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„Das waren die Neuerungen, soweit sie euch betreffen“, schloß Mark nach dem gemeinsamen Abendessen seine Erklärungen. „Wenn ihr ein anderes Zimmer anrufen wollt, wählt ihr einfach die Nummer, bei den Zimmern Eins bis Neun müßt ihr eine Null davor wählen. Die Rufanlage, die ebenfalls in jedem Zimmer ist, ist auch ganz einfach zu bedienen. Wenn...“ Das Handy läutete. Automatisch griff Angie danach, meldete sich und eilte aus dem Raum, verfolgt von ungläubigen Blicken der anderen Mädchen. Maria hinter ihrer Theke verkniff sich ein Grinsen. „Ja“, lächelte Mark. „Das ist ebenfalls neu, aber das betrifft euch nicht direkt. Erst mal zur Rufanlage. Wenn ihr eine Stimme hört, schaut auf die Lampe. Leuchtet sie grün, ist die Stimme nur in dem Zimmer zu hören, das angewählt wurde, leuchtet sie rot, betrifft es euch alle. Wenn ihr antwortet, redet einfach los, es ist ein gutes Mikro- fon darin, das eure Stimmen auch dann überträgt, wenn ihr ganz hinten im Raum seid. Abhören ist nicht möglich; sobald das Gerät eingeschaltet wird, leuchtet eine Lampe. Fragen?“ Mark spürte die Spannung bezüglich Angie. „Gut, dann zu Angela. Angela hat mir in den Weihnachtsferien unglaublich gehol- fen. Am Montag hatten wir innerhalb von fünfzig Minuten sechzehn Anrufe“ - einige Mädchen pfiffen leise - „und nur durch Angies Hilfe konnten wir diesen Ansturm be- wältigen. Wir wissen zwar nicht, ob wir nicht doch einen Anruf verpaßt haben, aber ich glaube nicht. Der Telefondienst macht ihr Spaß, sie ist gut darin, deswegen macht sie ihn nun zusammen mit mir. Abgesehen davon ist Angie ein ganz normales Mitglied in diesem Heim, wie ihr anderen auch. Sie hat euch nichts zu sagen, genausowenig wie ihr Angela etwas zu sagen habt. Andererseits hat sich herausgestellt, daß sie ein unglaubliches Talent hat, mit Menschen umzugehen. Wenn ihr also etwas habt, das ihr nicht mit mir besprechen wollt, versucht es einfach mit ihr. Ich kann euch garantieren, daß sie euch nicht ausla- chen wird, und sie wird alles, was ihr ihr sagt, für sich behalten. Versucht es einfach, wenn ihr wollt. Jetzt seid ihr dran. Wie war das Skifahren?“
* * *
Jennifer (das Mädchen, das Angie damals mit Miriam zusammen abgeholt hatte) war die erste, die Angie auf die Probe stellte. Sie vertraute Angie, weil sie das Mäd- chen war, zu dem sie den ersten Kontakt gehabt hatte, und weil Angie sie auf Anhieb verstanden hatte. Montag nachmittag ging sie zu Marks Büro und öffnete vorsichtig die Tür. „Hi, Jenny“, sagte Angie fröhlich, als sie Jennifer erkannte. „Komm rein!“ Jenny trat ein und schloß die Tür leise hinter sich, dann setzte sie sich unsicher auf ein Sofa. „Willst du zu Mark?“ fragte Angie. „Der ist mal eben raus, irgendwas an einem Fen- ster nachgucken und reparieren. Da zieht’s.“ „Nein, ich - ich wollte zu dir.“ Angie blickte erstaunt zu Jenny herüber, dann stand sie schnell auf und setzte sich neben sie. „Was ist denn?“ fragte sie sanft. Jenny spürte sofort ein unglaubliches Vertrauen zu dem jüngeren Mädchen. Jenny griff nach Angies Händen und hielt sie in ihren. „Angie, glaubst du... glaubst du, daß wir jemals wieder ein normales Leben führen können?“ fragte Jenny leise, mit feuchten Augen. „Wie meinst du das?“ fragte Angie behutsam. „Na, ich - ich hab immer davon geträumt, später mal Kinder haben zu können, und einen Mann, aber jetzt - jetzt wird mir übel, wenn ich daran denke, daß ein Mann in meine Nähe kommt.“ Sie zog kurz die Nase hoch. „Ich wollte schon heiraten, als ich gerade mal elf war“, sagte sie mit einem leisen Lachen. „Und ein Kind wollte ich mit zwölf. Ich meine, kein richtiges, aber ich hab es mir so sehr gewünscht, für später ein- mal. Aber daß das dann so gekommen ist... Ich hab einfach Angst, daß ich nie jeman- den finden werde, weil ich einfach Angst vor Männern habe.“ „Ich weiß“, sagte Angie leise und legte einen Arm um Jenny. „Das geht mir genau- so. Trotzdem glaube ich, daß das vorbei geht.“ Sie dachte kurz an Mark. „Doch, ich bin sicher, daß wir wieder normal leben können.“ Sie sah Jenny in ihre grünen Augen. „Jenny, wenn du jemanden findest, den du wirklich lieb hast, dann wird dieser Jemand auch so sanft und lieb zu dir sein, daß deine Angst verschwindet.“ Sie lächelte Jenny an. „Glaub mir.“ Sie deutete auf den Raum und das ganze Haus. „Genau deswegen sind wir doch hier, Jenny. Damit wir zur Ruhe kommen und alles vergessen, was hin- ter uns liegt. Na ja, nicht gerade total vergessen. Ich meine, es wird immer da sein, aber es wird dich nicht mehr stören. Es ist wie...“ Sie überlegte kurz, dann lachte sie. „Ja. Es ist wie in der Schule, wenn du überzeugt bist, eine richtige Antwort zu geben, und alle lachen dich aus, weil es falsch war, was du gesagt hast. Verstehst du?“ „Ja“, lächelte Jenny. „Das Gefühl kenn ich sehr gut. Du meinst, so wird das auch mit meinem Vater sein?“ „Ja“, sagte Angie überzeugt. „Irgendwann bestimmt. Schau mal, wir haben jetzt Anfang Januar. Ich bin erst zwei Monate von Zuhause weg, und ich kann schon fast an meinen Vater denken, ohne das große Kotzen zu kriegen.“ „Ich nicht“, sagte Jenny traurig. „Ich sitz den ganzen Tag in meinem Zimmer rum und komm nicht in die Gänge, weil ich immer wieder daran denken muß.“ „Dagegen kenn ich ein Mittel“, lächelte Angie. „Erzähl mir alles, was dir auf der Seele liegt.“ Als Mark knapp zehn Minuten später in sein Büro kam, fand er ein völlig aufgelö- stes, laut heulendes Mädchen vor, das Angie im Arm hatte und tröstete. Leise ging Mark zu seinem Schreibtisch, nahm das Handy und schlich sich wieder hinaus. Er ging in die Küche zu Maria, die noch am Aufräumen war. „Einen Schnaps“, verlangte er grinsend. „Einen doppelten.“ „Nix“, lachte Maria. „Kannst ‘ne kalte Milch haben.“ „Na gut, aber eine doppelte!“ Dankbar nahm er das große Glas voll eiskalter Milch entgegen und trank es auf einen Zug leer. „Jetzt erzähl“, fragte Maria neugierig. „Was war?“ „Ich geh in Rente“, schmunzelte Mark. „Angie sitzt in meinem Büro und tröstet ein völlig aufgelöstes Mädchen.“ „Und? Traust du ihr nicht zu, damit klarzukommen?“ „Doch, aber ich fühle mich so überflüssig!“ „Ach so“, sagte Maria. „Was hältst du dann davon, mir beim Spülen zu helfen?“
‘Dazu bin ich also noch gut’, dachte Mark eine halbe Stunde später mit einem La- chen. ‘Abtrocknen helfen.’ Grinsend ging er in sein Büro, dessen Tür weit aufstand. Angie saß wieder am Computer und tippte fleißig, ihre Zungenspitze schaute aus dem linken Mundwinkel. „Na, Angie, alles in Ordnung?“ fragte er und schloß die Tür. „Ja“, sagte Angie abwesend. „Ist schon fertig, kann in den Briefkasten.“ „Hallo“, lachte Mark laut. „Bodenstation an Raumschiff Angela!“ „Was?“ Angie hörte auf, zu tippen, und schaute Mark verwirrt an. „Was sagst du?“ „Ich habe nichts gesagt“, lachte Mark, „sondern etwas gefragt!“ „Tut mir leid“, lächelte Angie zerknirscht. „War in Gedanken. Was hast du denn gefragt?“ „Ob alles in Ordnung ist.“ „Ja. Jenny ist wieder okay. Ich denke, es geht jetzt aufwärts mit ihr.“ „Was war denn mit ihr?“ Mark setzte sich auf den Tisch und sah Angie aufmerk- sam an. Angie zuckte die Schultern. „Sie hat sich nie richtig ausgesprochen über das, was ihr Vater gemacht hat“, sagte sie ruhig. „Das haben wir eben nachgeholt.“ „Ich weiß“, sagte Mark nachdenklich. „Immer, wenn ich sie bat, doch mit mir zu reden, ist sie mir ausgewichen.“ Er streckte seine Hand aus, die Angie mit einem Lä- cheln annahm und festhielt. „Angie, ich kann dir gar nicht sagen, wie wertvoll du für mich bist“, sagte er leise und zärtlich. „Nicht nur, weil du so toll arbeitest und mir hilfst, sondern auch...“ Er stockte. „Sondern auch?“ half Angie aus. Mark holte tief Luft. „Weil ich endlich wieder das Gefühl habe, mit jemanden auch mal über meine Pro- bleme reden zu können“, sagte er dann offen. „Nämlich mit dir. Dafür danke ich dir.“ „Das mußt du nicht“, erwiderte Angie verlegen. „Du hilfst mir doch auch, Mark. Außerdem...“ Nun stockte sie. „Außerdem?“ lächelte Mark. Angie schüttelte den Kopf. „Ich muß den Brief noch fertigmachen, und dann muß ich zum Karate.“ „Jetzt weich mir nicht aus“, lachte Mark. „Na los, ich hab dir auch alles gesagt. Jetzt bist du dran.“ Angie wurde rot. „Jenny hat davon gesprochen... nein, sie hat gefragt, ob sie jemals ihre Angst vor Männern verlieren würde. Ich hab ihr gesagt, das würde sie bestimmt. Das konnte ich ihr sagen, weil ich - weil ich - weil du auch ein Mann bist, aber ich keine Angst vor dir habe.“ Sie sah mit roten Ohren zu Boden. „Ganz im Gegenteil“, flüsterte sie, dann sprang sie auf und lief hinaus.
* * *
Angie wurde wach, weil sie leises Stöhnen hörte. Sie schlug die Augen auf und horchte, dann schwang sie sich schnell aus dem Bett und lief zu Katrin hinüber, die sich unruhig hin und her wälzte und dabei im Schlaf vor sich hin murmelte. Angie rutschte unter die Decke, umarmte Katrin und drückte sie sanft an sich. Sofort wurde Katrin ruhiger, auch wenn sie noch weiterredete. Doch Angie verstand kein Wort. Lie- bevoll streichelte sie Katrins Haare, bis das Mädchen wieder fest schlief. Angie blieb noch lange wach und hielt Katrin fest. Sie überlegte, wie sie ihr helfen konnte, doch sie fand keine Lösung. Schließlich schlief sie wieder ein, ihre Arme noch immer um Katrin gelegt. „Angie?“ Sofort war Angie wach und schlug die Augen auf. Sie fand Katrin neben sich. „Morgen, Katrin“, begrüßte sie ihre Zimmergenossin fröhlich. „Morgen. Hab ich wieder schlecht geträumt?“ „Hm-m“, lächelte Angie. Katrin seufzte und ließ sich auf das Kissen fallen. „Wann hört das wohl auf?“ fragte sie die Zimmerdecke. „Keine Ahnung“, sagte Angie nachdenklich, dann grinste sie schelmisch. „Ich weiß aber, wie du gute Laune für den ganzen Tag bekommst!“ „Echt? Wie?“ „Wir gehen jetzt in die Wanne und planschen das ganze Badezimmer voll!“ „Au ja!“ rief Katrin, sprang auf und rannte ins Bad. Zwei Sekunden später flog ihr Nachthemd heraus. „Kommst du?“ „Schon auf dem Weg!“ lachte Angie und lief hinter Katrin her.
