die Mädels sehr viel über Legierungen erfahren. Alle fünfzig Minuten sollte getauscht werden, damit die Mädchen möglichst viel von allem mitbekamen. Um halb vier waren alle durch, und alle waren hellauf begeistert von den ganzen Dingen, die man mit ein paar Werkzeugen machen konnte. Ich schickte die Mädchen duschen und wollte die restliche Zeit bis halb fünf mit ihnen in der Kantine verbringen, aber es kam mal wieder ganz anders als geplant... Etwa zehn Minuten, nachdem die Kinder ihren Umkleideraum betreten hatten, ging die Tür plötzlich auf, und ein Kopf mit kupferroten Haaren schaute heraus. "Herr Kaminski! Petra! Sie ist umgekippt!" Nicht schon wieder! Ich schob Rita in den Raum und lief vor. Die Mädchen standen unter der Dusche, notdürftig mit Handtüchern bedeckt, und schauten auf Petra, die splitternackt am Boden lag. Vergeblich suchte ich nach der Spritze. Es war keine da, also mußte etwas anderes mit ihr sein. Ich fühlte ihren Puls, der normal und kräftig ging. Ein schneller Check zeigte mir, daß sie eine Prellung am Kopf und eine am Ellbogen hatte, aber sonst sah ich nichts. "Was ist passiert?" fuhr ich die Mädchen an. Die fünf schauten sich unsicher an. "Sie ist ausgerutscht", meinte Bettina kläglich. Nie und nimmer! Das roch ich auf zehn Meter gegen den Wind, daß hier etwas faul war. "Erzähl mir keinen Scheiß!" fauchte ich das Mädchen an. "Ich will zur Hölle wissen, was verdammt nochmal hier passiert ist! Sofort!" "Sie - Ich meine, wir - Also, irgendwie..." Das hatte keinen Sinn. "Angelika! Was war hier los?" Angelika wechselte schnelle Blicke mit den anderen Mädchen. Ich platzte. "Verfluchte Höllenbrut!" schrie ich aufgebracht. "Wenn Petra etwas passiert, nur weil ihr zu feige seid, eure Schnauzen aufzumachen, schicke ich jede einzelne von euch höchstpersönlich in den nächsten Ofen! Rede jetzt endlich, verflucht!" "Sie - sie wollte uns was zeigen", stotterte Angelika. Ihr Gesicht lief dunkelrot an. "Und dabei ist sie ausgerutscht." "Angelika! Alles!" Ich stand wirklich kurz davor, auszurasten, das sahen mir die Mädchen auch an. "Sie wollte uns zeigen", stammelte Angelika, "wie - wie man einen ganz starken Orgasmus bekommt. Na ja, als sie den hatte, ist sie ausgerutscht und mit dem Kopf aufgeschlagen." "Ihr müßt doch alle nicht mehr ganz dicht sein!" sagte ich fassungslos. "Habt ihr denn wenigstens gut aufgepaßt? Wißt ihr jetzt alle, wie man während der Arbeitszeit masturbiert?" Die Mädchen senkten ihre feuerroten Köpfe, während ich nach dem Funkgerät griff. "Sicherheit?" "Hört." "Kaminski. Vier Leute nach Halle 7, zum Umkleideraum der Mädchen, ehemaliges Lager." "Sollen sie eingreifen?" "Nein, nur die Tür sichern. Hier liegt ein Mädchen bewußtlos und sehr nackt unter der Dusche. Wenn sich das herumspricht, stürmen 200 geile Männer den Raum." "Sie werden entsprechend ausgerüstet. Drei Minuten." "Danke." Ein anderer Knopf. "Krankenstation?" "Ja. Wer spricht?" "Kaminski, Halle 7. Einen Arzt zum Umkleideraum der Mädchen. Keine Lebensgefahr, kein Notfall. Der Arzt soll unbedingt auf die Sicherheit warten, bevor er reinkommt! Meine Anweisung!" "Geht klar." Ich steckte das Gerät zurück in die Tasche. Die Mädchen taten noch immer so, als wären sie nicht da. "Würdet ihr so liebenswürdig sein", sagte ich mit zuckersüßer Stimme, "und für Petra zwei Handtücher holen? Oder soll sie nackt hier liegenbleiben?" Die Mädchen sprinteten los. Ich ignorierte ihre blanken Kehrseiten; statt dessen legte ich Petra meine Hand auf die Stirn. "Du bist doch die größte Spinnerin von allen", flüsterte ich dem bewußtlosen Mädchen zu. Die anderen kamen zurück, kurz darauf war Petras Unterleib und ihr Oberkörper bedeckt. Während wir auf den Arzt warteten, schaute ich mir die Mädchen der Reihe nach an. Keines konnte meinen Blick länger als eine Sekunde halten, dann sah es beschämt zur Seite. Ich spürte förmlich, daß da noch etwas war, was diese Bande mir nicht sagte. Nur Angelika erwiderte meinen Blick. Sie sah ganz verzweifelt aus, als hätte sie Schuld an dem Vorfall. Das konnte ich nun überhaupt nicht verstehen. Ein lautes Klopfen an der Tür rettete die Mädchen. "Sicherheit!" hörte ich eine kräftige Stimme. "Alles in Ordnung da drin?" "Nein, verdammt nochmal!" brüllte ich zurück. "Wenn alles in Ordnung wäre, bräuchte ich weder euch noch den beschissenen Arzt!" Keine Antwort. War auch gut so. Dumme Fragen haßte ich nämlich fast noch mehr als Frauen. Keine Minute später kam der Arzt herein; seine Karte war natürlich für alle Räume auf dem Gelände berechtigt. Machte in seinem Fall auch