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SH-022 Angie

 

Angie


Spezielle Anmerkungen zu dieser Geschichte

„ANGIE“ ist eine Geschichte, die sich langsam entwickelt. Sehr langsam, wie ich zu-
geben muß, allerdings auch dem Thema angemessen. Jemand, der das mitgemacht hat,
was Angie (oder Jana oder Katrin oder all die anderen Mädchen in dieser Geschichte)
mitgemacht haben, hat garantiert andere Sorgen, als sich gleich darauf vom nächstbe-
sten Mann anmachen zu lassen.
Die erste wirklich erotische Aktion geschieht auf Seite 116 (ja, Seite Einhundertsech-
zehn). Und selbst dort ist die Sprache nicht deutlich, sondern sanft und eher beschrei-
bend. Ebenfalls dem Thema und dem Empfinden der agierenden Mädchen angemes-
sen.

Einleitung


Petra Friedrichs war heute dreizehn geworden, und diesen Geburtstag hatte sie zum
Anlaß genommen, ihrem Vater zum ersten Mal in den Unterleib zu treten. Sie tat dies
in voller Absicht und mit solcher Kraft, daß er bewußtlos umfiel. Petra nutzte die ein-
malige Chance, die sich hier bot, raffte schnell und wahllos ein paar Kleidungsstücke
zusammen, stopfte sie in aller Eile in eine kleine Reisetasche und machte, daß sie der
Folterkammer, die ihr Vater ihr „Zuhause“ nannte, schnellstens entkam. Voller Angst
rannte sie die Treppen hinunter, nahm drei, vier Stufen auf einmal, nur um so schnell
wie möglich rauszukommen. Aus der Haustür heraus, überlegte sie nicht lange, son-
dern schlug gleich die Richtung zum Bahnhof ein. Aus Erzählungen von Klassenkame-
raden wußte sie, daß dort Menschen waren, die ihr helfen konnten. Oder schaden, je
nachdem. Auch dies wußte sie. Trotzdem war sie bereit, das Risiko einzugehen. Alles
war besser als das, was sie nun hoffentlich hinter sich hatte.
Fußgänger schauten neugierig hinter dem jungen Mädchen her, das wie gehetzt
durch die Straßen rannte. Sie sahen ein schmales, unterernährtes Kind mit schmutzigen
blonden Haaren, die lang und strähnig hinter ihr herflatterten, die weit aufgerissenen
blauen Augen schauten voller Panik in die Welt. Ihre Kleidung war dem naßkalten
Novemberabend nicht angemessen: eine dünne, teilweise zerrissene, schwarze Baum-
wollhose, ein dunkelblaues T-Shirt in ähnlicher Verfassung, darüber eine schwarze
Jeansjacke, die an den Ellenbogen Löcher aufwies. An Schuhen trug das Kind Turn-
schuhe, die einmal weiß gewesen waren, nun jedoch in schmutzigem Grau den ver-
kommenen Gesamteindruck vervollständigten. In der linken Hand trug sie die kleine,
schmuddelige Reisetasche in den Farben dunkelgrün und violett.
Atemlos hastete das Mädchen durch die nassen Straßen, benutzte Straßenlaternen
als Hebel, um die Richtung zu ändern, rannte mehrmals fast Leute um, die auf dem
Heimweg waren oder zum Einkaufen gingen, rutschte hin und wieder auf dem nassen
Bürgersteig aus, nur um sich gerade noch zu fangen, Augen und Sinn einzig auf den
Bahnhof gerichtet. Schließlich sah sie die Leuchtreklame, die Taxis vor dem Eingang,
die Schilder von Bus und Straßenbahn. Mit schmerzenden Seiten rannte sie über den
vollen Parkplatz und durch die Haupttür, lief noch etwa fünfzig Meter weit in die Halle
hinein, erst dann verminderte sie ihr Tempo, lief zu einer Anzeigetafel mit den An-
kunfts- und Abfahrzeiten der Züge und versteckte sich dahinter. Sie ließ die Reiseta-
sche fallen, stemmte die Hände auf die Knie und atmete heftig ein und aus, der Mund
trocken vor Angst und Anstrengung, der Körper erschöpft von dem ungewohnten Ren-
nen, die Nerven angespannt bis zum Zerreißen. Die ungepflegten Haare fielen in ihr
Gesicht und versteckten es vor den Menschen um sie herum.
Nach zwei, drei Minuten war sie soweit, daß sie sich wieder aufrichten konnte. Sie
nahm ihre Reisetasche auf, spähte vorsichtig um die Tafel herum, doch sie sah weder
ihren Vater noch Polizei. Beruhigt und noch immer etwas außer Atem bewegte sie sich
tiefer in den Bahnhof hinein, die Ohren und Augen ganz auf die Außenwelt gerichtet.
In einer Ecke entdeckte sie eine Gruppe von Jugendlichen in ihrem Alter, deren
Kleidung ihrer entsprach, auch wenn einige einen saubereren und gepflegteren Ein-
druck machten. Vorsichtig bewegte sie sich auf die Gruppe zu, den Anschein erwek-
kend, als sehe sie sich nur um. Schließlich kam sie knapp zwei Meter entfernt zum
Stehen und tat so, als würde sie auf jemanden warten, doch ihre Ohren verfolgten das
Gespräch der fünf Mädchen und zwei Jungen.
Es war belangloses Zeug: über den neuesten Kinofilm, welcher Laden welchen
Modeschmuck wie teuer anbietet, daß bei McDonalds wieder ein Kind gekotzt hat und
dergleichen. Petra bemerkte, daß ein Mädchen sich nicht an der Unterhaltung beteilig-
te, sondern wie sie angespannt die Gegend beobachtete. Mit einem kurzen Seitenblick
entdeckte sie, daß das Mädchen ebenfalls eine kleine Reisetasche bei sich hatte, die
sie an ihre Seite gepreßt hielt. Das Mädchen war etwas kleiner als sie, aber deutlich
besser genährt: von der Statur her schlank wie Petra, aber bei weitem nicht so dürr und
abgemagert. Sie sah sogar richtig gut aus, stellte Petra neidisch fest. Das Mädchen
hatte ebenfalls lange blonde Haare, jedoch braune Augen und machte einen gutgeklei-
deten und netten Eindruck. Mit dem neuerwachten Instinkt des Gejagten war Petra
sich so gut wie sicher, daß dieses Mädchen auch von zu Hause abgehauen war.
Bevor sie Gelegenheit hatte, die anderen Jugendlichen in Augenschein zu nehmen,
sahen die sieben plötzlich und wie auf Kommando zum Bahnhofseingang hinüber,
dann rannten sie in unterschiedlichen Richtungen los. Petra folgte ihren Blicken und
entdeckte zwei Polizisten, die langsam in die Halle schlenderten. Automatisch rannte
auch Petra los, dem Mädchen nach, von dem sie glaubte, daß sie abgehauen war; ihre
einzige Verbündete in dieser feindlichen Welt. Das Mädchen hatte zwar einen Vor-
sprung, doch Petra ließ sie nicht aus den Augen und folgte ihr durch verwinkelte Gän-
ge, Treppen hinauf und Treppen hinab, bis das Mädchen schwer atmend stehenblieb.
Petra ging langsam auf sie zu und schnappte ebenfalls nach Luft. Das Mädchen mu-
sterte sie kurz von oben bis unten, dann entspannte sie sich sichtlich.
„Hi“, grüßte sie freundlich, aber distanziert.
„Hi“, meinte Petra und blieb etwa einen Meter vor ihr stehen. „Auch abgehauen?“
fragte sie mitfühlend. Das Mädchen nickte. „Ja. Vor zwei Stunden. Und du?“
„Jetzt gerade.“ Die Mädchen blickten sich an und wurden sofort Freundinnen. Bei-
de entdeckten das in der anderen, was sie selbst durchgemacht hatten. „Wie heißt du?“
„Claudia, aber meine Freunde nennen mich Andy. Und du?“
„Petra. Wieso Andy?“
Andy lachte kurz und hell auf. „Mein zweiter Vorname ist Andrea. Ich mag beide
nicht, deswegen habe ich mich Andy getauft. Gefällt mir besser.“
„Kann ich mir denken“, meinte Petra mit einem bitteren Unterton. „Ich wär auch
gern ein Junge.“
„Wem sagst du das“, beklagte Andy sich. „Warum bist du abgehauen?“
„Mein Vater“, sagte Petra leise. „Er... er hat...“ Tränen schossen in ihre Augen.
Andy nahm ihre Hand.
„Schon gut“, sagte sie sanft. Auch ihre Augen waren feucht. „War bei mir genauso.
Scheißkerle, allesamt!“ schloß sie heftig. Petra drückte dankbar die angebotene Hand
und fühlte sich gleich besser.
„Was machen wir denn jetzt?“ fragte sie unentschlossen. Andy zuckte die Schul-
tern, dann holte sie einen mehrfach gefalteten Zettel aus ihrer Jacke. „Der lag an einem
der Schalter.“ Kurzer Neid stieg in Petra auf, als sie Andys Kleidung mit ihrer ver-
glich: warmer, roter Pullover, dicke und teure Blue Jeans, Jacke aus dem gleichen
Stoff, jedoch mit wärmendem Innenfutter, feste, modische schwarze Schuhe. Doch der
Neid verschwand sofort, als sie daran dachte, daß auch die schöne Kleidung Andy
nicht davor bewahrt hatte, wie sie selbst vergewaltigt zu werden.
Andy hatte inzwischen den Zettel auseinandergefaltet und reichte ihn Petra. Petra
überflog ihn kurz, dann las sie ihn aufmerksam, Wort für Wort. Schließlich reichte sie
Andy den Zettel zurück. „Wenn das alles stimmt...“, sagte sie nachdenklich.
„Dann haben wir das große Los gezogen, was?“ lächelte Andy. Petra mußte mitla-
chen.
„Jau“, grinste sie. „Warum hast du noch nicht angerufen?“
„Hab mein Geld vergessen“, sagte Andy lakonisch. „Ich wollte nur raus.“
„Ging mir genauso“, antwortete Petra und fühlte erschrocken nach ihrer Geldbörse.
Sie atmete erleichtert auf, als sie sie in der Jacke entdeckte. Es müßten noch etwas
mehr als zehn Mark drin sein, überschlug sie schnell. „Ich hab Geld. Wollen wir an-
rufen?“
„Willst du hier übernachten?“ fragte Andy mit einem sarkastischen Lächeln. Petra
sah sich kurz um und schauderte.
„Nee, bloß nicht! Wo sind Telefonzellen?“


Knapp zwanzig Minuten später hielt ein dunkler Mercedes mit getönten Scheiben
vor dem Bahnhofseingang. Eine Frau Mitte dreißig stieg aus und hielt Ausschau nach
den beiden Mädchen, die sich hinter der Eingangstür aufhielten, halb versteckt. Als die
Mädchen das Auto sahen, liefen sie schnell hinaus, auf die Frau zu, die sie freundlich
anlächelte. „Kodewort?“ fragte sie als erstes.
„Blaue Sonne“, erwiderten die Mädchen gleichzeitig. Die Frau nickte befriedigt.
„Dann steigt mal ein. Habt ihr alles dabei?“ Die Mädchen nickten und stiegen hin-
ten ein, die Frau vorne. Sie startete den Wagen und fuhr los. Geschickt und sicher
steuerte sie den großen Wagen durch den dichten Abendverkehr, hinaus aus der Stadt
und auf die Autobahn. Die Mädchen auf der Rückbank waren still und schauten hinaus
auf die hell erleuchtete Stadt, die ihnen so viel Kummer und Schmerzen gebracht hatte.
Keine von ihnen trauerte der Vergangenheit nach, keine von ihnen hinterließ Men-
schen, die sie vermissen würden. Durch die Aktionen ihrer Väter waren sie sowieso
sehr isoliert gewesen; sie konnten sich niemandem anvertrauen, sie konnten keine
Freundinnen nach Hause einladen (und Freunde schon gar nicht), und sie durften nicht
nach draußen. Vater wollte es so, und Tochter mußte gehorchen. Gehorchte Tochter
nicht, gab es Prügel, oder noch Schlimmeres. Petra verzog kurz das Gesicht, als ein
kurzer Stich durch ihren Unterleib fuhr, das Abschiedsgeschenk ihres Vaters. Sie
dankte allen bekannten und unbekannten Mächten dafür, daß er wenigstens ein Kon-
dom benutzt hatte; ein Kind von ihrem Vater zu bekommen, dem sie Mutter und
gleichzeitig Schwester gewesen wäre, hätte sie nicht verkraftet.
Trotzdem, die Schmerzen blieben. Ihr Vater hatte keine Rücksicht darauf genom-
men, daß seine Tochter so schmal gebaut war; er hatte sie genommen, benutzt und
dann mit ihren Schmerzen und ihrer Trauer alleine gelassen. Seit einem Jahr jeden
Abend, am Wochenende sogar noch öfter. Petra sah hinaus und erkannte plötzlich, daß
sie in Sicherheit war, daß ihr Vater ihr nichts mehr anhaben konnte. Diese Erkenntnis
löste einen sofortigen Ansturm von schmerzlösenden Tränen aus. Schluchzend kauerte
Petra sich in den Sitz und weinte den lang angestauten Kummer hinaus. Sie merkte
kaum, daß Andy neben sie rutschte und ihrem Arm tröstend um sie legte, aber die be-
schützende Geste tat ihr dennoch gut.
Schließlich versiegten die Tränen. Dankbar nahm Petra das Taschentuch an, das
die Frau ihr nach hinten reichte, und putzte sich kräftig und geräuschvoll die Nase. Das
benutzte Tempo steckte sie in ihre Jacke, dann lächelte sie Andy an.
„Danke“, sagte sie leise.
„Jederzeit“, lächelte ihre neue Freundin. „Keine Ahnung, wann es bei mir losgeht,
dann kannst du dich ja revanchieren.“
Petra lächelte zurück. „Wie lange hast du... ich meine, seit wann...“
„Seit zwei Monaten“, sagte Andy nüchtern. „Während er auf mir ackerte, hab ich
an meine Hausaufgaben gedacht und ihn machen lassen, aber heute hat er mir sein
Ding hinten rein gesteckt. Daß es hinterher geblutet hat, interessierte das Schwein
überhaupt nicht.“ Andy zuckte die Schultern. „Da hab ich eben meine Sachen gepackt,
und als er scheißen ging, war ich weg. Und bei dir?“
„Seit einem Jahr“, sagte Petra leise. „Seit meinem zwölften Geburtstag. Er kam
abends zu mir ans Bett und meinte, er hätte noch ein Geschenk für mich.“ Sie lachte
kurz und bitter auf. „Das hätte er ruhig behalten können. Na ja, und seitdem ist er je-
den Abend zu mir gekommen. Am Wochenende mußte ich in seinem Bett schlafen,
und nach jedem Essen ist er...“ Ihre Stimme versagte.
„Reicht“, sagte Andy leise. „Ich kann’s mir vorstellen.“ Sie schüttelte ungläubig
ihren Kopf. „Man sollte die Wichser alle kastrieren!“
„Ich mach mit!“ grinste Petra, der Andys ruhige Art mehr Auftrieb gab als jedes
Gespräch mit einem Psychologen.
„Nix!“ lachte Andy. „Den Spaß werd ich mit niemandem teilen.“ Die Mädchen
lachten, und viel von ihrer Anspannung verschwand. „Wo fahren wir eigentlich hin?“
fragte Andy neugierig. Die Frau am Steuer nannte den Namen eines Ortes, den weder
Petra noch Andy jemals gehört hatten. „Ist auch nur ein Dorf. Ein sehr kleines“, sagte
die Frau, ohne den Blick von der Straße zu nehmen.
„Wie ist es denn da?“ wollte Petra wissen.
„Ich bin nur der Fahrer“, lachte die Frau. „Ihr werdet alles darüber erfahren, wenn
ihr dort seid. Aber eins kann ich euch sagen: ich hole jedes Jahr etwa zwanzig oder
dreißig Mädchen wie euch irgendwo ab, alle total am Ende, und wenn ich sie dann ein
paar Monate später wiedersehe, sind sie fröhlich und ausgelassen, machen Unfug und
lachen, wie junge Mädchen lachen sollten. Also denk ich mir, daß es da ganz gut sein
muß.“ Sie sah nach hinten und lächelte die Mädchen beruhigend an. „Wenn ich eine
Tochter hätte, die das hinter sich hat, was ihr durchgemacht habt, würde ich sie auch
dorthin bringen. Zufrieden?“ Beruhigt nickten die Mädchen.
„Wie lange fahren wir denn noch?“ fragte Andy höflich.
„Etwa fünfzig Minuten“, antwortete die Frau. „Entspannt euch einfach. Wollt ihr
etwas Musik hören?“ Petra zuckte die Schultern, Andy verneinte. „Im Moment nicht,
danke.“
„Sagt Bescheid, wenn“, sagte die Frau. „Falls ihr Durst habt, dann...“
„Oh ja!“ antworteten beide Mädchen im Chor. „Wußte ich’s doch“, lachte die Frau
und holte zwei Dosen Mineralwasser aus dem Handschuhfach. „Macht die vorsichtig
auf, wahrscheinlich spritzt es wie verrückt.“ Petra und Andy nahmen die Dosen entge-
gen, legten jeweils eine Hand über die Öffnung und zogen den Verschluß mit der ande-
ren ganz langsam auf. Heftiges Zischen ertönte, und beide Mädchen kicherten er-
schrocken. „Ich hab euch gewarnt“, lachte die Frau und reichte weitere Taschentücher
nach hinten. Gierig tranken die Mädchen den warmen, aber dennoch erfrischenden In-
halt der Dosen.


Ein Stau war schuld daran, daß der Wagen sein Ziel erst zwei Stunden später als
geplant erreichte. Neugierig blickten die Mädchen auf, als der Wagen auf freier Strek-
ke das Tempo verringerte und in einen schmalen Feldweg einbog, der gerade in einen
Wald führte. Der Lichtkegel der Scheinwerfer huschte über ein Schild, aber viel zu
schnell, als daß die Mädchen etwas lesen konnten. Nach wenigen hundert Metern
blieb die Frau an einem Tor stehen, das den einzigen Durchgang in einer hohen und
langen Mauer bildete. Die Mädchen sahen eine Kamera in Höhe des Autofensters. Die
Frau ließ das Fenster herunter und drückte auf einen Knopf unterhalb der Kamera.
Kurz darauf schwenkte die Kamera auf die Rückbank, dann öffnete sich das Tor. Die
Mädchen blickten aus dem Rückfenster und sahen, wie das Tor sich hinter ihnen wie-
der schloß. Nervös sahen sie nach vorne und entdeckten mehrere Lichter, die durch die
Bäume schienen. Als sie näher kamen, formten die Lichter sich zu einem sehr großen,
mehrstöckigen Haus, in dem fast alle Fenster erleuchtet waren. Der Mercedes hielt vor
der breiten Treppe, die zu dem Eingang führte. Die Frau schaltete den Motor aus und
drehte sich mit einem warmen Lächeln zu den Mädchen um.
„Willkommen in eurem neuen Heim“, sagte sie herzlich.