„Morgen, ihr zwei“, begrüßte Mark die beiden Mädchen. „Darf ich mich zu euch setzen?“ „Sicher“, meinte Katrin großzügig. Angie, die gerade einen großen Bissen im Mund hatte, nickte nur grinsend. „Ich hab dich heute morgen beim Schwimmen ver- mißt“, sagte Mark. „Verschlafen?“ „Hm-m“, grinste Angie. „Außerdem hab ich woanders geschwommen.“ Katrin lachte los, daß ihr das Brötchen aus der Hand fiel. „Ihr habt ja heute eine besonders gute Laune“, lachte Mark. Angie und Katrin sa- hen sich kurz an, dann prusteten beide wieder los. Daß Angie dabei etwas von dem Essen, das sie im Mund hatte, über den Tisch verstreute, verstärkte den Lachreiz der Mädchen nur noch. „Was ist denn in euch gefahren?“ lachte Mark, der sich dem hellen Lachen nicht verschließen konnte und mitlachen mußte. Er wußte nicht, worum es eigentlich ging, aber er mußte mitlachen. „Nichts“, sagte Katrin angestrengt und wischte sich die Tränen aus den Augen. „Katrin“, flüsterte Angie zwischen ihren Lachern, „du, die sehen uns alle an.“ Ka- trin schaute sich um. Viele andere Mädchen blickten verständnislos zu dem Tisch, an dem sie saßen. Katrins Gesicht verzog sich, dann kicherte sie wieder unbeherrscht los. Angie und Mark fielen mit ein, ebenso Maria, die dem Treiben amüsiert zusah. Als zwei Mädchen vom Nachbartisch ebenfalls anfingen, zu lachen, war es aus. Innerhalb von einer Minute dröhnte der ganze Raum vor Lachen. Schließlich ließ das Lachen nach, nur vereinzelt war hier und da noch ein Glucksen oder ein Kichern zu hören. Mark nahm eine Serviette und wischte sich die Augen. „Jetzt sagt“, forderte er die Mädchen auf. „Warum habt ihr so gelacht?“ „Weil wir neue Handtücher brauchen“, sagte Angie ernsthaft. Katrin prustete wie- der los. „Was ist an neuen Handtüchern denn so lustig?“ fragte Mark verständnislos. „Eigentlich nichts“, sagte Angie, deren Mundwinkel verdächtig zuckten. „Die Fra- ge ist vielmehr, warum wir neue Handtücher brauchen.“ Katrin rutschte fast vom Stuhl vor Lachen. „Also“, seufzte Mark. „Warum braucht ihr neue Handtücher?“ „Weil wir aus den alten eine Insel gebaut haben“, grinste Angie. „ANGIE!“ schrie Katrin. „Hör auf! Ich kann nicht mehr!“ „Eine - Insel?“ Mark verstand überhaupt nichts mehr. „Genau“, grinste Angie und unterdrückte ihren Lachreiz mit aller Kraft. „Wir ha- ben die alten Handtücher in die Mitte vom Bad geworfen und zu einer Insel geformt.“ „Und wo ist da der Witz?“ „Weil um die Insel herum Wasser ist, wie bei einer echten Insel.“ Mark schaute Angie an, dann fiel der Groschen. Er sprang so heftig auf, daß sein Stuhl umkippte. „Ihr habt das Badezimmer überschwemmt?“ schrie er fast. Angie nickte und hielt sich den Bauch vor Lachen. Mark rannte los, aus dem Raum heraus.“ „MARK!“ schrie Katrin hinter ihm her. Mark blieb stehen und schaute sich ärger- lich um. „Was denn?“ „Wir brauchen auch neue Bademäntel.“ Diesmal fiel Angie vom Stuhl und krin- gelte sich buchstäblich auf dem Boden vor Lachen. „Wieso das denn?“ fragte Mark entgeistert. „Aus den alten haben wir einen Damm gebaut, damit das Wasser nicht ins Wohn- zimmer läuft!“
„Ich sollte euch beide meistbietend verkaufen“, sagte Mark in seinem Büro zu den Mädchen. „Wenigstens wart ihr so vernünftig, das Wasser abzudrehen und die Bade- mäntel in die Tür zu legen.“ Er schüttelte den Kopf und schaute erst Angie, dann Ka- trin an, die beide hochzufrieden und munter aussahen. „Wer von euch ist auf diese Schnapsidee gekommen?“ Angie sprang auf. „Genau“, sagte sie begeistert. „Beim nächsten Mal nehmen wir eine Flasche mit und machen eine Flaschenpost!“ Katrin prustete wieder los. „Ich glaub das nicht“, murmelte Mark. Er konnte den beiden Mädchen nicht böse sein, beim besten Willen nicht. Erstens war nichts passiert, da das Badezimmer nur etwas feucht war, aber nicht unter Wasser stand, und zweitens hatten sie offensichtlich so viel Spaß, daß er beschloß, die Sache zu vergessen. „Na los, ihr zwei, ab in die Schule mit euch.“ Grinsend standen Angie und Katrin auf. „Komm“, lachte Angie. „Wir kraulen um die Wette. Wer zuerst oben ist, darf aus dem Fenster spucken!“ Lachend stürmten sie aus Marks Büro, die Treppen hinauf, und bewegten ihre Arme dabei wie beim Schwimmen. Lächelnd schloß Mark die Tür. Si- cherheitshalber beschloß er, den Bereich hinter dem Haus zu meiden, zumindest so- lange Angie und Katrin in der Schule waren...
„Melde mich zum Dienst, Sir!“ Angie stand in der Tür. „Ausgeschlafen und fit!“ „Au weia“, lachte Mark. „Immer noch so albern?“ „Nein, Sir! Einfach nur gut drauf.“ Grinsend kam Angie herein. Mark setzte sich auf das Sofa und klopfte auf den Sitz neben sich. „Komm mal her, Angie. Bitte.“ Mit fragendem Blick setzte Angie sich neben Mark. „Ich will dir nicht die gute Laune verderben“, sagte Mark behutsam, „aber so auf- gedreht wie heute habe ich dich noch nie gesehen. Was ist los?“ „Ich probiere was“, sagte Angie, plötzlich ernst. „Mark, bitte vertrau mir. Es geht um Katrin. Laß es mich probieren, ja?“ Mark sah Angie tief in ihre blauen Augen und fand dort nichts, was ihn beunruhigte. „Ist gut“, sagte er schließlich. „Aber keine Überschwemmung mehr, okay?“ „Das war doch gar keine“, argumentierte Angie ruhig. „Ich hatte alles und zu jeder Zeit voll im Griff. Der Teppich war nie in Gefahr, naß zu werden.“ „Ich weiß“, sagte Mark bekümmert. „Verrätst du mir, was du mit Katrin vorhast?“ Angie überlegte einen Moment. „Sie hat jede Nacht Alpträume“, sagte sie dann leise. „Heute nacht war es besonders schlimm. Sie hat im Schlaf gestöhnt und geredet. Ich hab mich dann zu ihr gelegt und sie die ganze Nacht in den Arm genommen. Ich hab lange überlegt, wie ich ihr helfen kann, mir ist aber bis zum Einschlafen nichts eingefallen. Und dann...“ Angie griff nach einer Strähne ihres Haares und rollte sie ge- dankenverloren um einen Finger. „Dann hab ich von Katrin geträumt. Sie hat nur ge- lacht, und alles um sie herum war hell. Als ich dann aufgewacht bin, dachte ich, das ist die Lösung. Sie muß lachen und Unsinn machen.“ Angie blickte erstaunt auf. „Mark, das sehe ich erst jetzt. Sie hat das alles doch in den letzten zwei Jahren mitgemacht, nicht?“ Mark nickte. „Kann es nicht sein, daß sie sich einfach - zugemacht hat, als das alles passiert ist? Du, dann ist sie eigentlich doch erst elf, und nicht dreizehn, oder?“ Mark starrte Angie sprachlos an. Plötzlich griff er mit beiden Händen nach Angies Ge- sicht, zog es zu sich, drückte ihr einen schmatzenden Kuß auf die Stirn, sprang auf und rannte hinaus. „Ich bin unnormal, ja?“ sagte Angie verwirrt.
„Herein“, sagte Katrin, als es an ihre Tür klopfte. Neugierig setzte sie sich auf und sah Mark, der lächelnd hereinkam. „Hi, Katrin. Darf ich mich setzen?“ „Klar“, meinte Katrin fröhlich und rutschte auf ihrem Bett zur Wand. Mark setzte sich auf die äußerste Bettkante und schaute Katrin an. „Du siehst gut erholt aus“, sagte er schließlich. Katrin lächelte. „Danke. Mir gefällt es aber auch gut hier.“ „Das freut mich, Katrin. Wie klappt es in der Schule?“ Katrin verzog das Gesicht. „Eigentlich ganz gut, aber...“ Sie sah Mark verlegen an. „Manchmal habe ich so ein komisches Gefühl, daß ich das alles wissen müßte, was die Lehrer mir erzählen, aber da ist manchmal nichts.“ Sie deutete auf ihre Stirn. „Ich hab das Gefühl, da sind ir- gendwelche... Löcher, Mark. Löcher, in denen mal was war, was ich wußte, die jetzt aber leer sind. Und dann sind da andere Löcher, wo ich meine, sie müßten leer sein, aber da ist was drin, was ich nicht verstehe.“ Sie zuckte ängstlich die Schultern. „Klingt bescheuert, was?“ „Absolut nicht“, sagte Mark sanft und griff nach Katrins Händen. „Katrin, darf ich dich etwas über deine Vergangenheit fragen? Über die letzten zwei Jahre?“ Katrin nickte, doch im gleichen Moment veränderten sich ihre Augen. Mark hatte seine Be- stätigung. „Obwohl... es ist eigentlich nicht nötig, Katrin.“ Er strich ihr lächelnd durch die kurzen Haare. „Ihr seid hier, damit ihr wegkommt von eurer Vergangenheit. Wir haben ja oft genug darüber geredet, nicht wahr?“ Katrin nickte, ohne zu antworten. „Hast recht, Katrin. Irgendwann muß auch mal Schluß sein damit.“ Er stand auf. „Danke für deine Zeit.“ Nachdenklich ging er hinaus. Katrin sah ihm noch einen Mo- ment lang hinterher, dann zuckte sie die Schultern und nahm sich wieder ihr Buch. Mark stieg die Treppen hinauf bis in das Dachgeschoß. Er ging in die Klasse, in der Angie und Katrin saßen, und schloß den für die Lehrer reservierten Schrank mit seinem Hauptschlüssel auf. Er nahm einen Packen Papier heraus und setzte sich damit an einen Tisch, dann fing er an, die Unterlagen konzentriert durchzusehen. Schließlich hatte er alles beisammen, was er suchte. Er legte den Haufen Papier zu- rück, verschloß den Schrank wieder und ging äußerst nachdenklich zurück in sein Bü- ro. Angie war gerade am Telefon, als er hereinkam. Mark setzte sich auf das Sofa und schaute Angie an, ohne sie wirklich zu sehen. Schließlich legte sie den Hörer auf und kam zu Mark. „Was ist los?“ fragte sie besorgt und setzte sich neben ihn. Mark ordnete seine Gedanken, dann redete er los. „Angie, du hattest vollkommen recht. Katrin fehlen zwei Jahre in ihrer Entwick- lung. Ich habe das nicht gemerkt, obwohl es mein Beruf ist, sowas zu merken.“ „Mark...“ begann Angie, doch Mark schüttelte den Kopf. „Laß mich bitte ausreden, Angie“, sagte er sanft. „Ich war vorhin bei Katrin und habe sie gefragt, ob wir etwas über ihre Vergangenheit reden sollen. Ihre Augen ver- änderten sich bei dieser Frage, und mich schaute plötzlich die Seele eines elfjährigen Mädchens an, aus einer Zeit, bevor das alles mit ihr geschah. Da wußte ich Bescheid. Ich bin dann hochgegangen, in die Unterrichtsräume, und habe die Bemerkungen der Lehrer über Katrin durchgelesen. Weißt du, was da drinsteht? ‘Intelligent, aber oft un- konzentriert.’ Oder: ‘Versteht manche Zusammenhänge nicht.’ Oder: ‘Träumt häufig.’ Oder: ‘Ist oft zu albern.’“ Er sah Angie an. „Angie, du hattest vollkommen recht. Ihr fehlen glatte zwei Jahre. Als der Terror begann, hat sie einfach dichtgemacht und ist innerlich nicht mehr älter geworden. Körperlich ist sie dreizehn, aber seelisch erst elf.“ „Oder irgendwo dazwischen“, sagte Angie nachdenklich. „Deswegen hatte sie auch soviel Spaß beim Planschen heute morgen. Als ich elf war, hatte ich auch einen Heidenspaß dabei, das Bad zu überschwemmen.“ Sie schaute Mark fragend an. „Und jetzt?“ „Die Lösung ist einfach“, dachte Mark laut. „Aber der Weg... Wir müssen sie auf den Stand ihres tatsächlichen Alters bekommen. Nur: wie?“ „Du kennst die Lösung“, grinste Angie, „und ich den Weg: durch Rumalbern und Spielen. Ich bin ihre große Schwester für die nächste Zeit, ohne daß sie es merkt. Ich alber mit ihr rum, mach Unsinn und spiel mit ihr, bis sie dreizehn ist.“ Mark schüttelte ablehnend den Kopf. „Warum nicht?“ fragte Angie enttäuscht. „Du übersiehst dabei einen wichtigen Punkt“, sagte Mark leise. „Katrin hat den Entzug hinter sich. Sie ist weg von den Drogen. Wir beide sind uns einig, daß sie in- nerlich erst elf ist. Richtig?“ Angie nickte leicht. „Gut. Was hat sie noch nicht getan?“ Angie überlegte ziemlich lange, dann hatte sie es. „Sie hat noch gar nicht darüber nachgedacht, was eigentlich mit ihr passiert ist“, sagte sie leise. Mark nickte. „Genau, Angie. Sie hat verdrängt, daß sie verkauft wurde, Nacht für Nacht. Sie hat die Erinnerung an die Einzelheiten verdrängt. Wenn das alles in ihr hochkommt...“ Er schüttelte sich kurz. „Angie, ich bin mir nicht sicher, ob wir das schaffen. Vielleicht sollten wir Fachleute dazuholen. Katrin ist das erste Mädchen in dieser Richtung, daß ich jemals hier hatte. Doch“, sagte er entschlossen. „Ich mach mich schlau, und dann schicken wir sie zu einem Therapeuten.“ „Ist okay“, sagte Angie abwesend, denn ganz tief innen spürte sie eine Möglich- keit, Katrin zu helfen.