Sinn. Zum Glück war es ein anderer als am Montag. "Hallo, Jürgen", begrüßte ich ihn. "Dieter." Er kümmerte sich direkt um Petra und checkte sie gründlich durch, dann sah er mich an. "Du solltest Arzt werden. Perfekte Diagnose. Nur eins stört mich." "Und was?" "Sie muß gegen die Wand gefallen sein." Er strich Petra die Haare aus der Stirn. "Schau her. Wenn sie auf den Boden gefallen wäre, müßte hier vorne ein deutlicher Abdruck der geriffelten Fliesen sein, aber ihre Prellung ist ganz glatt. Das kann nur von der Wand kommen. Der Ellbogen ist auf den Boden gefallen." Er drehte Petras Arm vorsichtig herum. "Siehst du die Rillen?" Ich nickte. "Genau die gleichen müßten auch am Kopf sein. Egal. Trag sie zur Bank, sie müßte in ein paar Minuten wieder da sein." Er half mir, Petra auf die Arme zu nehmen, dann schleppte ich sie die paar Schritte zu den Spinden. Angelika legte schnell zwei gefaltete Handtücher auf die Bank, genau unter Petras Kopf, und strich das Handtuch über ihrem Unterleib glatt, das während des Tragens etwas hochgerutscht war. Dann standen die fünf Mädchen unschlüssig um uns herum. "Wart ihr schon duschen?" fragte ich sie sehr sanft. "Ach nein. Ihr hattet ja etwas viel Wichtigeres zu tun." Mit hochroten Köpfen zogen die Mädchen ab. Sekunden später hörten wir das Wasserrauschen der Duschen. "Was ist das für ein Kindergarten?" fragte Jürgen. "Weißt du das nicht? Ein Experiment unserer geliebten Geschäftsleitung. Berufsvorbereitungsmonat. Wie im Februar, nur dieses Mal mit 14jährigen Mädchen." "Armer Kerl." Jürgen bedauerte mich ehrlich, das sah ich ihm an. "Nein, Dieter, das wußte ich nicht. Ich hatte bis gestern Urlaub. Kommen noch mehr davon?" "Nächstes Jahr. Fünfzig Mädchen als Lehrlinge." "Aha?" Überrascht sah er mich an. "Jetzt verstehe ich auch, wieso wir plötzlich die ganzen Instrumente für Gynäkologie haben, und den neuen Untersuchungsstuhl. Und du bist das Kindermädchen?" "Ganz genau. Ich habe mir Fusseln an den Mund geredet, um eine Frau als Betreuerin zu bekommen, aber die Personalleitung hat mich abblitzen lassen." "Das paßt wieder." Jürgen zuckte mit den Schultern. "Lange können die das aber nicht mehr durchhalten." "Du sagst es, mein Freund. Ich werde alles, was die Mädchen betrifft, schön klar und deutlich in einen Bericht packen, und wenn die da oben das dann immer noch nicht kapieren, können sie mich mal." Ich sah Jürgen an; er war einer der sehr wenigen Menschen, mit denen ich ganz offen reden konnte. "Jürgen, ich habe wirklich Angst vor dem nächsten Jahr. Diese sechs Kinder sind in Ordnung, aber sie sind ja auch erst 14. Die, die nächstes Jahr kommen werden, sind 15 oder 16, wie die Jungs. Stell dir nur mal ein einziges Miststück darunter vor, das plötzlich Hochwasser bekommt, weil es meint, es hätte die Sache hier im Griff, und läßt mich in eine blöde Situation reinlaufen..." "Wie bei Junkers?" "Junkers? Wieso? Was war da?" "Da war das, was du gerade geschildert hast, Dieter. Ich habe es allerdings auch nur über Umwege gehört, noch vor meinem Urlaub. Der Ausbildungsleiter dort soll mit einem jungen Mädchen ziemlich heftig rumgemacht haben; so heftig, daß es auf der anderen Straßenseite zu hören war. Von wem das ausging, ist nicht so ganz klar, aber die meisten tippen auf das Mädchen. Und das nicht aus Bosheit, sondern weil die schon häufig so etwas versucht haben soll. Bei sehr vielen Männern." "Und genau davor habe ich Angst", sagte ich leise. "Jürgen, du weißt, wie ich über Frauen denke. Aber selbst wenn ich das mal beiseite lasse: meine Tochter ist im August 12 geworden. Ich könnte mir nie vorstellen, ein Kind von 14 oder 15 so zu berühren. Aber das muß ja auch gar nicht passieren. Es reicht schon, wenn so eine Schlampe behauptet, ich hätte es getan. Oder ich hätte es versucht. Was dann? Der Mann ist doch immer zuerst der Dumme dabei." "Ich weiß, was du meinst. Würde es dir helfen, wenn ich auch etwas schreibe? Aus medizinischer Sicht?" "Ich bin mir gar nicht mal sicher, ob ich das wirklich will", meinte ich nachdenklich. "Du weißt, daß ich hier schon halb auf der Abschußliste stehe. Es sieht wohl eher so aus, daß ich von mir aus die Fliege mache, bevor der Tanz hier losgeht." "Das wäre gar nicht mal so schlecht, Dieter. Dein Ruf ist ziemlich gut draußen, trotz deiner rauhen Schale. Wie gesagt, Junkers ist im Moment ohne Ausbildungsleiter. Seit etwa drei Wochen." "Danke für den Tip." "Keine Ursache. Wir sind doch alle überglücklich, wenn du endlich hier weg bist." "Hey!" grinste ich Jürgen an. "Das war mein Text!" "Ich wollte dir