1


Fröhliches Lachen und helles Geschnatter begrüßte die beiden Mädchen, die stau-
nend in der großen Eingangshalle standen und sich umsahen. Zur Linken und zur
Rechten befanden sich jeweils mehrere Türen, in der Wand vor ihnen, neben der brei-
ten Treppe, die nach oben führte, nur eine Tür, und genau aus dieser Richtung kamen
die gedämpften Geräusche. In der Halle selbst war eine riesige Garderobe, an der sehr
viele Jacken, Mäntel und Regenschirme hingen; unglaublich viele Schuhe standen auf
dem Boden darunter. Einige bequem aussehende Sessel standen an den Wänden, zwi-
schen den Türen. Auf dem Boden lag ein robuster Teppich, direkt hinter der Ein-
gangstür nahm eine sehr große Fußmatte den Schmutz von draußen auf. Die Frau
führte die beiden Mädchen in ein sechs mal acht Meter großes Zimmer zur Linken, in
dem eine Ledersitzgruppe um einen niedrigen Tisch herum stand. Außer einem Regal
mit sehr vielen Ordnern und einem großen, imposanten Schreibtisch, auf dem ein Te-
lefon, ein Computer und ein kleiner Drucker standen, und einem großen, hohen Büro-
stuhl dahinter war kein weiteres Möbel in dem Raum. Das Licht kam von der Decke,
aus einer nach unten verkleideten Lampe, die den Raum in ein helles, aber angenehmes
Licht tauchte. Das Fenster war mit einer Jalousie verdeckt.
„So, ihr zwei“, sagte die Frau munter. „Setzt euch hin; es kommt gleich jemand,
der sich um euch kümmern wird. Getränke findet ihr in dem Schrank da hinten. Dies-
mal sind sie sogar kalt“, lachte sie die Mädchen an. Gierig stürzten sich Petra und An-
dy auf den bezeichneten Schrank, öffneten ihn und fanden jede Menge Flaschen Cola,
Fanta und Sprite. Im oberen Fach waren Gläser.
„Was nimmst du?“ fragte Andy.
„Cola“, sagte Petra sehnsüchtig.
„Ich auch.“ Andy nahm eine (tatsächlich eiskalte) Flasche heraus, Petra griff sich
zwei Gläser. Als die Mädchen sich umdrehten, waren sie alleine; die Frau hatte das
Zimmer bereits verlassen. Unsicher blickten sich die Mädchen an. Andy faßte sich als
erste. „Erst mal was trinken“, sagte sie trocken. „Ich komme um vor Durst. Und ich
muß mich setzen. Ich spür meine Beine kaum mehr nach der ganzen Rennerei.“
„Gute Idee“, lächelte Petra. Die Mädchen ließen sich auf das Sofa fallen. „Boah,
ist das bequem!“ entfuhr Petra anerkennend. Andy zuckte nur die Schultern, sie war
diese Qualität gewohnt.
Nachdem die Gläser gefüllt waren und die Mädchen ihren ersten Durst gestillt
hatten, sahen sie sich im Raum um. Andy stand auf und ging auf das Regal mit den
Ordnern zu. „Zugänge ‘97“, las sie laut vor. „Abgänge ’97. Zugänge ’96. Und so
weiter, und so weiter... Petra, das geht ja zurück bis 1990!“ Petra stand ebenfalls auf
und ging zu Andy. Ihre Augen flogen über die Schilder der Ordner.
„Tatsächlich“, stimmte sie zu. „Da, der ist von diesem Jahr.“ Sie griff nach dem
Ordner, um ihn herauszunehmen, doch noch bevor sie ihn greifen konnte, kam eine
quakende Stimme aus der Wand.
„Na, na, na!“ sagte die Stimme. Die Mädchen zuckten erschrocken zusammen,
dann lachten sie los.
„Klingt wie Donald Duck“, grinste Andy. Sie hob ihre Hand zu dem Ordner. Etwa
zwei Zentimeter davor erklang die Stimme wieder: „Na, na, na!“
„Ist ja cool!“ lachte Petra. „Laß mich nochmal!“ Sie griff nach dem Ordner, und
wieder ertönte das Quaken. Die Mädchen lachten begeistert.
„Ist doch besser als ein Verbotsschild, oder?“ sagte eine warme Stimme. Erschrok-
ken fuhren die Mädchen herum und sahen einen Mann von vielleicht vierzig Jahren in
der Tür stehen. Er war fast zwei Meter groß, reichte mit den Haaren bis knapp an den
Türrahmen heran, hatte kurze, schwarze Haare, helle, blaue Augen, die immer zu la-
chen schienen, und eine kräftige Statur. Petra hatte sofort Vertrauen zu ihm; als sie ihn
ansah, spürte sie die Ruhe und Sicherheit, die von diesem Mann ausging.
Andy ging es ähnlich, sie schaute den Mann mit großen Augen bewundernd an.
„Ich fand das Quaken besser als eine Alarmanlage oder dicke Schilder, auf denen
steht: ‘Finger weg’.“ Der Mann betrat den Raum und schloß die Tür hinter sich. „Setzt
euch doch, bitte“, forderte er die Mädchen auf. Schnell kamen sie der Aufforderung
nach. Der Mann setzte sich auf das Sofa ihnen gegenüber hin.
„Ich bin Mark“, sagte er in seiner warmen, angenehmen und leisen Stimme. „Ihr
könnt ‘Sie’ oder ‘Du’ zu mir sagen, mir ist das gleich. Ihr seid sicher neugierig, wo ihr
seid, und was mit euch geschieht.“ Beide Mädchen nickten. „Fangen wir am besten
ganz vorne an“, sagte der Mann und holte eine bereits gestopfte Pfeife aus seiner Jak-
kentasche. Er zündete sie an, und dicke, angenehm riechende Wolken erfüllten den
Raum.
„Ich selbst bin von zu Hause abgehauen, als ich vierzehn war“, erzählte der Mann
im Plauderton. „Ich hab mich zwei Jahre als Strichjunge durchgeschlagen und so das
Leben auf der Straße kennengelernt.“ Die Mädchen blickten ihn erschrocken an, doch
er lächelte nur. „War halb so wild, ich hab es ganz gut verkraftet. Auf jeden Fall habe
ich gesehen, was mit jungen Menschen passiert, wenn sie auf sich gestellt sind. Die
Idee hierzu“ - er deutete auf den Raum und die Räume dahinter und darüber - „kam
mir, als ich von der Straße wegwollte. Ich hatte das Glück, beim Jugendamt auf offene
Ohren zu stoßen, und mir wurde nach meiner Ausbildung zum Pädagogen ein kleines
Häuschen übergeben, in dem ich etwa vier Jugendliche aufnehmen konnte. Mit viel
Einsatz und noch mehr Idealismus ist das Ganze dann über Jahre hinweg gewachsen,
bis ich 1989 total übermütig wurde und ganz frech Großkonzerne angeschrieben habe,
ob sie nicht Lust hätten, ein Projekt wie dieses hier zu sponsoren. Ihr wißt, was ein
Sponsor ist?“ Andy nickte, Petra schüttelte den Kopf. „Ein Sponsor“, erklärte Mark
Petra, „ist ein Mensch, eine Gruppe oder eine Firma, die eine bestimmte Sache unter-
stützt, also dafür Geld ausgibt, und als Gegenleistung dafür damit werben darf. In mei-
nem Fall kommt das Geld von zwei großen Firmen, einem Chemiewerk und einer Mö-
belfirma, die in ganz Deutschland vertreten ist. Die geben mir das Geld, was ich hier
reinstecke, und dafür dürfen sie mit ihrem sozialen Engagement werben. Ungefähr
klar?“ Petra nickte, begeistert von Marks Art, sie nicht als kleines Kind zu behandeln.
„Gut. Also 1989 habe ich das ganze angeleiert, durch einen sehr großen Zufall kam ich
an dieses Haus hier, und ein Jahr später kamen die ersten Mädchen hier an. Aber das
habt ihr ja schon selbst gelesen, nämlich auf den Ordnern.“ Er zwinkerte den Mädchen
zu, und beide kicherten nervös.
„Sind nur Mädchen hier?“ fragte Andy. Mark nickte. „Ja, hier sind nur Mädchen.
In einem ähnlichen Haus, etwa dreißig Kilometer von hier, gibt es dafür nur Jungs. Die
Trennung war mir sicherer.“
„Warum?“ fragte Petra.
„Weil“, erklärte Mark, „hier wie in dem anderen Haus viele Jugendliche sind, die
ziemlich böse Erfahrungen gemacht haben.“ Mark sah Petra eindringlich an.
„Möchtest du ab morgen früh einen Freund haben? Möchtest du, daß ein Junge um
dich herumschleicht und dich anmacht?“ Petra schüttelte angewidert den Kopf. „Oder
du?“ Mark sah Andy an, die eine ähnliche Reaktion zeigte. „Genau das ist der Grund.
Ihr Mädchen sollt erst einmal unter euch sein, und die Jungs unter sich. Wenn ihr euch
hier eingelebt habt, werden wir uns über das unterhalten, was ihr hinter euch habt. Es
ist sehr wichtig, daß ihr darüber redet. Wenn ihr es verdrängt, wird es euch euer gan-
zes Leben lang belasten, aber wenn ihr es euch von der Seele redet, wird es irgend-
wann nur noch ein böser, aber längst verschmerzter Alptraum sein.
Weiterhin haben wir (mit wir meine ich einen ganzen Trupp von Menschen wie
mich, Männer wie Frauen) auch noch eine andere Form der Trennung eingeführt. Hier,
in diesem Haus, sind nur Mädchen, die zu Hause mißbraucht worden sind. In dem
Haus für die Jungs, das ich erwähnt hatte, sind alle auf den Strich gegangen. Für jede
Gruppe haben wir ein Institut wie dieses hier. Sinn ist der, daß dadurch eine gemein-
same Basis geschaffen wird. Außerdem macht es bestimmte Sachen einfacher.
Habt ihr noch Fragen?“
„Was passiert jetzt mit uns?“ wollte Andy wissen.
„Als erstes bekommt ihr Zimmer hier. Wollt ihr zusammen wohnen, oder lieber mit
einem anderen Mädchen?“ Petra und Andy schauten sich kurz an.
„Zusammen“, sagten dann beide. Mark lächelte.
„Gut. Wir haben noch einige freie Zimmer. Nachdem ihr eingezogen seid, be-
kommt ihr neue Namen.“ Die Mädchen schauten Mark erschrocken an. „Oder möchtet
ihr, daß eure Eltern herausfinden, wo ihr steckt, und euch wieder zurückholen?“
„Nein!“ - „Auf keinen Fall!“
„Seht ihr“, lächelte Mark. „Da ihr abgehauen seid, habt ihr sowieso keinen Men-
schen mehr, an den ihr euch wenden könnt, so hart das auch klingt. Aber es ist so. Ihr
dürft euch eure neuen Namen selbst aussuchen, das können wir am Computer da hin-
ten machen. Sobald ihr euch an eure neuen Namen gewöhnt habt, fängt das normale
Leben für euch wieder an. Also zur Schule gehen, Hausaufgaben machen und so wei-
ter. Jeden Nachmittag um drei hält hier ein Bus, der euch in die nächste Stadt fährt und
um sieben wieder zurückbringt, falls ihr mal einkaufen wollt oder so was. Viele der
jüngeren Mädchen ziehen es allerdings vor, hierzubleiben.“
„Kann ich verstehen“, sagte Petra leise. Auch Andy nickte.
„Das liegt bei euch“, lächelte Mark. „Die Schule ist übrigens hier im Haus. Ihr
könnt hier den Realschulabschluß machen oder die Mittlere Reife, das hängt ganz da-
von ab, wie gut ihr mitmacht. Ihr müßt folgendes verstehen“, sagte Mark, plötzlich
ernst geworden. „Hier, in diesem Haus, seid ihr geschützt vor dem, was hinter euch
liegt. Mit den neuen Namen wird euch niemand finden, das ist - so unglaublich es
klingt - mit den Behörden so vereinbart und abgesegnet worden. Wir hatten im ersten
Jahr das Problem, daß manch ein Mädchen zwar hier unterkam, aber die Eltern setzten
Himmel und Hölle in Bewegung, um das Kind wiederzubekommen. Wir haben zwölf
dokumentierte Fälle, in denen das Mädchen sich umgebracht hat, kurz nachdem es
wieder zu Hause war.“ Petra und Andy atmeten erschrocken ein. „Bei den Jungs wa-
ren es neun in den ersten zwölf Monaten. Deshalb die Namensänderung.“ Jetzt lä-
chelte Mark wieder. „Nachdem ihr umgetauft worden seid, wird euch niemand mehr
finden. Selbst wenn eure Eltern eine Vermißtenanzeige aufgeben und ein Polizist euch
anhält, seid ihr sicher. Ihr seid ja nicht die, die gesucht wird, auch wenn ihr es seid.“
Petra und Andy mußten diesen Satz erst einmal gründlich überdenken, doch dann lä-
chelten beide spitzbübisch. „Ich sehe, ihr habt es kapiert“, lachte Mark. „So. wollt ihr
euer Zimmer sehen, oder liegt euch noch was auf dem Herzen?“
„Ja“, meinte Petra schüchtern und deutete auf ihre Kleidung. „Viel mehr hab ich
nicht, und was ich hab, sieht alles so aus wie das da.“
„Das werden wir morgen klären“, beruhigte Mark sie. „Hier im Haus tragt ihr ein
hübsches Kleid, alles andere können wir in der Stadt besorgen.“
„Apropos Stadt“, unterbrach Andy. „Wo sind wir hier eigentlich?“
„In der Nähe von Konstanz“, schmunzelte Mark. „Weit genug weg, um unsere Ru-
he zu haben, aber nah genug, daß wir schnell in der Stadt sind. Der Bus braucht etwa
zwanzig Minuten bis ins Zentrum.“ Er sah die Mädchen kurz an, und in seinen Augen
blitzte ein Lachen auf. „Ihr bekommt im Monat zwanzig Mark Taschengeld. Ist nicht
viel, aber so verringern wir das Risiko, daß Drogen oder Alkohol gekauft werden.“ Er
hob abwehrend die Hände. „Gut, ihr nehmt keine, aber manche tun es. Alles, was ihr
braucht, wird von uns gestellt. Aber das seht ihr ja nachher auf euren Zimmern. Wenn
ihr außer der Reihe etwas braucht, meldet euch, und wir sehen zu, daß ihr es be-
kommt.“ Wieder lachten seine Augen schelmisch auf. „Außer einem Reitpferd oder
einem Auto, natürlich.“ Die Mädchen kicherten, und Andy ließ ein „Schade!“ los.
„So, das war die Einleitung. Wollt ihr euch noch das Haus ansehen, oder gleich auf
eure Zimmer?“
Petra und Andy sahen sich kurz an. „Erst umsehen“, meinte Petra dann. Mark
nickte und stand auf. „Gut, dann kommt mit. Laßt eure Taschen hier, wir kommen
gleich zurück.“ Er führte die Mädchen hinaus und ging zu der Tür, von der noch immer
helle Stimmen zu hören waren, doch Mark öffnete die Tür nicht, sondern ging unter
die breite Treppe. Als Petra und Andy ihm folgten, sahen sie eine weitere, jedoch
schmalere Treppe, die nach unten führte. Alles war hell erleuchtet.
„Hier unten“, sagte Mark, als sie in einem langen, breiten und hellen Flur standen,
„sind unsere Sporträume. Hier links sind Umkleideräume, Duschen und eine Sporthal-
le, auf der rechten Seite kleinere Räume für Squash, Boxen und Kampfsport. Den
Gang durch, am Ende, findet ihr ein kleines Schwimmbad. Außerdem haben wir noch
einen Raum mit zwei Waschmaschinen und zwei Trocknern, für die alltägliche Wä-
sche.“ Er zeigte den Mädchen jeden einzelnen Raum. Alles blitzte vor Sauberkeit, und
die vorhandenen Sportgeräte wiesen Spuren intensiver Benutzung auf. „In der Sport-
halle könnt ihr so ziemlich alles machen: Leichtathletik, Volleyball, Basketball, Hand-
ball, Fußball, Turnen, Geräteturnen... Was auch immer.“
„Ist ja geil!“ entfuhr Petra staunend.
„Ja, so kann man sagen“, schmunzelte Mark. „Squash ist für die Mädchen interes-
sant, die vor Aggression fast platzen. Boxen und Kampfsport kommt ziemlich gut an;
viele Mädchen sind froh, sich verteidigen zu können.“
„Das will ich auch lernen“, sagte Petra eifrig.
„Kannst du“, lächelte Mark. „Zweimal in der Woche kommen Trainer, für jeweils
vier Stunden. Ich denke, wir kriegen dich noch unter.“ Er sah Andy an. „Du auch?“
„Weiß noch nicht“, sagte sie unentschlossen.
„Laß dir Zeit und überleg es“, erwiderte Mark freundlich. „Du kannst dir auch ger-
ne ein paar Trainingsrunden ansehen. So, das waren die Räume hier unten. Gehen wir
wieder hoch.“ Die Mädchen folgten ihm ins Erdgeschoß. „Mein Büro habt ihr ja schon
gesehen; letzte Tür auf der linken Seite. Direkt daneben ist ein Untersuchungsraum,
und ganz vorne eine Toilette.“
„Untersuchungsraum?“ fragte Andy.
„Genau. Jedes Mädchen hier wird bei der Ankunft oder spätestens am Tag danach
ärztlich untersucht. Ihr wißt, warum.“ Beide Mädchen nickten kummervoll. „Und dann
je einmal im Monat, bei Bedarf auch öfter. Es kommt übrigens eine Ärztin“, fügte er
beruhigend hinzu. „Auf der rechten Seite der Halle sind die Essensräume. Eigentlich
ist es ein großer Raum; wir haben die Wände rausgebrochen und durch stützende
Säulen ersetzt, deswegen die drei Türen. Ganz vorne, die einzelne Tür, führt zum Auf-
enthaltsraum, wo die Mädchen ihre meiste Zeit verbringen. Ihr könnt es ja hören.“ Pe-
tra und Andy nickten lächelnd, das Gezwitscher von Mädchenstimmen war wirklich
nicht zu überhören, auch nicht das fröhliche Lachen. „Gut. In den beiden oberen
Stockwerken sind die Zimmer. Wir haben auf jedem Stockwerk 20 Zimmer mit je zwei
Betten, also Platz für 80 Mädchen.“
„Wow!“ meinte Andy ehrfürchtig. „Sind alle belegt?“
„Nein, aber fast. Im Moment sind - mit euch beiden - 65 Mädchen hier. Vor zwei
Wochen haben uns sechs Mädchen verlassen, die volljährig geworden sind und eine
Ausbildung begonnen haben. Wir haben diesen Mädchen kleine Wohnungen besorgt,
die sie sich am Anfang noch teilen; erst wenn sie auf eigenen Füßen stehen können,
ziehen sie in jeweils eigene Wohnungen. Nächsten Monat werden übrigens noch fünf
weitere gehen, aber ich denke, daß über Weihnachten wieder einige dazukommen
werden. Ist jedes Jahr so.“ Marks Stimme klang sachlich, aber die Mädchen spürten,
wieviel ihm seine Arbeit bedeutete. Und wieviel ihm Menschen bedeuteten.
„So, dann holt mal eure Taschen, ich zeige euch dann euer neues Zimmer.“ Schnell
liefen Petra und Andy los, ihre Taschen holen, dann führte Mark sie in das erste Ge-
schoß. Oben angekommen, ging er nach rechts und blieb vor einem Zimmer mit der
Nummer 11 stehen. Er griff in seine Tasche und holte zwei Schlüssel heraus, von de-
nen er jedem Mädchen einen gab. „Das sind eure“, sagte er. „Ich habe natürlich auch
einen Schlüssel für jedes Zimmer, aber den benutze ich nur im Notfall. Denkt bitte
daran, die Tür abzuschließen, wenn niemand mehr drin ist. Wann habt ihr Geburts-
tag?“
„Im Mai“, antwortete Andy. „Heute“, sagte Petra traurig. Marks Lächeln ver-
schwand. „Das tut mir leid“, sagte er leise zu Petra. „Ich werde mir etwas ausdenken
für dich.“ Petra lächelte schwach. „Wer möchte aufschließen?“
Andy verzichtete großzügig und ließ Petra den Vortritt. Nervös steckte sie den
Schlüssel in das Schloß, drehte einmal, dann noch einmal, dann war die Tür offen.
Mark griff an ihr vorbei und schaltete das Licht an.
„Oh!“ machten beide Mädchen im Chor. Vor ihnen lag ein heller, freundlicher
Raum, etwa sechs Meter breit und sieben Meter lang. Ein sehr großes Fenster in der
Mitte der gegenüberliegenden Wand bildete eine gedachte Trennlinie im Raum. Zu
beiden Seiten des Fensters standen stabile Schreibtische mit massiven Stühlen, an den
beiden Längswänden standen jeweils ein Bett und ein großer Schrank mit mehreren
großen und kleinen Türen und vielen offenen Regalen. Die Möbel waren aus hellem
Holz, die Wände in einem leicht gebrochenen Weiß gestrichen, der Fußboden war mit
robustem, hellgrauem Teppich belegt. In einer Ecke neben der Tür stand eine Sitz-
gruppe mit zwei großen Sofas, zwei Sesseln und einem breiten, flachen Tisch mit einer
Ablage unter der Tischplatte. Der Sitzgruppe gegenüber war eine Tür, auf die Mark
nun zuging.
„Hier ist das Bad“, sagte er und öffnete die Tür. Die Mädchen traten vorsichtig ein
und staunten erneut. Eine große Wanne mit breiten Rändern stand neben einer Dusche,
deren Wände aus Milchglas bestanden, über dem riesigen und sehr breiten Waschbek-
ken war ein großer Spiegelschrank befestigt, neben der Toilette war noch ein kleine-
res, tieferes Becken, ein Bidet. Zu beiden Seiten des Waschbeckens waren Handtuch-
halter befestigt, aus dem gleichen blitzenden Chrom wie alle anderen Armaturen in
dem Badezimmer. Wände und Boden waren mit hellbraunen Fliesen bedeckt, verein-
zelt durch Fliesen mit Baummotiven unterbrochen. An der Wand der Wanne gegen-
über war ein großer Schrank.
„Die Räume sind bewußt so groß gehalten“, unterbrach Mark das ehrfürchtige
Staunen der Mädchen. „Immerhin werdet ihr wahrscheinlich mehr als fünf Jahre hier
wohnen. Das heißt natürlich, wenn ihr hier bleiben wollt. Ihr könnt jederzeit gehen,
aber ich schätze, es wird euch hier gefallen.“
„Das glaube ich auch!“ sagte Andy spontan und aus vollem Herzen. Petra konnte
nur nicken; was sie sah, hatte sie sich in ihren kühnsten Träumen nicht vorstellen kön-
nen. Es war ein Paradies nach dem, was sie hinter sich hatte.
„Zufrieden?“ fragte Mark mit einem breiten Lächeln. Das heftige Nicken beider
Mädchen war Antwort genug. „Sehr schön. Dann räumt mal eure Sachen ein. Hier in
dem Schrank findet ihr Bademäntel, Handtücher und so weiter. Schlaft euch aus; Früh-
stücken könnt ihr von halb sieben bis halb neun. Morgen...“ Ein Piepsen unterbrach
Mark. „Entschuldigt bitte“, sagte er zu den Mädchen, griff in seine Jacke und holte ein
flaches Telefon heraus. „Ja?“ meldete er sich, dann hörte er eine Weile zu. Ohne auf
die Mädchen zu achten, ging er in ihr Zimmer und setzte sich auf ein Sofa. Von der
Ablage unter dem Tisch nahm er sich einen Notizblock und einen Kugelschreiber,
dann schrieb er von Zeit zu Zeit etwas mit. „Okay“, sagte er dann in seiner warmen
Stimme, die jetzt sehr mitfühlend klang. Petra und Andy erkannten, das ein weiteres
Mädchen anrief. Gebannt setzten sie sich auf das andere Sofa.
„Nein“, sagte Mark. „Du hast völlig richtig gehandelt. Bist du sicher, daß du nicht
mehr nach Hause willst? ... Ja, dachte ich mir, aber ich muß das fragen. Gut, Sandra,
wie alt bist du? Fünfzehn, aha. Versteck dich noch eine halbe Stunde, dann holt dich
jemand ab. Schaffst du das? Eine halbe Stunde nur, dann bist du in Sicherheit. ... Ja,
dachte ich mir. Paß auf, wenn du in das kleine Bistro in der Nähe von dem großen Ki-
no gehst, wird dich so schnell niemand finden. Was? ... Macht nichts. Die Frau, die
dich abholt, wird dein Essen bezahlen. Mach dir darüber bloß keine Sorgen. Merk dir
bitte folgende Worte.“ Mark flüsterte etwas, was Petra und Andy nicht verstehen
konnten. „Wiederhole bitte. ... Genau. Die Frau wird dich danach fragen. Alles weitere
wird sie dir sagen. ... Na komm, wird schon werden. Wenn du die nächsten dreißig
Minuten überstehst, hast du es hinter dir. ... Ja ... Ja... Nein, darum kümmern wir uns.
... Ja, auch darum. Wir haben einen Arzt im Haus. Wie siehst du aus? Haarfarbe, Grö-
ße und so weiter, damit die Frau dich erkennt? ... Ja, hab ich alles. Hast du die Kode-
wörter? ... Genau. Gut, Sandra. Dreißig Minuten, okay? Halt die Öhrchen steif!“ Mark
drückte einen Knopf auf seinem Telefon, dann einige andere. Nach einigen Sekunden
meldete sich offenbar jemand.
„Mark hier. Guten Abend, Daniela. Ein Mädchen aus...“ Mark nannte Ort, Straße
und Treffpunkt. „Alter: 15, Größe: knapp 1 Meter 70, kurze braune Haare, braune Au-
gen, weiße Jeans, gelber Pulli, brauner Mantel. Ziemlich böse Wunden am Rücken und
Po, Prellungen im Gesicht. Informierst du das Heim, daß ihr kommt? ... Klar, du auch.
Bis dann.“ Er drückte wieder einen Knopf, dann steckte er das Telefon zurück in die
Jacke. Für einen Moment zog Wut über sein Gesicht, dann hatte er sich wieder gefan-
gen. „Okay“, sagte er in seiner üblichen freundlichen Stimme zu Petra und Andy.
„Hier vorne in dem Schrank“ - er zeigte auf eine Tür - „findet ihr einen kleinen Kühl-
schrank mit Getränken. Falls ihr Hunger habt...“ Er sah die Mädchen fragend an, doch
beide verneinten. „Gut. Wie gesagt, morgen gibt es ein leckeres Frühstück für euch,
damit ihr - und vor allem du“ - er schaute auf Petra - „wieder zu Kräften kommt.“
„Was ist denn mit dem Mädchen passiert, das angerufen hat?“ fragte Andy neugie-
rig. Mark schaute sie ausdruckslos an.
„Ausgepeitscht und verprügelt. Denkt nicht darüber nach, ja? Ihr seid sicher hier,
und diese Sandra wird es auch gleich sein. Nur darauf kommt es an.“ Er stand auf und
ging zur Tür. „Falls ihr noch irgend etwas braucht, findet ihr mich in meinem Büro.
Ansonsten eine gute Nacht.“
„Ja, danke“, sagte Andy. „Auch gute Nacht“, meinte Petra. „Und... danke!“
Mark lächelte kurz. „Schon gut. Erholt euch erst mal.“ Leise zog er die Tür hinter
sich zu. Andy schüttelte den Kopf. „Ausgepeitscht! Stell dir das mal vor!“
„Lieber nicht“, sagte Petra und schauderte. „Welche Seite möchtest du?“
„Die, wo der Kühlschrank ist“, grinste Andy, und Petra lachte.
„Von mir aus. Dann hab ich die Seite, wo die Stereoanlage steht.“
„Damit kann ich leben“, lächelte Andy gutmütig. „Mir ist egal, was für Musik
läuft. Ich hör alles gleich gern.“ Die Mädchen begannen, ihre Sachen einzuräumen.
„Schau mal“, sagte Petra plötzlich aufgeregt, als sie eine hohe Tür geöffnet hatte.
Sie griff in den Schrank und holte ein hübsches Kleid heraus, das sie vor ihren Körper
hielt. „Sieht das nicht herrlich aus?“ Das Kleid, was Petra in der Hand hielt, war die
Uniform des Hauses: ein knielanges Kleid aus königsblauem Stoff, mit aufgesetztem
weißen Kragen und zwei Taschen an den Hüften. Ein leichtes Gummiband in Höhe der
Taille sorgte für Halt, zwei weite, kurze Ärmel für die „Belüftung“. Ein leichter V-
Ausschnitt ließ den Hals frei, der Reißverschluß war auf dem Rücken.
„Echt niedlich“, kicherte Andy. „Ich trag sonst keine Kleider, ich komm mir be-
stimmt blöd darin vor.“
„Besser als das, was ich habe, ist es allemal“, sagte Petra leise und strich leicht
über den Stoff. „Ist das schön weich!“ staunte sie.
„Guck mal hier!“ rief Andy aus, die ihre Schränke ebenfalls geöffnet hatte.
„Nachthemden, lange und kurze Pyjamas. Alles da!“
„Bei mir auch! Und Strümpfe und Hausschuhe! Daneben sehen meine Sachen noch
schäbiger aus.“ Sie drehte sich zu Andy um. „Glaubst du, daß wir neue Sachen krie-
gen?“
„Hat sich so angehört“, meinte Andy trocken. „Erst mal baden. Ich muß mir den
ganzen Müll abwaschen!“ Schnell zog sie sich aus und lief ins Bad, während Petra
weiter ihre Sachen einräumte. Als sie fertig war, schaltete sie die Musikanlage ein und
suchte ihren Lieblingssender, doch sie fand ihn nicht. Ihr Blick fiel auf einen kleinen
Zettel an der Regalwand, wo das Radio stand. Es war eine Liste aller Sender und de-
ren Position. Vorsichtig drückte Petra die Ziffern 2 und 1, und auf der Anzeige des
Radios erschien der Name des Senders. „Na also“, sagte sie zufrieden und drehte die
Musik etwas leiser. Dann ging sie zu ihrem neuen Bett und ließ sich darauf fallen.
Schnell zog sie ihre Schuhe aus und stellte sie ordentlich unter das Bett, dann legte sie
sich lang hin.
„In Sicherheit“, dachte sie und fing wieder an, zu weinen. „Jetzt bin ich in Sicher-
heit!“

* * *

Petra erwachte durch ein ungewohntes Rauschen. Sie schlug die Augen auf und
fand sich in einem ihr völlig unbekannten Zimmer wieder. Erschrocken setzte sie sich
auf, dann setzte die Erinnerung ein. Richtig, dachte sie, ich bin ja in dem... was auch
immer. Sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Aus dem Badezimmer hörte sie
das Rauschen und Plätschern der Dusche. Andy, dachte Petra. Sie schaute an sich her-
unter und stellte fest, daß sie die ganze Nacht in ihrer Straßenkleidung geschlafen hat-
te. Schnell stand sie auf und ging zum Schrank. Sie holte das Kleid heraus, in das sie
sich gestern regelrecht verliebt hatte, und breitete es sorgfältig auf dem Bett aus. Dann
zog sie sich aus und ging zum Badezimmer. Sie öffnete die Tür einen Spalt und rief:
„Kann ich rein?“
„Klar“, hörte sie Andys fröhliche Stimme. „Solange du kein warmes Wasser an-
drehst...“
„Hatte ich eigentlich vor“, sagte Petra laut.
„Machen wir es anders“, sagte Andy und trat aus der Dusche heraus. Das Wasser
tropfte aus ihren nassen Haaren. „Ich bin eh fertig, kannst unter die Dusche, wenn du
möchtest.“
„Toll“, freute Petra sich, steckte eine Hand in die Dusche, um die Temperatur des
Wassers zu prüfen, dann trat sie schnell hinein und stellte sich unter den Strahl. Sie
quietschte leise auf. „Ist das herrlich!“ rief sie begeistert und streckte die Arme nach
oben. Andy schmunzelte und begann, sich abzutrocknen. So, wie Petra aussah, würde
sie einige Zeit brauchen, um wieder sauber zu werden, doch Andy machte ihr deswe-
gen keinen Vorwurf, nicht einmal in Gedanken. Sie wußte, daß sie selbst aus einer an-
gesehenen Familie stammte, in der auf Sauberkeit und Aussehen Wert gelegt wurde,
doch sie hätte all das sofort und ohne zu zögern gegen Schmutz und Dreck einge-
tauscht, wenn ihr nur die Sache mit ihrem Vater erspart geblieben wäre.
Sie zuckte die Schultern. Geschehen ist geschehen, dachte sie lakonisch und trock-
nete sich weiter ab. Von Zeit zu Zeit hörte sie begeisterte und zufriedene Ausrufe aus
der Dusche kommen. Andy nahm den Föhn aus dem Schrank und trocknete ihre Haa-
re.
Sie war fertig, als Petra mit glänzenden Augen aus der Dusche stieg. „War das
toll!“ schwärmte sie. Andy lächelte nachsichtig und reichte Petra ein großes Badetuch.
„Das ist ja auch so kuschelig und weich“, schwärmte Petra begeistert und rieb sich
kräftig das Gesicht ab. „Bei uns waren die Handtücher immer hart wie ein Brett.“
„Du mußt sie nach dem Waschen bügeln“, sagte Andy. „Oder in den Trockner
stecken. Ich geh mich anziehen.“
„Okay“, murmelte Petra aus den Tiefen des Badetuches, das sie an ihr Gesicht ge-
preßt hielt. Schnell trocknete sie sich und föhnte dann ebenfalls die Haare. Als sie aus
dem Bad kam, saß Andy auf der breiten Fensterbank, gekleidet in ihre neue Uniform,
und sah hinaus.
„Im Sommer muß das hier herrlich sein“, sagte sie verträumt. Petra ging zu ihr und
sah hinaus. Unter dem aufsteigenden Nebel sah sie eine kleine Lichtung in dem Wald,
in dem das Haus stand, mit einem kleinen Teich.
„Hm-m“, stimmte sie zu. „Alles in Ordnung mit dir?“ Andy nickte. „Ja, denke
schon.“ Sie zuckte die Schultern. „Das ging alles irgendwie an mir vorbei. Ich meine,
ich hab es zwar gespürt, aber... es hat mich nicht berührt. Nicht wirklich.“ Sie lächelte
Petra traurig an. „Wird schon gut werden. Wollen wir frühstücken gehen?“
„Muß mich noch anziehen“, grinste Petra und schlüpfte schnell in ihre Unterwä-
sche und in das Kleid. „So, jetzt können wir. Danke, daß du auf mich gewartet hast.“
„Gern geschehen“, lächelte Andy und stieg von dem Fensterbrett herab. „Um ehr-
lich zu sein, wollte ich nicht alleine runtergehen. Ich kenn doch keinen!“
„Ich doch auch nicht“, grinste Petra und nahm Andys Hand. „Gehen wir!“ Fröhlich
verließen sie das Zimmer und gingen die breite Treppe hinunter, dann nach rechts in
den Essensraum. Als sie die Tür öffneten, blieben sie erstaunt stehen: der ganze Raum
war voll von Mädchen, und alle saßen in Vierergruppen an kleinen Tischen, auf denen
Tabletts mit reichhaltigem Frühstück standen. Alle Mädchen sahen kurz zu den beiden
neuen auf, viele nickten oder winkten ihnen lächelnd zu.
„Da seid ihr ja“, hörten sie eine kräftige Stimme. Sie sahen Mark, der mit einem
fröhlichen Lachen auf sie zukam. „Gut geschlafen?“
„Herrlich!“ - „Traumhaft!“
„Freut mich. Da hinten ist noch was frei.“ Er ging durch die fröhlich zwitschernde
Menge hindurch zu einem Tisch, an dem ein Mädchen alleine saß. „Es hat keinen
Sinn, euch öffentlich vorzustellen“, sagte Mark, als sie sich setzten. „Ihr werdet die
anderen nach und nach kennenlernen. Das hier ist Katrin“, stellte er das Mädchen vor,
die ihnen mit einem gequälten Lächeln zunickte.
„Hallo!“ - „Morgen!“
„Katrin hat bereits ihren neuen Namen“, sagte Mark. „Sie kam noch heute Nacht
hier an. Die beiden bekommen noch ihre Namen“, sagte er zu Katrin, „also macht es
keinen Sinn, dir ihre alten zu sagen.“ Er lächelte dem Mädchen zu, doch sie reagierte
kaum darauf. Mark überging dies. „Da vorne ist die Essensausgabe“, sagte er zu Petra
und Andy. „Geht rüber und holt euch, was ihr mögt.“ Die beiden Mädchen standen auf
und gingen zu der breiten Theke, auf die Mark gezeigt hatte. Eine dicke, fröhliche Frau
in den Fünfzigern stand dahinter und lächelte die Mädchen breit an.
„Morgen, ihr zwei Bohnenstangen“, begrüßte sie die Mädchen heiter. „Was
möchtet ihr?“
„Was gibt es denn?“ fragte Andy interessiert. Petra beugte sich vor und studierte
die leckeren Sachen.
„Es gibt das, was du siehst, Täubchen“, grinste die Frau.
„Also“, begann Petra aufgeregt. „Dann hätte ich gern eine Schüssel Corn Flakes,
und so ein Brötchen mit Schinken, und ein Glas Orangensaft, und den Toast da mit
Käse, und...“
„Langsam, langsam“, lachte die Frau und stellte die ausgesuchten Lebensmittel mit
einer Geschwindigkeit, die Petra ihr nicht zugetraut hätte, auf ein Tablett. „Iß das erst
mal auf, und wenn du dann immer noch Hunger hast, komm einfach nochmal. Was
möchtest du?“ fragte sie Andy.
„Ein Brötchen mit Met, ein halbes mit Schinken und eins mit Ei. Und ein Glas Ka-
kao.“
„Kalt oder warm?“ Noch während sie fragte, füllte sich das Tablett mit den Bröt-
chen.
„Warm, bitte.“
„Schon da. Da hinten findet ihr Besteck und Servietten. Guten Appetit!“
„Danke“, strahlten beide Mädchen im Chor und trugen ihr Frühstück zurück zum
Tisch. Erstaunt sahen sie, daß Mark seinen Arm um Katrin gelegt hatte, doch als sie
näher kamen, sahen sie, warum. Katrin weinte bitterlich. Unentschlossen blieben die
Mädchen vor dem Tisch stehen. Mark sah auf.
„Setzt euch ruhig“, sagte er sanft. Leise nahmen Petra und Andy Platz. Katrin sah
mit nassen Augen zu ihnen auf. „Tut mir leid“, sagte sie mit zittriger Stimme. Petra
fühlte starke Sympathie für das verzweifelte Mädchen.
„Macht doch nichts“, sagte sie mitfühlend. „Ich hab mich gestern in den Schlaf
geweint, und auf der Fahrt hierher hab ich geheult wie ein nasser Hund im Regen.“
Katrin lächelte kurz bei dieser Beschreibung.
„Seid ihr auch neu?“
„Gestern frisch eingetroffen“, grinste Andy. „Wann waren wir hier? Gegen zehn
oder so.“
„Ich heute morgen, um drei.“ Katrin nahm sich eine Serviette und putzte sich Au-
gen und Nase.
„Und alle haben seit gestern nicht mehr gegessen“, lächelte Mark und ließ Katrin
los. „Also, ich hab Hunger. Und ihr?“ Gemeinsam machten sie sich über das Frühstück
her.