Am nächsten Morgen fehlten Angie und Katrin beim Frühstück. Mark machte sich zwar etwas Sorgen, doch da es noch ziemlich früh war - noch nicht einmal acht Uhr - dachte er nicht weiter darüber nach. Vielleicht hatte Katrin wieder schlecht geschlafen, und beide schliefen länger heute morgen. Als es dann halb neun wurde und die beiden noch immer nicht aufgetaucht waren, nahm Mark ein älteres Mädchen, dem er vertraute, mit zu Angies Zimmer und schloß die Tür auf. Das Mädchen blickte herein, ging ins Bad und kam wieder heraus. „Keiner da“, sagte sie besorgt. Mark nickte. „Danke, Doris. Ich gehe sie suchen.“ Mark suchte das ganze Haus ab, doch er fand sie nicht. Er zog sich Mantel und Schuhe an und ging nach draußen. Seit Tagen war kein frischer Schnee mehr gefallen, so daß es durch die unüberschaubare Menge an Spuren unmöglich war, zu bestimmen, wer in welche Richtung gegangen war. Er zog in immer größeren Kreisen um das Haus. Nach und nach wurde die Menge an Fußabdrücken geringer. Plötzlich hörte Mark einen weit entfernten, gellenden Schrei aus dem Wald hinter dem Haus kommen. Panisch drehte er sich um. Ein weiterer Schrei ertönte, und Mark rannte los, in die Richtung, aus der die Schreie gekommen waren. Nach etwa fünfzig Metern fand er zwei Reihen von Fußspuren, die schnurstracks in den Wald gingen. So schnell wie möglich folgte er den Spuren, bis er lautes und heftiges Weinen hörte. Er folgte dem Geräusch und fand Angie und Katrin. Katrin war vollkommen nackt und lag, zitternd vor Kälte und Schluchzen, in Angies Armen. Auf dem Boden lagen Katrins Kleidung und einige Wäscheleinen. „Was ist hier los?“ fragte er aufgebracht. Angie funkelte ihn wütend an. „Hau ab!“ zischte sie ihn an. Mark reagierte nicht. „Verschwinde!“ brüllte Angie plötzlich los. „Wir wollen dich hier nicht!“ „Hau ab!“ schrie Katrin hysterisch. „Ich will dich nie mehr sehen! NIE MEHR!!!“ Vollkommen verwirrt kam Mark einen Schritt näher. Katrin griff in den Schnee und hob einen Stein auf, den sie mit aller Kraft nach Mark warf. Er konnte dem Geschoß gerade noch ausweichen. „Verschwinde endlich!“ schrie Katrin völlig außer sich. Ihre Stimme schnappte über. Hin und her gerissen zwischen Unverständnis und Pflichtgefühl trat Mark schließlich den Rückzug an. Immer wieder drehte er sich um, und plötzlich nickte An- gie leicht. Noch immer hielt sie ihre unbekleidete Freundin im Arm, die heftig weinte. ‘Ich weiß nicht, was ihr da treibt’, dachte Mark zornig, ‘aber diesmal bist du zu weit gegangen, Angela.’ Er steckte seine Hände in die Manteltasche und ballte sie zu Fäusten. Seiner Schätzung nach waren etwa zehn Minuten vergangen, in denen er die Mäd- chen aufmerksam beobachtet hatte, als Katrin sich von Angie löste. Angie sagte etwas zu Katrin, und sie nickte. Stürmisch umarmte sie Angie, dann zog sie sich schnell wie- der an. Angie stand mühsam auf und streckte sich. Ihre Hose war klatschnaß von dem Sitzen im Schnee, Katrins Kleidung war vollkommen zerrissen. Gemeinsam gingen die beiden Mädchen auf Mark zu. Katrin erblickte Mark. „Mark!“ rief sie erfreut aus und rannte auf ihn zu, mit ausgestreckten Armen. Noch bevor Mark etwas denken oder sagen konnte, sprang Katrin ihn an und klammerte sich mit Armen und Beinen an ihn. Instinktiv hielt Mark das Mädchen fest, das ihren Kopf an seinen Hals legte. „Danke, danke, Mark!“ flüsterte sie immer wieder. „Danke, daß ihr mich da rausgeholt habt! Danke! Danke!“ Angie kam näher und lächelte mit trä- nennassen Augen. „Sie ist jetzt in Ordnung“, sagte sie mit zittriger Stimme.
„Leichte Unterkühlung bei beiden“, sagte die Ärztin erleichtert. „Und beide sind völlig erschöpft. Ich würde sie in eine heiße Wanne stecken, und dann ins Bett mit ih- nen. Morgen können sie wieder raus.“ „Prima“, sagte Mark erleichtert und blickte die beiden Mädchen an, die frierend und zitternd auf der Liege saßen. „Ihr habt Frau Doktor Siebner gehört. Ab in die Wanne, und dann ins Bett mit euch. Ich komme in einer Stunde hoch zu euch.“ Sein Blick schien Angie zu durchbohren. „Und dann möchte ich verdammt nochmal erfah- ren, was zur Hölle ihr da draußen getrieben habt!“ Er drehte sich auf dem Absatz um und verließ den Untersuchungsraum. Die Ärztin lächelte den eingeschüchterten Mäd- chen zu. „Keine Sorge. Ich laß ihn erst zu euch, wenn er wieder ruhig ist. Jetzt ab mit euch.“ Zitternd gingen die beiden die Treppe hoch, in ihr Zimmer. Angie ließ Wasser ein, dann zogen sich die Mädchen schnell aus und stiegen in die Wanne. „Was wird er mit uns machen?“ fragte Katrin ängstlich. „Mit dir gar nichts“, sagte Angie ruhig. „Eher mit mir.“ Sie schaute Katrin an, die plötzlich bei ihrer Freundin den gleichen starken und entschlossenen Willen spürte wie bei Mark. Sie lachte nervös auf. „Angie, wenn ihr euch fetzt, tut das bitte draußen, ja? Ich mag die Möbel hier.“ Übergangslos brach sie wieder in Tränen aus. Angie zog sie an sich und nahm sie in dem Arm. „Ist schon gut, Kleines“, flüsterte sie sanft. „Alles wird gut, Katrin. Alles wird gut. Ich bin bei dir, mein Kleines. Alles wird gut.“ Sie tröstete Katrin, bis diese sich wieder im Griff hatte. Angie griff zur Rolle Toilettenpapier und riß einige Lagen ab, die sie Katrin vor die Nase hielt. „Schnauben!“ befahl sie. Lachend gehorchte Katrin. Nach dem Baden legten die Mädchen sich in Katrins Bett. Angie legte ihre Arme um Katrin und zog sie an sich, wie in der Nacht. „Jetzt schlaf“, sagte sie leise und streichelte Katrin. „Schlaf dich gesund, Kleines.“ „Hm-m“, murmelte Katrin und legte sich zurecht, dann schloß sie die Augen. „Angie, danke für alles.“ „Nicht reden. Schlafen!“ Kurz darauf war Katrin eingeschlafen. Angie blieb wach und hielt sie im Arm, bis es klopfte. „Ja?“ rief sie so laut, wie sie es wagte, ohne Katrin zu wecken. Mark trat ein, seine Augen blitzten noch immer wütend. Angie legte schnell einen Finger an die Lippen und deutete auf Katrin. „Sie schläft“, flüsterte sie. Mark vermutete einen Trick und kam näher. Er beugte sich über Angie und schaute Katrin an, die ganz ruhig dalag, den Mund leicht geöffnet, das Gesicht entspannt und reglos. Er richtete sich wieder auf. „Sobald sie wach ist, will ich euch sprechen“, sagte er barsch. „Sobald sie in Ordnung ist“, widersprach Angie. Mark schüttelte den Kopf. „Sobald sie wach ist.“ Angie gab nach, sie wollte Katrin nicht wecken. Sie nickte leicht, und Mark ging hinaus.