nur helfen, wieder in dein Fahrwasser zurück zu kommen." "Zurück? Ich habe das nie verlassen, Kerl! Aber das ist mal wieder typisch für die Menschen heutzutage. Kaum teilt man etwas von sich mit, wird man auch schon als Weichei abgestempelt." Lachend legte Jürgen mir die Hand auf die Schulter. In diesem Moment regte Petra sich. Jürgen war sofort bei ihr. "Kannst du mich hören?" fragte er deutlich. "Ja", murmelte Petra. "Wer sind Sie?" "Ein Arzt. Wie viele Finger siehst du?" Er hob zwei Finger. "Siebzehn." Petra verzog das Gesicht. "Zwei, natürlich!" "Jetzt?" "Fünf." "Und jetzt?" "Drei." "Gut." Jürgen richtete sich auf. "Wie geht es dir?" "Kopfschmerzen", sagte Petra leise. "Und mein linker Arm tut weh." "Sonst nichts?" "Doch. Mein Po. Die Bank ist so hart!" Jürgen verbiß sich ein Lachen. "Setz dich mal bitte hin, aber halte das Handtuch fest." Schwerfällig richtete Petra sich auf. "Mir ist schwindelig", meinte sie schwach. Jürgen reichte ihr seine Hand. "Versuch mal, aufzustehen." Petra versuchte es und kam schwankend auf die Füße. "Mir wird etwas schlecht!" Jürgen fing sie auf und setzte sie wieder auf die Bank. "Gut. Sie bleibt über Nacht bei uns." "Dachte ich mir schon fast." Ich sah Petra an. "Ich sage im Heim Bescheid, Kleines." "Danke. Kann ich meine Tasche mitnehmen?" "Sicher. Ich hole dir eben deine Sachen." Wenig später war ich mit ihrer Kleidung zurück. Petra bestand darauf, daß nicht Jürgen, sondern ich sie anziehen sollte, aber den Zahn zogen wir ihr sehr schnell. Etwas später war sie fertig und konnte sogar schon ein paar Schritte alleine laufen. Ich rief den Mädchen unter der Dusche zu, daß sie mit den Sicherheitsleuten zum Tor gehen sollten, dann stützten Jürgen und ich Petra. Als wir den Umkleideraum verließen, wurden wir von einer pfeifenden und grölenden Meute empfangen. "So sieht meine Alte hinterher auch immer aus!" - "Hey, Baby, war's schön?" - "Krieg ich die? Ich will auch mal!" - "Macht weiter, sie kann ja noch laufen!" Es reichte, das Funkgerät zu ziehen, und sofort verstreute sich die Menge. Einer der Sicherheitsleute begleitete uns, die anderen drei warteten auf die Mädchen. Ich entschuldigte mich bei dem Truppleiter für meinen Ausbruch, doch der winkte nur ab. "Überhaupt kein Problem, Dieter. Wirklich nicht." In seinen Augen las ich sehr viel Verständnis. Ich klopfte ihm auf die Schulter, dann brachten wir Petra in die Krankenstation. Die Oberschwester, mit der ich am Dienstag diesen kleinen Disput gehabt hatte, war bereits auf dem Weg in den Feierabend und übersah mich gekonnt. War mir nur recht. Schließlich lag Petra in ihrem Bett. Sie war ziemlich blaß; das Laufen hatte viel Kraft gekostet. "Könnten Sie mir ein Kaugummi aus meiner Tasche geben?" bat sie mich. "Ich hab einen beschissenen Geschmack im Mund." "Sicher, Kleines." Ich öffnete ihre Tasche und sah sofort, was die Mädchen mir verschwiegen hatten. Eine frische Unterhose, ein Paar frische Söckchen, ein frisches Hemd. Es klickte. Ich holte das Kaugummi heraus und gab es Petra. "Wie ist das eigentlich so bei euch im Heim?" fragte ich beiläufig. Petra wickelte den Streifen aus und steckte ihn in den Mund. "Grausam", meinte sie schlicht. "Ich teil mir das Zimmer mit zwei anderen Mädchen. Die Astrid ist fünfzehn, mit der komm ich super klar. Aber die Königin... Die ist einfach nur ätzend." "Die Königin?" "Ja, so nennen wir sie. Die Tussi ist schon neunzehn und macht im Februar ihre Prüfung. Sobald die nach Hause kommt, scheucht sie uns weg. Wir haben nämlich nur einen Schreibtisch, und den belegt sie dann. Sie muß lernen! Und wir? Wir können zusehen, daß wir alles schaffen, bis sie da ist, sonst haben wir schlechte Karten." Sie zuckte mit den Schultern. "Manchmal können wir zu Maria rüber und da unsere Aufgaben machen, aber eben nur manchmal." "Habt ihr denn schon einmal versucht, mit dem Heimleiter zu reden?" "Einmal?" Petra lachte bitter. "Seit Wochen löchern wir den Bracke, daß die Königin so ‚nen Terz macht, aber der meint nur, wir sollen das untereinander klären. Das würde uns helfen, später einmal Konflikte zu lösen!" Die letzten Worte sprach sie affektiert aus. "Der hält sich da raus, Herr Kaminski", sagte sie traurig. "Der kümmert sich auch so kaum um uns. Das Heim ist total voll, aber der packt immer weiter rein. Der kriegt ja auch Geld von der Stadt für jedes Waisenkind. Davon kauft der ein Bett, Wäsche, etwas zum Anziehen, und das war's. Den Rest sackt der ein." Bedrückt setzte sie sich etwas auf, den Rücken an das Kissen und das Bettgestell am Kopfende gelehnt. "Habt ihr