„Das tat gut“, stöhnte Andy und stellte ihre Teller zusammen auf das Tablett. „Ein
Kakao paßt aber noch.“ Mit dem Glas ging sie zurück zur Theke und kam kurz darauf
mit einem neuen, frisch gefüllten, zurück. Erstaunt stellte sie fest, daß einige der Mäd-
chen rauchten.
„Dürfen die das?“ fragte sie Mark leise. Er nickte.
„Sicher. Sie haben alle eine beschissene Zeit hinter sich, auf gut Deutsch gesagt,
und warum sollen wir ihnen noch zusätzlich Kummer machen, indem wir ihnen etwas
verbieten, was sie brauchen? Solange sie keine Drogen nehmen oder Alkohol trinken,
ist es mir egal. Obwohl Nikotin ja eigentlich auch eine Droge ist.“ Er sah sich kurz um.
„Wenn Rauchen das einzige Problem wäre, das sie hätten, wäre ich glücklich. Aber
genug davon. Wie gefällt euch euer Zimmer?“
„Ganz toll!“ - „Einfach super!“
„Freut mich. Und dir, Katrin?“
„Es ist wunderschön“, sagte sie leise. Petra schaute sie näher an. Katrin war in et-
wa dem gleichen Alter wie sie und Andy, hatte kurze schwarze Haare und blaue Au-
gen. Sie trug ebenfalls das Hauskleid. Ihre Hände zitterten sehr stark. Mark bemerkte
Petras Blick, sah sie eindringlich an und schüttelte leicht den Kopf. Petra verstand und
fragte nicht weiter.
„Geht ihr beide schon mal in mein Büro, wenn ihr fertig seid?“ bat Mark die bei-
den Mädchen. „Ich komme in ein paar Minuten nach.“ Er stand auf und nahm Katrin
an die Hand, dann ging er mit ihr hinaus. Petra und Andy räumten ihre Sachen zusam-
men und brachten die Tabletts zurück, dann gingen sie in Marks Büro, holten sich et-
was zu trinken und setzten sich.
„Jetzt werden wir umgetauft“, sagte Petra nachdenklich. „Eigentlich mag ich mei-
nen Vornamen ja nicht besonders, aber ein komplett neuer Name...“
„Ich fühl mich auch nicht so wohl dabei“, meinte Andy. „Aber so kann uns nie-
mand finden. Möchtest du wieder nach Hause?“
„Ums Verrecken nicht“, sagte Petra heftig. „Nie wieder!“
„Also haben wir keine Wahl“, erwiderte Andy trocken. „Zumindest dürfen wir uns
die Namen aussuchen.“
„Zum Glück!“ lachte Petra. „Möchtest du Waltraud oder Matilde heißen?“
„Oder wie wär’s mit Hilde? Oder Emma?“ Kichernd probierten die Mädchen neue
Namen, bis die Tür aufging und Mark hereinkam.
„Fangen wir gleich an“, sagte er und setzte sich an seinen Schreibtisch. „Kommt
ihr bitte zu mir?“ Petra und Andy standen auf und gingen um den Schreibtisch herum,
bis sie auf den Monitor sehen konnten. Mark drückte einige Tasten, dann erschien eine
Liste von Mädchennamen.
„So, das ist eure Auswahl“, sagte er lächelnd. „Entscheidet euch zuerst für den
Vornamen, dann suchen wir dazu den passenden Nachnamen.“ Er rutschte etwas zur
Seite, als Petra und Andy näher herankamen. Beide lasen die Namen ab, ihre Lippen
bewegten sich leicht.
„Den“, meinte Andy aufgeregt und deutete auf einen Namen. Mark drückte eine
Taste.
„Dazu gibt es drei Nachnamen“, meinte er konzentriert. „Jana Burkow. Jana Men-
ko. Jana Terkowa. Gefällt dir einer davon?“ Andy sprach die Namen mehrmals laut
vor sich her, dann nickte sie lächelnd.
„Ja, der gefällt mir: Jana Menko. Klingt doch gut, oder?“ Petra lächelte Zustim-
mung. Mark drückte eine weitere Taste, und der Drucker spuckte zwei Seiten Papier
aus. Mark nahm das Papier und drückte es Andy / Jana in die Hand.
„Das ist dein Lebenslauf, Jana“, sagte er sachlich. „Wo und wann du geboren bist,
wer deine Eltern sind und so weiter. Lern es auswendig und vergiß, wer du vorher
warst.“ Er sah der neuen Jana tief in die Augen. Sie nickte ernst.
„Werd ich. Danke.“
„Schon gut, dafür bin ich ja da. Jetzt zu dir.“ Mark brachte die Namensliste wieder
auf den Monitor. Konzentriert las Petra die Namen ein weiteres Mal, dann deutete sie
auf einen. „Den.“
Mark drückte die entsprechende Taste und las ab. „Angela Bartoli. Angela Cle-
mens. Angela Maron. Angela Mitikis. Angela Treben. Angela Walters. Angela Zierow.
Einer dabei, der dir gefällt?“ Aufmerksam sah er Petra an. Sie sprach ebenfalls die
Namen laut aus und achtete auf den Klang.
„Ja“, sagte sie schließlich. „Angela Maron. Den möchte ich haben.“
„Kein Problem“, lächelte Mark, drückte eine Taste, und wieder gab der Drucker
Papier aus, diesmal nur eine Seite. Verwundert blickte Petra / Angela auf das Blatt.
„Mehr nicht?“ fragte sie zweifelnd. Mark blickte kurz auf das Papier.
„Nein, Angela. Du bist ein Waisenkind. Deine Eltern sind kurz nach deiner Geburt
bei einem Autounfall gestorben. Du hast dein ganzes Leben in einem Waisenhaus ver-
bracht und bist erst gestern hierher umgezogen.“ Er griff in eine Schublade und holte
zwei Bögen Papier heraus. „Seid bitte so nett und füllt die Formulare hier aus. Das ist
dann das letzte Mal, daß ihr eure alten Namen angeben müßt, ist nur eine Formalität
für die Behörden. Sobald ich das alles hier im Computer eingegeben habe, gibt es eure
alten Namen nicht mehr. Das einzige, was ihr behaltet, ist euer Geburtsdatum.“
Die Mädchen nahmen die Bögen entgegen; zum Teil nervös, weil sie Abschied von
ihrem gewohnten Namen nehmen mußten, zum Teil aufgeregt, weil mit dem neuen
Namen auch ein neues Leben für sie begann. Mark, der diese Reaktion schon häufig
erlebt hatte, saß schweigend in seinem Stuhl und sah den beiden Mädchen zu, die kon-
zentriert die Formulare ausfüllten.
Schließlich waren sie fertig, Jana etwas eher als Angela. Sie gab Mark ihren Bo-
gen, der die Angaben in den Computer übertrug. Dann war auch Angela fertig und ge-
sellte sich dazu.
„Jetzt zeige ich euch das, was am Schlimmsten ist“, sagte Mark und sah die Mäd-
chen ernst an. „Noch kannst du zurück, Jana. Noch ist nichts passiert. Bist du sicher,
daß du weitermachen willst? Oder möchtest du vielleicht doch wieder nach Hause?“
Jana schaute Mark lange an. Angela wunderte sich kurz, was zwischen den beiden
geschah, doch sie konnte es nicht greifen. Schließlich nickte Jana. „Ja, ich bin sicher.
Kein Zurück.“
„Gut“, sagte Mark und deutete auf den Bildschirm. „Hier siehst du all deine Daten:
wann und wo geboren, wo du wohnst, welche Schule und so weiter. Stimmt das al-
les?“ Jana nickte. „Fein. Auf der nächsten Seite“ - Mark drückte eine Taste - „stehen
deine neuen Daten. Korrekt?“ Jana las ihren neuen Namen, die Adresse von diesem
Haus, in dem sie jetzt wohnte, die Namen ihrer - ihr vollkommen fremden - Eltern. Sie
nickte schließlich.
„Ja, alles in Ordnung.“
„Gut.“ Mark zeigte auf eine Taste mit dem Aufdruck „F10“. „Wenn du jetzt diese
Taste drückst, werden alle alten Daten von dir gelöscht. Willst du das wirklich?“
fragte Mark eindringlich. Jana nickte entschlossen und preßte ihren Finger auf die Ta-
ste. Auf dem Monitor erschien die Meldung „Bitte warten...“, dann erschienen ihre
neuen Daten.
„Das war’s“, sagte Mark. „Kurze Kontrolle...“ Er gab Janas alten Namen ein und
drückte eine Taste. Nach kurzer Zeit erschien die Meldung „Name nicht gefunden.“
„Ist ja unheimlich“, sagte Jana fasziniert. „Jetzt ist Claudia weg?“
„Welche Claudia?“ lächelte Mark. „Ich kenne keine Claudia. Du etwa?“
„Nein“, sagte Jana zögernd. Mark legte seine Hand auf ihre Schulter.
„Ich weiß, was jetzt in dir abgeht“, sagte er sanft. „Mach dir nicht zuviel Gedan-
ken, Jana. Du gewöhnst dich schneller an deinen neuen Namen, als du denkst. Geh
jetzt bitte nach nebenan, die Ärztin wartet bereits auf dich.“ Mit einem Lächeln nickte
er Jana zu, die sich unsicher in Bewegung setzte. „Jetzt zu dir“, sagte Mark, als sich
die Tür hinter Jana geschlossen hatte. Er gab Angelas neue Daten ein, dann wandte er
sich ihr zu. Auch sie wurde gefragt, ob sie nicht doch lieber nach Hause zurück wollte.
Sie sah Mark in die Augen, spürte auf einmal den Ernst der Situation, daß es kein zu-
rück mehr gab, wenn sie zustimmte, und erkannte plötzlich, was Andy... nein, Jana
dort gesehen hatte. Die jüngste Vergangenheit zog wie ein Schnellzug an ihr vorbei:
das schäbige kleine Zimmer, in dem sie die letzten Jahre verbracht hatte, der widerli-
che Geruch ihres Vaters, der schwitzend und stöhnend auf ihr gelegen hatte, die
Schmerzen, die sie dabei verspürt hatte, die Trauer und die Verzweiflung, wenn es
vorbei war. Dann sah sie die Zukunft: hell, freundlich, voller Hoffnung und Möglich-
keiten. Ohne zu zögern drückte sie die Taste, dann lächelte sie Mark an.
„Sehr gut“, lächelte er. „Jetzt kannst du im Aufenthaltsraum warten, bis Jana fertig
ist mit ihrer Untersuchung. Dann bist du dran.“ Angela nickte strahlend und hüpfte re-
gelrecht aus Marks Büro. Jetzt war sie vollkommen frei, niemand würde sie jemals
wiederfinden!
Mark sah ihr lächelnd hinterher, dann wandte er sich wieder seinem PC zu. Es
stimmte nicht, daß nach dem Druck auf die Taste die alten Daten der Mädchen ge-
löscht wurden; er wollte nur sichergehen, daß die Mädchen wußten, worauf sie sich
einließen und die symbolische Handlung ihrer „Vernichtung“ selbst durchführten. Die
Meldung „Name nicht gefunden“ kam aus dem Programm, und nicht aus den Daten
der Stadtbehörde. Erst wenn Mark die Daten übertrug, wurden die Änderungen unwi-
derruflich.
Er brachte zuerst Janas Daten wieder auf den Monitor und nahm die nötigen An-
passungen vor, die für das Einwohnermeldeamt und die Schule benötigt wurden, dann
fügte er seinen Code hinzu, kontrollierte noch einmal alle Angaben und schickte erst
dann die Daten ab. In wenigen Sekunden würde Claudia nicht mehr existieren, ihre
bisherige Schule würde eine Abmeldung wegen Umzug bekommen, so daß alles in
geordneten Bahnen verlief. Eine weitere Benachrichtigung würde vom Einwohnermel-
deamt an die Landeskriminalpolizei gehen, so daß eine Vermißtenanzeige zwar noch
möglich war, aber nicht mehr verfolgt wurde. Nachdem er die gleichen Anpassungen
bei Angela vorgenommen hatte, nahm er sich Katrins Formular vor und gab ihre neuen
Daten ein. Für einen Moment verspürte er wieder Wut. Was waren das für Männer,
die ein minderjähriges Mädchen unter Drogen setzten und sie dann meistbietend ver-
kauften, Nacht für Nacht? Die Kleine hatte dies seit ihrem elften Geburtstag mitge-
macht, und sie hatte jetzt eine harte Zeit vor sich, um von den Drogen herunterzu-
kommen.
Er hoffte inständig, daß sie es schaffen würde, als er ihre Daten auf die Reise in ei-
ne neue Zukunft schickte.

* * *

„Hey, wie war’s?“ fragte Angela fröhlich, als Jana den Aufenthaltsraum betrat.
„Frag nicht“, stöhnte Jana mit verzerrtem Gesicht. „Ich kann die nächsten paar
Stunden nicht sitzen.“ Sie griff nach der Lehne eines Stuhles und hielt sich daran fest.
„Die Ärztin mußte mir eine große Spritze geben da hinten“, sagte sie verlegen. „Der
Arsch hat mir fast den Hintern aufgerissen mit seinem... du weißt schon.“
„So schlimm?“ Angela sprang auf und nahm ihre neue Freundin in den Arm. Jana
nickte und legte ihren Kopf kurz auf Angelas Schulter, dann blickte sie wieder auf.
„Geht schon. Laß mich einfach hier stehen, ja?“ Sie lächelte Angela kurz zu. „Aber
hol mich bitte auf dem Rückweg wieder ab, alleine komm ich nicht die Treppe hoch.“
„Versprochen“, grinste Angela und klopfte Jana kurz auf die Schulter, dann lief sie
zur Ärztin.
„Hallo, komm doch rein“, hörte sie eine freundliche Stimme, als sie die Tür geöff-
net hatte. Unsicher betrat Angela den Raum und schloß die Tür hinter sich. Die Ärztin,
eine nett aussehende Frau Mitte Dreißig, stand an einem Tisch und schrieb etwas. „Bin
gleich fertig“, sagte sie, ohne aufzusehen. „Zieh dich schon mal bitte aus und leg dich
hin.“ Angela blickte sich kurz um und sah eine Liege. Schnell schlüpfte sie aus ihrer
Kleidung und legte sich auf die Liege.
Bevor sie Zeit hatte, sich gründlich umzusehen, kam die Ärztin zu ihr. „Hallo
nochmal“, lächelte sie. „Du bist...?“
„Pet... Angela Maron“, verbesserte Angela sich schnell.
„Angela. Schöner Name. Angela, ich werde dich jetzt gründlich untersuchen, aber
ich brauche deine Hilfe dabei. Wenn es dir irgendwo wehtut, sag’s mir lieber vorher,
bevor ich aus Versehen draufdrücke und dir unabsichtlich weh tue, ja?“ Angela nickte
schnell.
„Gestern abend, als ich herkam“, sagte sie stockend, „hatte ich so Stiche im Un-
terleib.“
„Kannst du die Stiche näher beschreiben? Mir ganz genau sagen, wie es sich an-
fühlte?“
Angela dachte kurz nach. „Ja... das fing an mit einem Ziehen in... da, wo das Pipi
rauskommt, und ging dann weiter nach innen. Es war, als ob eine Nadel da reinsticht
und immer tiefer geht.“
„Und wie lange hat dieses Stechen gedauert?“
„Das war ganz schnell wieder vorbei“, sagte Angela ehrlich. „Ist auch nur zwei-
oder dreimal vorgekommen.“
„Sonst keine Beschwerden?“ Angela schüttelte den Kopf. Die Ärztin überflog kurz
Angelas Körper. „Außer viel Hunger, nehme ich an?“ Angela grinste verlegen. „Na ja,
du wirst hier schon zunehmen. Dann sei mal so lieb und laß mich nachgucken, wo es
sticht, ja?“


Eine Viertelstunde später war Angela wieder draußen, versehen mit einer Wund-
creme, um die leichte Entzündung an ihrer intimsten Stelle zu heilen. Wie versprochen,
holte sie Jana ab, die noch immer in der gleichen Position stand wie vorher. Zusammen
schafften sie die Treppe, doch Jana war danach bleich im Gesicht und völlig außer
Atem. Angela stützte sie, so gut es ging, bis sie in ihrem Zimmer waren, dann half sie
Jana, sich bäuchlings auf ihr Bett zu legen. Fürsorglich deckte sie ihre Freundin zu und
holte ihr noch etwas zu trinken ans Bett, dann setzte sie sich zu ihr und hielt ihre Hand.
Jana blickte dankbar zu ihr auf und rutschte näher an sie heran.
„Ich soll bis zum Mittagessen liegenbleiben“, sagte sie mit verschwommener
Stimme. „Ich hab auch ‘ne Spritze bekommen, damit es nicht so wehtut. Kann sein,
daß ich gleich wegpenne.“
„Mach mal ruhig“, lächelte Angela. „Ich paß auf dich auf.“
„Und, wie war’s bei dir?“
„Halb so wild. War etwas entzündet, ‘ne kleine Wunde oder’n Riß oder so, aber
ich hab ‘ne Creme draufbekommen, und sie meint, es wär in ein paar Tagen schon
wieder okay. Ich soll mich viel waschen da, und nach jedem Waschen wieder eincre-
men.“
„Das hört sich doch gut an“, sagte Jana überzeugt. „Ich glaube, wir zwei haben
richtig Glück gehabt, was?“
„Sieht so aus. Gestern um diese Zeit habe ich in der Schule gesessen und voller
Angst daran gedacht, daß ich irgendwann wieder nach Hause muß.“
„Ging mir nicht anders“, sagte Jana schläfrig. „Mein Vater ist viel - nein, war viel
unterwegs, aber manchmal war er auch tagelang zu Hause, und dann kam er nicht
mehr von mir runter. Aber gestern...“ Jana schüttelte sich kurz. „Gestern war einfach
zuviel. Verstehst du?“ Sie legte einen Arm um Angelas Hüfte und drückte sie.
„Ja, das verstehe ich“, sagte Angela leise. „Das verstehe ich. Mir ging es nicht viel
anders.“
„So?“ kam Janas müde Antwort.
„Gestern bin ich dreizehn geworden, und ich dachte ganz plötzlich daran, wie lan-
ge es noch so weitergehen soll. Und da ist was in mir geplatzt. Als er auf mich zukam,
hab ich ihn so kräftig in die Eier getreten, daß er umgefallen ist. Ich dachte nur: ‘Jetzt
oder nie!’ Na ja, und als er dann da lag, hab ich schnell meine Sachen gepackt und bin
raus.“
„Hast du gut gemacht“, sagte Jana sehr leise. „Wir beide sind ein gutes Team.“ Ihr
Griff wurde schwächer, ihr Arm fiel herab. Angela schaute sie besorgt an, doch Jana
war nur eingeschlafen. Lächelnd strich Angela ihr die Haare aus dem Gesicht und blieb
bei ihr sitzen.


Damit Janas Wunde richtig heilen konnte, durfte sie drei Tage lang nichts essen,
und danach nur leichte Kost, doch nach zwei Wochen war sie wieder völlig hergestellt,
ebenso wie Angela, deren Entzündung schon nach einigen Tagen vollständig ausge-
heilt war. Angela bekam von Mark noch ihr Geburtstagsgeschenk: eine kleine Brosche
mit einem Bernstein in der Mitte, worüber sie sich sehr freute und die sie täglich trug.
Beide Mädchen waren überglücklich, daß sie ein neues Heim gefunden hatten.