* * *
„So“, sagte er, nachdem die Mädchen sich am frühen Nachmittag bei ihm einge- funden hatten. „Ich höre.“ Angie und Katrin blickten sich kurz an. Angie nickte, und Katrin begann. „Ich hatte nachts doch immer diese Alpträume“, sagte sie leise, aber deutlich und verständlich. Überrascht stellte Mark fest, daß Katrins Stimme sich verändert hatte. Sie klang etwas dunkler als vorher. Er nickte. „In diesen Träumen war ich... irgendwie hilflos und aus- geliefert, und irgend etwas kam auf mich zu, was ich nicht kannte, aber was mir wehtat. Heute morgen dann...“ Ihr Blick richtete sich nach innen. „Angie weckte mich um halb sechs und fragte mich ganz aufgeregt, ob wir rausgehen und im Schnee spie- len sollen. Ich fand die Idee so toll! Ich hab schon lange nicht mehr im Schnee gespielt. Wir haben uns schnell angezogen, extra ganz alte Klamotten, und sind ganz leise raus. Angie hat die Haustür aufgeschlossen und wieder zugemacht, als wir draußen waren.“ Katrin lächelte in Gedanken. „Es war stockdunkel, aber der Schnee war hell. Wir sind zuerst ganz leise gegangen, und als wir schon ein gutes Stück vom Haus weg waren, haben wir dann eine Schneeballschlacht gemacht. Ich hab gewonnen“, sagte sie stolz. „Angie hat dann vorgeschlagen, Cowboy und Indianer im Schnee zu spielen. Sie war der Indianer, und ich der Cowboy. Ich durfte mich verstecken, und Angie mußte mich suchen. Sie hat sich umgedreht und die Hände vor die Augen gehalten, und ich bin ganz leise losgegangen und hab mir einen dicken Baum gesucht, hinter dem ich mich versteckt habe. Angie hat dann gerufen: ‘Ich komme!’ Ich habe ihre Schritte gehört, als sie näherkam. Der Schnee knirschte so. Plötzlich stand sie vor mir. Mann, hab ich mich erschrocken. Und dann...“ Sie lächelte wieder und griff nach Angies Händen. Angie lächelte zurück und drückte Katrins Finger. „Dann dachte ich, Angie dreht durch. ‘Jetzt gehörst du mir’, sagte sie immer wieder. ‘Ich mach mit dir, was ich will.’ Ihre Stimme klang auch so komisch, so dunkel und rauh. Weiß nicht. Anders halt. Sie riß mir die Jacke vom Leib und fesselte meine Hände mit einer Wäscheleine. ‘Ich mach mit dir, was ich will’, sagte sie immer wieder und riß mir die Kleidung Stück für Stück vom Leib, bis ich völlig ausgezogen war. Warum hab ich mich eigentlich nicht gewehrt?“ fragte sie Angie verwundert. Angie lächelte. „Denk nach. Du weißt es jetzt.“ „Ja, stimmt“, lächelte Katrin. Mark sah von einer zu anderen und glaubte einfach nicht, was er sah und hörte. „Jedenfalls, ich war völlig nackt. Morgens im Schnee. Verrückt, oder? Aber ich hab die Kälte nicht gespürt. Dann fesselte Angie mich an den Baum, an Schultern und am Bauch, so daß ich nicht weglaufen konnte, aber daran hab ich überhaupt nicht ge- dacht. Ich hatte nur Angst, was sie da eigentlich mit mir vorhatte. Plötzlich hat sie mir die Augen verbunden, mit einem Schal oder so was. Ich weiß nicht mehr. Und da kam plötzlich Panik auf. Ich hab geschrien, daß sie mich losbinden soll, doch sie lachte nur und sang immer wieder, daß sie mit mir macht, was sie will. Ich hab gebettelt und ge- fleht, doch sie lachte nur. ‘Wehr dich doch’, lachte sie mich aus. ‘Na los, wehr dich doch!’ Aber wie? Ich war ja gefesselt! Plötzlich spürte ich was Dickes und Hartes am Unterleib, und ab da weiß ich nichts mehr. Ich weiß erst wieder, daß ich nackt im Schnee hockte, und Angie mich im Arm hielt.“ Sie lächelte Mark an. „Und Mark, glaub es oder laß es, aber ich weiß, was mit mir war. Ich kann mich an jede einzelne Nacht erinnern, und an das, was mit mir gemacht wurde. Es tut zwar weh, aber es stört mich nicht, denn ich weiß, daß ich es nicht freiwillig gemacht habe, verstehst du? Ich wurde gezwungen, und das war nicht meine Schuld. Gewehrt hab ich mich am Ende doch“, lächelte sie stolz. „Nämlich, als ich euch angerufen hab.“ „Das hast du, Katrin“, sagte Angie zärtlich. „Am Ende hast du gewonnen.“ „Angie, was ist in der Zeit passiert, an die Katrin sich nicht mehr erinnern kann?“ „Ich hab sie fertiggemacht“, sagte Angie nüchtern. Katrin lächelte bei diesem Satz. „Ich hab ihr mit einem dicken Ast unten hin gepikst, damit sie sich endlich wehrt, und das hat sie dann auch endlich. Mannomann, hat sie das! Sie ist völlig ausgerastet. Sie hat getobt und geschrien: ‘Laßt mich in Ruhe, ihr Schweine!’ und so. Dann hat sie sich losgerissen - ich hab ganz lockere Knoten gemacht - und hat auf mich eingeprügelt wie behämmert, aber sie hat mir nichts getan. Ich konnte ausweichen. Na ja, plötzlich sackte sie zusammen und heulte los. Da wußte ich, daß es losging, und hab sie eben in den Arm genommen und getröstet, so gut ich konnte. Ich hab ihr immer wieder gesagt: ‘Erinnere dich, Katrin! Laß es raus!’ Plötzlich schrie sie sowas von stark, daß ich dachte, mir reißt es die Ohren ab, und dann gleich noch einmal hinterher. Dann heulte sie wieder, und ich wußte, jetzt ist es raus.“ „Jetzt erinnere ich mich wieder“, unterbrach Katrin. „Der erste Schrei war genau wie damals, in meiner allerersten Nacht. Und der zweite...“ Sie lächelte verlegen. „Das war, als so’n Typ das gleiche gemacht hat wie Janas Vater bei ihr. Ihr wißt schon.“ „Hm-m“, machte Angie nachdenklich. „Das erklärt, warum das so laut und kräftig war, dein Schreien. Ist ja auch logisch. Auf jeden Fall hat Katrin sich dann ausgeheult. Du, Mark, bist genau in dem Moment gekommen, als wir alle bösen Erinnerungen bei Katrin durchgegangen sind. Sie hat nicht dich gemeint, als sie geschrien hat, du sollst verschwinden, sondern alle Männer, die ihr etwas getan haben. Verstehst du? Schließ- lich war sie auch da durch, und alles war gut.“ „Alles ist gut“, lächelte Katrin und drückte Angie herzhaft. „Ich danke dir, Angie. Zum ersten Mal seit zwei Jahren fühle ich mich wieder als ich selbst.“ „Gern geschehen“, grinste Angie. „Aber leben lassen darfst du mich schon.“ „Entschuldige“, lachte Katrin und verringerte ihren Druck. „Nein“, sagte sie dann. „Einmal noch.“ Kräftig drückte sie zu, dann ließ sie Angie los. „Uff“, machte Angie lachend. „Jetzt bin ich aber platt.“ „Mark, weißt du, was ich auch noch weiß?“ fragte Katrin übergangslos. „Das mit dem Heroin, das war erst in den letzten paar Wochen, nicht in den ganzen zwei Jahren. Ich erinnere mich, daß ich mich ab dem Sommer immer mehr und mehr dagegen ge- wehrt habe, verkauft zu werden, und im September oder so haben sie mir dann die er- ste Spritze gegeben. Alles andere vorher lag wie - wie hinter einer dicken Mauer, durch die manchmal... ein bißchen Wasser kommt, verstehst du? Ich meine, ich konnte mich an Bruchstücke erinnern, aber die machten keinen Sinn. Das alles kam erst nachts, in meinen Träumen, richtig raus.“ „Und du erinnerst dich an alles?“ fragte Mark zweifelnd. Katrin nickte ernst. „Ja, Mark. An alles. Ich meine, manches ist wie unter einem Nebel, wegen dem Rauschgift, aber davor... Doch, ja.“ „Das wäre eine Erklärung für den schnellen Entzug“, sagte Mark nachdenklich. „Du fühlst dich gut?“ „Nein“, lachte Katrin. „Ich fühl mich einfach bombig! Topfit und frisch! Ausgeruht und bereit für neue Schandtaten.“ „Kannst du mir denn jetzt sagen, wer das ganze in Gang gesetzt hat?“ „Ja“, antwortete Katrin. „Es war mein Onkel. Aber ich will nichts mehr mit ihm zu tun haben, Mark. Keine Polizei, kein Gericht, nichts. Ich hab ‘nen neuen Namen, und er kann sich schwarz suchen nach mir. Ich will mit dem Gesocks nichts mehr zu tun haben. Bitte!“ „Okay“, sagte Mark nach einer kurzen Denkpause. „Ist vielleicht am besten so. Gut. Katrin, ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, daß du wieder völlig in Ordnung bist. Es kam zwar völlig anders als ich erwartet habe“ - Angie erwiderte sei- nen Blick völlig unschuldig - „aber ich bin trotzdem sehr froh.“ „Ich auch“, sagte Katrin voller Dankbarkeit und Wärme. „Dank Angie.“ „Darüber werde ich mit Angie noch reden. Geh jetzt erst mal was essen, Katrin.“ „Mach ich. Bis gleich, Angie.“ „Ja, bis gleich.“ Katrin verließ das Zimmer. „Und nun?“ fragte Angie. „Wir haben doch alles geklärt, oder?“ „Haben wir das?“ fragte Mark zuckersüß. Angie wurde nervös. „Selbst wenn nicht“, sagte sie herausfordernd. „Katrin ist wieder da, wo sie hinge- hört: in sich. Sie ist in Ordnung, und nichts ist passiert.“ „Angie“, seufzte Mark. „Ich weiß nicht, ob ich dir den Hintern versohlen oder dich küssen soll.“ „Darf ich es mir aussuchen?“ fragte Angie schüchtern. Das war die falsche Ant- wort. „Nein, verdammt!“ explodierte Mark. „Angie, was hat dich geritten, so einen Un- fug mit Katrin zu machen? Kind, ihr hättet erfrieren können da draußen! Nachts im Winter, nackt im Schnee. Bist du denn total unzurechnungsfähig?“ „Nein“, antwortete Angie trotzig. „Ich wußte, was ich tat.“ „Du wußtest, was du tatest?“ fragte Mark aufgebracht. „Du wußtest es? Du?“ „Ja, ich!“ rief Angie wütend und stand auf. „Immerhin hast du nicht gemerkt, daß Katrin ein paar Jahre fehlen. Und du bist auch nicht zu Jenny durchgekommen. Aber ich! Ja, ich! Die kleine Angie! Scheiße, kapierst du nicht, daß ich so Sachen spüre? Daß ich auch manchmal recht haben kann?“ Wütend ging sie auf Mark zu, der instink- tiv vor diesen wütenden eineinhalb Metern Mensch zurückwich. „Mark, ich wußte in jeder Sekunde, was ich zu tun hatte. Jeden kleinen Moment lang. Katrin war nicht in Gefahr, nicht den Bruchteil einer Sekunde. Die einzige Gefahr war, daß wir gestört wurden, und das hast du ja auch beinahe prächtig hinbekommen. Schau dir Katrin an, verdammt! Wie sieht sie aus? Gefoltert, gequält und unglücklich? Oder endlich mit sich im reinen? Du kannst bestimmte Sachen besser als ich. Klar, du hast es gelernt, und du bist älter. Aber ich, ich kann spüren, wie ich einem Menschen helfen kann. Ich weiß nicht, woher es kommt, aber es ist einfach da. So war es bei Jenny, und bei Ka- trin. Mach mir verdammt nochmal keinen Vorwurf, wenn ich mich danach richte. Hast du das verstanden?“ Angies Augen sprühten Blitze. Mark konnte nur noch stumm nik- ken. „Na also“, sagte Angie zufrieden. „Mehr wollte ich ja nicht. Ich geh jetzt was essen, ich hab auch Hunger.“ Sie drehte sich um und ließ einen völlig am Boden zer- störten Mark zurück.
* * *
„Einen doppelten Schnaps, Maria. Danke.“ Mit dem großen Glas Milch in der Hand ging Mark zu dem Tisch, an dem Angie und Katrin saßen und ihr verspätetes Mittagessen verspeisten. „Guten Appetit“, lächelte Mark. „Darf ich mich zu euch set- zen?“ „Klar!“ - „Sicher!“ Mark setzte sich und schaute die Mädchen unauffällig an. Ka- trin war bereits bei ihrem Nachtisch angelangt, Angie schaufelte die letzten Reste des Mittagessens in sich hinein. Beide machten einen ausgesprochen ausgeglichenen Ein- druck. Bei Katrin hatte Mark sogar das Gefühl, daß ihr Gesicht etwas mehr an Kontur, an Ausdruck gewonnen hatte. Ihre Augen entsprachen nun mehr denjenigen eines 13jährigen Mädchens, und nicht mehr denen eines 11jährigen. Und ihre Stimme war tatsächlich etwas dunkler geworden, dessen war Mark sich nun sicher. Dunkler, und etwas reifer. Nicht viel, nur ein bißchen, aber verändert. Und Angie? Bei Angie hatte Mark ein ganz merkwürdiges Gefühl. Er wußte, daß es zwischen ihnen noch gewaltig krachen würde, und zwar so gewaltig, daß der Streit von vorhin dagegen nur ein harmloses Gespräch war. Er fragte sich, woher sie die Kraft nahm. Die Sache mit ihrem Vater hatte sie in knapp zwei Monaten verarbeitet. Sicher, die Arbeit half ihr bestimmt dabei, ihre Gedanken auf etwas anderes zu richten, aber dennoch war ihr Gewalt angetan worden, sie hatte etwas erlebt, was über ihre Auffassungsfähigkeit - seelisch wie körperlich - hinausging, und sie geht her, bewältigt dies und findet noch die Kraft, tief in die Probleme anderer Menschen hineinzutauchen und sie zu lösen. „Mark?“ Eine leise Stimme unterbrach seine Gedanken. Er schaute auf und begeg- nete Katrins Blick. „Was denn, Katrin?“ „Angie und ich haben darüber gesprochen, wie das mit der Schule und so ist. Sag mal, kann ich in eine andere Gruppe?“ „Warum das denn?“ fragte Mark höchst erstaunt. „Habt ihr euch etwa gestritten?“ „Nein“, lachte Angie, und Katrin schüttelte den Kopf. „Nein. Ich hab dir doch von - von diesen Löchern erzählt. Jetzt weiß ich, daß die nicht nur von - von diesen Sachen kommen, sondern auch von der Schule. Mark, es gab Tage, wo ich morgens aufwachte und gar nicht mehr wußte, wer ich war. Ich bin zur Schule gegangen, hab meine Zeit abgesessen und gar nichts mitgekriegt. Angie und ich haben darüber gesprochen, und - und ich denke, ich sollte so tun, als wär ich sitzengeblieben.“ „Ich helf Katrin dann dabei, daß sie schnell wieder zu mir kommen kann, in meine Gruppe. Wir werden jeden Tag üben, eine Stunde lang. Vielleicht ist sie bis zum Sommer schon wieder bei uns.“ Angie sah Mark bittend an. „Ja?“ „Klingt vernünftig.“ Er sah die beiden Mädchen lächelnd an. „Okay. Katrin, wir werden morgen mit deinen Lehrern sprechen, und sie werden dich dann ausfragen, was du weißt und wo noch Lücken sind. Dann bekommst du einen Arbeitsplan mit all dem Stoff, den du aufarbeiten mußt. Klingt nach Arbeit, was?“ „Genau“, lachte Katrin. „Aber Angie und ich wollen beide wechseln, und zwar in die Gruppen, die vom Gymnasium kommen, damit wir später mal bessere Berufe be- kommen. Oder zumindest die Chance.“ Aus Marks Blicken sprach Bewunderung für den Eifer der Mädchen. „Sicher“, sagte er nachdenklich. „Das geht, wenn ihr euch wirklich anstrengt. Seid ihr sicher, daß ihr das schafft?“ Aus vier Augen schaute ihn so viel Entschlossenheit an, daß er seine Frage zurückzog. „Okay. Das klären wir dann alles morgen. Ihr zwei seid un- glaublich, wißt ihr das?“ „Natürlich!“ lachte Angie. Mark warf ihr einen Blick zu, und Angie beugte sich schnell über ihr Essen und tat so, als wäre sie nicht da.