denn mit dieser - dieser Königin mal geredet?" "Ja." Petra sah mich wütend an. "Die hat uns erst mal lang und breit reden lassen, und dann sagte sie, daß sie uns eine semmeln würde, wenn wir ihr noch einmal auf die Nerven gehen sollten. Und die macht das auch, Herr Kaminski. Da hat die gar kein Problem mit." "Verstehe." Ich drückte kurz ihre Hände. "Deswegen warst du auch bestimmt froh, als du einen Freund gefunden hast?" "O ja!" lächelte Petra begeistert. "Da konnte ich wenigstens raus! Sonst mußte ich ja entweder im Heim bleiben oder in der Stadt laufen, bis die Sohlen qualmten." "Wie bist du eigentlich mit Ahmad klargekommen? Ihr zwei habt euch ja angeregt unterhalten." "Gut", lächelte sie schüchtern. "Wir wollen morgen abend telefonieren." "Morgen erst? Warum nicht schon heute?" "Heute geht doch nicht!" sagte sie erstaunt. "Ich kann doch nicht nach Hause! Sagte der Arzt doch!" "Richtig", lächelte ich. "Und das wußtest du schon heute morgen?" Erwischt! Petra wurde feuerrot. "Ist schon gut, Kleines", tröstete ich sie leise. "Ich verstehe, warum du hier schlafen möchtest. Ruh dich gründlich aus, ich komm morgen früh wieder." "Gehen Sie schon?" fragte sie leise, voller Schuld. "Ich muß noch den Unfallbericht schreiben", lächelte ich. "Das dauert immer so lange." "Tut mir leid", flüsterte Petra. "Das wußte ich nicht. Ich wollte nicht so viel Ärger machen. Ich wollte nur -" "Schon gut." Ich fuhr ihr kurz über die Haare. "Erhol dich, Kleines. Bis morgen." "Bis morgen." Sie lächelte schüchtern. "Ich mag Sie, Herr Kaminski." "Und ich hasse dich!" grinste ich. Petra kicherte und legte sich wieder hin. Ich stand auf, zwinkerte ihr kurz zu, dann machte ich mich auf den Weg nach draußen. Auf dem Flur überlegte ich, warum ich Petra nicht erwürgt hatte; warum ich nicht einmal den Wunsch verspürt hatte, sie zu erwürgen. Warum war plötzlich so viel Verständnis in mir? Am Ende des Flures bog ich ab in Richtung Ausgang und stieß auf - "Angelika! Wieso bist du denn noch hier?" "Ich wollte mich entschuldigen", sagte sie leise. "Das war nämlich meine Schuld." "Kapiere ich nicht." Ich sah sie ruhig an. "Hast du Petra etwa dazu gezwungen?" "Nein. Ich -" Sie wurde feuerrot. "Ich hab von dem ganzen Kram überhaupt keine Ahnung", gestand sie dann so leise, daß ich es kaum verstehen konnte. "Deswegen hab ich Bettina gefragt, wie sie das - ich meine, wie das geht. Petra hat das gehört und mir gleich gezeigt. Dann ist sie ausgerutscht und umgekippt." "Nein, Kleines", entgegnete ich sanft. "Dann ist sie nicht umgekippt. Sie hat euch gebeten, sie nicht zu verraten bei dem, was sie vorhat, dann hat sie ihren Kopf gegen die Wand gedonnert und wurde bewußtlos." Angelika erschrak heftig. "Woher -" "Kleines!" Ich sah sie mitleidig an. "Ich mache diesen Job seit zehn Jahren in diesem Werk, und seit fünfzehn Jahren insgesamt. Der Trick, den ich noch nicht kenne, muß erst erfunden werden. Als Jürgen - der Arzt - Petras Verletzung beschrieben hatte, wußte ich, wie sie es gemacht hatte, aber das Warum habe ich gerade erst herausgefunden, als ich mit Petra geredet habe.." Angelika sah beschämt zu Boden. "Ist schon gut, Kleines. Ich verstehe, daß du neugierig warst. Ihr seid ja alle in dem richtigen Alter dafür, um solche Sachen zu entdecken. Aber du verstehst hoffentlich auch, daß eine glatte Dusche kein Platz dafür ist. Und eine Dusche am Arbeitsplatz schon mal gar nicht." "Ja", hauchte sie mit dunkelrotem Gesicht. "Prima. Wenn du das ausprobieren möchtest, tu es zu Hause, wo es bequem und viel ungefährlicher ist. Und jetzt raus mit dir, ich muß noch arbeiten." "Warum bist du vorgestern abgehauen?" Ihre Augen blickten wieder tief in mich. "Möchtest du das wirklich wissen?" fragte ich sehr sanft. Sie nickte entschlossen. "Ja. Will ich." "Weil", sagte ich mit sehr viel Haß in der Stimme, der Angelika zusammenfahren ließ, "ich glückliche Menschen hasse. Dich, deinen Vater, alle! Ich hasse meinen Beruf, ich hasse meine Ex-Frau, ich hasse mein Leben. Ich konnte es einfach nicht ertragen, wie überaus herzlich und liebevoll du und dein Vater miteinander umgegangen seid! Und jetzt verpiß dich, bevor ich dich erwürge, und das ist mein heiliger Ernst!" Angelika rannte raus, so schnell sie konnte. Zitternd vor Wut sah ich ihr nach, bis sie verschwunden war. Am nächsten Morgen holte ich Petra um sieben Uhr ab. Sie war schon fertig angezogen; Jürgen redete gerade mit ihr und schärfte ihr ein, sich sofort bei ihm zu melden, wenn ihr übel wurde oder wenn sie nicht mehr richtig sehen konnte. Sie versprach es ihm, dann