2


Angie (wie Angela sich selbst nun nannte) hatte schnell in ihren neuen Ta-
gesrhythmus gefunden. Nach dem Aufstehen um sieben Uhr ging sie schnell in den
Keller, um eine halbe Stunde zu schwimmen, danach duschte sie ausgiebig und weckte
Jana, die morgens einfach nicht aus dem Bett kam. Dann gingen sie frühstücken und
lernten mit der Zeit auch einige von den anderen Mädchen gut kennen, und die meisten
anderen zumindest vom Namen her. Den Rest des Tages verbrachten sie mit langen
Spaziergängen auf den breiten Waldwegen, immer begleitet von einer Aufsichtsperson,
zu ihrem eigenen Schutz.
In ihrer dritten Woche fing Mark sie nach dem Frühstück ab, zusammen mit Jana
und Katrin, die sich ebenfalls gut erholt hatte. Zwar überfielen sie noch immer zeit-
weilig Schüttelanfälle, doch der große Drang nach Heroin war weg, und das auch aus
dem Grund, weil Katrin trotz ihrer Jugend einen enorm starken Willen hatte. Dafür
hatte sie angefangen, zu rauchen, doch Mark sah dies als das wesentlich kleinere Übel
an. Außerdem waren es nur fünf oder sechs Zigaretten am Tag.
Nachdem die vier sich in Marks Büro gesetzt hatten, begann Mark, von der Haus-
ordnung und dem Tagesablauf zu sprechen.
„Die Essenszeiten kennt ihr ja inzwischen“, sagte er mit seiner üblichen sanften
Stimme, die Angela inzwischen nicht mehr vermissen mochte. Die drei Mädchen
nickten bestätigend. „Gut. Dann zu den Regeln hier. Ihr seid jetzt so weit, daß ihr wie-
der am normalen Leben teilnehmen könnt, und dazu“ - er grinste breit - „gehört auch
die Schule.“ Dreifaches Aufstöhnen teilte die Meinung der Mädchen dazu mit. „Ja, ja,
schon klar“, lachte Mark. „Trotzdem geht ihr ab morgen zur Schule. Ihr habt es ja
nicht weit. Unterrichtsräume sind ganz oben, im vierten Stock, direkt unter dem Dach.
Wir haben vier Klassenräume und sechs Lehrerinnen und Lehrer, die sich die vier
Klassen teilen. Angela und Katrin gehen ab morgen in die Klasse Nummer 2, Jana in
die Nummer 3. Deswegen getrennt“, beantwortete er den fragenden Blick der Mäd-
chen, „weil ihr ja auch vorher auf unterschiedlichen Schulen wart, Angela und Jana.
Das macht euch den Einstieg leichter. In den nächsten Wochen werdet ihr bereits um
acht Uhr mit der Schule beginnen und in der ersten Stunde das nachholen, was ihr bis-
her versäumt habt, und sobald ihr den Anschluß an die anderen habt, fangt ihr, wie alle
anderen auch, erst um neun Uhr an. Bücher und so weiter gibt es morgen. Fragen dazu,
außer Beschwerden?“ Er zwinkerte den Mädchen zu. Alle schüttelten den Kopf.
„Fein. Dann kommen wir zur Hausordnung. Wir haben nur wenige Regeln, und die
sind ganz annehmbar, finde ich. Erstens: wer klaut, wird verwarnt, wer nochmal klaut,
fliegt raus, und zwar endgültig. Kein Pardon, bei keiner von euch. Wer einer anderen
etwas wegnimmt, ohne zu fragen, hat verspielt. Kapiert?“ Dreifaches Nicken.
„Zweitens: Versucht, eure Probleme mit anderen zuerst alleine zu lösen. Erst wenn
ihr gar nicht mehr weiter wißt, kommt zu mir. Drittens: Kleidung, Essen und Zimmer
bekommt ihr kostenlos, aber wenn ihr darüber hinaus etwas haben wollt“ - Mark nahm
drei Bögen Papier von seinem Schreibtisch und gab jedem Mädchen einen - „müßt ihr
dafür etwas tun, nämlich hier im Haus helfen. Auf dem Blatt, was ihr gerade bekom-
men habt, steht ein Punktesystem, nach dem eure Hilfe abgerechnet wird. Schaut mal
in die fünfte Zeile. Da steht zum Beispiel: Küchendienst: 1 Punkt pro fünf Minuten.
Das bedeutet, wenn ihr Maria in der Küche helft, also Spülen, Abtrocknen oder auf-
räumen, bekommt ihr für jeweils volle fünf Minuten einen Punkt gutgeschrieben. An-
dere Tätigkeiten wie zum Beispiel Fenster putzen für andere bringen euch satte fünf
Punkte pro Fenster.“
„Wofür sind diese Punkte denn überhaupt gut?“ fragte Katrin.
„Für dreißig Punkte gibt es zum Beispiel eine CD nach Wahl, für fünfzig Punkte
eine Doppel-CD. Für hundert Punkte könnt ihr euch beispielsweise eigene Bettwäsche
kaufen, wenn ihr das wollt, oder etwas zum Anziehen. Jeder Punkt entspricht in etwa
einer Mark. Ihr könnt sie sammeln für eine große Anschaffung, oder euch gleich nach
Erhalt auszahlen lassen. Wir haben dieses System aus zwei Gründen eingeführt: er-
stens, damit ihr lernt, daß eure Arbeit etwas wert ist, und weil ihr zweitens preiswerter
seid als Firmen, die für die gleiche Arbeit wesentlich mehr Geld verlangen. Auch wir
müssen sparen.“ Er hob bedauernd die Schultern.
„Find ich gut“, sagte Angela. „Wieviel Punkte bringt denn das Zimmer aufräu-
men?“
„Sagen wir mal so“, schmunzelte Mark. „Wenn ihr euer eigenes Zimmer nicht in
Ordnung haltet, gibt es Strafpunkte. Nein, Angela, das eigene Zimmer gehört nicht in
das System, das gehört vielmehr zum eigenen Lebensraum und sollte schon von daher
immer sauber und ordentlich sein. Ordentlich bedeutet jetzt nicht, daß alle Stifte auf
dem Schreibtisch sauber nebeneinander liegen, mit der Spitze zum Fenster, sondern
daß man sich nicht die Knochen bricht, wenn man sich den Weg von der Tür zum Fen-
ster freikämpft, durch Berge von Wäsche, Möbeln und Kleidungsstücken.“ Die Mäd-
chen lachten bei diesem Bild.
„Schreiben wir die Punkte auf?“ fragte Jana.
„Das hättest du wohl gerne, was?“ grinste Mark. „Nein, die werden von eurer Auf-
sichtsperson notiert und mir abends mitgeteilt. Wenn du zum Beispiel Maria eine
Stunde in der Küche hilfst, gibt sie mir abends einen Zettel, auf dem ihr Name, dein
Name und deine Zeit stehen, und danach gebe ich dann die Punkte in den Computer
ein, so daß ihr täglich genau wißt, wieviel oder wie wenig Punkte ihr habt. Das ganze
ist übrigens keine Pflicht, versteht mich da bitte richtig. Es soll euch einfach helfen,
euch Dinge zu kaufen, die wir nicht kaufen können. Ich kann zum Beispiel schlecht in
ein Geschäft gehen und für Janine einen neuen BH anprobieren und kaufen.“ Die
Mädchen platzten los vor Lachen. Janine war ein 15jähriges Mädchen, das von allen
Mädchen den größten Busen hatte, schon wie eine Erwachsene, und bei der Vorstel-
lung, Mark müßte einen BH für sie anprobieren, mußten sie einfach loslachen.
„Deswegen“, grinste Mark. „Wie gesagt, es ist vollkommen freiwillig. Wenn ihr
irgendwo helfen wollt, meldet euch einfach bei mir. Das mit Janine war übrigens ein
blödes Beispiel; wenn sie so ein Teil braucht, bekommt sie das Geld von uns und gibt
uns hinterher die Quittung. Aber ihr versteht schon, was ich meine.“
„Machen das denn viele?“ fragte Katrin.
„Helfen? Kommt drauf an“, sagte Mark. „Im Sommer will zum Beispiel kaum je-
mand in der Küche helfen, weil es da so heiß ist, und im Winter will so gut wie nie-
mand draußen helfen. Fragt einfach nach, wenn ihr etwas gefunden habt, wo ihr mit-
machen möchtet.“ Er schaute die Mädchen aufmerksam an. „Fragen?“
„Was dürfen wir uns denn alles kaufen?“ wollte Jana wissen.
„Was ihr wollt, außer natürlich Waffen wie Messer oder Schlagringe. Auch Dro-
gen will ich hier nicht sehen, genausowenig wie Alkohol. Da bin ich genauso streng
wie beim Klauen. Es gibt eine einmalige Verwarnung, und beim zweiten Mal ist es
vorbei. Dann könnt ihr zusehen, wo ihr unterkommt, und das ist mein voller Ernst.“
Zum ersten Mal spürten die Mädchen, welche Kraft und Entschlossenheit in Mark
steckte. Katrin zog den Kopf ein, als Mark die Drogen erwähnte. Sofort ging er zu ihr
und drückte sie kurz.
„Für dich gilt das nicht, Katrin“, sagte er sanft. „Wir beide wissen, daß du sie nicht
freiwillig genommen hast. Und ich denke, du würdest dir eher den Arm abschneiden
als noch einmal eine Spritze nehmen.“ Katrin nickte mit feuchten Augen. Mark drückte
sie erneut, dann setzte er sich wieder. „Wenn ihr das durchmachen wollt, was Katrin
hinter sich hat, von mir aus. Aber nicht hier.“ Jana und Angela schauderten kurz. Sie
hatten die Schreie von Katrin gehört, als sie auf Entzug war.
„Glaub nicht, daß ich das will“, sagte Angela leise.
„Gut. Letzte Regel: behandelt jeden hier so, wie ihr selbst behandelt werden wollt.
Denkt bitte immer daran, daß alle Mädchen hier ein neues Leben beginnen wollen, ein
Leben ohne Schmerzen, ohne Angst, ohne Gewalt. Dieses Haus ist dafür gedacht, euch
dabei zu helfen. Wenn ihr diese Hilfe ablehnt, kann das Haus auch nichts mehr für
euch tun. Es gibt genug andere Institute. So, genug der harten Worte. Noch Fragen?“
„Ab wieviel Uhr kann ich schwimmen gehen?“ fragte Angie. „Ich meine, jetzt geh
ich um sieben, aber wenn ich um acht Schule hab, wird das sehr knapp mit Duschen
hinterher und anziehen und so.“
„Du kannst schwimmen, wann du möchtest“, sagte Mark. „Das Bad ist die ganze
Nacht auf.“
„Okay. Danke.“
„Willst du etwa noch früher aufstehen?“ fragte Jana verblüfft. Angie nickte grin-
send. „Ja, dann so gegen halb sieben. Um sieben dann Duschen, halb acht Frühstück,
acht Uhr Schule.“
„Da sag noch einer, Schüler hatten keinen stressigen Tag“, knurrte Jana, grinste
aber dabei. Auch Katrin schmunzelte ein bißchen.
„Halb sieben ist eine gute Zeit“, meinte Mark. „Dann komm ich gerade aus dem
Wasser, und du hast das ganze Bad für dich alleine.“
„Du gehst schon um sechs Schwimmen?“ fragte Jana fassungslos. Mark nickte.
„Sogar noch eine Viertelstunde früher, damit ich um halb sieben frühstücken und
um sieben meinen Tag beginnen kann.“
„Ist ganz schön viel, was du arbeiten mußt, nicht?“ meinte Angie mitfühlend. Mark
zuckte die Schultern.
„Ich wollte es ja so. Es ist nur der ganze Papierkram, der viel Arbeit macht. Ihr
habt ja die Formulare gesehen, und das ist nur die Spitze von dem Eisberg. An der
Verwaltung hier hängt sehr viel Zeit, Berichte und Statistiken müssen geschrieben
werden... Aber das gehört alles nicht hierher.“ Er grinste kurz. „Ihr sollt mir eure Sor-
gen erzählen, und nicht umgekehrt.“ Die Mädchen lachten etwas und standen auf, nur
Angie blieb noch sitzen. „Hast du noch etwas auf dem Herzen?“ fragte Mark. Angie
nickte. „Gut. Ich seh euch zwei später.“ Jana und Katrin gingen hinaus. „Dann leg mal
los.“
Angie atmete tief durch. „Kann ich... kann ich auch schon um... um sechs schwim-
men gehen?“
„Ist das nicht zu früh für dich?“ Angie verneinte heftig. „Sicher kannst du das.
Warum möchtest du das denn überhaupt?“ Angie zuckte die Schultern.
„Ich steh gerne früh auf“, sagte sie leise. „Das macht mir wirklich nichts aus.“ Sie
begegnete Marks forschendem Blick und senkte die Augen.
„Tu, was du möchtest“, sagte Mark schließlich in seiner freundlichen Art. „Das
Becken ist zwar nicht sehr groß, aber wir zwei passen schon rein.“ Angie atmete in-
nerlich durch. Sie konnte selbst nicht verstehen, warum sie gefragt hatte; eigentlich
wollte sie etwas ganz anderes wissen...
„Eine Frage hätte ich noch“, sagte sie schließlich, als ihr der eigentliche Grund,
warum sie Mark sprechen wollte, wieder eingefallen war.
„Und zwar?“
„Wegen dieser Punkte... Kann ich die sammeln, bis ich hier irgendwann raus
muß?“
„Sicher kannst du das, Angela. Viele der Mädchen tun genau das: sie lassen die
Punkte stehen. Besser gesagt, sie lassen sie sich monatlich auszahlen und bringen das
Geld auf ein Sparbuch. Wenn du das auch möchtest, sag Bescheid, und ich leg ein
Sparbuch für dich an.“
„Bescheid!“ grinste Angie. Mark lachte auf.
„Okay, dann brauch ich aber fünf Mark von dir.“ Angie schaute ihn verständnislos
an. „Wenn man ein Sparbuch eröffnet, muß man mindestens fünf Mark einzahlen, zu-
mindest bei der Bank, die wir hier im Dorf haben. Sonst machen die das nicht.“ Er
zwinkerte Angie zu. „Oder glaubst du, ich versuche, dich zu bescheißen oder auszu-
rauben?“
„Nein“, lachte Angie verlegen. „Das glaub ich nicht.“ Sie sah Mark bewundernd
an. „Wie lernt man eigentlich das, was du machst?“
„Einfach dadurch, daß man Interesse daran hat, andere Menschen glücklich zu se-
hen“, meinte Mark schlicht. „Und natürlich ein bißchen kaufmännische Grundlagen,
um mit Geld umzugehen. Und Menschenkenntnis, um zu entscheiden, wer wann was
getan hat und warum. Aber vor allem muß man wissen, wann Schluß ist mit Reden,
und wann es Zeit ist, wieder an die Arbeit zu gehen.“ Er lachte Angie zu.
„Schon kapiert“, sagte sie mit roten Ohren und stand auf.
Mark grinste breit. „Aber am wichtigsten ist: man muß wissen, wen man auf den
Arm nehmen kann.“
Angie sah ihn einen Moment lang an, dann platzte sie. „Mann!“ beschwerte sie
sich. „Macht daß Spaß, mich so reinzulegen?“
„Unglaublich viel Spaß!“ grinste Mark. „Na komm, ich spendiere dir eine Cola.
Aber dann muß ich wirklich wieder was tun.“
Angie durfte die Cola noch bei Mark im Büro trinken, und sie nutzte die Gelegen-
heit, um ihn über seine Arbeit auszufragen. Mark spürte bei Angie ein tiefes Interesse.
Er zeigte ihr Wege, um die Ausbildung in dieses Gebiet zu richten, erklärte ihr die
Voraussetzungen und was alles an seiner Tätigkeit hing.
„Du darfst nie vergessen“, sagte er zum Abschluß, als er Angie zur Tür brachte,
„daß du es mit Menschen zu tun hast, mit lebendigen, fühlenden Menschen. Wenn du
das auch nur einmal vergißt, kannst du schon einen Fehler gemacht haben, der nicht
wieder gutzumachen ist.“
„Ist dir das schon mal passiert?“ fragte Angie leise. Mark sah lange in ihre blauen
Augen und versuchte, darin zu lesen.
„Ja“, gab er schließlich zu. „Einmal ist es passiert.“ Seine Lippen schlossen sich.
Angie verstand.
„Danke für die ganzen Erklärungen“, sagte sie. „Bis später.“ Nachdenklich ging
sie auf ihr Zimmer. Dort wurde sie von Jana regelrecht überfallen.
„Angie, hast du mein Geld genommen?“
„Natürlich nicht!“ sagte Angie vehement und ging zu ihrem Nachttisch, um Jana zu
zeigen, daß sie nur ihre knapp zehn Mark hatte, doch als sie die Schublade aufzog,
war ihre Geldbörse nicht zu sehen. Hektisch wühlte Angie die Schublade durch, doch
die Börse war nicht zu finden. Sicherheitshalber durchsuchten die Mädchen sämtliche
Schränke und Regale, doch erfolglos. Schließlich blieb nur eine Erklärung übrig.
„Geklaut!“ sagte Jana, und Angie nickte.
„Sieht so aus. Und nun?“
„Keine Ahnung. Wir können ja schlecht alle anderen Zimmer durchsuchen und
nach Münzen suchen.“
„Nein“, meinte Angie, „aber wir können Mark Bescheid sagen.“
„Der kann auch nicht viel machen“, erwiderte Jana resigniert, folgte Angie jedoch
hinunter. Mark sah überrascht von seinen Papieren auf, als Angie und Jana eintraten.
„Noch was vergessen?“ fragte er, doch die Mädchen schüttelten die Köpfe. „Was
denn dann?“
„Unser Geld ist weg“, sagte Angie. „Gestern abend war es noch da.“
„Seid ihr sicher?“ Mark stand auf und ging auf die Mädchen zu, voll böser Vorah-
nung. Beide nickten.
„Ich hab mir gestern noch ‘nen Schokoriegel gezogen“, sagte Jana, „und Angie hat
mir Geld gegeben, damit ich ihr einen mitbringe.“
„Und jetzt gerade schauten wir nach, und es war weg“, fügte Angie hinzu. „Wir
haben das ganze Zimmer abgesucht, aber nichts gefunden.“
Mark nickte müde. „Okay, ich glaub euch. Kommt bitte mit.“ Er ging in das Zim-
mer der Mädchen und direkt auf ein Fach in der Schrankwand zu. Dort angekommen,
drehte er sich um und sah die Mädchen an. „Habt ihr heute morgen das Zimmer abge-
schlossen, als ihr essen gegangen seid?“ Angie und Jana schauten sich an. Beide
zuckten die Schultern. „Gut, fragen wir anders. Jana, du bist zuerst wieder hier oben
gewesen. Mußtest du die Tür aufschließen?“
„Ja, aber...“ Sie dachte nach. „Ich hab den Schlüssel nur ein halbes Mal rumge-
dreht, dann war die Tür offen.“
„Also war sie nicht abgeschlossen“, sagte Mark. „Denkt bitte immer daran, sie ab-
zuschließen, ja?“ Ohne auf Antwort zu warten, schob er eine Rückwand beiseite.
Staunend sahen die Mädchen, daß sich dahinter ein Videorekorder und ein winzig
kleiner Monitor versteckte. Mark schaute die Mädchen an. „Jedes Zimmer hier wird
rund um die Uhr überwacht. Meistens passiert nichts, aber an Tagen wie heute ist es
ganz gut, wenn man so was hat.“ Er drückte einige Tasten, und der Rekorder begann,
zu surren. „Wann seid ihr essen gegangen?“
„Gegen acht“, meinte Angie nach kurzer Überlegung. Beide Mädchen gingen näher
an den Schrank und sahen Mark zu, der einige Tasten mit Ziffern drückte. Nach ein
paar Sekunden hörte das Surren auf, der Monitor erwachte zum Leben und zeigte ein
leeres Zimmer. In der Ecke des Bildes waren Uhrzeit und die Nummer „11“ zu sehen,
die Zimmernummer von Angie und Jana. Mark ließ das Band noch etwas weiter zu-
rücklaufen, und plötzlich sahen die Mädchen sich selbst auf dem Band, wie sie gerade
das Zimmer verließen. Mark drückte auf Vorlauf, und einige Sekunden lang geschah
nichts auf dem Monitor, außer das die Uhrzeit schnell vorwärts lief. Plötzlich war eine
Bewegung zu sehen. Mark stoppte das Band, spulte etwas zurück und ließ es wieder
normal laufen. Angie und Jana sahen ein Mädchen in das Zimmer kommen. Zielstrebig
ging sie zu Angies Nachttisch und öffnete ihn, dann steckte sie etwas in ihre Tasche.
Bei Janas Nachttisch geschah das gleiche, dann eilte das Mädchen schnell wieder hin-
aus.
Mark stoppte das Band und drückte wieder einige Tasten, dann wurde der Monitor
dunkel. Er schob die Rückwand wieder vor und drehte sich zu den Mädchen um. „Ich
brauch euch beide dabei“, sagte er mit enttäuschter Stimme. „Habt ihr das Mädchen
erkannt?“ Angie und Jana schüttelten ihre Köpfe . „Ich aber. Kommt bitte mit.“ Sie
folgten Mark in die zweite Etage, zum Zimmer Nummer 33. Ohne viel Umstände holte
Mark seinen Schlüssel heraus und öffnete die Tür, dann trat er schnell ein, gefolgt von
Angie und Jana. Sie sahen ein Mädchen von vielleicht 17 Jahren auf dem Bett sitzen,
um sie herum lagen mehrere Geldbörsen und sehr viele Münzen verstreut. Das Mäd-
chen sah erschrocken auf die kleine Prozession, die in ihr Zimmer kam, und wurde
blaß.
„Die habe ich draußen gefunden“, sagte sie schnell und deutete auf die Geldbörsen
auf ihrem Bett. „Ich hab sie nur aufgemacht, um zu sehen, wem sie gehören.“
„Das da ist meine“, sagte Jana grimmig und fischte sich ihre Börse von dem Bett.
„Und die gehört mir“, sagte Angie in gleichem Ton und griff sich ihre.
„Dummerweise lagen die beiden Geldbörsen in den Nachttischen der Mädchen“,
sagte Mark ruhig. „Evelyn, das ist das dritte Mal, daß du stiehlst. Pack deine Sachen.
Deine Zeit hier ist vorbei.“
Das Mädchen wurde panisch. „Mark, du kannst mich nicht rausschmeißen! Ich geh
kaputt da draußen! Ich weiß doch nicht, wo ich hin soll!“
„Tut mir leid“, sagte Mark. „Du kennst die Regeln. Angie, Jana, wartet bitte drau-
ßen, ja?“ Schnell gehorchten die beiden Mädchen und eilten nach draußen. Sie hörten
noch eine ganze Weile, wie Evelyn bettelte und flehte, doch Mark blieb hart. Schließ-
lich öffnete sich die Tür. Das große Mädchen kam heraus, mit Mantel und Schuhen
bekleidet, in der linken Hand eine prall gefüllte Reisetasche. Über ihr Gesicht liefen
dicke Tränen.
„Ich werd jedem sagen, daß du mich vergewaltigt hast“, zischte sie wütend. „Ich
werd dich überall so schlecht machen, daß du deinen Job verlierst!“
„Natürlich wirst du das“, sagte Mark ruhig. „Evelyn, du hast über fünftausend
Mark auf deinem Sparbuch. Warum mußtest du kleine Mädchen beklauen?“
„Mein Sparbuch!“ sagte Evelyn erschrocken. „Das will ich haben!“
„Das bekommst du auch“, erwiderte Mark sachlich. „Es ist dein Geld, und nie-
mand nimmt es dir weg. Aber dein Bargeld bleibt hier; ich muß erst mal sehen, wen du
alles bestohlen hast.“ Er zog Evelyn am Handgelenk die Treppe hinunter in sein Büro,
begleitet von ihren wüsten Beschimpfungen. Angie und Jana folgten in sicherem Ab-
stand. Kurz darauf kamen sie wieder heraus. Mark schob Evelyn zur Eingangstür.
„Dein Taxi kommt gleich“, sagte Mark und gab dem Mädchen einen Zettel. „Hier
ist die Adresse von einem Heim, wo du bleiben kannst, bis du deine Lehre zu Ende
gemacht hast. Und jetzt raus mit dir.“ Er öffnete die Tür. Mit so wilden Flüchen, daß
Angie und Jana rot wurden, verließ Evelyn das Heim. Mark sah ihr hinterher, bis sie
durch das Eingangstor hindurch war, dann schloß er die Tür und lehnte sich mit ge-
schlossenen Augen von innen dagegen. Angie lief zu ihm und nahm seine Hand in ihre.
Überrascht schaute Mark sie an.
„Nicht traurig sein“, bat Angie. Mark lächelte. „Was ist das denn jetzt?“ sagte er
mit leisem Lachen. „Du wirst bestohlen und tröstest mich?“ Angie wurde rot.
„Du hast so traurig ausgesehen!“ verteidigte sie sich.
„Bin ich auch“, sagte Mark müde, dann atmete er tief durch. „Du bist ein feiner
Mensch, Angie“, sagte er sanft und strich ihr sanft über die Haare. „Ich muß eben
noch jemanden anrufen und Bescheid sagen, daß Evelyn kommt, ja? Mittags setzen
wir uns alle zusammen und geben das gestohlene Geld zurück.“ Noch einmal strich er
ihr über die Haare, drückte kurz ihre Hand, dann ging er in sein Büro. Jana kam an
Angies Seite.
„Mann, was für eine Show“, sagte sie staunend. „Ich werd in Zukunft immer ab-
schließen, das versprech ich!“
„Ich auch“, sagte Angie abwesend.


„Und daran seht ihr, daß es mir Ernst ist mit den Regeln“, schloß Mark seine klei-
ne Rede im Essensraum. „Evelyn hat nicht nur eine, sondern zwei Chancen bekom-
men, aber sie hat beide nicht genutzt. Es war ihre Entscheidung, und sie muß jetzt mit
den Folgen leben. Alle, die Geld vermissen, kommen bitte gleich in mein Büro. Seid
bitte so ehrlich und gebt nur das an, was euch fehlt. Ich weiß, daß das nicht auf den
Pfennig genau möglich ist, aber in etwa werdet ihr ja wissen, wieviel Geld ihr hattet.
Das war’s, vielen Dank.“ Der Geräuschpegel stieg wieder an, nachdem Mark sich hin-
gesetzt hatte. Angie und Jana beobachteten ihn von ihrem Tisch aus, aber nur Angie
spürte, wie sehr Mark der Vorfall belastete. Sie wollte ihn trösten, aber hier ging das ja
nicht.
Mark blickte auf, genau in ihre Augen. Angie dachte wieder daran, ihn zu trösten,
und Mark lächelte sie kurz an, dann schaute er wieder auf seine Unterlagen. Bald dar-
auf stand er auf und ging in sein Büro. Mehrere Mädchen folgten ihm, darunter auch
Angie und Jana.
Angie vermißte etwas über neun Mark, Jana fünf. Die Beträge der anderen Mäd-
chen lagen in der gleichen Größenordnung. Schließlich stellte sich heraus, daß Evelyn
etwas über vierzig Mark gestohlen hatte, von insgesamt sieben Mädchen. Diese Sum-
me löste allgemeines Kopfschütteln aus. Für vierzig Mark raus aus diesem schönen
Heim? Keine Vergünstigungen mehr? Es war schlichtweg unvorstellbar, daß Evelyn so
dumm gewesen sein konnte.
Nachdenklich gingen Angie und Jana wieder auf ihr Zimmer. Dort angekommen,
drehte Jana sich zu Angie.
„Angie, es... es tut mir leid“, sagte Jana leise. „Als... als mein Geld weg war,
dachte ich zuerst, daß...“
„Schon gut“, lächelte Angie. „Ich hätte wahrscheinlich das gleiche gedacht.“ Die
Mädchen umarmten sich kurz, dann räumten sie ihr Geld wieder weg. Als sie die
Schubladen geschlossen hatten, grinsten sie sich an.
„Vielleicht sollten wir ein besseres Versteck suchen“, meinte Jana.
„Nicht nötig“, lachte Angie und deutete auf den Schrank. „Eingebauter Wach-
hund.“ Jana nickte, plötzlich wurde sie flammend rot. „Was ist denn jetzt?“ fragte An-
gie überrascht.
„Angie“, sagte Jana drängend. „Es wird alles aufgenommen, was wir hier tun. Al-
les!“
„Ja, und?“ Angie verstand noch nicht.
„Überleg doch mal“, sagte Jana leise. „Wenn wir morgens duschen und hier rein-
kommen, was haben wir dann an?“
„Nichts“, antwortete Angie überrascht, dann klickte es. Sie wurde ebenfalls tiefrot.
„Du - du meinst, daß - daß wir da auf dem Band sind, und zwar - nackt?“
„Genau das meine ich“, antwortete Jana grimmig. „Aber nicht mit mir! Ich rede mit
Mark.“
„Warte“, rief Angie und folgte Jana hinaus. Schnell schloß sie die Tür ab und
rannte hinter Jana her, die Treppe hinunter und in Marks Büro.
„Ihr seid aber anhänglich heute“, scherzte Mark, als er die beiden Mädchen sah,
dann bemerkte er Janas Gesicht. „Oh-oh“, lachte er. „Sturm im Anzug!“
„Da gibt es überhaupt nichts zu lachen!“ Wütend schüttelte Jana Angies Hand ab,
mit der Angie sie beruhigen wollte. „Ich will nicht aufgenommen werden, und schon
gar nicht nackt! Ich will, daß dieses Ding verschwindet, und zwar sofort!!!“
„Jana“, begann Mark, doch Jana war nicht so leicht zu stoppen.
„Und überhaupt, was soll der Unfug eigentlich? Machst du das bei allen, daß du
sie nackt filmst? Was passiert mit den Kassetten, wenn sie voll sind? Verkaufst...“
„Jana!“ Marks schneidende Stimme ließ Jana sofort verstummen. Erschrocken
starrten die Mädchen Mark an, der zum ersten Mal, seit sie ihn kannten, laut geworden
war. „Setz dich hin!“ befahl er streng. Automatisch gehorchten Jana und Angie und
setzten sich. Mark kam zu ihnen und setzte sich auf das zweite Sofa. Seine Augen
blitzten ärgerlich.
„Jana“, sagte er etwas ruhiger. „Es interessiert mich nicht im geringsten, wie du
nackt aussiehst. Absolut nicht! Die Rekorder sind nur aus einem einzigen Grund in-
stalliert worden: zur Überwachung.
Im ersten Jahr hier ist es so oft vorgekommen, daß geklaut wurde, daß ich mir die
Sache mit den Rekorden überlegt habe. Als damals alle Mädchen in Urlaub waren,
kamen Handwerker und Techniker und haben in jedem Zimmer eine Kamera und einen
Videorekorder mit Monitor installiert. Es gibt nur einen einzigen Grund, aus dem ich
mir jemals eine Kassette ansehe: wenn ein Mädchen zu mir kommt und sagt, daß et-
was aus ihrem Zimmer verschwunden ist. Alles andere interessiert mich nicht!“ Er sah
Jana eindringlich an.
„Rechne selbst“, sagte er dann. „Vierzig Zimmer mit Überwachung. Jede Kassette
läuft 24 Stunden, dann wird sie überschrieben. Rechne selbst aus, wieviel Zeit ich
brauchen würde, um alle Kassetten durchzusehen. Und wofür das ganze? Nur, um zu
sehen, wie sich ein Kind aus- oder anzieht?“ Er ließ diese Worte einen Moment lang
wirken. „Denk nach“, sagte er, nun wesentlich sanfter. „Du wohnst jetzt seit drei Wo-
chen hier. Heute war das erste Mal, daß ich an den Rekorder bei euch gegangen bin.
Den Grund dafür weißt du. Außerdem habe ich dich gefragt, wann ihr essen gegangen
seid, um genau das zu vermeiden, daß ich eine von euch unbekleidet sehe.“ Er stand
auf, ging zu seinem PC und drückte einige Tasten. Kurz darauf kam ein Blatt Papier
aus dem Drucker. Mark nahm das Blatt und reichte es Jana.
„Auf dieser Liste steht drauf, wann ich welchen Rekorder gestartet habe, um etwas
zu kontrollieren. Du siehst selbst, daß nur ganz wenige Einträge drauf sind. Der letzte
ist von heute morgen, neun Uhr zwölf. Der davor ist irgendwann im August, das war
der Monat, wo Evelyn das zweite Mal etwas gestohlen hat. Noch einmal: es ist mir
vollkommen egal, wie ihr nackt ausseht. Mein Job ist, dafür zu sorgen, daß hier nichts
geschieht, und die Videoüberwachung hilft mir dabei. Reicht dir das?“ Beschämt
nickte Jana.
„Tut mir leid“, murmelte sie.
„Schon in Ordnung“, lächelte Mark. „Es ist gut, wie du reagiert hast.“ Er grinste
plötzlich. „Es ist bisher nur ein einziges Mal vorgekommen, daß ich ein Mädchen auf
Video nackt gesehen habe, allerdings war sie selbst schuld daran.“
„Erzähl!“ forderte Angie neugierig.
„Das war... vorletztes Jahr. Ein Mädchen hatte eine Klassenarbeit in den Sand ge-
setzt, und aus Rache kam sie am nächsten Tag zu mir und sagte, ihr Lehrer hätte sie in
der Nacht belästigt. Sie, ihr Lehrer und ich gingen also an den Rekorder. Als das Mäd-
chen sah, daß alles aufgenommen worden war, wollte sie einen Rückzieher machen,
doch der Lehrer bestand darauf, daß wir es kontrollierten. Also schauten wir uns den
Film an. Der Lehrer war tatsächlich abends in ihrem Zimmer gewesen, hatte ihr aller-
dings nur Bücher gebracht, damit sie das üben konnte, was sie verpatzt hatte. Na, die-
ses Mädchen läßt die Bücher links liegen und zieht sich vor dem Lehrer aus, um ihn zu
verführen. Er jedoch hat sich sofort vom Acker gemacht, als das Mädchen nackt vor
ihm stand. Tja, damit stand die Kleine ziemlich dumm da.“
„Das denk ich mir“, lachte Angie und klatschte sich begeistert auf die Schenkel.
Selbst Jana mußte lächeln.
„Wieder alles in Ordnung?“ fragte Mark. Jana nickte. „Ja. Tut mir leid.“
„Wie gesagt: schon okay. Jetzt aber raus mit euch, morgen beginnt die Schule, und
ich hab noch zu tun.“ Wie auf Stichwort klingelte das Telefon. Angie und Jana liefen
schnell hinaus.
„Ist das peinlich!“ stöhnte Jana vor der Tür.
„Eigentlich nicht“, lächelte Angie. „Immerhin hast du ihm gezeigt, daß du dir nicht
alles gefallen läßt.“ Halb versöhnt, ging Jana neben Angie die Treppe hinauf. In ihrem
Zimmer angekommen, legte Jana sich mit einem Buch auf ihr Bett, Angie begann mit
der Arbeit an ihrem neuen Tagesplan. ‘Viertel vor Sechs’, dachte sie mit einem leich-
ten Schauder. ‘Nee. Sagen wir: sechs. Dann bin ich um fünf nach sechs unten und
kann dann fast ‘ne halbe Stunde mit Mark schwimmen und reden.’ Gedankenverloren
kritzelte sie mit dem Stift sinnlose Figuren auf das Blatt, als es plötzlich an die Tür
klopfte. Erschrocken zuckte Angie zusammen und drehte sich herum.
„Ja?“ rief sie. Die Tür öffnete sich, und Mark kam herein. Jana sah interessiert auf.
„Entschuldigt den Überfall“, sagte Mark. „Angie, könntest du mir einen riesengro-
ßen Gefallen tun?“
„Klar“, antwortete Angie begeistert und sprang auf. „Was denn?“
„Ich hatte gerade einen Anruf von einem Mädchen. Sie ist abgehauen, aus dem
gleichen Grund wie ihr, aber sie traut mir nicht. Verständlich, nach dem, was sie erlebt
hat. Miriam - die Frau, die euch damals abgeholt hat - ist bereits auf dem Weg hier-
her.“ Erstaunt folgte Angie Marks Worten, ohne zu verstehen. „Worum ich dich bitten
möchte, Angie: könntest du mit Miriam fahren, um dieses Mädchen abzuholen und ihr
mit deinen Worten zu erzählen, was wir hier machen? Wenn sie es von dir hört und
dich dabei sieht, wird sie wohl ihre Angst verlieren und herkommen.“
„Klar“, sagte Angie und war bereits unterwegs zu ihrem Schrank, um sich Klei-
dung herauszusuchen.
„Das ist sehr nett, Angie“, sagte Mark mit noch weicherer Stimme als sonst. „Das
rechne ich dir hoch an.“ Angie wunderte sich kurz über das merkwürdige Gefühl in
ihrem Bauch, doch Janas nächste Worte hielten sie von weiterem Nachdenken darüber
ab.
„Wie viele Punkte gibt es denn dafür?“ fragte Jana scherzhaft. Mark wandte sich
zu ihr und schaute sie ruhig an. „Kommt drauf an, mit wieviel Punkten du ein Leben
bewertest“, sagte er schlicht und sah wieder zu Angie. „Komm runter, wenn du fertig
bist, ja? Miriam wird in etwa fünf Minuten hier sein.“ Leise ging er hinaus.
„Wow“, meinte Jana beschämt, während Angie sich rasend schnell umzog. „Das
war ja ‘ne knallharte Antwort.“
„Das war aber auch eine dumme Frage von dir“, sagte Angie ruhig. Ohne es zu
bemerken, imitierte sie Marks Ton dabei: sanft, ruhig, ohne Vorwurf. Jana schaute sie
nur mit großen Augen an, bis Angie fertig war und schnell aus dem Zimmer lief.
„Kann mir jemand sagen, was hier eigentlich abgeht?“ fragte sie die geschlossene Tür,
doch es kam keine Antwort.


Miriam wartete bereits mit laufendem Motor vor dem Haus. Angie lief schnell die
Treppe hinunter und sprang in den Wagen, dann fuhr Miriam zügig los. Auf der Land-
straße drückte sie das Gaspedal durch und fuhr sehr schnell, aber nicht riskant. Angie
hatte keinen einzigen Moment Angst. Auf der Autobahn erhöhte Miriam dann das
Tempo, bis der Mercedes mit weit über 200 Stundenkilometer dahinjagte. Eine halbe
Stunde später, kurz vor der passenden Ausfahrt, bremste sie und schlug dann die
Richtung zur Stadt ein.
„Ist es noch weit?“ fragte Angie, als Miriam wegen des Verkehrs auf der Straße ihr
Tempo senken mußte. Miriam verneinte. „Noch knapp zehn Minuten.“ Sie warf Angie
einen kurzen Blick zu. „Danke, daß du mitgekommen bist. Wie geht es dir? Gut er-
holt?“
„Und wie!“ grinste Angie. „Das ist wie Urlaub! Kennen Sie mich denn noch?“
„Und ob!“ lachte Miriam. „Ich vergesse kein Mädchen, das ich abgeholt habe.“
„Warum machen Sie das?“ fragte Angie neugierig. „Ich meine, so weit fahren, um
ein Mädchen abzuholen. Müssen Sie denn nicht arbeiten?“
„Nein, ich muß nicht arbeiten“, antwortete Miriam, schaute in die Spiegel und
wechselte die Fahrspur. „Ich bin verheiratet. Mein Mann und ich haben vor fünf Jahren
ein elfjähriges Mädchen adoptiert, das bei Mark lebte. Jetzt ist sie sechzehn und will
Sozialarbeiterin werden.“ Sie schaute kurz zu Angie, die ihr aufmerksam zuhörte.
„Deswegen. Wir können zwar nicht die ganze Welt verbessern, aber zumindest ein
kleines Stück Dunkelheit etwas heller machen.“ Beeindruckt schwieg Angie.
„Außerdem habe ich genau das hinter mir, was ihr auch hinter euch habt“, sagte Mi-
riam und bog in eine Straße ein. „Damals habe ich mir gewünscht, daß es Menschen
wie Mark gibt, aber es gab sie nicht.“
Angie nickte, dann fiel ihr etwas auf. „Sie sagten damals, als Sie uns abgeholt ha-
ben und wir Sie nach dem Heim gefragt hatten, daß Sie Ihre Tochter auch dahin brin-
gen würden, wenn Sie eine hätten. Haben Sie jetzt eine oder nicht?“
„Doch“, lächelte Miriam. „Ich habe eine, aber das sage ich immer, wenn ich nach
dem Heim gefragt werde. Mark kann das alles viel besser erklären als ich. Deshalb.“
Sie hielt Ausschau nach einem Parkplatz, fand jedoch keinen. Kurz entschlossen
schaltete sie die Warnblinkanlage ein und brachte den Wagen in zweiter Reihe zum
Stehen. „Wir sind da.“


‘Mein Gott’, dachte Angie erschüttert, während Miriam das Kodewort abfragte.
‘Hab ich damals auch so ausgesehen?’ Vor ihr stand ein Mädchen, etwa 15 oder 16,
mit schmutzigen braunen Haaren, grünen Augen und heruntergekommen gekleidet.
Aber die Augen waren das Schrecklichste: eine Mischung aus Angst, Mißtrauen, Haß,
Resignation und Schmerz. Angie tat der Anblick fast körperlich weh.
„Angie, das ist Iris“, drang Miriams Stimme in ihr Bewußtsein. „Angie ist vor etwa
drei Wochen von zu Hause weggelaufen und zu uns gekommen.“ Angie spürte einen
leichten Druck von Miriams Hand an ihrer Schulter und verstand. Sie sah Iris in die
Augen, überlegte hin und her, was sie diesem ihr vollkommen fremden Mädchen sagen
sollte, dachte plötzlich zurück an einen bestimmten Abend, als sie selbst auf einem
Bahnhof stand, voller Angst und Verzweiflung, an die Fahrt mit Miriam und Andy /
Jana zu ihrem neuen Heim, von dem sie nicht das Geringste wußte, und plötzlich war
ihr klar, was sie zu tun hatte. Sie ging auf Iris zu, nahm sie in den Arm und drückte sie.
„Komm hier weg“, sagte sie mit feuchten Augen und zittriger Stimme, in der all ihre
Erinnerungen lagen. Iris nickte, hob ihre Tasche auf und ging, Arm in Arm mit Angie,
zu Miriams Auto.