„Du wolltest mich noch sprechen?“ fragte Angie, als sie nach dem Abendessen in Marks Büro stand. „Ja. Angie, zieh dich bitte an, ich möchte etwas mit dir laufen.“ Kurz darauf hatten sie das Haus verlassen und gingen schweigend durch den Schnee in den Wald. Angie fühlte sich wohl in diesem Wald; jedesmal, wenn sie hier war, hatte sie das Gefühl, beschützt zu sein, auch wenn es dunkel war. Sie fühlte, daß um sie herum etwas - oder vielleicht auch jemand - war, das alles Unheil von ihr abhielt. Auch Mark fühlte sich ähnlich. Das Laufen durch den Wald brachte viele Erinne- rungen an seine frühe Kindheit zurück, in der er noch völlig unbelastet und fröhlich war. Hier konnte er sich richtig entspannen. „Angie“, sagte er dann, nachdem sie schon eine Weile gelaufen waren. „Ich stelle dir jetzt eine Frage, und ich möchte, daß du sie so gründlich wie möglich beantwortest und nichts verschweigst. Wie fühlst du dich, wenn du hilfst? Egal, ob am Telefon oder persönlich. Wie fühlst du dich dabei? Was geht in dir vor?“ Angie dachte so lange nach, daß Mark seine Frage schon wiederholen wollte. „Nein“, wehrte sie ab. „Ich hab schon gehört. Das ist sehr schwer zu sagen, Mark.“ Wieder dachte sie nach. „Vielleicht so: wenn das Telefon klingelt, werde ich nervös, weil ich nicht weiß, was auf mich zukommt. Aber sobald ich den Hörer in der Hand habe, bin ich völlig ruhig. Ganz entspannt. Ich weiß ganz tief in mir, daß ich das Pro- blem lösen kann. Ich bin sicher. Verstehst du? Es gibt sogar Momente, wo ich denke, daß ich das Mädchen oder den Jungen am anderen Ende förmlich vor mir sehen kann. Wenn die sich dann selbst beschreiben, bin ich immer etwas erschrocken, weil das stimmt, aber gleichzeitig freue ich mich, daß mein Gefühl doch wieder recht hatte. Und wenn ich dann die Frau informiert habe, wen sie wo abholen soll, fühle ich mich ein- fach prima. Glücklich. Zufrieden. Bei Jenny und Katrin war das fast genauso, Mark. Obwohl... etwas anders war es da schon. Wenn ich in ihre Augen sehe, sehe ich ir- gendwie... ich weiß nicht, ganz tief in sie rein, und spüre ihren Schmerz. Nicht so, daß es wehtut, aber doch so stark, daß ich... kein Mitleid mit ihnen habe, aber irgendwie... mit ihnen fühle, sie verstehe, warum sie so sind. Klingt verrückt, was?“ „Nein“, sagte Mark schnell. „Ganz und gar nicht, Angie. Red bitte weiter.“ „Na ja, bei Jenny war das so, daß ich wußte, daß sie noch nicht mit dir über sich geredet hat. Aber ich wußte auch, daß sie darüber auch mit keinem anderen geredet hat. Nicht, weil ich es vom... Verstand her wußte, sondern ich habe es in ihr gefühlt. Daher wußte ich es. Bei Katrin war es noch extremer. Bei ihr habe ich die Mauer ge- spürt, als wir im Wald waren. Eine ganz dicke, feste Mauer, und ich wußte, dahinter versteckt sie sich. Und ich wußte, daß sie es sein mußte, die die Mauer einreißen wollte. Wenn ich es für sie getan hätte, wäre sie verletzbar und ungeschützt gewesen. Deswegen mußte sie von sich aus rauskommen. Deswegen auch dieses Fesseln. Sie mußte sich wehren gegen die Mauer, es mußte von ihr aus kommen. Na ja, ich hab jede Sekunde lang gespürt, was in ihr vorgeht, und konnte sie so in die Richtung bringen, in die ich sie haben wollte: daß sie selbst rauskommt. Ich mußte sie so auf die Palme bringen, daß ihre Wut größer wurde als ihre Angst. Ich hab jedes kleinste Gefühl von ihr mitbekommen, Mark, und deswegen wußte ich, daß sie nie- mals in Gefahr war, verrückt zu werden oder so. Es war manchmal ganz schön viel, was da auf mich eindrang, aber nie so viel, daß ich nicht mehr weiterwußte. Als es dann vorbei war, als Katrin wieder in Ordnung war, war ich kaputt, aber auch wieder nicht schlimm, sondern wie nach einer schweren Arbeit, die man für sich selbst macht. Verstehst du? Schön kaputt. Zufrieden kaputt. So in der Art.“ Sie zuckte verlegen mit den Schultern. „Ich kann es nicht besser erklären. Tut mir leid. Das sind alles mehr Gefühle als Worte, und manche von den Gefühlen verstehe ich noch nicht so richtig, aber sie helfen mir trotzdem, anderen zu helfen.“ „Belastet dich das, wenn du hilfst?“ „Nein, nicht so“, sagte Angie nachdenklich. „Es belastet mich, daß da jemand ist, der Angst hat. Schmerzen. Trauer. Kummer. Wenn ich dann mit dem Mädchen oder dem Jungen rede... nein, das belastet mich nicht. Auch wenn das Gespräch dann vorbei ist, und alles ist in Ordnung, fühlte ich mich nicht ausgelaugt. Also, nicht schlecht, meine ich. Ich fühl mich gut hinterher. Müde, aber gut.“ Ängstlich blickte sie zu Mark auf. „Bist du mir böse?“ „Ich war es“, antwortete Mark ehrlich. „Angie, als ich euch heute morgen im Schnee gesehen habe, Katrin ohne jegliche Kleidung in dieser kalten Luft, und die Wä- scheleinen am Boden, da war ich kurz davor, dich durchzuprügeln. Ich hatte eine sol- che Wut auf dich, weil du völlig sorglos mit dem Leben anderer Menschen spielst und sie in Gefahr bringst. Wenn ihr mich nicht angeschrien hättet, daß ich verschwinden soll, und wenn Katrin nicht diesen Stein nach mir geworfen hätte, könntest du jetzt wahrscheinlich noch immer nicht sitzen.“ „Bist du denn immer noch wütend auf mich?“ fragte Angie leise, und voller Angst. „Sagen wir mal so“, erwiderte Mark nachdenklich. „Angie, was du mit Katrin ge- macht hast, geht über mein Verständnis. Nein, nicht, was du gemacht hast, sondern daß du sie hinbekommen hast. Du hast erzählt, wie du ihr geholfen hast, aber ich weiß ganz sicher, daß dir niemand diese Techniken und Methoden beigebracht hat. Deswe- gen war ich wütend, Angie. Ich habe dir nicht zugetraut, damit fertigzuwerden. Jetzt, wo ich weiß, wie du vorgehst, und woher du weißt, wie du helfen sollst, sieht das et- was anders aus. Nein, ich bin nicht mehr böse auf dich, Kleines. Nicht mehr. Ich möchte dich nur bitten, daß du mir Bescheid sagst, wenn du das nächste Mal so eine Aktion planst. Immerhin bin ich letzten Endes für alle Mädchen hier verantwortlich, und wenn rauskommt, was du mit Katrin angestellt hast, bin ich wahrscheinlich sofort meinen Job los.“ „Das tut mir leid!“ sagte Angie mit ängstlich aufgerissenen Augen. „Mark, daß wußte ich nicht!“ „Schon gut“, lächelte Mark. „Es ist gutgegangen, sogar weit mehr als das, und wir wollen nicht mehr darüber reden. Sag mir bitte nur in Zukunft Bescheid, ja?“ „Mach ich“, versprach Angie. „Das heißt, wenn du mir dann auch erlaubst, es so zu tun, wie ich es will.“ „Und wenn ich es nicht erlaube?“ Angie zuckte die Schultern, doch ihre Augen sprachen Bände. „Na gut“, seufzte Mark. „Aber eins kann ich dir versprechen, junge Dame: noch eine Aktion in dieser Richtung, ohne daß ich Bescheid weiß, und ich wer- de das erste Mal in meinem ganzen Leben einem Mädchen den Hintern versohlen. Nämlich dir.“ „Das Risiko geh ich ein“, kam Angies störrische Antwort. „Ich tu trotzdem das, was ich für richtig halte.“ „Tu das“, sagte Mark mit bemüht ruhiger Stimme. „Den Preis kennst du jetzt.“ Das Angie ihm blitzschnell die Zunge herausstreckte, bekam er aus dem Augenwinkel doch noch mit.
In dieser Nacht schlief Katrin zum ersten Mal fest und ohne Alpträume durch. Als Angie um sechs Uhr aufstand, um schwimmen zu gehen, beugte sie sich kurz über ihre Freundin. Katrin lag völlig entspannt auf dem Rücken, Arme und Beine abgespreizt, und lächelte sogar im Schlaf. ‘Doch’, dachte Angie bewegt, ‘das war es wert.’ Mit der geheilten Katrin vor Augen, verschwand der ganze Streit mit Mark aus ihrem Gefühl. Fröhlich ging sie zu ihrem Frühsport.