gingen wir frühstücken. Die Auseinandersetzung mit Angelika saß mir noch in den Knochen, von daher war meine Stimmung die gleiche wie vor dem Eintreffen der sechs Mädchen im Werk: mürrisch und knurrig. Petras erneute Entschuldigung wischte ich unwirsch beiseite und kümmerte mich um mein Essen. Um viertel nach acht gingen wir langsam rüber zur Halle, um halb neun trafen die restlichen fünf Mädchen ein, um viertel vor standen sie an den Maschinen. "Wie besprochen", sagte ich kurz und knapp zu ihnen. "Ihr arbeitet heute so lange, bis ihr merkt, daß ihr nicht mehr könnt. Auf geht's!" Ich drückte einen Knopf an meiner Uhr. Jedes Mädchen hatte einen vollen Korb mit vorbereiteten Werkstücken auf ihrer Werkbank stehen. Angelika stand an der Stanze, Petra am Fräser, Iris am Bohrer, Dagmar am Senker, Bettina an der Nummernstanze, Rita fettete und packte ein. Der Staplerfahrer war informiert, daß er heute auf uns achten sollte, ein Azubi legte für Angelika die schweren Platten auf die Stanze und räumte die verbrauchten beiseite. Ich hatte einen ausgesucht, der für diese anspruchsvolle Aufgabe so gerade eben qualifiziert war. Nach knapp zwanzig Minuten war Angelikas Korb voll. Als sie den Stapler bemerkte, der auf die Stanze zufuhr, trat sie zwei Schritte zurück und wartete, bis er den Korb herausgeholt hatte, dann lief sie zur Wand, wo die leeren Körbe standen, kam mit einem davon zurück, stellte ihn unter die Stanze, richtete ihn kurz, aber präzise aus, und machte dann weiter. Der Stapler stellte derweil den Korb auf Petras Werkbank. Sie drückte einen Knopf, der das Band, auf dem die Körbe standen, eine Position weiterfahren ließ, dann wartete sie, bis der Stapler weg war, schaute erst auf den neuen Korb, dann auf den, an dem sie gerade arbeitete, zuckte die Schultern und machte gelassen weiter. Mehr konnte sie auch nicht tun, denn ihr Arbeitstempo wurde von dem Fräser bestimmt, der für ein Werkstück etwa 17 Sekunden brauchte. In der Zeit konnte ein geübter Arbeiter acht oder neun Stücke stanzen; Angelika kam immerhin auf sieben. Etwa dreißig Minuten, nachdem wir angefangen hatten, sah ich, daß sich bei Petra eine Strähne Haar aus dem Haarnetz löste. Sie bemerkte es nicht. Ich wartete, bis sie ein neues Stück eingespannt und den Fräser gestartet hatte, dann riß ich sie grob an der Schulter zurück. Sie erschrak heftig. Ich zog kurz an dem Haar. Sie kapierte, stopfte es zurück, dann machte sie weiter. Weitere zehn Minuten später war es bei Angelika soweit. Sie bemerkte es jedoch sofort, trat zwei Schritte von der Stanze zurück, brachte ihr Haar in Ordnung, und ging erst dann wieder an die Maschine. Bewundernswert. Fünfzig Minuten nach Beginn der Übung erhöhte ich meine Aufmerksamkeit, doch die Mädchen waren noch immer mit voller Konzentration dabei. Erst nach insgesamt achtzig Minuten brach die erste ab. "Ich kann nicht mehr!" Iris trat zurück. Ich nickte und drückte auf meine Uhr. Sechs Minuten später hörte Rita auf; ihr Rücken spielte nicht mehr mit. Dagmar war die nächste, dann trat Bettina zurück. Ich beendete die Übung. Petra machte Schluß, als ich ihr auf die Schulter klopfte, nur Angelika schüttelte den Kopf. Sie stanzte weiter und bewegte die Lippen, als würde sie zählen. Ich ließ sie machen. Etwa acht Minuten später trat auch sie zurück. "Ich wollte den Korb noch vollmachen", erklärte sie, als ich sie fragend anblickte. "Und woher wußtest du, wann der voll war?" "Ich hab beim ersten Mal mitgezählt." Das hatte ich schon halb erwartet. Nach dieser Tortur gingen wir in die Kantine, damit die Mädchen sich gründlich erholen konnten. Nachdem sie alle ihre Getränke geholt hatten, begann ich das Interview. "Iris, warum hast du aufgehört?" "Meine Schulter wollte nicht mehr. Der Hebel mit den Bohrern ging zwar leicht, aber auf Dauer..." "Schon klar. Fing das gerade erst an, wehzutun, oder war das schon länger so?" "War schon was länger. Zehn Minuten oder so." "Dann hast du zehn Minuten oder so zu spät aufgehört, Kleines." Ich sah sie ernst an. "Sobald dein Körper müde wird oder weh tut, geht die Konzentration in den Keller. Das ist der Moment, wo du dich ablenken läßt und die Bohrer in deine linke Hand jagst." "Okay", gab sie schüchtern zu. "Merk ich mir." "Hoffentlich. Bettina?" "Ich hab mir fast die Nummern in die Hand gestanzt. Da hab ich aufgehört." "Wurdest du schon vorher müde, Kleines?" "Ja, ein paar Minuten vorher." "Dann gilt für dich das gleiche." Sie nickte ernst. "Rita?" "Das Bücken, wenn ich die Dinger in den Korb gelegt habe, tat am Schluß nur noch weh. Ich hab's