* * *

„So“, sagte Miriam fröhlich, als sie Iris und Angie in Marks Büro gebracht hatte.
„Angie, du weißt ja, wo alles ist. Kümmerst du dich noch einen Moment um Iris?“
Angie nickte und zeigte Iris die Getränke. Miriam ging leise hinaus und schloß die Tür
mit einem kaum hörbaren Klicken, das im Gespräch der beiden Mädchen unterging.
„Wie war’s?“ hörte sie Marks Stimme. Miriam drehte sich in die Richtung, aus der
die Worte kamen, und fand Mark auf der Treppe zum Keller, auf der er langsam hoch-
stieg.
„Das hättest du sehen sollen“, sagte Miriam und ging mit Mark in den Untersu-
chungsraum, wo sie ungestört miteinander reden konnten. „Dieses Mädchen steht da,
bereit, jedem ein Messer in den Leib zu stoßen, der ihr zu nahe kommt, und Angie
geht einfach auf sie zu, nimmt sie in den Arm und flüstert ihr ein paar Worte zu. Das
war’s.“
„Was?“ fragte Mark ungläubig.
„Doch, Mark“, sagte Miriam ernst. „Als ich Iris gesehen habe, war mir sofort klar,
daß ich sehr lange mit ihr reden muß. Sie war das personifizierte Mißtrauen. Aber An-
gie ging durch ihre Abwehr wie ein heißes Messer durch weiche Butter. Ein paar ge-
flüsterte Worte, und Iris nimmt ihre Tasche und geht mit Angie zum Auto. Arm in
Arm, wie die besten Freundinnen.“ Sie sah Mark eindringlich an. „Mark, sie hat das
Zeug dazu. Und das Talent.“
„Das denke ich auch“, sagte Mark langsam. „Sie interessiert sich sehr stark für die
Arbeit, die ich hier tue. Aber sie ist erst dreizehn. Gerade dreizehn geworden. Ich will
nicht zu schnell urteilen oder sie in eine Richtung bringen, die ihr später vielleicht gar
nicht mehr zusagt.“
„Dann gib ihr mehr Möglichkeiten“, drängte Miriam. „Laß sie mehr an deiner Ar-
beit teilhaben, laß sie öfter mal mit rausfahren. Entweder es gefällt ihr, oder sie sagt
Nein. Reiß sie nachts aus dem Schlaf, wenn ein Anruf kommt. Wenn sie murrt oder
sich umdreht, weißt du Bescheid.“
„Du bringst mich da auf eine ziemlich gemeine Idee“, grinste Mark. „Paß auf...“
Fünf Minuten später betrat er sein Büro und begrüßte die Mädchen. Angie spürte,
wie Mark sich verwandelte: war er vorher, sozusagen im kleinen Kreis, fröhlich und
locker, machte er jetzt einen seriösen, vertrauenerweckenden, beruhigenden Eindruck.
Sie merkte auch, daß Iris sich entspannte, als Marks Ausstrahlung auf sie einwirkte.
Mit offenen Ohren und Augen verfolgte Angie das Gespräch und wunderte sich im
stillen, daß Mark sie im Büro ließ, doch sie nutzte die Chance, um zuzuhören.
Nach dem Gespräch war Iris wesentlich ruhiger, und nachdem sie das Haus be-
sichtigt hatte, geführt von Angie, legte sie ihr Mißtrauen ab. Angie brachte sie auf ihr
Zimmer (Nummer 17), zeigte und erklärte ihr alles, dann ging sie mit Iris hinunter zum
Mittagessen. Von da ab übernahm Mark wieder, doch Angie blieb, auf Marks Einla-
dung, am gleichen Tisch, sehr zu Janas Verwunderung, die immer wieder zu Angie
herüber sah.
Als Iris dann nach dem Essen ihren neuen Namen (Jennifer Martens) bekommen
und Mark sie zur Untersuchung geschickt hatte, wandte er sich Angie zu.
„Angie, darf ich dich noch einmal um etwas bitten?“
„Sicher!“ sagte Angie eifrig, begierig auf einen neuen „Auftrag“.
„Könntest du für ein paar Minuten auf das Telefon aufpassen? Irgendwie ist mir
das Essen nicht sonderlich bekommen.“
„Mach ich“, erwiderte Angie begeistert, dann verwandelte sich ihre Miene in Be-
sorgnis. „Aber... was ist, wenn jemand anruft?“
„Nicht um diese Zeit“, beruhigte Mark sie. „Wenn Kinder abhauen, dann entweder
morgens, wie Jennifer, oder abends und nachts, wie du, Jana und Katrin.“ Mit ge-
preßter Miene stand er auf und legte eine Hand auf den Magen. „Danke, Angie. Ich
beeile mich.“ Ziemlich wackelig ging er hinaus. Angie setzte sich auf den großen Stuhl
hinter den Schreibtisch und hörte die Tür zur Toilette zufallen. Wenige Sekunden spä-
ter klingelte das Telefon.
„Scheiße!“ Panisch blickte Angie sich um, doch sie war alleine. Mark war auf
Toilette, und gemessen an den unangenehm lauten Geräuschen, die von dort kamen,
würde er dort auch noch einige Zeit verbringen. Die Ärztin war mitten in ihrer Unter-
suchung, Maria hatte in der Küche alle Hände voll zu tun, die Lehrer waren schon auf
dem Weg nach Hause. Und das Telefon klingelte noch immer.
„Verfluchte Kacke!“ Angie atmete durch und nahm den Hörer auf. „Ja?“
„Wer ist da?“ hörte sie eine verweinte, junge Mädchenstimme.
„Heim für mißbrauchte Mädchen“, antwortete Angie und verfluchte sich im glei-
chen Moment, aber sie wußte die offizielle Bezeichnung des Heims nicht.
„Gott sei Dank!“ antwortete die Stimme erleichtert. „Ich weiß nicht mehr, was ich
machen soll. Mein - mein Bruder will mich auf den Strich schicken“ - das Mädchen
schluchzte auf - „und damit ich mich dran gewöhne, wie er sagt, hat er mich den gan-
zen Vormittag vergewaltigt.“ Sie weinte wieder. „Er und seine drei Freunde.“
„Wie heißt du?“ fragte Angie mit ruhiger Stimme und suchte Stift und Zettel. Den
Stift fand sie sofort, doch keinen Zettel. Ohne zu zögern griff sie nach dem Blatt, auf
dem Iris’ / Jennifers Daten standen und drehte es um.
„Ute Peters“, kam die klägliche Antwort.
„Okay, Ute“, sagte Angie. „Ich sehe zu, daß wir dich schnellstens da rausholen.
Wie alt bist du, und wo bist du gerade?“
„Vierzehn. Ich bin an der Hauptpost in...“ Sie nannte den Namen des Ortes, wäh-
rend Angie schnell mitschrieb. „Ich bin mit dem Bus in die nächste Stadt gefahren,
damit er mich nicht findet.“
„Das war schlau von dir“, lächelte Angie. Plötzlich fiel ihr siedendheiß ein, daß sie
gar nicht die Telefonnummer von Miriam hatte. Hektisch sah sie sich auf dem
Schreibtisch um, doch außer dem PC und dem Blatt vor ihr fand sie nichts. Keine Te-
lefonliste, keine Namen. Die Schubladen im Schreibtisch waren abgeschlossen. „Ute“,
sagte sie schließlich, „siehst du irgendwo ein Taxi?“
„Ja. Direkt vor der Post stehen drei Stück.“
„Frag die mal, wie teuer es ist, wenn sie dich hierher bringen.“ Sie nannte Ort und
Adresse. Sie hörte, wie Ute die Tür der Telefonzelle öffnete und mit lauter Stimme
etwas rief, dann war Ute wieder am Apparat. „Der sagt, um die hundert Mark. Soviel
hab ich nicht!“ Sie weinte wieder.
„Wir zahlen das“, entschied Angie. „Schmeiß dich in das Taxi und komm her. Wir
warten auf dich.“
„Sicher?“ fragte Ute hoffnungsvoll.
„Ganz bestimmt“, versprach Angie. „Jetzt sieh erst mal zu, daß du da wegkommst.
Sobald du im Taxi bist, bist du sicher.“
„Alles klar“, antwortete Ute erleichtert. „Bis gleich dann. Danke!“
„Bis gleich“, sagte Angie fast zärtlich, dann legte sie den Hörer auf. Ein komisches
Gefühl an ihrer Haut ließ sie an sich herunterblicken, und erstaunt stellte sie fest, daß
ihre Achseln und ihre Seiten schweißnaß waren. Auch die Stirn war naß, ebenso ihre
Haare. Sie ließ sich zurückfallen und atmete tief durch, dann zog sie ihr Hemd aus der
Hose und wischte sich das Gesicht damit trocken. Anschließend stand sie auf und
stopfte das Hemd zurück in die Hose. In diesem Moment kam Mark wieder herein. Er
sah ziemlich blaß aus, fand Angie.
„Und?“ fragte er mit matter Stimme. „Alles ruhig?“
„Nein“, antwortete Angie. „Ein Mädchen, Ute Peters, 14, hat angerufen.“ Ver-
wunderung huschte über Marks Gesicht, dann Besorgnis. Schnell ging er zu Angie.
„Was war mit ihr?“ fragte er mit rauher Stimme. Angie informierte ihn kurz. Mark
sah sie merkwürdig an.
„Du hast einfach so entschieden, das Taxi zu bezahlen?“
„Ja“, verteidigte Angie sich. „Ich hatte doch die Nummer von Miriam nicht.“
„Das ist auch gar nicht mehr Miriams Gebiet“, sagte Mark und sah Angie durch-
dringend an. „Jetzt erkläre mir bitte, warum du nicht auf mich gewartet hast. Und war-
um du Geld ausgibst, das dir nicht gehört.“ Bei diesem Vorwurf platzte Angie.
„Weil ich sie da raus haben wollte“, schrie sie Mark an. Ihre Augen blitzten vor
Wut. „Weil sie verzweifelt war und Angst hatte, so wie ich damals! Weil sie nicht
wußte, wo sie hin sollte! Weil du dich ausgeschissen hast, daß man es im ganzen Haus
hören konnte! Weil hier keine Telefonlisten rumlagen, wer in ihrer Nähe ist! Ach,
Kacke! Wenn dir das Scheißgeld so viel wichtiger ist als das Mädchen, werde ich es
eben abarbeiten, verflucht!“ Wütend lief sie an Mark vorbei zur Tür.
„Angela!“ Angie erstarrte, als sie Marks laute, autoritäre Stimme hörte. Langsam
drehte sie sich um. Zu ihrer Überraschung las sie Bewunderung und Anerkennung in
Marks Blick. „Komm mal her“, sagte er sanft. Zögernd ging Angie wieder zu ihm.
Mark setzte sich auf seinen Tisch und nahm Angies Hände in seine.
„Angie“, sagte er leise, „du hast völlig richtig gehandelt.“ Er atmete tief durch.
„Ich habe dich nur gefragt, weil ich wissen wollte, warum du so gehandelt hast.“ Er
lächelte sie an. „Weißt du, daß das der erste Anruf in der Mittagszeit seit mehr als drei
Jahren war? Dann auch noch ein ziemlich schwieriges Problem, und du entscheidest
völlig richtig, was zu tun ist.“ Er drückte Angie kurz, dann ließ er sie wieder los. „Soll
ich dir mal was verraten?“ Seine Augen funkelten vor Vergnügen. „Miriam hat dich so
gelobt, wie du mit Iris umgegangen bist. Sie hat vorgeschlagen, dich öfter bei Einsät-
zen mitzunehmen, aber das erschien mir noch zu früh. Deswegen hatten wir überlegt,
daß ihre Tochter hier anruft und so tut, als ob sie abgehauen wäre. So was wie ein Test
für dich.“ Er zwinkerte Angie zu, die ihm erstaunt zuhörte. „Das hatten wir allerdings
erst für morgen Mittag geplant. Daß mir mein Magen so quer kam heute, konnte ich
nicht ahnen. Muß wohl Paprika im Essen gewesen sein. Das vertrage ich nicht.“ Er
legte beide Hände auf Angies Schultern. „Angie, hättest du Interesse daran, bei dem
mitzuarbeiten, was Miriam und ich tun?“
Angie fiel von einem Schock in den nächsten. Erst dieser Anruf, dann Marks Vor-
würfe, dann sein Lob und die Anerkennung, und jetzt das!
„Schon“, hauchte sie überwältigt. „Ich meine, sehr gerne, aber... warum? Bin ich
denn schon alt genug dafür?“
„Für’s Autofahren nicht“, schmunzelte Mark. „Aber ansonsten... Ja. Miriam und
ich haben beide das Gefühl, daß du ein sehr starkes Talent hast, anderen Menschen zu
helfen. Möchtest du?“
„Ja!“ flüsterte Angie glücklich. „Das war zwar total anstrengend, also das mit der
Ute, aber auch schön.“
„Fein“, freute Mark sich. „Ich überleg mir, wie wir dich hier einspannen können,
okay?“


Ab dem nächsten Tag veränderte Angies Leben sich vollkommen. Sie stand um
sechs Uhr auf, ging sofort hinunter ins Schwimmbad und schwamm dort eine halbe
Stunde mit Mark. Um halb sieben stand sie unter der Dusche, anschließend weckte sie
Jana und machte sich fertig für den Tag, um viertel vor sieben saß sie angezogen am
Frühstückstisch und aß in aller Ruhe ein vielfältiges und reichhaltiges Frühstück. Punkt
acht Uhr saß sie zusammen mit Katrin und zwei weiteren Mädchen in ihrem Unter-
richtsraum. Die Lehrerin fragte die Mädchen kurz nach ihrem Alter und auf welcher
Schule sie bisher gewesen waren, dann arbeiteten sie gemeinsam einen Unterrichtsplan
aus, dem sie bis zu den Weihnachtsferien folgen würden. Danach würden die Mädchen
den Anschluß an die Klasse geschafft haben.
Um Viertel vor Neun war Pause, um Neun fing dann der richtige Unterricht an.
Angie war begeistert von der Art und Weise der Schule: jeweils vier Mädchen mit dem
gleichen Wissensstand saßen an einem Tisch und arbeiteten gemeinsam, während der
Lehrer oder die Lehrerin den ganzen Tag über von Tisch zu Tisch ging und hier half,
dort erklärte. Auf diese Art würde sie in einem Monat mehr lernen als auf ihrer bishe-
rigen Schule in einem halben Jahr, dachte sie amüsiert und stürzte sich mit Feuereifer
auf die Bücher.
Alle fünfzig Minuten gab es zehn Minuten Pause, um ein Uhr war die Schule aus.
Hausaufgaben gab es keine. Von den Mädchen wurde lediglich erwartet, daß sie den
Stoff zur nächsten Stunde beherrschten, alles übrige wurde während des Unterrichts
erledigt. Angie, die vor der Sache mit ihrem Vater ziemlich gut in der Schule gewesen
war und nur im letzten Jahr abgebaut hatte, fand sehr schnell zurück in das Lernen und
mußte nach der Schule kaum etwas nacharbeiten.
Sie hätte nie gedacht, daß sie in vier Stunden so viel lernen könnte, doch der erste
Tag machte Lust auf mehr, auf viel mehr sogar. Was sie sehr freute, war, daß sie mit
Katrin in einer Gruppe war; irgendwie hatte sie an diesem scheuen, verschüchterten
Mädchen einen Narren gefressen und half ihr beim Lernen, wo sie nur konnte.
Nach der Schule ging es zum Essen, danach verteilten die Mädchen sich. Diejeni-
gen, die wie Katrin noch lernen oder üben mußten, gingen auf ihre Zimmer, die ande-
ren gingen ihren Hobbys und Interessen nach, oder sie fuhren mit dem Bus in die
Stadt, oder sie verdienten sich Punkte durch Hilfe im Haushalt. Angie meldete sich
nach dem Essen gleich bei Mark, der sie jedoch sofort wieder auf ihr Zimmer schickte.
„Du machst jetzt erst einmal eine Stunde Mittagsschlaf“, befahl er dem verblüfften
Mädchen. „Ich will dich erst um drei Uhr wieder hier sehen.“ Mürrisch trottete Angie
auf ihr Zimmer und legte sich auf ihr Bett. ‘Mittagsschlaf, ja?’ dachte sie wütend, dann
fielen ihr auch schon die Augen zu.
Kurz vor drei erwachte sie, ausgeruht und frisch. Schnell brachte sie ihr Kleid in
Ordnung und eilte die Treppe hinunter, in Marks Büro. Er grinste wissend, als Angie
fröhlich in sein Büro kam. „Ausgeschlafen?“ fragte er fröhlich. Angie nickte strahlend.
„Ich war zwar erst sauer“, gab sie zu, „aber das Schlafen hat echt gutgetan!“
„Ich weiß“, schmunzelte Mark. „Angie, du bist dreizehn. Du stehst um sechs Uhr
auf, treibst Sport und gehst dann zur Schule. Dann willst du noch den Rest des Tages
mit mir zusammen arbeiten. Ziemlich viel für dein Alter. Gewöhn dir an, mittags eine
Stunde zu schlafen, und du bist topfit für den ganzen Tag.“
„Mach ich“, strahlte Angie. „Was kann ich jetzt tun?“ Mark erklärte ihr die Akten-
ablage, zeigte ihr das Einzugsgebiet, aus dem Mädchen in sein Heim kamen, erklärte
ihr, welche Jugendlichen bei welchen Problemen wohin kamen, und gab ihr eine Liste
mit Namen und Telefonnummern, die sie anrufen konnte, um die Kinder abholen zu
lassen. Angie schrieb eifrig mit und verbrachte eine lange Zeit über der Landkarte, um
sich die Gebiete und Institute einzuprägen. Mark war beeindruckt von ihrer Aufnah-
mefähigkeit, doch er ließ sich nichts anmerken. Allerdings überforderte er Angie auch
nicht, sondern lehrte sie nur so viel, daß sie immer auf dem Höhepunkt ihrer Aufmerk-
samkeit blieb. Die anderen Mädchen erfuhren nur, daß Angie Mark bei dem Papier-
kram half, alles andere behielten Mark und Angie für sich.
Bis zu den Weihnachtsferien hatte Angie (wie auch Jana, Katrin und die anderen
Mädchen, die etwa zur gleichen Zeit in das Heim kamen) den Anschluß an die übrigen
Schülerinnen geschafft, so daß sie morgens länger schlafen konnte. Das wollte sie je-
doch nicht. Sie stand nach wie vor um sechs auf, um mit Mark schwimmen zu gehen,
die Zeit von acht bis kurz vor neun nutzte sie, um Mark bei dem ganzen Papierkram
wie Bestellungen und Briefen zu helfen. Von Zeit zu Zeit schaute Mark das konzen-
triert arbeitende Mädchen an und wunderte sich über ihren Enthusiasmus. Er hatte für
Angie ein kleines Programm gekauft, mit dem sie lernen konnte, mit allen zehn Fingern
zu schreiben, und Angie übte zwar nicht wie besessen damit, aber es kam dieser Be-
zeichnung schon sehr nahe. Mark griff nur dann ein, wenn er den Eindruck hatte, daß
sie sich überanstrengte, doch dies kam nur äußerst selten vor.
Was Angie nicht wußte: Mark notierte täglich für Angies Hilfe eine bestimmte An-
zahl von Punkten, in einer besonders gesicherten Datei, an die nur er herankam. So
wie Angie an Katrin, hatte er an Angie einen Narren gefressen. Er mochte ihre Gesell-
schaft; nicht nur, weil sie ihm sehr bei seiner Arbeit half, sondern auch, weil er mit ihr
reden konnte. Obwohl das Haus bis zu 80 Mädchen aufnehmen konnte - und in Spit-
zenzeiten auch tat - war Angie doch das erste Mädchen, das ein tiefes Interesse an sei-
ner Arbeit zeigte. Daß sie auch noch das Talent dazu hatte, vereinfachte die Sache.
Mark hatte sich fest vorgenommen, daß Angie zu dem Zeitpunkt, an dem sie das Heim
verlassen würde, so abgesichert sein würde, daß sie ihr weiteres Leben selbst in die
Hand nehmen konnte.
Und der Gedanke, daß sie eines Tages gehen würde, erfüllte ihn mit Wehmut und
Trauer.





3


„Wie jedes Jahr“, sagte Mark mit feierlicher Stimme nach dem Mittagessen, „so
auch dieses Jahr. Heute ist der zweiundzwanzigste Dezember, der letzte Schultag. Ab
sofort sind Ferien.“ Lauter Jubel erfüllte den großen Raum. „Und wie jedes Jahr geht
es auch dieses Mal ab in den Winterurlaub.“ Weiterer starker Jubel. „Dieses Mal ist es
der Bayrische Wald, Skiurlaub! Gestiftet von einem namhaften Hersteller von Winter-
sportgeräten!“ Tobender Beifall brauste durch den Raum, der gar nicht mehr nachlas-
sen wollte. Mark konnte nur mit Mühe wieder Ruhe herstellen.
„Natürlich ist, auch wie jedes Jahr, die übliche Bedingung daran geknüpft“, lä-
chelte er. „Ihr müßt euch fotografieren lassen, mit strahlenden Gesichtern, weil ihr ge-
nau diese und keine anderen Skier fahrt und so weiter, für Prospekte und Werbung.
Aber das kennen die meisten von euch ja inzwischen.“ Die meisten Mädchen machten
gleichgültige Gesichter. „Morgen früh um acht steht der Reisebus vor der Tür, und so-
bald alles eingeladen und verstaut ist, geht es los, Richtung Schnee!“
„Wer fährt denn dieses Jahr mit?“ fragte ein Mädchen, das Angie als Rita kannte.
„Dieses Jahr sind es Frau Conny Berger und Herr Jürgen Frost.“
„Das paßt!“ lachte Rita. „Berge und Frost.“ Nun verstanden auch die anderen
Mädchen und lachten mit.
Mark grinste breit. „Vor Ort kommen noch vier weitere Leute dazu, denn die bei-
den wären mit siebzig Mädchen total überfordert. Die vier kommen von der Sportfirma
und werden sich fürsorglich um euch kümmern.“
„Hoffentlich vier hübsche Jungs“, meinte ein älteres Mädchen sehnsüchtig, und
viele andere lachten.
„Nein, es sind vier Frauen“, grinste Mark. Vielfaches Gestöhne. „Und zwar vier
ganz besondere Frauen.“ Nun herrschte gespannte Aufmerksamkeit. „Um genau zu
sein: ihr werdet von diesen vier Frauen trainiert. Sie sind praktisch jede Sekunde bei
euch und...“
„Wer sind die denn?“ unterbrach ein Mädchen aufgeregt. Mark hob beschwichti-
gend seine Hände. „Och, eigentlich nichts Besonderes“, grinste er. „Nur die deutsche
Meisterin im Abfahrtslauf, die deutsche Meisterin im Slalom, die Gewinnerin der Sil-
bermedaille im Suger-G, und die Europameisterin im Abfahrtslauf.“ Der Raum glich
einem Tollhaus nach dieser Ankündigung. Vergessen waren die Träume von jungen
Männern im Schnee. „Also acht Uhr morgen früh“, konnte Mark noch brüllen, dann
kam auch er nicht mehr gegen die Lautstärke an. Lachend setzte er sich wieder hin.
„Wow!“ sagte Jana überwältigt. „Wie hast du das bloß geschafft?“
„Beziehungen“, lächelte Mark. „Jahrelange Kontakte zu Firmen, Unternehmen,
Sportvereinen und deren Vorständen. Und ganz viel ‘Bitte, bitte’ sagen.“ Er sah Angie
und Katrin an, die mit am Tisch saßen. „Freut ihr euch denn gar nicht?“ fragte er er-
staunt, als er die langen Gesichter der beiden Mädchen sah. Katrin schüttelte den
Kopf. Sie murmelte etwas.
„Was?“ fragte Mark und brachte sein Ohr näher zu ihr. Angie ebenfalls.
„Ich sagte, ich habe Angst auf weiten Flächen“, sagte Katrin lauter. „Da fühl ich
mich so schutzlos und ausgeliefert. Ich will nicht mit.“
„Ich auch nicht“, sagte Angie. „Es gibt zuviel Arbeit hier.“
„Gut, Katrin“, sagte Mark. „Das verstehe ich. Aber Angie, dich verstehe ich nicht.
Willst du denn gar nicht in Urlaub fahren?“ Auch Jana blickte Angie verwundert an.
Das anfänglich gute Verhältnis zwischen Angie und Jana war nicht mehr ganz so un-
getrübt, auch wenn es keinerlei Spannungen zwischen ihnen gab. Angie hatte andere
Interessen gefunden, und privat war sie inzwischen mehr mit Katrin zusammen als mit
Jana. Dazu kam, daß Jana Angies Motive, die sie zur Zusammenarbeit mit Mark be-
wegten, nicht so recht nachvollziehen konnte. Aber einen Urlaub auszuschlagen ging
komplett über ihr Verständnis.
Angie schüttelte energisch ihren Kopf. „Nein, will ich nicht. Mark, du hast gesagt,
daß um Weihnachten sehr viel los ist. Außerdem habe ich das Gefühl, daß du alleine
hier nicht klarkommen wirst.“
„Das ist doch Unsinn“, erwiderte Mark verärgert. „Angie, bisher habe ich das auch
jedes Jahr alleine geschafft.“
„Mag sein“, gab Angie frech zurück. „Aber das heißt nicht, daß du es auch dieses
Jahr schaffen wirst.“
„Woher willst du das denn wissen?“ Seine Augen blitzten vor Ärger. Gespannt sa-
hen Jana und Katrin zu.
„Weil ich es weiß!“ gab Angie mit dem gleichen Blick zurück. „Nenn es Ahnung
oder so was, aber ich weiß es.“
„Schluß“, sagte Mark. „Du fährst mit, und damit hat es sich. Katrin bleibt hier, ihre
Angst verstehe ich sehr gut.“
„Ich bleibe auch hier“, sagte Angie fest.
„Du fährst mit!“
„Nein!“
„Doch!“
„Nein!“
Mark atmete tief ein. Er würde doch noch gegen eine Dreizehnjährige ankommen!
„Angie“, versuchte er es erneut. „Du hast recht. Weihnachten ist tatsächlich mehr los.
Aber sieh dir bitte mal die letzten Wochen an: sechs Mädchen gegangen, und nur fünf
dazugekommen. Glaub mir, ich schaffe es.“
„Ich glaube dir, daß du das glaubst“, beharrte Angie. „Aber du wirst es nicht. Das
kannst du mir glauben.“ Katrin kicherte.
„Ihr seid echt süß“, grinste sie. „Wenn Angie älter wäre, würde ich glatt behaup-
ten, ihr seid ineinander verknallt.“
„Katrin!“ Mark und Angie riefen ihren Namen wie aus einem Mund, und wurden
auch gleichzeitig rot. Katrin blickte von Mark zu Angie und wieder zurück.
„Hups!“ kicherte sie. „Hab ich wohl wieder in ein Fettnäpfchen getreten, was?“
„Davon will ich nichts mehr hören“, sagte Mark verlegen. „Schluß damit, bitte.
Katrin, du weißt, daß du mir mit solchen Unterstellungen richtig Ärger machen
kannst.“
„Hab ich doch gar nicht“, wehrte Katrin sich mit großen Augen. „Ich sagte: wenn
Angie älter wäre, aber das ist sie ja nicht.“
„Können wir bitte das Thema wechseln?“ brummte Angie. „Bleib ich hier? Ja oder
ja?“
„Nein.“
„Wir werden sehen“, meinte Angie gleichgültig. „Mark, ein Angebot: wenn diese
Nacht kein Mädchen anruft, fahre ich mit. Wenn eins anruft, bleib ich hier.“
„Was soll das denn jetzt?“ fragte Mark verwirrt. Angie zuckte die Schultern. „Nur
eine Ahnung. Wenn meine Ahnung stimmt, wird heute nacht jemand anrufen, und zwar
ein Mädchen, das kurz davor ist, sich umzubringen. Und sie wird nach Freiburg kom-
men. Wenn ich mich irre, fahre ich mit. Okay?“ Sie streckte ihre Hand aus. Mark sah
Angie lange und nachdenklich an, dann nickte er. „Okay. Wenn heute nacht ein Mäd-
chen anruft, das sich umbringen will und nach Freiburg gebracht wird, darfst du hier-
bleiben.“ Ein Handschlag besiegelte den Handel.