* * *
„Und das ist genau der Punkt, den ich nicht mehr verstehe, Frau Doktor. Woher nimmt ein kleines Mädchen wie Angie diese Fähigkeiten? Sie wissen selbst, wie lange ein Therapeut gebraucht hätte, um Katrin wieder hinzubiegen. Doch Angie geht her und heilt das Mädchen in ein paar Minuten. Mit ziemlich brutalen Methoden, aber es hat Katrin nicht geschadet. Ganz im Gegenteil. Wo sie vorher nervös, unsicher und ängstlich war, ist sie nun ruhig, sicher und zuversichtlich.“ „Ach, Herr Behrens, was soll ich dazu sagen? Ich bin Ärztin. Wissenschaftlerin. Wenn ich auf ein Symptom stoße, schlage ich mein Buch auf, suche es, gehe mit dem Finger nach rechts und finde die Krankheit. Dennoch... Als Wissenschaftlerin müßte ich Angie gehörig den Kopf waschen, aber als Mensch hat sie meine uneingeschränkte Zustimmung. Wenn Sie sagen, daß Angie behauptet, zu wissen, was sie tut, weil sie spürt, was sie tun soll, dann glaube ich ihr das. Sicher, sie ist noch sehr jung, aber ist das nicht auch ein Vorteil? Wie viele Mädchen hier haben ihre Probleme nicht bei Ih- nen abgeladen, nur aus dem Grund, weil Sie auch ein Mann sind? Wenn Angie helfen kann und sich dabei nicht überanstrengt oder sogar verausgabt, lassen Sie sie doch helfen.“ „Das habe ich auch vor. Was mir nur Sorge macht, ist, daß sie eines Tages an ihre Grenze stößt und dabei etwas passiert.“ „Grenze? Welche Grenze, Herr Behrens? So wie die Grenze, die wir alle bei dieser Gerrit erlebt haben? Die unter den Händen von Ärzten stirbt, weil sie einfach nicht mehr leben wollte? Wenn irgend jemand um Hilfe bittet, egal ob Sie oder Angie, dann will dieser Mensch auch Hilfe annehmen, und dabei wird weder Angie noch sonst je- mand an die Grenze stoßen. Das weiß ich einfach.“ „Jetzt fangen Sie auch noch mit diesem Gespür an!“ „Natürlich. Als Frau habe ich sogar das ausdrückliche Recht dazu!“ Lachend ging Mark aus dem Untersuchungsraum hinaus, verfolgt von Frau Doktor Siebners amü- sierten Blicken. Er stieg die Treppen hinauf bis ins Dachgeschoß, dann betrat er die Klasse, in der Angie und Katrin saßen. Alle Mädchen - etwa 20 an der Zahl - saßen konzentriert über ihren Büchern oder schrieben in ihre Hefte. Die Lehrerin bemerkte Mark, der sie nach draußen winkte. „Tut mir leid, daß ich störe, Frau Dietlieb“, sagte Mark. „Haben Sie schon die Er- gebnisse von Katrin?“ „Ja. Vom Wissensstand her entspricht sie der fünften Klasse, und nicht der siebten, in der sie jetzt ist. Vielleicht etwas weiter, aber nicht viel. Auf der Haben-Seite steht ein starker Wille und eine immense Aufnahmefähigkeit, die sie noch vor ein paar Ta- gen nicht gezeigt hatte.“ „Das bedeutet?“ „Das bedeutet, daß sie nach den Sommerferien ohne größere Probleme in die Gruppe der Gymnasiastinnen wechseln kann, zusammen mit Angie, die jetzt schon nebenbei so viel vorarbeitet, daß ich sie regelrecht bremsen muß.“ „So kennen wir sie“, schmunzelte Mark. „Also alles in schönster Ordnung?“ „Umgangssprachlich ausgedrückt, ja.“ Frau Dietlieb zwinkerte dabei. „Sehr schön. Dann weiterhin viel Erfolg.“ Zufrieden ging Mark wieder hinunter in sein Büro. Er kam gerade rechtzeitig, um das Telefon klingeln zu hören. Schnell nahm er ab und meldete sich. „Frank Jorg hier. Schönen guten Tag, Herr Behrens. Wie geht’s?“ „Hervorragend, und Ihnen?“ „Genauso gut. Herr Behrens, die Anlage für die Rufweiterschaltung ist soweit fer- tig, was uns betrifft. Ich würde gerne morgen Mittag, Punkt zwölf Uhr, einen großen Test fahren.“ „Fantastisch!“ freute Mark sich. „Wie soll der Test ablaufen?“ „Techniker von uns schwärmen in jede Stadt aus und rufen um Punkt zwölf Uhr die Nummer an. Ihr Job wäre, alle anderen Heimleiter zu informieren, daß sie sich bitte die Zeit und eine Nummer notieren, die der Techniker durchgeben wird. Diese Liste - es werden etwa acht oder zehn Anrufe pro Heim eingehen - sollte dann so schnell wie möglich an mich gefaxt werden. Notieren Sie sich bitte die Faxnummer?“ Eilig schrieb Mark die Nummer mit und wiederholte sie. „Ganz genau. Anhand dieser Liste können wir dann noch letzte Änderungen durchführen, falls nötig. Anschließend wird der ganze Krempel einsatzbereit sein.“ „Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll, Herr Jorg“, sagte Mark bewegt. „Ich schon“, lachte er. „Erinnern Sie sich an das Loblied, das Sie singen sollen? Nein, im Ernst: machen Sie weiter wie bisher. Wenn jemand unsere Hilfe braucht, dann Sie und alle anderen Heime. Bis morgen dann, ich melde mich bei Ihnen.“ Die Leitung war tot. Mit einem dankbaren Gefühl im Bauch legte Mark den Hörer auf und ging daran, die anderen Heime zu informieren.
Freitag morgen. Um halb zwölf kamen zwei Techniker der Firma MobilTel, die Marks altes Telefon kurzerhand gegen ein neues austauschten, mit so vielen Knöpfen, daß Mark kurz daran dachte, sofort in Urlaub zu fahren, doch die Techniker beruhig- ten ihn und erklärten ihm die Funktionen des Apparates. Die meisten Knöpfe waren nur dafür da, ankommende Gespräche anzunehmen, die in einer sogenannten Warte- schleife landeten, wenn alle Leitungen in allen Heimen besetzt waren. Alle anderen Knöpfe waren nicht belegt. Die Techniker bauten dann noch ein kleines Netzteil auf, in das sie vier tragbare Telefone zum Aufladen steckten. „Die Dinger“, sagte ein Techniker, während der andere schon alles Werkzeug zu- sammensuchte und einpackte, „sind mit dem Hauptapparat gekoppelt. Wenn Sie ir- gendwo im Haus unterwegs sind, nehmen Sie eins davon mit, und mit einem Druck auf diese grüne Taste hier nehmen Sie das Gespräch an. Raustelefonieren können Sie da- mit auch, in dem Fall die rote Taste drücken und wählen wie gewohnt. Laufzeit der Geräte etwa vierzehn Stunden, wenn sie voll aufgeladen sind; wenn sie leer sind, für vier Stunden in die Ladestation stecken. Hier oben die Leuchtdiode, die ist wichtig. Blinkt sie gelb, muß das Handgerät aufgeladen werden, leuchtet sie grün, ist das Gerät betriebsbereit. Eine Unterschrift hier unten, bitte.“ Während Mark noch unterschrieb, ging der Techniker, der aufgeräumt hatte, mit einer Diskette an Marks Computer und schob sie ein. Mit zwei schnellen Schritten war Mark bei ihm. „Was haben Sie vor?“ fragte er höflich. „Sie bekommen ein Programm von uns“, erklärte der Techniker, während er die Installation des Programms startete, „mit dem Sie sämtliche Gebühren kontrollieren können. Jedes Gespräch wird von der Software gespeichert, also Datum, Uhrzeit, an- gerufene Nummer und Dauer. Ist im Paket mit drin.“ „Geht dieses Programm irgendwie an andere Daten auf der Festplatte?“ fragte Mark ruhig. Der Techniker schüttelte den Kopf. „Auf keinen Fall. Wenn es das täte, wäre es nicht von der Telekom abgenommen worden.“ Er lächelte Mark beruhigend zu. „Herr Jorg hat uns erklärt, was Sie hier tun. Sie können ihm glauben, daß er ein tiefes Interesse an Ihrer Tätigkeit hat und alles tut, damit Sie ihren Job besser machen können. Von der technischen Seite aus gesehen, natürlich. Dazu kommt, daß unser Unternehmen im Moment auf Platz 3 in Deutschland steht, und wir möchten gerne auf Platz 2 rutschen. Mit Datenklau kämen wir bestimmt nicht dahin. So, fertig. Rufen Sie mal bitte jemanden an?“ Mark griff nach dem Hörer und wählte die Nummer der Zeit- ansage. Er lauschte kurz, dann legte er wieder auf. „Sehr schön“, sagte der Techniker und klickte mit der Maus auf eine Schaltfläche. „So, hier haben wir es: Datum von heute, Zeit: 11:54, Nummer: 01191, Dauer: sieben Sekunden, Anzahl der Einheiten: 1, Gebühr: 0,12 DM. Gesamt Tag: 0,12 DM, Gesamt Monat: 0,12 DM. Sieht gut aus.“ Mark konnte nur nicken. Diese Angaben würden noch weiter helfen, die zum Teil immensen Telefonkosten in den Griff zu bekommen. Die Techniker nahmen ihre Sachen, stellten sie in die Nähe der Tür und kamen dann zurück zum Schreibtisch. Einer von ihnen sah auf das Telefon. „Noch zwei Minuten, dann sollte hier die Lichtorgel angehen.“ „Hm-m“, machte der andere und holte ein Kaugummi aus der Tasche. Eine Minute später kam Angie atemlos in das Büro gestürzt. „Bin ich zu spät?“ keuchte sie und lief zum Schreibtisch. „Nein. Wieso bist du nicht in deiner Klasse?“ „Bin fertig. Außerdem muß ich ja auch damit klarkommen.“ „Angie“, sagte Mark sehr ruhig, „woher wußtest du, daß heute das neue Telefon kommt?“ Angie sah in kurz an. „Glaubst du mir ja doch nicht, wenn ich das sage.“ Sie blickte Mark vorwurfsvoll an. „Hast recht“, seufzte er. „Dann bleib hier.“ Punkt zwölf Uhr brach das versprochene Chaos los. Das Telefon läutete melo- disch, und vier Lampen leuchteten innerhalb von zwei Sekunden auf. „Wow“, machte Angie ehrfürchtig. „Na los“, schmunzelte Mark, „geh ran und schreib einfach mit, was du hörst. Mit der Uhrzeit, bitte.“ Freudestrahlend schwang Angie sich auf den Stuhl, nahm den Hö- rer auf und meldete sich, dann schrieb sie schnell mit. „Tschüs!“ sagte sie dann und blickte Mark an. „Und nun?“ Der Techniker zeigte auf eine Reihe Tasten, neben denen die Lämpchen leuchteten. „Einfach auf eine von denen drücken. Brauchst den Hörer nicht aufzulegen.“ Gehorsam drückte Angie eine Taste und schrieb wieder. Schnell hatte sie sich an die Bedienung gewöhnt. Kurz darauf war Ruhe, keine Lampe leuch- tete mehr. „Cool!“ freute Angie sich und klatschte in die Hände. Mark nahm ihren Zettel auf und las ihn. „Den müssen wir jetzt faxen“, sagte er und ging zum Faxgerät hinüber. Kurz darauf war die Liste auf der Reise. „Warum haben die Handgeräte nicht geklingelt?“ fragte Mark einen der Techniker. „Weil die erst dann klingeln, wenn sie aufgeladen sind“, erklärte er. „Vorher macht das keinen Sinn.“ „Verstehe“, lächelte Mark. „Scheint ja narrensicher zu sein.“ „Ist es“, bekam er zur Antwort. Kurz darauf meldete sich das Telefon erneut. An- gie nahm ab. „Ja, ist er. Einen Moment.“ Sie gab Mark den Hörer. „Herr Jorg.“ Mark nahm den Hörer und meldete sich. „Frank Jorg. Sieht gut aus, Herr Behrens. Ein Heim hat sich nicht gemeldet, aber das war unsere Schuld. Bei der Eingabe der Telefonnummer ist ein Zahlendreher vor- gekommen. Ist bereits geändert. In drei Minuten kommt ein letzter Test, dann sollte es so funktionieren, wie wir alle uns das erhoffen. Bereit?“ „Hier ja“, lachte Mark. „Bis später.“ Fünfzehn Minuten später hatte Mark die Gewißheit, daß die Anlage perfekt lief. Angie hatte diesmal andere Nummern notiert, was sie im ersten Moment unsicher machte, doch ein Techniker erklärte ihr, daß bei jedem Test neue Nummern verwendet würden, um Verwechslungen auszuschließen. Beruhigt stand sie auf. „Bin wieder oben. Tschüs!“ Weg war sie. „Dem schließen wir uns an“, sagten die Techniker und machten sich ebenfalls auf den Weg. „Sämtliche Handbücher und Anleitungen haben Sie?“ „Ja. Sagen Sie Herrn Jorg noch einmal meinen allerherzlichsten Dank, ja?“ „Das können Sie selbst tun. Er wollte heute abend noch einmal vorbeischauen. Auf Wiedersehen.“ „Wiedersehen“, sagte Mark dankbar und ging an die Handbücher, um sie zu lesen.