aber auch rausgezögert." "Nicht mehr tun, ja?" "Mach ich." "Gut. Dagmar?" "Wie bei Iris. Irgendwann machte die Schulter dicht." "Und du hast auch einfach weitergemacht, bis es richtig weh tat?" "Ja", gab sie zu. "Hab ich gesehen. Petra, du mußt unbedingt auf deine Haare achten, Kleines. Wenn die sich um den Bohrer oder den Fräser wickeln, ist es vorbei mit deiner Pracht." "Wieso?" Ich drehte mich zu Angelika, die wie üblich neben mir saß. "Darf ich mal?" Ich nahm eine Strähne ihres Haares und wickelte sie um meinen Finger. "Das ist der Bohrer." Petra sah aufmerksam zu. "Der Bohrer dreht sich sehr schnell." Ich ließ meinen Finger kreisen. Angelikas Kopf wurde an meine Hand gezogen. Petra riß die Augen auf, ich ließ Angelika los. "Kapiert!" hauchte Petra. "Das würde mir den Kopf abreißen!" "Fast. Der Bohrer reißt dir nur die Haare mitsamt der Haut ab, aber den Kopf reiße ich dir dann ab. Danke, Angelika." "Schon gut", lächelte sie. "So hat Papa mir das auch erklärt. Nur hat er noch viel doller gezogen!" "Darf ich dann nochmal? Richtig feste?" "Nein!" wehrte sie lachend ab. Auch die anderen Mädchen lachten. "Wie waren wir denn?" fragte Angelika, als wieder Ruhe eingekehrt war. Ich knurrte unwillig. "Geht so." "So gut?" strahlte sie. "Wow!" Auch die anderen Mädchen freuten sich und plapperten aufgeregt los. "Klappe, ja? Von der Zeit und der Menge her wart ihr gut, Kinder, aber nicht, was eure Gesundheit angeht." Ich beugte mich vor. "Mädchen, ihr seid 14 Jahre jung! Wißt ihr, wie leicht eure Knochen kaputtgehen können, wenn ihr nicht auf euch achtet? Jede neue Belastung ist ungewohnt, aber wenn ihr durchgehend arbeitet, ist die Belastung schlicht und einfach gefährlich für eure Gesundheit! Achtet darauf, Mädchen. Wenn ihr in zwei Jahren die Schule aushabt, sieht das schon anders aus; dann ist euer Knochenbau um einiges stabiler. Aber jetzt kann das Skelett bleibende Schäden davontragen, wie unsere Ärzte sagen würden. Hört auf zu arbeiten, wenn es anfängt, wehzutun, und nicht erst dann, wenn ihr es gar nicht mehr aushaltet." Sie versprachen es hoch und heilig. "Gut. Da ihr mich die ganze Woche so geärgert habt, schicke ich euch heute schon um zwei nach Hause. Mittag machen wir um eins. Den Rest des Morgens geht ihr wieder zu den Leuten, mit denen ihr gestern bereits gearbeitet habt. Nächste Woche kommt dann was Neues auf euch zu." "Echt um zwei Uhr Schluß?" fragte Petra begeistert. "Ja. Ich kann euch nicht mehr sehen." Ich zwinkerte ihr zu. "Übrigens, die anderen Azubis machen Freitags um drei Schluß, falls das jemanden interessieren sollte." Petra wurde hektisch. "Ähm... Herr Kaminski?" "Ja, Kleines?" Ich verbiß mir das Lachen. "Kann ich - ich meine, gibt's hier so ‚ne Art Aufenthaltsraum, wo man nach Feierabend warten kann?" "Leider nein, nur die Kantine. Und da lasse ich dich nicht eine Stunde allein sitzen." Petra sank vernichtet zusammen. "Allerdings", sagte ich langsam, "könntest du in meinem Büro warten, wenn du ganz lieb und leise bist." "Geil!" jubelte sie. "Danke!" "Kann ich bis halb fünf bleiben?" bat Angelika. "Wieso denn das?" Ich schaute sie verblüfft an. "Weil... Der Roland wollte mir noch zeigen, wie die Führungen für die Stanze in die Platten gefräst werden. Er sagt, daß er nächste Woche an einer anderen Straße arbeitet, und ich wollte das so gerne noch probieren! Er sagte, daß er die Platten ab zwei Uhr fertig macht." "Natürlich, Kleines. Wenn dein Vater damit einverstanden ist..." "Ist er." Sie grinste. "Er sagt, dann wär ich wenigstens aus dem Weg und würde was Anständiges lernen." "Wenn du mir doch auch aus dem Weg wärst!" seufzte ich laut. Die Mädchen kicherten hell. "Kannst du gerne machen, Angelika. Ich sehe Rolands Station von meinem Büro aus." "Danke!" "Keine Ursache. Trinkt in Ruhe aus, Kinder; wir gehen in zehn Minuten los." Der Rest des Tages verlief friedlich. Die Arbeiter in der Halle hatten die Hosen gestrichen voll, was die Mädchen anging, und sahen sie nicht einmal offen an. Um halb eins schickte ich die Kinder duschen, nur Angelika nicht, die weiterarbeiten wollte. Ich holte sie alle um eins ab, dann gingen wir gemeinsam essen. Um zwei waren nur noch Petra und Angelika bei mir. Ich brachte Angelika zu Roland, der schon sehnsüchtig auf sie wartete (aber nur, weil er auch Feierabend machen wollte; er war glücklich verheiratet), und nahm Petra mit in mein Büro. Ich gab ihr ein dickes Comic-Heft über Donald Duck, was meine Tochter Marita bei ihrem letzten Besuch vor zwei Jahren hier vergessen hatte. Petra schaute es sehr skeptisch an, doch