„Guten Morgen“, rief Angie fröhlich und sprang in das Wasser.
„Morgen“, rief Mark zurück, ohne seinen Schwimmrhythmus zu unterbrechen. An-
gie schwamm an seine Seite und paßte sich seinem Tempo an.
„Und? Was war?“ fragte sie neugierig. Mark schwamm zum Rand, schwang sich
hoch und setzte sich hin. Angie schwamm zu ihm und blickte ihn fragend an. „Kam ein
Anruf heute nacht?“
„Angie, erkläre mir bitte, woher du weißt, daß Weihnachten hier viel los ist.“ Un-
bewegt blickte Mark das Mädchen an.
„Ich weiß nicht, woher ich es weiß“, sagte Angie langsam und schaute auf das
Wasser. „Ich weiß es eben.“ Sie blickte zu Mark auf. „Ich weiß, daß Weihnachten an
sich sehr ruhig sein wird“, sagte sie leise. „Aber es wird einen Tag geben, wo hier die
Hölle los sein wird, und das wirst du alleine nicht schaffen. Welcher Tag das ist, weiß
ich nicht, aber ich weiß, daß es so ist.“ Sie zuckte die Schultern und sah Mark fragend
an. „War heute nacht ein Anruf?“
Mark nickte langsam. „Ja. Genau wie du sagtest. Ein Mädchen, 16 Jahre jung,
schwanger von ihrem Freund, der sie sitzengelassen hat, und völlig verzweifelt, da ihre
Eltern sie rausgeschmissen haben. Sie ist jetzt in Freiburg.“
„Geht es ihr gut?“
Mark lächelte ihr zu. „Ja, sie ist in guten Händen. Angie, du bist wunderbar, weißt
du das?“
„Wieso?“ Erstaunt blickte sie Mark an.
„Weil du dich gar nicht freust, daß du hierbleiben darfst, sondern zuerst an das
Mädchen denkst.“
„Hab ich gar nicht dran gedacht“, gestand Angie, dann leuchteten ihre Augen auf.
„Stimmt ja! Ich hab gewonnen!“ Kräftig stieß sie sich am Rand ab und hetzte ihren
schmalen Körper durch das Wasser. Mark sah ihr einen Moment lang zu, dann sprang
er zurück in das Becken und machte sich auf, Angie einzuholen.



„Was für eine Bande!“ stöhnte Angie auf, als der Bus sich endlich in Bewegung
setzte.
„Mädchen“, grinste Katrin. Sie sprach mit heller, gespielt aufgeregter Stimme
weiter. „’Oh, ich hab noch das vergessen. Und dies. Und jenes. Und das auch!’“
„Genau“, lachte Angie und schloß die Haustür. „’Wer hat meine Schmusedecke?
Ohne die fahr ich nicht mit!’“
„Ruhig jetzt“, grinste Mark und lotste die beiden Mädchen in den Essensraum.
„Jetzt frühstücken wir drei erst einmal in aller Ruhe.“ Sie gingen an die Theke und
wählten ihr Essen aus, dann forderte Mark Maria auf, sich mit an den Tisch zu setzen.
Sie nahm sich ein Glas Mineralwasser und ein halbes Brötchen mit Magerkäse und
setzte sich zu den dreien.
„Was hast du für Pläne über Weihnachten?“ fragte Mark Maria.
„Die üblichen“, sagte sie schlicht. „Zu Hause sitzen und mit der Familie feiern.
Das ist doch das Schönste, oder nicht?“
„Genau das, was wir auch tun“, lächelte Mark. Angie und Katrin blickten Mark
verwundert an. „Wir drei sind jetzt die Familie“, lächelte er den beiden Mädchen zu.
„Richtig“, lachte Angie, und Katrin lächelte. „Mark, warum bist du eigentlich nicht
mit in Urlaub gefahren?“
„Erstens: zu riskant. Zweitens: keine Vertretung.“
„Hä?“ machten Katrin und Angie wie aus einem Mund. Maria grinste.
„Ist doch einfach, Kindchen“, sagte sie liebevoll. „Manche der Mädchen sind 16,
17, oder ganz dicht vor 18. Wenn du ein Mädchen in dem Alter in den Winterurlaub
schickst, gemeinsam mit einem Mann wie Mark, passiert todsicher etwas.“
„Echt?“ fragte Angie enttäuscht.
„Nun mal langsam“, unterbrach Maria Angies Gedanken. „Ich sagte nicht, daß
Mark etwas tut, sondern daß etwas passiert.“
„Kapier ich nicht“, meinte Katrin interessiert. „Was soll denn passieren?“ Maria
warf Mark einen kurzen Blick zu. Mark nickte leicht.
„Ich erzähl’s dir“, sagte Maria dann. „Diese Urlaubsfahrten wurden vor fünf Jah-
ren eingeführt. Im Sommer. Mark ist damals mitgefahren, genau wie ich. Mein Mann
und meine Kinder waren in Dresden, bei Verwandten. Egal. Wir also hochgefahren an
die Ostsee, am nächsten Tag alle direkt an den Strand und rein ins Wasser. Ein Mäd-
chen, ein wirklich hübsches Kind von 16, war am Absaufen. Mark sofort zu ihr und
zieht sie hoch. Hinterher, als sie alles Wasser ausgespuckt hatte, hat sie Mark vorge-
worfen, sie am Busen und im Schritt betatscht zu haben.“
„Und dann?“ fragte Angie neugierig. „Das hat er doch nicht, oder?“
„Doch, hat er“, grinste Maria. „Ich war direkt neben ihm und hab alles gesehen. Er
hat sie in den Rettungsgriff genommen, also ihren rechten Arm vor ihre Brust gelegt
und mit seinen Armen unter ihren durch und den rechten Arm umklammert. Dabei
mußte er ihre Brust berühren. Ging gar nicht anders. Und das Berühren im Schritt...“
Sie grinste in Gedanken. „Da hatte sich eine Feuerqualle festgesetzt. Das war über-
haupt der Grund dafür gewesen, daß sie abgetaucht ist. Sie hatte soviel Angst vor
Quallen, daß sie Panik bekommen hat und beinahe ertrunken ist. Mark hat die Qualle
von ihren Beinen gerissen und sie dabei natürlich auch berührt.“ Sie lächelte Mark zu,
dessen Gesicht unbewegt blieb. „Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich an Marks
Stelle dieses undankbare Luder gleich wieder zurück ins Wasser geworfen, mitten rein
in die Quallen. Aber seitdem fährt Mark nicht mehr mit einer Mädchengruppe in Ur-
laub.“
„Wie ist das denn ausgegangen?“ fragte Katrin. „Hat sie dich echt angezeigt?“
„Hat sie“, sagte Mark sachlich. „Aber durch Marias Aussage, und durch die von
sieben anderen Mädchen, die das alles gesehen haben, wurde ich entlastet.“
„Was für ein Miststück“, sagte Angie leise und biß in ihr Brötchen. Mark zuckte
die Schultern.
„Sie war in Panik und wußte nicht mehr, was sie tat. Sie hat das alles in den fal-
schen Hals bekommen, und deswegen kann ich ihr keinen Vorwurf machen. Außer-
dem...“ Das Klingeln des Telefons unterbrach Mark. Angie sprang auf.
„Ich mach schon“, rief sie und flitzte in Marks Büro. Mark sah ihr lächelnd nach.
„Trotzdem“, nahm Katrin den Faden wieder auf. „Wenn ich ertrinken würde, wäre
es mir egal, wer mich wo anfassen würde, um mich zu retten. Hauptsache, ich würde
nicht sterben.“
„Das sehe ich auch so“, meinte Maria und trank einen Schluck Wasser. „Aber die-
ses Mädchen war ein ganz besonderes Miststück. Sie hat geklaut wie ein Rabe, hat
über alle anderen hergezogen und immer nur Ärger gemacht. Sie ist nach dem Urlaub
rausgeflogen, aber aus einem anderen Grund.“ Sie bemerkte Marks Blick. „Ja, schon
gut“, grinste sie. „Bin ja schon ruhig.“
„Wie auch immer“, sagte Mark leise zu Katrin. „Das ist der Grund, warum ich
nicht mehr in Urlaub fahre. Zumindest nicht mit der Gruppe.“
„Du sagtest auch noch: Vertretung. Was meinst du damit?“
Mark lehnte sich zurück und dachte kurz nach. „Auf den Zetteln, die überall aus-
liegen“, sagte er dann, „steht die Telefonnummer von hier drauf. Das ist so gewachsen,
weil ich das erste Haus in dieser Richtung hatte. Wenn ein Mädchen wie du oder An-
gie oder sonst wer in Angst und Schrecken von zu Hause wegläuft, kann ich nicht er-
warten, daß ihr eine Checkliste durchgeht nach dem Motto: ‘Junge: Ja/Nein, Mißhan-
delt: Ja/Nein, Verprügelt: Ja/Nein’ und danach eine Telefonnummer auswählt. Das ist
einfach blödsinnig. Ihr habt in dem Moment, wo ihr die Nummer anruft, andere Pro-
bleme, als euch durch eine Reihe von Fragen zu quälen, was auf euch zutrifft und was
nicht. Deswegen bin ich - und jetzt auch Angie - der erste Kontakt, und wir entschei-
den dann, wo der Anrufer oder die Anruferin hin soll.“
„Verstehe“, sagte Katrin leise. „Das heißt also, wenn du oder Angie mal nicht da
seid...“
„Richtig“, antwortete Mark. „Genau das heißt es, Katrin. Dann gibt es keine Hil-
fe.“
„Das ist aber Scheiße“, sagte Katrin nachdenklich. „Und was ist, wenn mal besetzt
ist?“
„Das gleiche. Aber dann ist zumindest jemand da, und der Anrufer versucht es
später noch einmal.“
„Wenn das dann überhaupt noch möglich ist“, flüsterte Katrin. Mark brachte das
Gespräch geschickt auf ein anderes Thema, bis Angie zurückkam.
„Alles geklärt“, sagte sie fröhlich und nahm ihr angebissenes Brötchen wieder auf.
„Ein Junge, 15, von den Eltern fast täglich verprügelt. Wird abgeholt.“ Zufrieden biß
sie in ihr Brötchen. Mark sah seine kleine Assistentin liebevoll an.
„Na los“, lachte Maria. „Nun lob sie schon!“
„Wollte ich gerade tun“, verteidigte Mark sich mit einem Schmunzeln. „Ich wollte
nur noch etwas länger zusehen, wie jemand zufrieden ins Brötchen beißt.“
„Machst du dich über mich lustig?“ fragte Angie mit vollem Mund. Mark schüttelte
seinen Kopf.
„Nein, Angie, ganz im Gegenteil. Du hilfst mir mehr, als dir vielleicht bewußt ist.“
„Danke schön!“ strahlte Angie. „Das macht aber auch Spaß!“

* * *

Mark las den Brief, den er soeben fertiggestellt hatte, noch einmal konzentriert
durch, verbesserte hier und da die Satzstellung oder ersetzte ein Wort durch ein ande-
res, dann druckte er ihn aus, faltete ihn und steckte ihn in ein Kuvert. Als er den Brief
frankiert hatte, nahm er ihn in die Hand und ging in die Küche, um Maria nach Hause
zu fahren. Erstaunt blieb er in der Tür zum Essensraum stehen. Er sah Katrin, die mit
Schrubber und Aufnehmer den Boden wischte, Angie bearbeitete Stühle und Tische
mit Lappen und Putzmittel, Maria wirbelte in ihrem Reich hinter der Theke herum und
schaffte Ordnung vor den Feiertagen.
„Bin gleich fertig“, rief sie Mark zu.
„Wir auch!“ Fasziniert sah Mark zu, wie Angie zuerst die Platte eines Tisches rei-
nigte, dann die Stühle, dann stellte sie die Stühle mit der Sitzfläche auf den Tisch und
ging zum nächsten Tisch, Katrin hinter ihr her, den Boden unter dem Tisch säubernd,
den Angie soeben verlassen hatte.
„Das ist ja wie in einer Revue“, lachte er. Katrin und Angie sahen erstaunt auf.
„Was meinst du?“
„Wie perfekt ihr miteinander arbeitet“, sagte Mark. „Wie ein gut aufeinander ein-
gespieltes Team.“
„Ja, das sind wir“, grinste Angie und putzte weiter. Katrin sagte etwas, was Mark
nicht verstand. Angie richtete sich wieder auf. „Ja, richtig. Mark, kann Katrin während
der Ferien in meinem Zimmer wohnen?“
„Natürlich“, antwortete Mark.
„Danke!“ strahlten beide Mädchen und putzten munter weiter. Aus der Küche kam
ein Scheppern und Klirren, dann trat Maria durch die Tür zum Essensraum. „Ich bin
fertig“, meinte sie fröhlich und kam auf Mark zu, dabei lachend Katrins Schrubber
ausweichend.
„Ich bin gleich wieder zurück“, sagte Mark zu den Mädchen.
„Okay!“ - „Bis gleich!“ Eifrig putzten die Mädchen weiter, während Mark und
Maria zu seinem Auto gingen, das neben dem Haus geparkt war.
„Schreib den Mädchen jeweils 50 Punkte von mir auf“, sagte Maria, als sie äch-
zend in das Auto einstieg.
„Das wären ja mehr als vier Stunden!“ Überrascht sah Mark Maria an, die ihn an-
lächelte.
„Ich weiß. Das ist mein Weihnachtsgeschenk an die beiden. Zieh es von meinem
Lohn ab, ja?“
„Warum so großzügig?“ fragte Mark, während er den Wagen wendete.
„Ich mag sie“, sagte Maria einfach. „Außerdem sind sie die ersten Mädchen, die
mir freiwillig geholfen haben.“
„Freiwillig?“ Mark fuhr langsam auf das Tor zu und drückte einen Knopf an der
Konsole. Das Tor öffnete sich.
„Ja, freiwillig. Sie kamen direkt nach dem Essen zu mir und fragten, wo die Putz-
mittel stehen. Als ich sie fragte, was sie damit wollten, guckten sie mich nur groß an
und meinten: ‘Helfen, natürlich, damit du früh nach Hause kommst.’“
„Haben sie gesagt, daß sie keine Punkte dafür wollten?“
„Ja. Als ich ihre Zettel haben wollte, grinsten sie nur und meinten rotzfrech, die
hätten sie verloren. Noch Fragen?“
Mark lachte leise auf. „Das sind schon richtige Engel, die beiden. Ich bin froh, daß
Katrin ihren Entzug geschafft hat.“
„Sie hat einen starken Willen“, sagte Maria nachdenklich. „Genau wie Angie.
Wenn die etwas wirklich wollen, hast du keine Chance mehr.“
„Das fürchte ich auch“, lachte Mark. „Wollen wir nur hoffen, daß sie sich nicht
gegen mich verbünden.“
„Die Gefahr besteht wohl nicht“, grinste Maria. „Soll ich den Brief noch eben ein-
werfen?“
„Ja, das wär nett.“ Mark hielt den Wagen vor einem Briefkasten an, nur wenige
Meter von Marias Wohnung entfernt. Maria nahm den Brief und quälte sich aus dem
Wagen. „Ich will nichts hören“, ächzte sie, als sie endlich auf der Straße stand. „Kein
Wort über mein Gewicht. Frohe Weihnachten, Mark.“
„Dir auch, Maria. Und guten Rutsch!“ Er fuhr wieder los.


Das Haus war totenstill, als Mark es betrat. Er atmete tief durch. Das war für ihn
der wahre Urlaub: zwei Wochen lang ohne die ganze Meute. Gleichzeitig vermißte er
seine wilde Bande und konnte es kaum erwarten, sie wieder vollzählig zurückzuhaben.
Das Läuten des Telefons riß ihn in die Wirklichkeit zurück. Er tastete seine Taschen
nach seinem Handy ab, doch es war nicht da. Schnell lief er in sein Büro, doch das
Läuten hatte bereits aufgehört. Statt dessen hörte er Angies Stimme, die sich näherte.
„Da bist du genau richtig“, hörte er sie sagen, dann betrat sie das Büro, das Handy
an das Ohr gedrückt. Sie nickte Mark kurz zu „Warte, ich schreib mir nur schnell auf,
wo du bist, damit dich jemand abholt. Willst du wirklich nicht zurück nach Hause? ...
Ich weiß, aber manchmal wollen Ausreißer doch wieder heim... So, sag nochmal. Wo
bist du gerade?“ Sie machte sich Notizen und sah dann auf die Karte. „Hm-m... Ja...
Ja, ist klar... Ist irgendwo ein Café oder ein Bistro oder sowas in der Nähe? ... Ah ja,
das ist gut. Paß auf, Jörg, es wird etwa vierzig Minuten dauern, dann holt dich jemand
ab. Merk dir folgende Worte: Lila Schleier.... Genau. Die Frau wird dich danach fra-
gen... Was das soll? Damit sich niemand unter deinem Namen bei uns anmelden kann.
Und damit die Frau sicher ist, daß du der bist, der angerufen hat. Und damit du sicher
bist, ins richtige Auto einzusteigen. Ist einfach nur eine Kontrolle für euch beide, nichts
weiter. ... Ja, genau. Versteck dich da drin, bis du eine Frau siehst, die dich nach dem
Kodewort fragt, und sie kümmert sich dann um dich. ... Ja, das wird sie, keine Angst.
Sobald du bei ihr im Auto bist, bist du sicher. Etwa vierzig Minuten, okay? ... Ja, wird
schon. Alles Gute, Jörg.“ Angie lächelte Mark zu. „Bin gleich fertig.“ Sie wählte eine
Nummer. „Margot? Hier ist Angela, die Vertretung von Mark. ... Ja, ich weiß, daß wir
noch nicht miteinander telefoniert haben, aber... Was? ... Das ist doch völlig egal!“
Angie wurde wütend. „Nein, jetzt hören Sie zu! Ein Junge, 14, mit Wunden am Un-
terleib, muß nach Singen. Das ist doch Ihr Bereich, oder? ... Wer ich eigentlich bin?
Marks Vertretung, das sagte ich doch schon! Hallo? Hallo!“ Fassungslos starrte Angie
das Telefon an. „Die hat einfach aufgelegt!“
„Warte“, sagte Mark und nahm das Handy. Kurz darauf sprach er mit Margot.
„Margot, hier ist Mark. Du hattest gerade einen Anruf... Ja, genau. Das Mädchen ist
echt. Sie heißt Angela oder Angie, und sie hilft mir, und das sogar verdammt gut.“ An-
gie wurde rot bei diesem Lob. „Nein, ist schon klar. Ich mache weder dir noch ihr ei-
nen Vorwurf. Sie wird in Zukunft wahrscheinlich öfter bei dir anrufen... Okay.“ Er
reichte Angie den Hörer. „Jetzt nochmal“, lächelte er. Angie nickte.
„Ja, Margot? Tut mir leid, daß ich wütend geworden bin.“ Sie lauschte einen Mo-
ment, dann lachte sie. „Ja, denke ich auch. Streichen wir das einfach. Also: es geht um
einen Jungen namens Jörg, 14, Wunden am Unterleib. Grün gefärbte Haare, blaue Au-
gen, Jeansjacke und -hose, grüne Sneaker. Er wartet in dem kleinen Café am Markt
in...“ Sie nannte den Ort. „Ja, genau da, das erwähnte er auch. ... Lila Schleier. ...
Okay, Ihnen auch Frohe Weihnachten. Oh, eine Frage noch, Margot. Mark sagte, daß
Sie einen neuen Wagen haben. Sagen Sie mir, was für einen? Und die Farbe? ... Ja,
hab ich, vielen Dank. Nochmals Frohe Weihnachten!“ Fröhlich klappte sie das Handy
zu und wollte es einstecken, doch sie stoppte mitten in der Bewegung. „Hoppla“,
lachte sie verlegen und reichte Mark das Handy. „Schon fast Gewohnheit.“
„Mach mal ruhig weiter“, grinste Mark und steckte seine Hände in die Hosenta-
schen. „Ich glaube, ich nehme mir heute mal frei.“ Angie strahlte bis zu den Ohren, als
sie das Telefon in die Tasche ihres Kleides steckte.


Angie und Katrin saßen auf Janas Bett und spielten Karten, als Mark anklopfte.
„Wer hat Hunger auf Pizza?“ fragte er, als er eintrat.
„Ich!“ - „Ich!“ kam die begeisterte zweifache Antwort.
„Dann zieht euch mal um, wir fahren nach Konstanz zum Essen.“ Keine fünf Mi-
nuten später standen die Mädchen im Flur. „Hast du das Handy?“ fragte Mark. Angie
nickte. „Stift und Papier auch. Und die Liste mit den Kurzwahlen.“
„Fantastisch!“ lobte Mark sie. „Dann raus mit euch.“ Schnell waren sie im Auto,
und keine zehn Minuten später in der Stadt. Ab da floß der Verkehr nur zögernd. In
der Innenstadt parkte Mark in einem Parkhaus, dann gingen die drei über die Straße in
die Fußgängerzone. Schnell fanden sie eine gemütliche kleine Pizzeria und suchten
sich einen der wenigen noch freien Tische aus, dann bestellten sie.
„Warum hat diese Margot eigentlich so komisch reagiert?“ fragte Angie, als der
Kellner die Bestellungen notiert hatte.
„Weil sie früher häufig per Telefon belästigt wurde“, sagte Mark. „Wie gesagt,
weder du noch sie ist schuld daran, daß ihr euch nicht verstanden habt, aber das ist ja
jetzt geklärt.“
„Verstehe... Gibt es noch mehr wie sie? Ich meine, alle anderen waren zwar auch
erstaunt, daß ich angerufen habe, aber sie haben dann doch gemerkt, daß ich dazuge-
höre.“
„Nein, Margot ist die einzige, bei der man etwas vorsichtig sein muß, was man
sagt. Aber jetzt kennt sie dich ja.“
„Zum Glück“, sagte Angie leise. „Das war ein blödes Gefühl, Mark. Ich meine,
wir wollen ja alle das gleiche, aber sie war sofort so böse, und ich wußte nicht, wie ich
ihr erklären sollte, daß...“
„Ist doch in Ordnung“, lächelte Mark. „Angie, bisher war ich der einzige, der mit
den Leuten gesprochen hat, und plötzlich sagt ihnen ein junges Mädchen, wo sie hin-
fahren und jemanden abholen sollen. Das müssen sie auch erst einmal verarbeiten.“
„Stimmt“, grinste Angie. „So gesehen war das doch ein guter Schnitt, oder?“
„Ein erstklassiger. Ein Ausrutscher bei zwölf Erfolgen.“ Mark zwinkerte ihr zu.
„Katrin, du siehst so aus, als hättest du etwas, über das du reden möchtest.“
„Nein... Doch... Eigentlich nicht... Doch.“ Sie lächelte schief. „Doch, will ich. Ich
wollte fragen, ob ich nach den Ferien weiter mit Angie zusammen wohnen kann.“ An-
gie und sie sahen Mark gespannt an.
„Im Prinzip ja“, überlegte Mark. „Wenn Jana damit einverstanden ist, heißt das
natürlich. Ich kann sie nicht einfach ohne ihre Zustimmung verlegen.“
„Schon klar“, sagte Angie hastig. „Jana und ich haben schon darüber gesprochen.
Ich meine, wir sind zusammen hier angekommen und so, aber irgendwie... Ich weiß
nicht, aber wir sind doch ziemlich unterschiedlich.“ Sie sah Mark betrübt an.
„Nicht traurig sein deswegen“, tröstete Mark sie. „Angie, das ist ganz natürlich. Ihr
habt das gleiche erlebt, seid fast gleichzeitig von zu Hause weg, und habt euch dann
getroffen. Ist vollkommen normal, daß man dann erst mal zusammen hält. Erst eine
Zeit später stellt man fest, ob man wirklich Freunde sein kann oder nicht. Wenn ja, ist
es gut, wenn nicht, ist es auch gut. Will sie denn auch weg?“
„So direkt hat sie das nicht gesagt“, meinte Angie. „Aber wir reden kaum noch
miteinander. Über persönliche Dinge, meine ich. Unterhalten tun wir uns schon noch.“
„Warten wir einfach mal die Ferien ab“, lächelte Mark. „Ah, da kommt ja schon
das Essen!“


„Kann ich euch beiden eine Stunde allein lassen?“ fragte Mark nach dem Essen.
„Ich muß noch ein paar Dinge besorgen.“
„Sicher“, meinte Angie, auch Katrin nickte. „Das heißt, wenn wir uns noch was zu
Trinken bestellen dürfen“, handelte sie listig. Mark fuhr ihr mit einer raschen Geste
durch das Haar.
„Bis zum Abwinken“, grinste er, dann gab er Angie einen Fünfziger. „Falls der
Kellner kassieren will.“ Angie nickte und steckte den Schein ein. Mark stand auf.
„Eine Stunde etwa, wahrscheinlich etwas weniger. Wartet bitte hier, ja?“
„Mach dir keine Sorgen“, sagte Angie. „Wir stellen schon nichts an.“
„Das wollte ich hören.“ Beruhigt stand Mark auf und ging hinaus. Angie und Ka-
trin unterhielten sich, bis Mark knapp fünfzig Minuten später wieder auftauchte.
„So, alles erledigt“, sagte er zufrieden. „Was meint ihr: wollen wir noch ein biß-
chen durch die Stadt laufen, oder direkt nach Hause?“ Angie und Katrin sahen sich
kurz an.
„Stadt!“ Angie gab Mark den Geldschein zurück, doch er lehnte ab und gab Katrin
ebenfalls einen Fünzig-Mark-Schein. „Die sind von Maria, als Dankeschön für eure
Hilfe.“
„Wow!“ - „Ja, spinnt die denn? Cool!“ Aufgekratzt steckten die Mädchen das
Geld ein. Mark winkte dem Kellner und bezahlte, dann zogen sie ihre Jacken und
Mäntel an und verließen die Pizzeria. Gemütlich schlenderten sie über die Hauptge-
schäftsstraße, schauten sich die Auslagen der Geschäfte an, lachten über die Preise für
bestimmte Artikel in diesen Läden und bewunderten die vielfältige Pracht in jenen.
Aufgekratzt und gut gelaunt, hingen Angie und Katrin sich bei Mark ein, ungeachtet
des Größenunterschiedes von fast einem halben Meter.
Schließlich hatten sie die Straße sowohl in der einen als auch in der anderen Rich-
tung abgearbeitet und machten sich wieder auf den Weg zum Auto. Nach etwas länge-
rer Fahrt als auf dem Hinweg waren sie gegen fünf Uhr wieder zu Hause.
„Ich bin in meinem Büro, falls ihr mich sucht“, meinte Mark, als sie ihre Jacken,
Mäntel und Schuhe ausgezogen und in die Garderobe geräumt hatten.
„Kommt gar nicht in Frage“, protestierte Angie. „Du hast dir frei genommen.“ Sie
zog ihn in den Aufenthaltsraum und drückte ihn auf ein Sofa. „Keine Widerrede!“
drohte sie, als Mark Anstalten machte, wieder aufzustehen. „Sitz!“
„Ja, Chef“, seufzte Mark und lehnte sich zurück. Katrin kicherte. „Also so muß
man mit Männern umgehen?“
„Genau“, grinste Angie. „So und nicht anders.“ Sie ging mit Katrin zu dem
Schrank, in dem die Stereoanlage stand, schaltete sie ein und stellte ihren Lieblings-
sender ein. Angenehme elektronische Musik durchflutete den Raum. Sie und Katrin
setzten sich auf ein weiteres Sofa und beobachteten Mark, der sich alle Mühe gab, ru-
hig zu sitzen. Angie flüsterte Katrin etwas ins Ohr. Katrin grinste und nickte.
Nach etwa drei Minuten gab Mark seine Bemühungen auf und wollte aufstehen.
Sofort waren beide Mädchen bei ihm und setzten sich auf seine Knie, Rücken an Rük-
ken. Mark war vollkommen überrascht.
„Was gibt das denn jetzt?“ fragte er fassungslos.
„Du bleibst ruhig sitzen“, grinste Angie.
„Genau“, lachte Katrin. „Du hast heute frei.“
„Mädchen“, sagte Mark aufgebracht. „Ich hab noch soviel zu tun, ich...“
„Ja, aber nicht heute.“ Angie blickte ihn herausfordernd an. „Du hast heute frei.
Hast du selbst gesagt.“
„Morgen auch nicht“, meinte Katrin. „Morgen ist Heiligabend. Und dann ist Weih-
nachten.“
„Zwei Tage lang“, sagte Angie mit schelmischem Blick. „Also hast du noch drei
ruhige Tage vor dir.“ Die Mädchen drückten ihre Rücken aneinander und machten sich
schwer. Ihre Knochen drückten in Marks Beine.
Mark schloß die Augen und zählte bis zehn. Das tat er immer, wenn er kurz davor
stand, zu explodieren. Ihn störte weniger, daß die Mädchen auf seinem Bein saßen; sie
saßen ja mehr auf seinen Knien als auf den Oberschenkeln, und außerdem meinten sie
es weder böse, noch hatten sie eine andere Absicht dabei. Was ihn viel mehr aufregte,
war die Ruhe, das Nichtstun. Das konnte er einfach nicht. Er brauchte Arbeit wie ein
Fisch das Wasser. Er verlängerte sein Zählen bis zwanzig, doch es half nicht. Der Auf-
ruhr in seinem Magen, der nach Arbeit verlangte, war einfach stärker. Und die Aus-
sicht auf weitere drei Tage Passivität ließ ihn beinahe durchdrehen.
Angie und Katrin wurden von Marks heftiger Bewegung, mit der er aufstand, völlig
überrascht. Mit erschrockenen Aufschreien fielen sie auf den Boden. Angie sah Mark
verletzt an, der ihrem Blick sofort auswich.
„Tut mir leid“, sagte er leise und stürmte hinaus, in sein Büro. Dort setzte er sich in
seinen Stuhl und suchte nach Arbeit, doch Angie hatte so ziemlich alles erledigt, was
noch zu tun war.
Er hörte, wie die Musik ausging, dann kamen Schritte aus dem Aufenthaltsraum,
gingen zur Treppe und diese hinauf. Mark glaubte, leises Weinen zu hören, doch er
war sich nicht sicher. Dann fiel eine Tür zu, und das Haus war still.
„Perfekt gemacht“, gratulierte Mark sich selbst bitter. „Und nun?“ Frustriert tippte
er zwei Briefe, die er noch erledigen mußte, dann war sämtliche Arbeit von seinem
Tisch. Mark ging zu einem Schrank und holte seine Pfeife heraus. Versehen mit Pfeife,
Tabak, Stopfer, Reiniger und Feuerzeug ging er zurück zu seinem Stuhl, setzte sich
hin, stopfte die Pfeife und brannte sie an, dann drehte er sich auf dem Stuhl und sah
lange und nachdenklich aus dem Fenster hinaus.