* * *
„Es ist im Prinzip ganz einfach“, erklärte Frank Jorg den aufmerksam zuhörenden Anwesenden Mark, Angie und Katrin, die Mark gebeten hatte, auch ab und zu Tele- fondienst machen zu dürfen. „Jedes der von uns installierten Telefone kann bis zu fünf Anrufe entgegennehmen. Einer davon wird beantwortet, die anderen landen in der Warteschleife, in der die Anrufer eine freundliche Stimme hören, die ihnen mitteilt, daß gerade alles besetzt ist, aber die nächste freie Leitung für sie reserviert wird. Sollte an das Hauptgerät niemand rangehen, schaltet der Anruf weiter zum ersten Handgerät, dann zum zweiten und so weiter, bis er schließlich wieder an dem Telefon landet. Je- des Gerät klingelt dreimal, bevor es den Anruf weitergibt. Wenn hier alle Leitungen besetzt sind, geht der Anruf weiter an das nächstliegende Heim.“ „Kapiert“, sagte Angie. „Jetzt mal angenommen, das Telefon klingelt, ich renne hier rüber und nehm ab, aber dann klingelt schon das Handgerät. Was mach ich dann? Laufe ich dann hinter den Handgeräten her?“ „Nur, wenn du Sport treiben willst“, lachte Frank Jorg. „Nein, dann nimmst du den Hörer ab und drückst diese Taste mit dem Handsymbol. Die Hand bedeutet, daß du dir den Anruf schnappst, egal wo es klingelt. Die gleiche Taste gibt es auch bei den Handgeräten.“ „Geil!“ freute Angie sich. Mark nickte anerkennend. „Ein tolles System. Und das haben Sie alles in zwei Wochen hinbekommen?“ „Die Technologie dahinter ist natürlich etwas älter als zwei Wochen“, lächelte Jorg. „Die Hardware ist auch nicht das Problem dabei, sondern die Software. Die gan- ze Steuerung der ankommenden Anrufe, also woher kommt der Anruf und wo soll er hin, mußte auf Ihre Ansprüche und Bedürfnisse angepaßt werden.“ „Das tut mir leid“, sagte Mark betroffen. „Soviel Arbeit wollte ich Ihnen nicht ma- chen.“ „Tja“, erwiderte Jorg bekümmert. „So ist das eben. Durch die ganzen Veränderun- gen ist die Software jetzt so umgemodelt, daß ich glatt vier neue Großkunden damit beliefern kann. Es ist ein echt hartes Leben.“ Mark schaltete etwas spät, doch dann lachte er laut auf. „Also habe ich Ihnen einen Gefallen getan?“ grinste er. Jorg nickte. „So in etwa. Nein, wir hatten schon vor, für diese Neukunden etwas in dieser Art zu entwickeln, aber es hatte keine Priorität seitens dieser Firmen, und wir hatten ande- re Aufgaben wahrzunehmen. Aber als ich dieses arme Mädchen gesehen habe - sie war mit ihrem Vater auf unserer letzten Betriebsfeier - dachte ich plötzlich daran, daß meine Kinder vielleicht auch einmal in die Lage kommen könnten, in der sie schnell Hilfe brauchen, und der Gedanke, daß sie dann auf ein Besetztzeichen stoßen, hat mir fast den Magen umgedreht.“ Er lächelte dünn. „Sie sehen, ich handle aus rein egoisti- schen Motiven heraus.“ „Glaub ich nicht“, lachte Angie. „Da glaub ich kein Wort von!“ „Na ja“, gab Jorg lachend zu. „Hast ja recht. So Dinge wie Steuerabschreibungen und neue Kunden haben auch noch mitgespielt. Aber das war nicht die Hauptsache. So, dann habe ich hier noch ein bißchen Papier“ - er zog einen dicken Stapel Blätter aus seiner Aktentasche, bei dessen Anblick Mark ganz flau wurde - „das wir durchle- sen und unterschreiben müssen.“ Er lächelte Mark fröhlich zu. „Bereit?“
5
Es war der 10. Juli. Der Tag, den Mark haßte wie die Pest. Dieses Datum bedeu- tete für ihn: Jahresabschluß. Sein Geschäftsjahr ging vom 1.7. bis zum 30.6., und spä- testens am 10. Juli mußte die Jahresabrechnung im Briefkasten sein. Er stand schwer gereizt auf, verzichtete auf das Schwimmen und verzog sich noch vor dem Frühstück in sein Büro. Seufzend stand er vor der Reihe Ordner, in denen sämtliche Rechnungen und Quittungen abgeheftet waren. ‘Ich mag nicht!’ dachte er kurz, dann nahm er sich zusammen und holte den ersten Ordner, beschrieben mit „Juli - August“ heraus. Das erste, was ihm auffiel, war das Gewicht: der Ordner war viel zu leicht. Er schlug ihn auf und starrte hinein. Leer. Nervös nahm er den zweiten. Auch leer. Ebenso der dritte, vierte und fünfte. Erst der sechste, der die Belege von Mai und Juni enthielt, war noch voll, doch auf der er- sten Seite fand er einen handgeschriebenen Zettel von Angie: „Eingegeben: 1. Mai bis 21. Juni“. Mark ließ beinahe den Ordner fallen. Angie hatte die Buchhaltung gemacht? Am Rande der Panik eilte er zu seinem PC und rief das Buchführungsprogramm auf. Stichprobenartig überflog er die einzelnen Monate, doch es schien alles in Ordnung. Er brachte den Juni auf den Bildschirm und legte den Ordner mit den Belegen neben die Tastatur. Er ging Beleg für Beleg durch, verglich jeden einzelnen im Ordner mit den Einträgen in dem Programm, und fand keinen einzigen Fehler. Das gleiche Spiel wie- derholte er mit dem Monat Mai, doch auch hier war alles so, wie es sein sollte. Schließlich rief er die verschiedenen Konten auf, ging Posten für Posten durch, suchte nach falschen Einträgen und fand keinen einzigen. Alle Reparaturen, alle Kosten für Kleidung, Essen, Instandhaltung, Versicherungen und laufende Kosten wie Strom und Telefon waren vollkommen in Ordnung und den richtigen Konten zugeordnet. Zu keinem klaren Gedanken mehr fähig, stopfte Mark sich seine Pfeife und zündete sie an. Nach dem ersten tiefen Zug protestierte sein Magen. ‘Tut mir leid’, entschul- digte Mark sich bei seinem Bauch, ‘aber mir geht’s auch nicht gut.’ Er legte die Pfeife weg und sah auf die Uhr: kurz vor halb sieben. Schnell stand er auf und lief hinunter in den Keller, zum Schwimmbad. Er kam noch rechtzeitig und sah Angie, die in ihrem hellroten Bikini aus dem Wasser stieg. „Morgen“, strahlte sie und winkte Mark zu. „Wo warst du?“ „Angie“, überging Mark ihre Frage. „Kommst du bitte so schnell wie möglich in mein Büro?“ „Ja“, sagte Angie erstaunt. „Sofort.“ Mark ging wieder nach oben und wartete. Kurz darauf kam Angie an, in einen Bademantel gehüllt. „Was ist denn?“ fragte sie nervös. Mark deutete auf den Ordner und auf ihren Zettel. „Angie, hast du die ganzen Belege in dem Computer eingegeben?“ „Ja“, antwortete sie überrascht. „Angie, weißt du, was heute für ein Tag ist?“ Angie überlegte kurz. „Freitag. War- um? „Nein, Angie. Heute ist der 10. Juli, der Tag, an dem der Jahresabschluß fertig ge- macht und abgeschickt werden muß!“ „Mist!“ sagte Angie erschrocken und lief zum Schreibtisch. „Ich geb die paar feh- lenden Tage schnell ein, Mark. Tut mir echt leid. Dauert nur ein paar Minuten. Geht ganz schnell, ehrlich! Wenn ich das gewußt hätte, wär ich schon fertig damit.“ „Angie!“ unterbrach Mark das aufgeregte Mädchen. „Darum geht es nicht.“ Völlig perplex blieb Angie stehen und schaute Mark an. Sie fand, daß Mark heute gar nicht gut aussah. Irgendwie völlig neben sich. Unschlüssig, ob sie reden oder schweigen sollte, blieb sie stehen, wo sie war. Mark atmete tief durch und ordnete das Chaos in seinem Kopf. „Angie“, sagte er dann sanft. „Wann hast du damit angefangen, die Belege einzugeben?“ Angie über- legte. „So Mitte Mai. Warum?“ „Warum hast du damit angefangen? Warum erst dann?“ „Ich hielt das für eine gute Idee, Mark. Ich hatte das Gefühl, es wäre die richtige Zeit dafür.“ „Wie lange hast du da dran gesessen?“ „Nicht so lange. Ich hab jeden Tag eine Woche eingegeben. Hat vielleicht fünf oder zehn Minuten am Tag gedauert. Was ist denn überhaupt los?“ „Woher wußtest du, was du wie eingeben mußtest?“ „Das war einfach“, winkte Angie nervös ab. „Ich hab mir ausgedruckt, welche Be- reiche da drin sind, dann hab ich die ganzen Rechnungen durchgeguckt und überlegt, wo was hin paßt. Na, und dann hab ich einfach losgelegt. Ist was falsch?“ Ängstlich blickte sie Mark an. „Angie“, erwiderte Mark sehr ruhig. Angie bekam Angst. „Ich sitze jedes Jahr am 10. Juli den ganzen Tag vor diesen verdammten Belegen und gebe einen nach dem an- deren ein, von morgens bis abends. Jedes Jahr am 10. Juli bin ich gereizt wie ein wü- tender Stier wegen diesem Mist. Jedes Jahr kann ich in der Nacht vor dem 10. Juli nicht richtig schlafen, weil ich weiß, daß ich am Morgen an diesen Berg Papier gehen und ihn durcharbeiten muß. Und plötzlich haben wir da eine fröhliche, unvorbelastete Angela, die das ganz nebenbei macht, einfach so, ganz locker, während ihrer anderen Arbeit.“ Angies Angst stieg. Was war mit Mark los? Sollte sie weglaufen? „Und dann stellt sich auch noch heraus, daß sie damit Mitte Mai angefangen hat, und zwar so pas- send, daß die letzten Belege genau heute eingegeben werden können, vollkommen rechtzeitig, um den Abschluß auszudrucken und abzuschicken.“ Er sah Angie mit ei- nem Blick an, den das Mädchen nicht deuten konnte. Ein ganz leichtes Zittern über- kam sie. „Angie, ich tue jetzt etwas, was ich noch nie getan habe und wofür du mich gerne anzeigen kannst, aber ich muß es tun.“ Noch bevor Angie reagieren konnte, war Mark bei ihr, hob sie hoch, wirbelte sie mehrmals im Kreis herum, dann gab er ihr ei- nen dicken Kuß auf die Wange. „Angie“, sagte er warm, während das Mädchen ihn vollkommen starr und baff an- sah, „du hast nicht nur diesen Tag, sondern auch mein Leben gerettet. Mädchen, du hast keinen einzigen Fehler gemacht! Du süßes, kleines Ding, du!“ Angie bekam noch einen Kuß, und noch einen. Ganz langsam dämmerte ihr, daß sie weiterleben durfte, daß Mark sogar glücklich über ihre Arbeit war, und daß sie ihm anscheinend bei ir- gendeiner wichtigen Sache sehr geholfen hatte. „Meine kleine Angie“, murmelte Mark und drückte seine Wange an die des Mäd- chens. „Du ahnst ja gar nicht, was du da getan hast, mein Liebling. Meine Beste. Mei- ne einzige Angie!“ Gerade als Angie sich an die Liebkosungen gewöhnt hatte und sie doch, nach dem ersten Schock, mehr als nur nett fand, stellte Mark sie wieder auf ihre Füße. „Geh dich anziehen, mein kleiner Schatz“, sagte er glücklich. „Wenn du wiederkommst, ist Onkel Mark wieder völlig in Ordnung. Ganz bestimmt.“ Völlig aus dem Konzept gebracht, drehte Angie sich um und stolperte hinaus. Sie hörte Mark singen und lachen, und das machte ihr beinahe mehr Freude als das Gefühl, seine Arme um sie zu spüren, und seine Wange an ihrer.