schon nach zwei Minuten Lesen hörte ich sie leise kichern. Sie war versorgt. Genau wie Angelika, die konzentriert einen Fräser über eine der Stahlplatten führte, aus denen die kleinen Stücke gestanzt wurden. Das war nur zur Übung, denn die eigentliche Maschine, an der diese Platten in Mengen gefräst wurden, war computergesteuert und wurde über Bänder mit den Platten versorgt, aber Angelika wollte lernen, und sie sollte ihre Chance bekommen. Ich kümmerte mich um meine Wochenberichte; zuerst den über die Halle, den Micha schon vorbereitet hatte und in den am Montag morgen nur noch die Vorfälle und Zahlen von der heutigen Spätschicht eingetragen werden mußten, dann ging ich an den zweiten, viel schöneren Bericht: den über unsere sechs niedlichen Praktikantinnen. Ein besonderes Leckerchen war natürlich der Übergriff gegen Dagmar, den ich sehr ausführlich schilderte, genau wie Petras Unfall unter der Dusche. Als letzten Satz brachte ich einen Querverweis auf ein Memo an, das ich direkt im Anschluß an den Bericht in Angriff nahm. Um kurz vor drei knallte Petra das Heft auf den Tisch und wünschte mir im Hinauslaufen ein schönes Wochenende. Den Grund sah ich sofort: Ahmad machte Feierabend. Grinsend tippte ich weiter, bis ich um viertel nach drei alles fertig hatte. Ich druckte Bericht wie Memo zweimal aus. Eine Kopie für Erwin, eine für mich. Ich sah böse Zeiten auf das Werk zukommen, wenn einige Dinge nicht schnellstens geändert wurden, und ich wollte mich absichern. Der Job war mir zwar egal, aber ich wollte keine Zivilklage riskieren, die durch einen erfolgreichen Übergriff gegen eines der Mädchen todsicher auf mich als Verantwortlichen zukommen würde. Nachdem ich die Kopien für mich abgeheftet hatte, machte ich sicherheitshalber noch einen dritten Ausdruck von beiden Dokumenten, die ich in meine Tasche packte, um sie zu Hause zu deponieren. Rein zu meiner persönlichen Absicherung. Nachdem das erledigt war, ging ich hinunter in die Halle, zu Roland und Angelika. "Und?" fragte ich Roland. "Wie sieht's aus?" Er grinste. "Wenn ich es nicht besser wüßte, würde ich sagen, drittes Lehrjahr. Die ist unglaublich!" "Ich weiß", seufzte ich. Angelika bekam rote Bäckchen, ließ sich aber in ihrer Arbeit nicht stören. Dieses Mal mußte sie nämlich ohne die Hilfslinien auskommen, die Roland bei den anderen Platten für sie aufgemalt hatte, und den Fräser freihändig und nach Gefühl über die Platte führen. Als die Platte fertig war, nahm Roland sie aus der Maschine und trug sie zu einer der Stanzen. Angelika durfte ihr Werk zu Ende führen. Die Stanze knallte zwanzigmal auf die Platte, und zwanzig saubere Stücke lagen im Korb. Roland schüttelte überwältigt den Kopf. Das Mädchen glühte vor Stolz und Freude. "Soll ich ihr die Computersteuerung auch zeigen?" fragte Roland schließlich. Ich nickte kurz. "Mach das. Du kannst ihr auch zeigen, wie sie ein neues Programm einspielt." Roland machte große Augen, sagte aber kein Wort. Die Programmierung war etwas, an was ich nur sehr wenige Leute ließ. Er führte Angelika zu der großen Maschine, an deren Seite ein kleiner Monitor angebracht war. Roland drückte ein paar Knöpfe, schaltete sich schnell durch mehrere Menüs, und war schließlich soweit, daß er Angelika anhand eines Vierecks die Programmierung der Maschine zeigen konnte. Angelika war mit Feuereifer dabei. Schließlich durfte sie das Viereck selbst programmieren. Konzentriert tippte sie die Befehle und die Maße ein; der Monitor zeigte als Figur, was sie eingab. Roland legte derweil eine Platte in die Maschine. Als Angelika fertig war, sah sie zu ihm. Er nickte, sie drückte auf den Startknopf. Der Fräser setzte sich in Bewegung und schnitt ein perfektes Quadrat in die Platte, genau einen Millimeter tief. Roland schüttelte nur noch den Kopf. "Wann fängt die hier an, Chef?" "Wieso?" "Weil ich dann eine Umschulung beantragen muß." Angelika kicherte geschmeichelt. "Darf ich noch was ausprobieren?" fragte sie. "Auf der Rückseite von der Platte? Oder wird die noch gebraucht?" "Nein, spiel ruhig damit", lächelte ich. "Was möchtest du denn machen?" "Verrat ich nicht. Ihr dürft nicht zusehen!" Frauen! Seufzend drehte ich mich um. Roland tat das gleiche. Wir langweilten uns etwa drei Minuten, dann hörten wir, wie der Fräser losheulte. Gespannt drehten wir uns zu dem Gerät. Angelikas Gesicht glühte vor Erwartung, ihre Augen leuchteten. Der Fräser schnitt zwei nebeneinander liegende Halbkreise in die Platte, die sich berührten, dann kamen zwei schräge Linien dazu, die aus dem ganzen Durcheinander plötzlich