Das Abendessen verlief sehr still. Angie und Katrin hatten Brote gemacht, die sie
auf den Tisch stellten, an dem sie und Mark Platz nahmen. Schweigend aßen sie und
warfen sich gelegentlich verstohlene Blicke zu. Als das Handy klingelte, griff Angie
wortlos in ihre Tasche, nahm es heraus und legte es Mark hin, ohne ihn anzusehen.
„Mach du“, sagte er leise und schob es ihr wieder zurück, dann stand er auf, nahm
sein Glas und seinen Teller und ging hinaus. Angie sah ihm erstaunt hinterher, blickte
zu Katrin, die verwirrt die Schultern zuckte, dann nahm sie das Gespräch an und no-
tierte alle Daten. Anschließend informierte sie Bettina über den Neuzugang in ihrem
Gebiet, dann klappte sie das Handy wieder zu und steckte es ein.
„Was Schlimmes?“ fragte Katrin. Angie verneinte. „Nicht schlimmer als sonst.
Was ist mit Mark los?“
„Keine Ahnung, Angie. Vielleicht ist er so ein... ein... wie nennt man die Leute, die
arbeiten müssen, oder sie drehen durch?“
„Ich weiß, was du meinst“, antwortete Angie. „Ich kenn das Wort auch nicht, aber
ich weiß, was du meinst.“


‘Workaholic. Das bist du. Gestehe es dir endlich ein.’ Mark saß wieder in seinem
Büro, dieses Mal ohne Licht, und sah hinaus in die Dunkelheit. ‘Den Grund dafür
kennst du ja’, führte er die stumme Rede mit sich selbst fort, ‘aber denk mal nach, ob
das immer noch sein muß. Immerhin ist es mehr als zehn Jahre her. Du solltest lang-
sam mal zur Ruhe kommen.’ Es klopfte, und Angie trat ein.
„Mark? Bist du hier?“ fragte sie leise.
„Ja, am Schreibtisch. Komm her.“ Langsam tastete sich Angie vor durch den
Raum, der nur leicht erhellt wurde durch das Licht, das vom Flur kam, bis sie vor dem
Schreibtisch stand. „Was ist denn, Angie?“ fragte er sanft.
„Es kommt gleich ein neues Mädchen“, sagte sie höflich, aber unpersönlich. „Sie
ist fünfzehn, mißbraucht von ihrem Onkel und der Tante, bei denen sie lebt. Ihr Name
ist Gerrit. Sie wird in etwa zwei Stunden hier sein.“
„Ist gut, mein Liebes. Dann bereite mal alles vor, und ruf bitte die Ärztin an, ob sie
entweder heute abend oder morgen früh kommen kann. In welchem Zimmer möchtest
du sie haben?“
„Am liebsten in die 28. Sie wäre dann mit Johanna zusammen. Ich hab das Gefühl,
daß die beiden gut zusammenpassen.“
„Dann werden sie es auch“, sagte Mark lächelnd. „Bis zum Ende der Ferien wohnt
sie wo?“
„Direkt neben uns, in der 12. Katrin sagte schon, daß sie sich um das Mädchen
kümmern wird.“ Noch immer sprach Angie in einem sachlichen, unpersönlichen Ton.
Mark spürte, daß das Mädchen sehr verletzt und enttäuscht war von ihm. „Ich ruf dann
eben die Ärztin an, ja?“
„Tu das.“ Er schob ihr das Telefon zu. Angie nahm den Hörer auf, wählte die
Nummer der Ärztin, dann wartete sie, bis die Ärztin sich meldete.
„Guten Abend, Frau Doktor, hier ist Angela. ... Danke, gut, und Ihnen? ... Das
freut mich. Frau Doktor, wir bekommen in zwei Stunden eine Neue, und Mark hat
mich gebeten, Sie zu fragen, ob sie vielleicht heute abend oder morgen früh noch ein-
mal... Ja? Das ist toll! Sie sind super, wissen Sie das? ... Gut, bis gleich dann.“ Angie
legte auf. „Sie kommt gleich.“ Angie drehte sich um und wollte gehen, doch Mark
hielt sie auf.
„Angie, warte bitte.“ Das Mädchen blieb stehen und drehte sich zu Mark. „Was
denn?“ Mark stand auf, ging zu ihr, legte seine Hände unter ihre Achseln, hob sie hoch
und setzte sie auf den Schreibtisch. Dann setzte er sich wieder in seinen Stuhl und sah
sie an.
„Angie, ich möchte mich entschuldigen für vorhin. Und dir etwas erklären.“ Er
zündete seine Pfeife, die inzwischen ausgegangen war, wieder an, drehte sich herum
und sah wieder aus dem Fenster. Angie saß still auf dem Tisch, die Hände auf die
Platte gelegt, und hörte zu. „Als ich gerade zwanzig war, lernte ich eine Frau kennen,
die in der gleichen Branche arbeitete wie ich. Anfangs hatten wir nur beruflich mitein-
ander zu tun, doch nach und nach trafen wir uns auch immer häufiger privat. Wir ver-
liebten uns, und als wir vierundzwanzig waren, heirateten wir. Was wir beide damals
nicht wußten: sie hatte Krebs. Mit dreißig ist sie gestorben.“ Angie atmete tief ein, als
sie Marks Schmerz spürte. „Ich habe mich danach wie wahnsinnig in die Arbeit ge-
stürzt, um zu vergessen, und obwohl das jetzt zehn Jahre her ist, tut es immer noch
weh. Angie, deswegen kann ich nicht ruhig sitzen. Wenn ich Ruhe habe, denke ich an
sie, und sofort kommt der Schmerz wieder hoch. Verstehst du das? Ich habe es nicht
böse gemeint vorhin, ich kann es einfach nicht!“
„Ja“, sagte Angie leise und stand auf. „Das verstehe ich sehr gut.“ Sie ging zu
Mark und setzte sich auf seinen Schoß. „Mark, du hast uns selbst gesagt, daß wir über
unsere Vergangenheit reden müssen, um sie zu verarbeiten. Hast du das jemals getan?
Mit jemandem über deine Frau geredet?“ Mark kniff die Lippen zusammen und schüt-
telte den Kopf. Angie legte ihre Hände auf seine Schultern und sah ihm tief in die Au-
gen. „Dann fang an. Rede.“

* * *

Als Miriam mit Gerrit eintraf, war Mark wieder ansprechbar. Er hatte sich in den
letzten zwei Stunden alles von der Seele geredet, und Angie hatte ihn aufgefangen und
gestützt, wenn der Schmerz zu groß wurde. Wieder einmal wunderte Mark sich, als er
wieder klar denken konnte, wieviel Kraft diese kleine Person hatte, doch die weiteren
Ereignisse ließen ihm keine Zeit, weiter darüber nachzudenken.
Gerrit konnte kaum laufen, als sie hereinkam. Mark und die Ärztin stützten sie und
brachten sie in das Untersuchungszimmer, in dem sie die nächsten vierzig Minuten
verbrachte. Dann kam die Ärztin heraus. Sie sah abgekämpft aus.
„Was ist mit ihr?“ fragte Mark besorgt. Die Ärztin warf einen schnellen Blick auf
Angie, die an Marks Seite stand. Mark nickte unmerklich.
„Ich weiß nicht, was die mit ihr gemacht haben“, sagte die Ärztin, „aber das Kind
muß sofort in ein Krankenhaus. Sie ist völlig zerrissen, und vor ein paar Minuten fing
sie an, sehr stark zu bluten. Ich habe sie stabilisiert, aber ich weiß nicht, wie lange sie
noch durchhält.“ Angie gab ihr schnell das Handy. Die Ärztin wählte die 112, gab ei-
nen kurzen Bericht durch, den Angie nicht verstand, dann reichte sie Angie das Handy
und ging wieder zu ihrer Patientin. Keine acht Minuten später hörten sie die Sirene des
Krankenwagens. Angie öffnete das Tor, der Wagen fuhr vor, drei Männer sprangen
heraus und eilten in das Haus. Zwei Minuten später kamen sie wieder heraus. Gerrit
lag auf einer Trage, an der ein Tropf mit Blutplasma befestigt war. Noch im Gehen
setzte der Arzt ihr eine Spritze, dann wurde Gerrit in den Wagen gebracht, und mit
Sirenengeheul fuhr er wieder los. Aufgeregt sahen Angie und Katrin, die von der Sire-
ne geweckt worden war, dem Wagen hinterher, der urplötzlich langsamer fuhr, dann
ging die Sirene aus.
„Was denn jetzt?“ fragten Katrin und Angie wie aus einem Mund und drehten sich
um. Die Ärztin ging wortlos in ihr Zimmer, und Mark war blaß. Und wütend.
„Sie ist tot“, sagte er leise. „Es ist vorbei. Kommt rein.“ Er zog die Mädchen sanft
in den Flur und schloß die Tür.
„Aber - wieso tot?“ fragte Angie aufgebracht. „Wir haben doch - ich meine, es
ging doch nicht schneller, oder? Ist Miriam zu langsam gefahren? Habe ich zu lange
mit ihr geredet?“ Angie redete immer schneller und hektischer. Ihre Augen waren weit
aufgerissen, die Pupillen sehr groß. „Mark, wieso kann sie tot sein? Sie hat doch gera-
de noch gelebt, und geredet, und es waren Ärzte da, und...“
„Angie!“ Marks strenge Stimme brachte sie wieder zur Vernunft. Aus den Augen-
winkeln sah er Katrin, die langsam und traurig wieder auf ihr Zimmer ging. „Angie“,
sagte er nochmal, diesmal sanfter. „An ihrem Tod ist nur einer schuld, und das bist
nicht du, und nicht Miriam, und nicht die Ärzte.“
„Vollkommen richtig“, hörte Angie die Stimme der Ärztin, die mit ihrer Tasche in
den Flur kam. „Angela, mach dir keine Vorwürfe. Du hast gehandelt wie immer, und
du hast dein Bestes gegeben. Es war nicht deine Schuld, wirklich nicht.“ Sie öffnete
ihre Tasche und gab Angie eine kleine Schachtel. „Das sind leichte Beruhigungs-
tabletten. Nimm eine, wenn du nicht einschlafen kannst.“ Sie sah Mark an. „Das gibt
noch ein Nachspiel.“
„Garantiert“, antwortete Mark grimmig. „Angie, hast du noch den Notizzettel mit
Gerrits Anruf?“ Angie nickte schnell. „Ja, der liegt noch auf meinem Zimmer.“
„Gib mir den, bitte.“ Angie lief die Treppe hoch und kam kurz darauf zurück. Die
Ärztin war schon gegangen. Sie gab Mark den Zettel. Er las ihn gründlich durch. „Gut,
Angie. Jetzt paß auf: Ich habe mit Gerrit gesprochen, nicht du. Verstehst du? Du hast
ihren Anruf nicht mitbekommen, sondern ich habe mit ihr gesprochen. Ich habe Mi-
riam angerufen und sie informiert.“
„Aber das stimmt doch nicht“, sagte Angie verwirrt.
„Ich weiß“, erwiderte Mark müde. „Aber es ist so: wenn die Polizei hier erscheint
- und das wird sie -, dann ist es besser, wenn ich den Anruf von Gerrit angenommen
habe. Wenn du sagst, daß du mit ihr gesprochen hast, könnte dir der Vorwurf gemacht
werden, daß du für diese Arbeit zu jung und zu unerfahren bist, und mir wird bestimmt
der Vorwurf gemacht, den Ernst der Situation nicht richtig eingeschätzt zu haben, in-
dem ich dir die Verantwortung übertragen habe. Verstehst du?“ Angie schüttelte den
Kopf. Mark mußte ihr die Lage noch einmal erklären, dann nickte sie schließlich.
„Aber wenn es dir ein Trost ist, Angie“, sagte Mark sanft, „ich hätte genauso ge-
handelt wie du. Ganz genauso. Ich hätte die Ärztin sogar erst morgen früh angerufen.“


Pünktlich um neun Uhr morgens am Heiligabend erschienen zwei Polizisten. Mark
führte sie in sein Büro und sprach lange Zeit mit ihnen. Angie und Katrin, die von An-
gie inzwischen „eingewiesen“ worden war, saßen im Essensraum und frühstückten
lustlos. Dann klingelte es an der Tür, und Miriam, von Mark hergebeten, trat ein. Auch
sie ging direkt in das Büro, ebenso wie die Ärztin, die kurz nach Miriam eintraf. Zwi-
schendurch ging auch mal das Telefon, doch Mark nahm das Gespräch an.
Gegen viertel vor zehn kamen alle aus dem Büro heraus. Angie und Katrin liefen
schnell zu ihnen. Mark verabschiedete sich eilig, als das Telefon erneut klingelte. Als
er den Hörer abnahm, klingelte auch noch das Handy, das immer dann den Anruf ent-
gegennahm, wenn das Telefon in Marks Büro entweder besetzt oder umgestellt war.
Automatisch griff Angie in ihre Tasche, nahm das Handy heraus und meldete sich, von
den Polizisten aufmerksam beobachtet, aber das bekam sie nicht mit; sie machte ihre
Arbeit, konzentriert wie sonst auch.
Sie stellte die üblichen Fragen und notierte alle Angaben, dann versprach sie dem
Jungen, daß er in etwa zwanzig Minuten abgeholt werden würde. Inzwischen war
Mark aus seinem Büro herausgekommen und betete still, als er Angie am Telefon und
die Blicke der Polizisten sah. Nach dem Gespräch informierte Angie Margot, die so-
fort losfahren wollte, dann klappte sie das Handy zu und steckte es ein, wie sonst
auch. Erst als sie aufsah, merkte sie, daß alle Blicke auf sie gerichtet waren. Angst
stieg auf, als sie erkannte, was sie getan hatte. Sie wollte weglaufen, aber ihr Körper
blieb stehen, wo er war.
„Wie gesagt“, sprach der ältere der beiden Polizisten nach einer Weile. „Die Ver-
wandten des Mädchens sind bereits in Haft, und ich denke, da werden sie auch einige
Zeit bleiben. Nach dem Autopsiebericht“ - er sprach zu Mark, doch seine Augen
blickten Angie an - „hätte dem Mädchen niemand mehr helfen können, auch wenn sie,
statt hier anzurufen, gleich in ein Krankenhaus gegangen wäre. Sie war einfach zu ka-
putt.“ Er blickte Mark wieder an. „Ich denke nicht, daß Sie oder eines der Mädchen
hier vor Gericht erscheinen müssen. Ihre Aussage haben wir, ebenso die Berichte aller
beteiligten Ärzte, und auch das Geständnis der Verwandten. Damit sollte die Sache für
Sie erledigt sein.“ Er blickte Angie kurz an, dann wieder Mark. Angie atmete erleich-
tert auf. „Trotz allem Frohe Weihnachten.“
„Danke, Ihnen auch“, sagte Mark ziemlich matt. „Und vor allem ruhige Weih-
nachten.“
„Ihnen das gleiche“, lächelte der Polizist. „Sie leisten großartige Arbeit hier.“ Er
zwinkerte Angie zu, dann gingen er und sein Kollege zurück zu ihrem Auto. Als sie
abgefahren waren, stieß Mark hörbar die Luft aus.
„Irgend jemand Lust auf einen kleinen Schnaps?“


Angie brauchte noch einige Zeit, um über dieses Erlebnis hinwegzukommen, doch
viele und lange Gespräche mit Mark und der Ärztin halfen ihr dabei. Sie erkannte
schließlich, daß es irgendwo eine Grenze gab, ab der sie machtlos war, und auch wenn
es ihr sehr schwerfiel, akzeptierte sie dies letztlich. Damit hatte sie einen großen
Schritt in ihrer Entwicklung getan.

* * *

Den ganzen Vormittag über blieben Angie und Katrin auf ihren Zimmern, erst zum
Mittagessen kamen sie herunter. Nach dem Essen verschwanden sie sofort wieder,
sehr zu Marks Erstaunen, der sich notgedrungen mit sich selbst beschäftigen mußte.
Überrascht stellte er fest, daß nach dem gestrigen Gespräch mit Angie seine Arbeits-
wut sehr nachgelassen hatte. Er hatte noch immer das Bedürfnis, zu arbeiten, doch es
war ein unterschwelliges Gefühl, nicht sehr stark, und leicht zu kontrollieren. Er ging
in den Aufenthaltsraum, schaltete den Fernseher ein und sah sich Trickfilme an. Daß er
über die witzigen Figuren lachen konnte, erstaunte ihn nicht so sehr wie die Tatsache,
daß er sich wohl fühlte, obwohl er nichts tat.
Gegen sechs Uhr abends kamen Angie und Katrin herein; beide hatten ihre Hände
hinter dem Rücken verschränkt.
„Na, was plant ihr denn wieder für üble Dinge?“ lachte Mark, als er die aufgereg-
ten Gesichter der Mädchen sah.
„Gar keine“, flöteten sie unschuldig und setzten sich rechts und links von Mark
hin. „Fröhliche Weihnachten!“ riefen sie im Chor und reichten Mark einen großen Bo-
gen Papier, zusammengerollt und mit einer Schleife in Form gehalten. Aufgeregt sahen
die Mädchen zu, wie Mark die Schleife vorsichtig öffnete und das Papier aufrollte.
Starr vor Staunen blickte er auf ein Bild, das Angie und Katrin gemeinsam gemalt hat-
ten, wie er anhand der unterschiedlichen Maltechniken sofort feststellen konnte. Er
blickte auf das Haus, in dem sie lebten, jedoch war die Mauer entfernt worden, so daß
er in die einzelnen Zimmer sehen konnte. In jedem Zimmer saßen, standen oder lagen
glücklich lachende Mädchen. Kleider und Möbel waren in hellen, freundlichen Farben
gemalt. Mark suchte das Zimmer Nummer Elf. Als er es fand, mußte er lächeln: Angie
und Katrin saßen darin und winkten ihm fröhlich aus dem Bild heraus zu.
„Gefällt es dir?“ fragte Katrin aufgeregt, und Angie sprudelte heraus: „Wir haben
das zusammen gemacht. Katrin kann gut Menschen malen, und ich Gebäude. Magst du
es?“
„Es ist wunderschön“, sagte Mark bewundernd, der sich an den kleinen und liebe-
voll gezeichneten Details gar nicht satt sehen konnte. „Einfach wunderschön. Ganz
vielen Dank, Mädchen!“ Angie und Katrin strahlten ihn glücklich an. „Ich hab ja auch
noch was für euch“, fiel Mark plötzlich ein. Schnell sprang er auf, eilte in sein Büro
und kam sofort wieder zurück. Er gab Angie und Katrin je ein schmales Kästchen,
verpackt in Weihnachtspapier. „Fröhliche Weihnachten, Angie; fröhliche Weihnach-
ten, Katrin.“ Eifrig rissen die Mädchen das Papier auf und öffneten die Schachteln.
„Boah!“ machte Katrin leise. Angie blickte überwältigt auf eine schmale, goldene
Kette, an deren Ende ein Kreuz befestigt war. Vorsichtig nahm sie die Kette heraus
und legte sie um, ebenso wie Katrin. Tief bewegt schauten sich die Mädchen gegen-
seitig an, dann, wie auf Kommando, umarmten sie Mark stürmisch, der gar nicht wuß-
te, wie ihm geschah.
„Danke, Mark, das ist so toll!“ sagte Angie überwältigt.
„Das ist mein schönstes Geschenk überhaupt“, sagte Katrin gleichzeitig. Beide
Mädchen drückten Mark beinahe die Luft ab. Verlegen hielt er seine Hände über die
Mädchen, unsicher, ob er sie auch drücken sollte oder nicht, doch bevor er zu einer
Entscheidung gekommen war, meldete Angie sich.
„Du darfst uns ruhig auch umarmen“, grinste sie. „Ist doch Weihnachten!“
„Genau“, lachte Katrin. „Ich komm mir schon doof vor!“
„Na gut“, lächelte Mark. Vorsichtig legte er seine Arme um die Mädchen und
drückte sie kurz, aber herzlich, dann ließ er sie schnell wieder los. „Jetzt Abendes-
sen?“ fragte er schmunzelnd. Beide Mädchen nickten eifrig. Alle drei schlenderten in
die Küche. Mark öffnete eine der riesigen Tiefkühltruhen und schaute hinein. „Mal
sehen, was Maria uns dieses Jahr vorbereitet hat... Ah, da ist es ja.“ Er holte eine gro-
ße, verschlossene Plastikschüssel heraus, auf der „24.12.“ stand. Er schloß die Truhe
wieder und stellte die Schüssel auf die Theke, dann nahm er den Deckel ab. „Wie je-
des Jahr“, lachte er. „Ein sehr leckeres Gulasch.“
„Das eß ich gerne“, lächelte Katrin. „Ich auch“, sagte Angie aufgeregt. „Müssen
wir das kochen oder sowas?“
„Nein.“ Mark deutete auf den Aufkleber auf dem Deckel. „Da steht alles drauf.“
Er stellte die Mikrowelle nach Marias Angaben ein, dann schob er die offene Schüssel
in das Fach und schloß die Tür. „Setzt euch schon mal, ich bereite alles vor.“ Die
Mädchen setzten sich an ihren gewohnten Tisch, während Mark Teller und Besteck
heraussuchte und auf die Theke stellte. Sie unterhielten sich, bis die Mikrowelle klin-
gelte, dann nahm Mark die Schüssel heraus und füllte die Teller. Angie sprang auf, lief
zu Mark, der ihr einen Teller gab, und stellte diesen vor Katrin ab. Dann holte sie
Marks Teller ab, und danach ihren. Mark brachte das Besteck und Servietten mit, dann
wurde das Gulasch in Angriff genommen.
„Ist das lecker!“ staunte Katrin nach dem ersten Bissen. „So würzig und weich und
saftig und...“
„Und überhaupt“, lachte Mark. „Maria ist wirklich ein Goldstück.“
„Absolut“, sagte Angie überzeugt. „Mann, schmeckt das toll!“ So schnell das hei-
ße Essen es zuließ, schlangen die Mädchen es hinunter. Mark bekam fast einen
Lachanfall, als Angie ihren Teller ableckte.
„So lecker?“ grinste er.
„Hm-m“, machte Angie und leckte den letzten Rest auf. „Ist noch was da?“ fragte
sie gierig.
„Sicher“, schmunzelte Mark. „Katrin, du auch noch was?“
„Ja, aber nur einen halben Teller, bitte.“
„Okay.“ Mark nahm die Teller und ging in die Küche. Wieder holte Angie erst
Katrins, danach ihren Teller ab und stürzte sich dann mit Heißhunger auf ihre zweite
Portion, die fast genauso schnell kleiner wurde wie ihre erste. Auch dieses Mal leckte
sie den Teller gründlich ab, dann lehnte sie sich stöhnend zurück. „Satt bis obenhin!“
„Wirklich satt? Paßt nichts mehr rein?“ fragte Mark mit einem versteckten Lä-
cheln. Angie schüttelte ihren Kopf.
„Kein Stückchen mehr.“
„Schön“, freute Mark sich und stellte die leeren Teller zusammen. „Dann teilen
Katrin und ich uns das Eis.“
„Eis? Welches Eis?“ Alarmiert blickte Angie auf.
„Das Eis, was es zum Nachtisch gibt“, sagte Mark unbewegt.
„Doch, doch“, sagte Angie schnell, „das paßt noch.“ Katrin kicherte.
„Dann will ich mal nicht so sein“, lachte Mark und stand auf, um das Geschirr in
die Küche zu bringen. Angie und Katrin sahen zu, wie er eine große Stange Eis aus der
Truhe holte.
„Guck mal“, sagte Katrin sehnsüchtig. „Vanille, und Schoko, und...“
„Erdbeer!“ sagte Angie in dem gleichen Ton. „Mit Sahne!“ Mark verkniff sich das
Lachen, während er das Eis auspackte und drei große Stücke davon abschnitt, die er
dann in drei Glasschalen füllte. Angie und Katrin liefen schnell zu ihm und halfen ihm
tragen, dann war nichts mehr zu hören außer dem leisen Klirren von Metallöffeln auf
Glas.

* * *

Den Silvesterabend verbrachten Angie, Katrin und Mark schlafend. Die Mädchen
hatten die Einstellung, daß Silvester nichts wäre, wofür es sich lohnt, aufzubleiben,
und Mark war einfach zu müde. So verschliefen die drei den Beginn des neuen Jahres,
aber sie hatten sowieso eine andere Zeitrechnung. Für sie zählte nur das Heute.
Am Montag nach Neujahr klingelte es an der Tür. Angie, die gerade in Marks Büro
saß, schaute auf den Monitor, der bei dem Klingeln automatisch das Bild der Kamera
am Tor zeigte. Vor dem Tor stand ein großer, heller BMW, aus dem ein junger Mann
munter in die Kamera schaute. Sie drückte die Taste für das Mikrofon.
„Ja, bitte?“
„Hallo, mein Kind“, kam die klare, deutliche Antwort. „Ist dein Vater zu Hause?“
Für einen Moment brach in Angie Panik aus, als sie das Wort „Vater“ hörte, dann
nahm sie sich zusammen. „Meinen Sie Herrn Behrens? Herrn Mark Behrens?“
„Genau den. Ist er da?“
„Ja. Einen Moment, bitte.“ Sie drückte auf die Taste, die das Tor öffnete, und sah
auf dem Monitor den BMW losfahren. Dann schloß sie das Tor wieder und lief hinaus,
um Mark zu suchen, doch der stand bereits im Flur und hatte die Tür geöffnet.
„Wer ist das?“
„Keine Ahnung. Jemand, der dich sprechen möchte.“
„Gut. Nein, lauf nicht weg, Angie, ich möchte dich dabei haben.“ Geschmeichelt
wartete Angie neben Mark in der offenen Tür. Der BMW parkte vor dem Haus, und
der junge Mann, den Angie schon auf dem Monitor gesehen hatte, stieg aus, in der
Hand eine teuer aussehende Aktentasche.
„Hoffentlich kein Vertreter“, murmelte Mark. „Die kann ich auf den Tod nicht lei-
den!“ Mit schnellen Schritten kam der Mann näher, auf dem Gesicht ein jungenhaftes,
offenes Lächeln. „Herr Behrens?“ Mark nickte. „Schön, Sie kennenzulernen. Mein
Name ist Frank Jorg, stellvertretender Geschäftsführer von MobilTel . Sie hatten uns
angeschrieben.“
Mark brauchte einen Moment, doch dann schaltete er. „Ja, ja, das hatte ich. Ver-
zeihung, ich hatte nicht damit gerechnet, so schnell Antwort zu bekommen.“
„So sind wir“, lächelte der Mann. „Darf ich hereinkommen?“
„Ja, natürlich.“ Mark trat beiseite, ebenso Angie, die nicht wußte, worum es hier
eigentlich ging. „Darf ich bekannt machen? Dies ist Angela Maron, meine Assistentin.
Angela, dies ist Herr Jorg von einer Firma, die ich wegen einer Telefonanlage ange-
schrieben habe.“
„Sehr angenehm. Wir hatten ja bereits das Vergnügen“, lächelte Herr Jorg, der sich
sein Erstaunen über die „Assistentin“ keinen Moment lang anmerken ließ. Er reichte
Angie die Hand, die sie annahm.
„Darf ich Sie dann in mein Büro bitten?“ sagte Mark höflich.
„Gerne“, lächelte Herr Jorg. Mark ging vor und hielt Herrn Jorg die Tür zu seinem
Büro auf. Herr Jorg trat ein, sah sich mit schnellen Blicken um und setzte sich dann auf
eines der beiden Sofas. „Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“ fragte Mark.
„Ein Glas Saft oder Wasser wäre sehr nett.“
„Ich hol schon“, sagte Angie und lief zum Schrank, in dem die Getränke waren.
Schnell holte sie Gläser und Getränke heraus und trug sie zum Tisch. Dann füllte sie
die Gläser und blieb unschlüssig stehen.
„Setz dich ruhig“, bat Mark sie. „Herr Jorg, nur kurz zur Erklärung: Angela ist eine
von unseren Zöglingen, die nach bestimmten... Erlebnissen nicht mehr zu Hause woh-
nen bleiben wollte und deshalb zu uns gekommen ist. Nachdem sie sich hier eingelebt
hatte, bot sie von sich aus an, mitzuarbeiten, und sie macht es so gut, daß sie trotz ih-
rer Jugend den Titel ‘Assistentin’ zu Recht trägt.“
„Verstehe“, sagte Herr Jorg, der keinen Moment die Fassung verlor. „Gut. Herr
Behrens, in Ihrem Schreiben...“ Das Telefon unterbrach ihn. Angie stand schnell auf
und blickte Mark ängstlich an. „Mark, jetzt geht’s los, ich spür’s!“
„Was geht los?“ fragte Mark verwundert, doch Angie saß bereits am Schreibtisch
und hatte den Hörer abgenommen. Mark blickte Herrn Jorg an, der jedoch vollkom-
men unbeteiligt aussah. „Wie ich gerade sagte, haben Sie...“ Das Handy klingelte.
„Verzeihung“, sagte Mark und lief zu Angie, die das Handy aus ihrer Tasche zog
und Mark gab. Er und Angie vergaßen Frank Jorg vollkommen, während sie die An-
rufe bearbeiteten. Angie war zuerst fertig und legte auf. In der gleichen Sekunde klin-
gelte es erneut. Sie blickte Mark an. ‘Ich hab’s dir gesagt’, schien ihr Blick zu sagen,
dann nahm sie den Hörer auf.
Mark ging es ähnlich. Er hatte gerade die Verbindung getrennt, als das Handy wie-
der läutete. Er sah zu Angie und nickte. Es war ihm wieder eingefallen, warum Angie
nicht mit in Urlaub fahren wollte. ‘Hat sie tatsächlich recht gehabt’, dachte er stau-
nend, dann meldete er sich. Während er der verzweifelten Stimme zuhörte, schaute er
kurz zu Herrn Jorg, der jedoch in einem seiner Kataloge blätterte und gelangweilt aus-
sah. Mark zuckte innerlich die Schultern, dann konzentrierte er sich auf das Telefonat.
Und so ging es in den nächsten vierzig Minuten weiter. Sobald Angie oder Mark
das Gespräch beendet hatte, meldete sich das Telefon wieder, und ein weiteres ge-
quältes, mißhandeltes oder mißbrauchtes Kind suchte Hilfe. Schließlich war Angie
fertig. Sie schaute das Telefon gespannt an, doch es blieb still. Sie blieb einige Sekun-
den erwartungsvoll sitzen, doch nichts geschah. Dann lehnte sie sich aufatmend zu-
rück, bevor sie daran ging, ihre Notizen zu ordnen.
Mark beendete sein Gespräch zwei Minuten später. „Und?“ fragte er Angie.
„Alle verteilt“, sagte sie erschöpft, doch in ihrer Stimme lag Befriedigung über die
bewältigte Arbeit. „Ich hatte sechs Mädchen und drei Jungs, alle verteilt. Ein Mädchen
- Ursula - kommt in etwa einer Stunde zu uns. Miriam bringt sie. Und bei dir?“
„Drei Mädchen, vier Jungs. Ebenfalls gut untergebracht, aber niemand hier. Wie-
viel haben wir jetzt?“
„Sechsundsiebzig“, sagte Angie. „Fast voll.“ Mark schenkte ihr ein warmes Lä-
cheln. „Das war Spitzenarbeit, Angie“, sagte er zärtlich. „Ich bitte dich um Verzei-
hung. Ohne dich hätte ich das wirklich nicht geschafft.“
„Geschenkt“, strahlte Angie. Mark sah sie noch einen Moment lang an, dann ging
er wieder zum Sofa und setzte sich. „Herr Jorg, es tut mir leid, daß Sie warten muß-
ten.“
„Geschenkt“, sagte er im gleichen Ton wie Angie und lächelte. „Herr Behrens, als
wir Ihren Brief...“ Er unterbrach sich und schaute auf das Telefon, doch es blieb still.
Befriedigt nickte er. „Als wir Ihren Brief erhalten haben, dachten wir zuerst, es handelt
sich um einen Scherz nach dem Motto: ‘Bitte schenkt uns eine Telefonanlage!’, doch
nachdem wir Auskünfte über Sie und dieses Heim eingeholt hatten, wer Sie sind und
was Sie tun, änderte sich dies natürlich. Deswegen bin ich persönlich gekommen. Und
ich denke, das war ganz gut so.“ Er blickte kurz zu Angie, die inzwischen ebenfalls
wieder auf dem Sofa Platz genommen hatte. Er bemerkte die Schweißflecken an ihrem
Kleid unter den Achseln. „Also“, redete er weiter. „Sie brauchen keine Telefonanlage,
sondern mehr Leute.“ Er lächelte, um zu zeigen, daß er einen Scherz gemacht hatte.
Angie blickte ihn verwundert an. Herr Jorg hatte das fröhliche, jungenhafte Gehabe
abgelegt und war jetzt ganz Geschäftsmann. „Erzählen Sie mir ein bißchen mehr. Wie-
viel Heime in dieser Art gibt es? Wo liegen die? Wieviel Anrufe bekommen Sie pro
Tag, und wann?“
„Hier in Süddeutschland haben wir etwa dreißig Heime. Wenn ich ‘wir’ sage, mei-
ne ich damit nicht, daß wir alle zusammengehören, sondern jedes Heim hat sich auf
eine bestimmte Art von Problemen spezialisiert. Jedes Heim arbeitet sehr eng mit den
lokalen Behörden zusammen, finanziert sich aber selbst, und das auch nur durch Spen-
den von großen Firmen. Wo die Heime liegen, kann ich Ihnen am besten auf der Karte
zeigen.“ Er zeigte auf bestimmte Orte, die Herr Jorg notierte. „In jeder Stadt, egal, ob
groß oder klein, liegen unsere Informationszettel aus, entweder an den Bahnhofs-
schaltern oder in den Verkaufsstellen für Fahrscheine.“
„Für Bus und Straßenbahn?“
„Genau. Auf allen Zetteln steht nur diese Nummer, da wir davon ausgegangen
sind, daß ein Kind, das verzweifelt und panisch von zu Hause weggelaufen ist, keinen
Fragenkatalog durcharbeiten kann, um zu entscheiden, an welches Heim es sich wen-
den soll. Wieviel Anrufe pro Tag ankommen, ist schwer zu sagen. Heute war die ab-
solute Ausnahme.“
„Ich hab ‘ne Aufstellung“, sagte Angie und sprang auf. Mark folgte ihr mit er-
staunten Blicken. Angie lief zu dem Schrank und holte einen schmalen Ordner heraus,
den sie Mark gab. „Gleich ganz vorne“, sagte sie eifrig. Mark öffnete den Ordner und
fand eine Computergrafik, auf der die Anzahl der Anrufe, verteilt auf die Uhrzeit, bild-
lich dargestellt war. In der Zeit von acht Uhr morgens bis zehn Uhr und dann wieder
von fünf Uhr nachmittags bis neun Uhr abends waren die längsten Balken.
„Wann hast du das denn gemacht?“ fragte Mark verblüfft, während Herr Jorg die
Grafik studierte.
„Katrin und ich haben die gemacht“, sagte Angie stolz. „Nach Weihnachten. Hat
zwar was gedauert, bis wir rausgefunden haben, wie das geht, aber dann ging es ganz
gut.“
„Du erstaunst mich immer wieder“, lächelte Mark. Angie strahlte. Für einen Mo-
ment sahen die beiden sich an, dann senkte Angie verlegen den Blick.
„Darf ich was sagen?“ meldete sich Herr Jorg mit einem feinen Lächeln. „Ich den-
ke nicht, daß Angela die Bezeichnung Assistentin verdient.“ Er machte eine kurze
Pause, in der Angie ihn verletzt ansah. „Ich finde vielmehr, daß sie sich Stellvertreterin
nennen sollte.“
„Das sollte sie wirklich“, lächelte Mark zärtlich. Jetzt war es aus mit Angie. Ihr
Strahlen erhellte den ganzen Raum, und ihr vor Verlegenheit rotes Gesicht konnte mit
einer voll aufgedrehten Heizung im Winter konkurrieren.
„Gut, Herr Behrens, fassen Sie bitte noch einmal zusammen, was Sie genau wol-
len.“ Mark atmete tief durch und sammelte seine Gedanken.
„Ich suche nach einer Möglichkeit, Anrufe zu anderen Heimen weiterleiten zu las-
sen, wenn hier - wie gerade eben - alles besetzt sein sollte. Umgekehrt sollte es genau-
so funktionieren. Also wenn jemand das Heim bei Nürnberg anruft, und dort ist be-
setzt, daß der Anruf dann zu dem nächsten Heim weitergeschaltet wird. Wenn dies
machbar sein sollte, werden wir - also die Leiter der jeweiligen Heime - uns zusam-
mensetzen und unsere ganzen Kontakte in den jeweiligen Gebieten austauschen, so
daß wir sicher sein können, daß ein Jugendlicher, der dringend Hilfe braucht, immer
und jederzeit einen Ansprechpartner findet, der dann für die Abholung dieses Jugendli-
chen sorgt und die entsprechende Kontaktperson informiert, wo der Jugendliche abge-
holt werden kann, und zu welchem Heim er gebracht werden soll.“
„So sollte es sein“, lächelte Herr Jorg. „Und so wird es auch sein. Trommeln sie
Ihre Leute zusammen, wir kümmern uns um den Rest.“
„Sie - Sie meinen, daß...“ Zum ersten Mal, seit Angie Mark kannte, war er
sprachlos. Herr Jorg war nun wieder ganz der fröhliche Junge.
„Ich bin zwar nur der stellvertretende Geschäftsführer“, grinste er, „aber ein oder
zwei Dinge darf ich auch entscheiden. Herr Behrens, haben Sie Leerrohre hier im Haus
verlegt? Oder sind die Kabel alle unter Putz?“
„Äh... kann ich nicht sagen, tut mir leid.“
„Mach nichts.“ Herr Jorg stand auf und ging zu einer Steckdose. Aus seiner Jacke
holte er einen Stift, der sich, nachdem die Kappe abgeschraubt war, als kleiner
Schraubenzieher entpuppte. Schnell war die Steckdose geöffnet und entfernt. „Ah, ja“,
murmelte er, und schon war die Dose wieder an ihrem Platz. Herr Jorg stand auf, ging
zum Telefon und verfolgte die Leitung, dann kniete er sich vor die Mauer und öffnete
auch diese Dose. „Sehr schön“, sagte er zufrieden. „Überall Rohre. Darf ich mal die
Zimmer oben sehen? Stichproben genügen.“
„Sicher.“ Verwirrt stand Mark auf und ging, zusammen mit Herrn Jorg und Angie,
die Treppe hinauf. Angie öffnete die Tür zu ihrem Zimmer. Katrin lag auf dem Bett
und las ein Buch. Als sie die Menschenmenge sah, wurde sie nervös.
„Ist was passiert?“ fragte sie ängstlich.
„Jede Menge“, lachte Mark sie an und nickte ihr beruhigend zu. Erleichtert ließ
Katrin ihr Buch sinken und sah zu, wie ein ihr fremder Mann eine Steckdose öffnete.
„Hier auch“, sagte er und schraubte die Dose wieder zu. „Zwei weitere Zimmer
werden reichen. Sind weiter oben auch noch Räume?“
„Ja“, sagte Mark. „Auf der nächsten Etage ebenfalls Zimmer, unter dem Dach
dann ein paar Unterrichtsräume.“
„Gut. Gehen wir.“ Es stellte sich heraus, daß die Leerrohre bis nach ganz oben
gingen. Herr Jorg sah sich kurz in dem Dachgeschoß um.
„Ist es hier sehr warm im Sommer?“
„Warm ist kein Ausdruck“, sagte Mark ruhig. „Von etwa Juni bis Ende September
findet der Unterricht für die Mädchen im Erdgeschoß statt. Hier oben würden sie glatt
schmelzen.“
„Kann ich mir denken.“ Herr Jorg überlegte kurz. „Gut. Ich habe alles gesehen,
was für mich wichtig ist. Gehört das Haus Ihnen?“
„Dem Verein“, antwortete Mark. „Wir haben es bekommen, nachdem wir ein
Mädchen aufgenommen hatten. Was wir nicht wußten, war, daß ihr Vater ein großes
Industrieunternehmen besaß, und er war sehr froh, daß wir das Mädchen vor Schaden
bewahrt hatten. Die genaueren Umstände darf ich Ihnen leider nicht erzählen, aber
zwei Wochen, nachdem sie zu uns gekommen war, war sie wieder glücklich zu Hause
bei ihren Eltern. Aus Dankbarkeit hat uns ihr Vater dieses Haus geschenkt, und zwar
völlig renoviert und ausgestattet. Es sollte ursprünglich dem Land als Museum oder so
was übergeben werden, aber der Mann hat schnell umdisponiert.“
„Kann ich gut verstehen“, sagte Herr Jorg leise. „Ich habe selbst zwei Kinder, ei-
nen Jungen und ein Mädchen, beide zehn. Ich würde auch alles hergeben, um sie zu
beschützen. Gut“, fuhr er mit normaler Stimme fort. „Kann ich mir das Grundstück um
das Haus herum einmal ansehen?“
Mark sah zu Angie, die schnell nickte. „Ich paß auf das Telefon auf. Bis gleich.“
Schnell lief sie hinunter in Marks Büro, Mark und Herr Jorg folgten in einem gemäch-
licheren Tempo.
„Ich muß mich bei Ihnen entschuldigen“, sagte Herr Jorg auf der letzten Treppe ins
Erdgeschoß. Mark blickte ihn verwundert an. „Als Sie Angela als Ihre Assistentin vor-
stellten, dachte ich im ersten Moment, daß einer von uns beiden im falschen Film sein
muß, und ich wußte, daß ich es nicht war.“ Er lächelte dabei. „Aber nach diesem An-
sturm...“
„Ich verstehe, was Sie meinen“, sagte Mark nachdenklich. „Angela ist ein ganz be-
sonderes Mädchen. Sie ist seit ihrem zwölften Geburtstag täglich von ihrem Vater
mißbraucht worden, ein ganzes Jahr lang, und sie hat es so gut verkraftet, daß sie seit
mehreren Wochen schon aktiven Telefondienst leistet. Bei ihr habe ich das Gefühl,
daß sie einmal meine Nachfolgerin sein könnte.“
„Die Fähigkeit dazu hat sie bestimmt. Was ich vorhin mitbekommen habe... Sie
hat eine ganz bestimmte Ausstrahlung, wenn sie am Telefon ist. So was in der Art von:
‘Sprich dich aus, bei mir bist du gut aufgehoben.’ Sie wissen, was ich meine?“
„Natürlich“, lachte Mark. „Genau deswegen habe ich ja zugestimmt, daß sie mit-
machen darf.“ Er lachte auf. „Sie macht inzwischen sogar schon Nachtdienst. Das
heißt, sie nimmt das Handy mit auf ihr Zimmer, wenn sie schlafen geht.“
„Hat sie denn schon Anrufe gehabt nachts?“ Sie gingen durch die Haustür ins
Freie.
„Einen“, grinste Mark. „Katrin - ihre Zimmerkollegin - hat mir morgens gesagt,
daß sie noch nie jemanden so schnell hat wach werden sehen wie Angie, als das Te-
lefon klingelte. Angie muß so geklungen haben, als wäre sie topfit. Was genau möch-
ten Sie denn hier sehen?“
„Wo die Telefonleitungen ankommen.“
„Hinten am Haus.“ Mark führte Herrn Jorg zu dem Verteilerkasten.
„Hm-m“, machte er nach einem kurzen Blick. „Das Fenster hier ist das von Ihrem
Büro?“
„Ja.“
„Gut... Okay, alles klar. Gehen wir noch kurz rein?“
„Gerne“, lächelte Mark. „Und vielleicht lassen Sie dann endlich die Katze aus dem
Sack!“
„So“, grinste Herr Jorg. „Sie haben gemerkt, daß ich etwas ausbrüte?“
„Menschenkenntnis ist mein Beruf“, lachte Mark, während er die Haustür auf-
schloß und Herrn Jorg hineinließ.
„Der Himmel steh mir bei“, murmelte Herr Jorg, als sie in Marks Büro gingen.
„Genau das, was ich nicht gebrauchen kann: jemand, der mich durchschaut.“
Angie stand gerade vom Schreibtisch auf, als sie hereinkamen. „Miriam ist da, mit
Uschi“, sagte sie. „Ich bring sie in den Aufenthaltsraum, ja?“
„Mach das, Angie. Und sprich mit ihr. Wenn du den Eindruck hast, daß sie...“
„Dann rufe ich die Ärztin an“, versprach Angie und eilte hinaus. Mark sah ihr lä-
chelnd hinterher, dann setzte er sich mit Herrn Jorg an den kleinen Tisch.
„Ich will Sie nicht länger auf die Folter spannen, Herr Behrens. Was ich Ihnen an-
bieten kann... Nein, eine Frage noch: wie denken die Leiter der anderen Heime über
das, was Sie vorhaben?“
„Sie warten verzweifelt darauf, daß es endlich kommt“, sagte Mark ehrlich. „Wir
wissen von zwei Fällen in München, in denen Kinder nicht zu dem Heim durchge-
kommen sind und nach Holland verschleppt wurden. Sie wissen, was das heißt?“
„Ja.“ Frank Jorgs Backenmuskeln verspannten sich für einen Moment. „Gut. Also
wären alle damit einverstanden, daß die Anrufe für ein Heim im Besetztfall zu einem
anderen weitergeleitet würden?“
„Mehr als einverstanden“, sagte Mark. „Sie sehnen sich regelrecht danach.“
„Sehr schön. Mein Angebot. Erstens: wir richten eine zentrale, gebührenfreie Ruf-
nummer ein, unter der die Kinder anrufen können. Hinter dieser Nummer steckt ein
kleiner, aber intelligenter Computerchip, der ermittelt, woher der Anruf kommt und ihn
an das nächstgelegene Heim weiterleitet.“ Marks Augen wurden groß; das war genau
das, wovon er geträumt hatte. „MobilTel übernimmt die Kosten für alle Anrufe in den
ersten zwei Jahren, danach beteiligen wir uns zu dreißig Prozent an den entstehenden
Gebühren. Anschlußgebühr und Verkabelung übernehmen wir, ebenso die Elektronik
dahinter.“
„Das ist -“ setzte Mark an, doch Herr Jorg unterbrach ihn.
„Hören Sie sich bitte erst alles an. Sie sagten, Sie sind ein Verein. Eingetragen?
Prima. Die anderen Heime auch? Sehr gut. Dann können wir das ganze nämlich noch
als Spende von der Steuer absetzen. In diesem Fall übernehmen wir die Telefongebüh-
ren vollständig.“ Mark schluckte. Das war eine Riesenentlastung sowohl für sein Bud-
get als auch für das der anderen Heime. „Zweitens: Sie bekommen von uns eine
Hausanlage, sowohl Telefon als auch Lautsprecheinrichtungen. Personenrufanlagen
nennt man sowas. Sammelruf für alle Zimmer und Räume, oder gezielt für einzelne
Zimmer. Drittens: Als Gegenleistung dürfen wir Sie - also alle Heime in diesem Ver-
bund - als Referenz in unserer Werbung angeben. Das bedeutet, wenn eine Firma XYZ
bei Ihnen anruft und wissen will, ob Sie mit unseren Produkten und Leistungen zufrie-
den sind, singen Sie so laut ein Loblied, daß mir die Ohren klingen. Akzeptiert?“
„Natürlich“, sagte Mark überwältigt. „Herr Jorg, das ist mehr, als ich erwartet ha-
be!“
„Ach, wissen Sie“, plauderte Herr Jorg, „ich mag keine halben Sachen. Wegen der
Unterrichtsräume...“ Er kramte in seiner Brieftasche und gab Mark eine Karte. „Rufen
Sie diese Frau an, bestellen Sie ihr einen schönen Gruß von mir, und Sie bräuchten
Klimageräte. Dann sagen Sie ihr noch, Sie solle bei der Rechnung mit dem grünen Stift
arbeiten.“
„Grüner Stift?“ fragte Mark verwirrt. Herr Jorg lächelte. „Sagen Sie es ihr einfach,
ja? Morgen früh wird ein Techniker kommen, der die Lage aller Telefondosen und
Stromanschlüsse notiert sowie die Maße der Räume aufnimmt. Ich denke...“ - er
überlegte kurz - „daß alles in etwa drei, spätestens vier Wochen stehen dürfte. Ja.“ Er
nickte dem völlig überfahrenen Mark Behrens zu. „Noch Fragen?“
„Nur eine“, sagte Mark schwach. „Wer ist ihr Vorgesetzter? Ich muß einen Dan-
kesbrief schreiben.“
„Nicht nötig“, meinte Herr Jorg lachend. „Mein Vater weiß, daß ich gut bin.“
„Verstehe“, schmunzelte Mark und schüttelte die angebotene Hand. „Herr Jorg,
Sie wissen gar nicht, was das für uns bedeutet, wie sehr Sie uns damit geholfen ha-
ben.“ Sie standen auf und gingen zur Tür.
„Klar weiß ich das nicht“, lachte Herr Jorg. „Es ist einfach ein guter Tag, um Geld
aus dem Fenster zu werfen.“ Er betrat den Flur, gleichzeitig mit Uschi und Angie, die
aus dem Aufenthaltsraum kamen. Herr Jorg wurde blaß, als er das Mädchen sah. Es
war ein Kind von vierzehn Jahren, mit gelockten braunen Haaren, braunen Augen, und
zerrissener Kleidung.
„Uschi?“ sagte er ungläubig. Das Mädchen sah auf. „Uschi Michels?“ Die Kleine
nickte und erkannte ihr Gegenüber.
„Sie sind... der Chef von meinem Vater, nicht?“ nuschelte sie. Herr Jorg sah, daß
ihre Lippen geschwollen waren, und daß sie neben einigen Wunden im Gesicht auch
noch ein Veilchen hatte. Angie und Mark sahen gespannt zu. Mark überlegte, ob er
eingreifen sollte, aber das Mädchen hatte offensichtlich keine Angst vor Frank Jorg,
der auf sie zuging und ihre Hände nahm. „Wer war das?“ fragte er leise. „Uschi, was
ist passiert?“
Das Mädchen fing wieder an, zu weinen, riß sich los und lief zu Angie, die sie in
den Arm nahm und tröstete. Angie formte das Wort ‘Vater’ mit den Lippen, dann
kümmerte sie sich ausschließlich um das Mädchen. Frank Jorg drehte sich zu Mark
um, seine Lippen zitterten vor Wut.
„Vergessen Sie, was ich gesagt habe“, sagte er mit gepreßter Stimme. „Sie haben
die Hausanlage bis zum Ende dieser Woche, und das andere in zwei Wochen. Sobald
ich ein... bestimmtes Gespräch hinter mir habe, werde ich mich persönlich um alles
kümmern. Sie informieren die anderen Heime, wie besprochen?“ Mark nickte. „Gut.
Bis dann, und weiterhin alles Gute für Sie. Dir auch, Angela. Mach weiter so.“ Angie
nickte und sah Frank Jorg hinterher, der mit schnellen Schritten aus dem Haus ging
und in sein Auto einstieg. Mark ging in sein Büro, um das Tor zu öffnen, und kam we-
nig später zurück. Angie und Uschi waren nicht mehr zu sehen; Mark ging davon aus,
daß Angie sie mit auf ihr Zimmer genommen hatte. Nachdenklich ging er in sein Büro
zurück.





4


MobilTel war so schnell, daß Mark Mühe hatte, mit den ganzen Veränderungen
Schritt zu halten, die über sein Haus hereinbrachen. Am Ende der Woche war die
Hausanlage installiert und funktionsfähig, wie versprochen. Von jedem Raus aus
konnte jeder Raum angerufen werden, zusätzlich konnte er von seinem Büro, vom Es-
sensraum und vom Aufenthaltsraum aus entweder Durchsagen für das ganze Haus
vornehmen oder gezielt ein Zimmer auswählen.
Mark, Angie, Katrin und die sechs Techniker, die die Hausanlage installiert hatten,
führten einen ausgiebigen Test durch, der zur allgemeinen Zufriedenheit ablief. Angie
stellte fest, daß sie das Haus mehr und mehr als ihre Verantwortung empfand; ein Ge-
fühl, das ihr zwar noch etwas fremd vorkam, aber nicht unangenehm war. Sie bemühte
sich mit allen Kräften, ihrer Arbeit gerecht zu werden, und kümmerte sich auch um
Kleinigkeiten, auf die Mark entweder nicht achtete oder die er nicht bemerkte.
Von der Telekom hatte Mark ein Schreiben bekommen, in dem die gebührenfreie
Rufnummer stand, und das Datum, ab dem sie gültig war: der nächste Montag. Jetzt
hatte Mark das Problem, sämtliche Zettel, die im Süden Deutschlands herumlagen, ge-
gen die neuen auszutauschen, doch mit Hilfe der Druckerei, die Sonderschichten ein-
legte, und allen freiwilligen Helferinnen würde dies im Lauf der nächsten Woche über
die Bühne gehen. Die alte Rufnummer würde noch bis Ende Februar gültig sein, für
alle Fälle, doch sie war auch auf die neue Nummer geschaltet. Mark hatte einen langen
Brief aufgesetzt, in dem sämtliche Neuerungen ausführlich erklärt wurden, und diesen
an die anderen Heime geschickt, zusammen mit der Liste seiner Helferinnen, deren
Telefonnummern und Gebiete, in denen sie tätig waren. Tagtäglich trudelten neue
Briefe ein, von den anderen Heimen, mit gleichem Inhalt, so daß Angie und Mark alle
Hände voll zu tun hatten, um sich die ganzen Namen und Gebiete zu merken und in
Listen zusammenzufassen.
Am Samstag, an dem die anderen Mädchen aus dem Urlaub zurückkommen soll-
ten, lud Mark Angie und Katrin zu einem großen Mittagessen ein, in einem teuren
Steakrestaurant, als kleines Dankeschön für all die Hilfe, die er in der letzten Woche
von den Mädchen bekommen hatte. Uschi, die sich inzwischen gefangen hatte, blieb
zu Hause; sie wollte nicht raus, da ihr Gesicht noch deutliche Spuren der Mißhandlun-
gen aufwies. Erst als Angie Mark versicherte, daß Uschi keinen Unfug anstellen wür-
de, fuhr er beruhigt mit den beiden Mädchen los.
„Warum hat Uschi eigentlich noch keinen neuen Namen?“ fragte Katrin neugierig
auf der Fahrt zu dem Restaurant.
„Weil sie bald schon wieder zu ihrer Mutter zurückgehen wird“, antwortete Mark.
„Sie bleibt nur solange bei uns, bis die Mutter eine Wohnung gefunden hat, dann geht
sie wieder.“
„Und ihr Vater?“ fragte Katrin.
„Der ist gekündigt worden, noch am gleichen Tag, und hat eine Anzeige am Hals.“
„Gut“, sagte Katrin mit grimmiger Freude. „Ich hoffe, er bekommt lebenslänglich!“
„Du kennst doch die Gerichte“, sagte Angie leise. „Dem passiert nicht viel.“
„Aber zumindest ist seine Tochter außer Reichweite“, sagte Mark und bog auf den
Parkplatz vor dem Restaurant ein. „So, da sind wir. Benehmt euch bloß anständig.“ Er
fuhr den Wagen auf einen Parkplatz.
„Wie?“ fragte Angie entrüstet. „Dürfen wir hier nicht mit Essen schmeißen?“
„Oder laut rülpsen?“ kicherte Katrin.
„Ihr macht mich fertig“, seufzte Mark und stieg aus dem Wagen aus. „Ich weiß
nicht, warum ich euch nicht einfach irgendwohin verkaufe.“
„Ist doch sonnenklar“, strahlte Angie und nahm seine Hand. „Weil du ohne uns
nicht mehr leben kannst!“
‘Damit hat sie gar nicht mal so unrecht’, dachte Mark, als er Angie fröhlich neben
sich hergehen sah.

* * *

An diesem Abend dachte Angie, daß ihr Trommelfell reißt. ‘Waren die schon im-
mer so laut?’ fragte sie sich, als der ganze Trupp Mädchen den Flur stürmte, aufge-
dreht bis in die Haarspitzen, doch nach wenigen Minuten hatte sie sich, genau wie
Mark und Katrin, wieder daran gewöhnt und fühlte sich sogar wohl in dem Lärmtep-
pich aus Mädchenstimmen und Lachen. Dies war ihre Familie, erkannte sie plötzlich
mit einem warmen Gefühl im Bauch. Fröhlich half sie den Mädchen beim Ausziehen
der schweren Jacken und Mäntel und beim Hereintragen der Koffer, als sie plötzlich
Jana bemerkte.
„Hey, Jana“, rief sie fröhlich und lief auf ihre Zimmergenossin zu.
„Angie!“ Aufgeräumt umarmten sich die Mädchen. „Du, es war so toll!“ sprudelte
Jana los. „Wir waren jeden Tag auf der Piste und haben ganz viel gelernt, und ich bin
nur ganz selten hingeknallt, aber nicht schlimm, und die Angelika konnte so toll Gitar-
re spielen, und wir haben jeden Abend Lieder gesungen im Hotel, und...“
„Geht doch mal aus dem Weg“, sagte ein älteres Mädchen lachend. „Mann, ihr
steht mitten in der Tür, wißt ihr das eigentlich?“ Kichernd rannten Angie und Jana in
den Flur, dann wurde Jana plötzlich ernst.
„Was ist denn?“ fragte Angie erstaunt.
„Na ja...“, sagte Jana verlegen, dann atmete sie tief durch. „Angie, wärst du sehr
böse, wenn ich zu Astrid aufs Zimmer ziehe? Wir sind echt gute Freundinnen gewor-
den im Urlaub.“ Angie fiel ein Stein vom Herzen. Obwohl sie Jana mochte, empfand
sie doch mehr Sympathie für Katrin.
„Nein“, sagte sie mit einem warmen Lächeln. „Um ehrlich zu sein: Katrin will zu
mir ziehen, aber ich wußte nicht, wie du reagierst.“
„Jetzt weißt du es ja“, erwiderte Jana, ebenfalls erleichtert, daß dieser Moment oh-
ne Streit vorüberging. „Das ist toll von dir, ehrlich!“
„Willst du gleich zu ihr ziehen?“
„Ja, wenn es dir nichts ausmacht.“
„Natürlich nicht“, lächelte Angie und umarmte Jana gleich noch einmal. „Wir blei-
ben doch trotzdem Freunde, oder?“ Sie schauten sich in die Augen und sahen im Gei-
ste die Szene auf dem Bahnhof, in der sie schüchtern aufeinander zugingen. Etwas
würde sie immer miteinander verbinden, das spürten beide Mädchen.
„Immer“, bekräftigte Jana. Angie griff nach Janas Tasche. „Dann mal los, ich helf
dir tragen.“ Mark, der diese Begegnung aufmerksam verfolgt hatte, winkte Katrin an
seine Seite. „Es sieht so aus, als ob du nicht umziehen müßtest“, sagte er leise zu ihr.
 

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