ein Herz formten, wie Verliebte es in Bäume ritzten. Ich war wie versteinert, als der Buchstabe "D" in der linken Hälfte erschien, und als in der rechten Hälfte ein "A" fertig war, glaubte ich, zu platzen. Roland hingegen sah nur die technische Seite und war fassungslos. "Das hast du gemacht?" fragte er ungläubig. Angelika strahlte ihn an. "Ja! Gefällt es dir?" "Wenn du das D gegen ein R austauschst, ja", grinste er. "Wer ist D?" "Mein Freund!" sagte Angelika stolz. "Der Glückliche! Im Ernst, Geli: das ist unglaublich gut! Woher kannst du das?" "Gerade von dir gelernt", gestand sie schüchtern. "Die Linien waren ja schon alle in der Maschine da drin, ich mußte sie nur noch anordnen. Wie die Buchstaben auch. War nicht so schwer." Ich drehte mich weg und ging ohne weiteren Kommentar in mein Büro. Wenn ich es vor Gericht so erzählte, wie es war, würden sie mich freisprechen. Sie mußten mich einfach freisprechen. Seufzend sank ich in mein Sofa. Die Woche war vorbei! Keine nervenden Mädchen mehr, und vor allem keine nervende Angelika Walter mehr. Schon fast in einem Zustand, der an Glück grenzte, schaltete ich die Acht-Uhr-Nachrichten auf dem Ersten an. Die Ansagerin hatte gerade "Guten Abend", gesagt, als das Telefon klingelte. "Ja?" schnauzte ich den Hörer an. "Ich bin's!" rief eine fröhliche Mädchenstimme. Fassungslos starrte ich das Telefon an. "Angelika?" "Ja!" jubelte sie. "Du kennst mich ja doch noch!" Meine Wut erwachte. "Angelika, ich habe dir meine Telefonnummer nicht gegeben, damit du mich auch in meiner Freizeit um den letzten Rest meiner Nerven bringst! Was zur Hölle willst du von mir?" "Hast du Lust, mit mir spazieren zu gehen?" fragte sie munter. Meine Stimme stieg um mindestens eine Oktave. "Was?" "Es ist zwar kalt draußen", plauderte sie, "aber schön trocken, und der Himmel ist voller Sterne. Kommst du zu mir? Wir können dann von hier aus losgehen. Ich kenn ein ganz tolles Feld, wo es richtig dunkel ist, und du kannst da sogar die Milchstraße -" "Kind!" brüllte ich in den Hörer. "Bist du jetzt endgültig des Wahnsinns fette Beute? Mädchen, weißt du nicht, daß es eine Unverschämtheit ist, während der Nachrichten anzurufen?" "Welche siehst du denn? Von sechs bis acht kommen doch so viele Nachrichten!" "Die im Ersten! Andere sehe ich mir nicht an!" "Ach", winkte sie ab. "Die Typen sind mir zu steif. Kommst du?" "Nein!" schrie ich sie an. "Verflucht und zugenäht, ich bin froh, daß ich euch Bande endlich los bin, und jetzt plärrst du mir die Ohren voll, daß ich mit dir spazieren gehen soll? Kind, du mußt doch mehr als nur eine Schraube locker haben!" "Kommst du?" "Nein, das sagte ich schon! Gute Nacht!" Wütend knallte ich den Hörer auf. Vier Sekunden später klingelte das Mistding wieder. "Ja?" fauchte ich. "Kommst du? Bitte!" "Angelika!" jammerte ich. "Kleines, was soll der Unfug? Ich bin müde! Ich will die Nachrichten sehen! Ich will meine Ruhe haben!" "Komm zu mir, Dieter. Bitte! Laß uns was laufen!" "Du kannst am Montag genug laufen, weil ich dich dann nämlich jagen werde wie einen tollen Hund! Kind, ich laufe am Tag mehrere Kilometer durch die Halle! Wieso soll ich jetzt auch noch mit dir laufen?" "Weil wir beide dann zusammen sein können", meinte sie fröhlich. "Kommst du?" "Kleines! Warum kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen?" "Kommst du?" "Geli! Was habe ich dir getan, daß du mich so quälst?" "Kommst du?" "Du bist gekommen!" strahlte Angelika mich an. "Warte, ich zieh mir schnell die Jacke an! Und Schuhe! Geht ganz schnell!" Während sie sich anzog, überlegte ich hin und her, warum ich hier bei ihr war, warum ich zu ihr gefahren war, aber ich wußte es nicht. Ich wußte es beim besten Willen nicht. Angelika schlüpfte in ihre schwarzen Stiefeletten, zog sich die Jacke über, rief "Tschüß!" in die Wohnung, zog die Tür hinter sich zu und schloß die Knöpfe ihrer dicken Jeansjacke, während sie durch den Hausflur auf mich zu ging. Ich bekam ein strahlendes Lächeln von ihr, dann standen wir auf der Straße. Angelika zog mich direkt nach rechts, die nur schwach erleuchtete Straße weiter hinunter. Nach den ersten paar Schritten spürte ich ihren linken Arm um meiner Hüfte. Trotzig ließ ich meine Arme baumeln, gab aber nach vielleicht dreißig Metern auf. Erstens war es sehr unbequem, da meine rechte Hand immer wieder gegen ihr Bein schlug, und zweitens sah es einfach bescheuert aus. Seufzend legte ich meinen rechten Arm um ihre Schultern. Angelika schmiegte sich an mich, ohne etwas zu sagen.
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