„Fertig!“ rief Angie und legte die letzte Rechnung zurück. „Alles drin.“ „Prima! Dann laß uns mal sehen.“ Er kam zu Angie, beugte sich an ihr vorbei und drückte ein paar Tasten. Der Drucker begann, Papier auszuwerfen. Mark nahm das erste Blatt heraus und studierte es. „Ah, ja. Die Seite mit den ganzen Spenden stimmt schon mal, soweit ich das noch im Kopf habe.“ Er legte es auf den Tisch und nahm das nächste Blatt in die Hand. „Gut, das sind die ganzen Ausgaben. Da können noch ein paar Seiten kommen.“ Genau so war es auch. Schließlich schaltete der Drucker sich ab. Mark nahm das letzte Blatt heraus. „So, jetzt wird’s interessant...“, murmelte er. Angie reckte ihren Kopf und las die Zahlen, doch die Zusammenhänge blieben ihr un- klar. „Kann doch nicht sein!“ sagte Mark leise. „Oder doch?“ Er legte das Blatt auf den Tisch, eilte zum Schrank und holte einen Ordner heraus. Er öffnete ihn, suchte et- was und kam dann mit dem geöffneten Ordner zurück. „So, mal vergleichen... Ein- nahmen sind gleich geblieben. Ausgaben höher als letztes Jahr, aber das war klar. Ist ja alles teurer geworden. Kleidung... in etwa gleich. Lebensmittel... nein, das ist es auch nicht. Gebäude und so weiter... auch nicht. Da: Telefon. Angie“, sagte er aufge- regt. „Schau dir das an.“ Er legte den Ordner auf den Tisch und zeigte auf eine Zahl. „Hier, das sind die Telefonkosten vom letzten Jahr. Vergleich die mal mit den Zahlen von diesem.“ Angie verglich, dann pfiff sie leise. „Über dreitausend Mark weniger! Mark, wieso?“ „Wegen der Telefonanlage“, lachte Mark fröhlich. „Angie, bis Mitte Januar haben wir vom Telefon und vom Handy aus telefoniert. Nachdem die Anlage hier lief, haben wir ja das Handy abgeschafft, und MobilTel zahlt doch alle Gebühren für uns! Mensch, ist das toll! Die Mädchen werden sich freuen!“ Aufgeregt sah er Angie an. „Jedes Jahr bleiben etwa zwanzigtausend Mark übrig von dem Geld, das ich von den Firmen bekomme. Aber dieses Jahr sind es weit über dreiundzwanzigtausend Mark, Angie! Weißt du, was das heißt?“ Angie schüttelte den Kopf. „Das Geld, das übrig ist, wird auf ein Sparbuch eingezahlt, von dem dann die ersten Wohnungskosten für die Mädchen, die ausziehen, übernommen werden. Kaution, Vermittlung und so weiter, notfalls auch für die ersten preiswerten Möbel.“ „Also ist es wichtig, daß wir sparen?“ fragte Angie nachdenklich. „Ja, Angie. Im Interesse aller Mädchen, die hier sind und die noch kommen.“
* * *
Als Katrin eingeschlafen war, stand Angie leise auf und zog sich einen leichten Bademantel an, dann ging sie vorsichtig hinaus und schloß die Tür leise hinter sich. Das Haus war recht still um diese Uhrzeit; aus einigen Zimmern kamen leise Musik oder gedämpfte Stimmen, aber das laute Summen, das tagsüber herrschte, war ver- schwunden. Schnell ging Angie die Treppe hinunter und schlüpfte in das Büro. Mark sah erstaunt auf, als er die Tür sich öffnen hörte. „Angie? Mädchen, es ist elf Uhr durch! Wieso schläfst du noch nicht?“ „Konnte nicht schlafen“, sagte Angie leise und setzte sich auf das Sofa. Mark legte das Blatt Papier, das er in der Hand hatte, auf den Tisch, stand auf und setzte sich ne- ben sie. „Probleme?“ fragte er leise. Angie nickte. „Mit wem?“ „Mit einer Frage“, antwortete Angie. „Mark, warum nimmst du eigentlich nie ein Mädchen in den Arm?“ „Tu ich doch“, sagte Mark erstaunt. „Immer wenn ein Mädchen traurig ist oder Hilfe braucht, nehm ich sie in den Arm. Wenn sie das will, heißt das.“ „Ah so. Mark, ich brauch auch Hilfe. Nimmst du mich in den Arm?“ Mark schüt- telte den Kopf und rutschte instinktiv etwas weg von Angie. „Nein, Angie.“ „Warum nicht?“ fragte sie gekränkt. „Weil du keine Hilfe brauchst.“ Er stand auf und ging an das Fenster, um hinauszu- sehen. „Angie“, sagte er dann, ohne sich umzudrehen. „Du kennst meine Ansichten in Bezug auf die Urlaubsfahrten. Aus dem gleichen Grund werde ich niemals ein Mäd- chen in den Arm nehmen, ohne daß sie wirklich Hilfe oder massiven Trost braucht. Denn Angie, wenn ich erst einmal damit anfange, gibt es mehrere Möglichkeiten. Er- stens: andere Mädchen werden neidisch, und wollen das gleiche. Irgendwann würde ich unter all den Mädchen ersticken. Zweitens: es gibt Ärger. Irgend jemand fühlt sich ausgestoßen oder zurückgesetzt, und ich habe den Ärger am Hals. Drittens: bei den älteren Mädchen, die kurz davor stehen, auszuziehen, könnten bestimmte... Instinkte erwachen, und das ist das Letzte, was ich will. Viertens: manche Mädchen könnten, aus welchem Grund auch immer, eifersüchtig werden, und schon geht der Kampf hier los. Angie, in diesem Heim sollen die Mädchen sich erholen und aufwachsen, in aller Ruhe, weitab von Streit und Kampf. Ich habe mich mit den anderen männlichen Heimleitern unterhalten, und wir sind vor langer Zeit zu dem Entschluß gekommen, daß wir alle Mädchen gleich freundlich und respektvoll behandeln, daß ein körperli- cher Kontakt aber, und sei es nur eine Umarmung ohne zwingenden Grund, völlig un- denkbar ist.“ Er atmete tief durch. „Angie, ich weiß, warum du gefragt hast. Ich hab dich sehr gern, Angie, und ich möchte dich auch einmal zwischendurch, einfach so, in den Arm nehmen, nur um dir zu zeigen, wie gern ich dich hab. Oder ein anderes Mäd- chen, daß ich auch mag. Aber es geht nicht, Angie. Es darf nicht sein. Verstehst du das?“ Er drehte sich um. Angie stand ganz dicht vor ihm und legte im gleichen Mo- ment ihre Arme um ihn, dann drückte sie sich eng an ihn. „Hat dir schon mal jemand gesagt, daß du zuviel redest?“ murmelte sie. Mark hielt seine Arme weit abgespreizt von Angie weg; ein Reflex, den er sich angewöhnt hatte. „Angie, laß mich bitte los“, sagte er sanft. Angie schüttelte störrisch ihren Kopf. „Wenn du so starre Regeln hast“, widersprach sie, „was sollte das dann heute morgen? Du hast mich nicht nur in den Arm genommen, sondern mir sogar Küsse auf die Backe gegeben. Das paßt doch auch nicht in deine Regeln!“ „Das habe ich dir erklärt, Angie“, sagte Mark ruhig. „Ich war einfach überwältigt von deiner sauberen Arbeit, die mir einen sehr harten Tag erspart hat. Ich habe dir auch gesagt, daß ich so etwas noch nie getan habe, und es wird auch nie wieder vor- kommen, das kannst du mir glauben.“ Angie murmelte etwas. „Was hast du gesagt?“ „Nichts“, kicherte Angie und sah zu ihm auf. „Jetzt leg schon endlich deine Arme um mich, drück mich und wünsch mir eine gute Nacht, dann geh ich sofort. Aber ein- mal drücken mußt du mich, sonst geh ich nicht weg!“ „Angie, du weißt, was mit Mädchen passiert, die mich erpressen wollen?“ Angie nickte strahlend. „Ja, aber du schmeißt mich nicht raus. Dafür hast du mich viel zu lieb, und außerdem tu ich ja nichts Böses!“ „Doch“, lachte Mark verzweifelt. „Du bringst mich dazu, meine Regeln zu bre- chen!“ „Hast du doch schon“, grinste Angie frech. „Nun drück mich schon, oder ich tu dir morgen Abführmittel in deine Milch.“ „Du bist ein Biest, weißt du das?“ Angie grinste, nickte und drückte ihren Kopf an Marks Bauch. Resigniert legte er einen Arm um Angie und drückte sie ganz leicht an sich. „Gute Nacht, Angie“, sagte er sanft. „Gute Nacht, Mark“, wisperte sie glücklich und sah zu ihm auf. „Komm mal run- ter, du Riese.“ Mit fragendem Blick senkte Mark seinen Kopf zu ihr. Angie fing sein Ohrläppchen, zog seinen Kopf näher heran und gab ihm einen schnellen Kuß auf die Wange, dann lief sie flott hinaus. Mark sah ihr kopfschüttelnd hinterher. ‘So ein hin- terhältiges Biest’, dachte er mit einem leisen Lachen. ‘Das kann ja noch was geben.’
Das Frühstück neigte sich dem Ende zu, und die ersten Mädchen wollten gerade aufstehen, da erhob sich Mark und bat um Ruhe. Sofort herrschte gespannte Aufmerk- samkeit. „Fangen wir mit der schlechten Nachricht an“, sagte er mit einer Stimme, die bis in die letzte Ecke drang. Angie sah gespannt von ihrem Tisch herüber zu Mark, der in der rechten Hand eine braune Papiertüte hielt. ‘Hamburger?’ dachte sie kurz. „Dieses Jahr können vier Mädchen nicht in Urlaub fahren, es reicht einfach nicht.“ Angie und Katrin meldeten sich sofort, ebenfalls vier Mädchen, die kurz davor stan- den, auszuziehen. „Sechs Freiwillige“, sagte Mark nachdenklich. „Katrin, willst du wirklich nicht mit? Du hast ja schon den Winterurlaub fallen lassen.“ „Nein, wirklich nicht, Mark“, sagte Katrin offen. „Ich meine, ich hab kein Problem mehr damit, rauszugehen, aber ein paar Wochen lang weg von hier... Nein, will ich nicht. Noch nicht.“ „Okay. Angie? Warum du nicht?“ „Gleiche Grund wie im Winter: zuviel Arbeit“, sagte Angie mit klarer Stimme und stand auf. „Wir müssen viele Reparaturen am und im Haus durchführen lassen, die Wäscherei, die wir haben, arbeitet immer nachlässiger, der Garten und der Teich sind in einem furchtbaren Zustand, die Sporträume müssen dringend von oben bis unten gereinigt werden...“ Sie holte Luft. „Und das willst du alles in den nächsten drei Wochen erledigen?“ fragte Mark trocken. Der Raum erzitterte vor Lachen. Angie wurde rot, zwang sich jedoch, ruhig zu bleiben. „Nein“, erwiderte sie in einem lockeren Ton. „Du bist ja da, um die Zimmer zu saugen.“ Diesmal bebte der Raum. Angie grinste, als Mark ebenfalls eine leichte Röte auflegte. Sie wartete, bis das Gelächter nachgelassen hatte. „Es geht darum“, sagte sie ruhig, „daß verschiedene Angebote von allen möglichen Firmen eingeholt werden müssen, um das alles zu erledigen, Mark. Sicher, einen Teil können wir alleine schaf- fen, aber nicht alles. Die Wäscherei zum Beispiel...“ „Da hat sie recht“, meldete sich ein Mädchen, das Angie als Helene kannte. „Die Bettlaken waren völlig verdreckt letzte Woche, schlimmer als wir sie abgegeben ha- ben.“ „Stimmt!“ meldete sich ein anderes Mädchen. „Und die Bademäntel erst! Meiner war an manchen Stellen hellblau statt weiß!“ Viele andere Mädchen stimmten zu. „Okay, okay“, gab Mark entnervt nach. „Angie, du kannst hierbleiben, wenn du unbedingt willst.“ „Danke schön“, flötete Angie und setzte sich stolz hin. Das kurze Leuchten in Marks Augen war ihr nicht entgangen. „Gut“, sagte Mark, „das heißt, daß zwei von euch“ - er deutete auf die älteren vier Mädchen - „doch mitfahren können.“ Die vier steckten kurz ihre Köpfe zusammen, dann waren es nur noch zwei Hände. „Okay“, sagte Mark. „Also Anita und Wencke bleiben auch hier. Jetzt die zweite schlechte Nachricht: es ist kein Urlaub für alle zu- sammen, sondern wir haben dieses Mal höchstens fünf in einer Gruppe, aber dafür ist dieses Jahr kein Bauernhof dabei, sondern alles am Meer oder in den Bergen.“ „Schade“, erklang eine Stimme. „Konstanz am Bodensee, da wollte ich eigentlich hin.“ Dröhnendes Lachen folgte diesem kummervollen Satz. „Gibt es denn auch gute Nachrichten dabei?“ wollte ein Mädchen nach dem Lacher wissen. Mark nickte. „Ja. Sogar eine sehr gute, wie ich finde. Dieses Jahr fällt das Modellstehen im Ba- deanzug für alle Mädchen unter 16 flach, das konnte ich zumindest durchsetzen. Alle unter 16 müssen es hinnehmen, in normaler Straßenkleidung für die nächsten Werbe- prospekte fotografiert zu werden, die älteren... na ja, ihr kennt es ja schon.“ „Ist doch halb so wild“, sagte ein sehr hübsches Mädchen von siebzehn Jahren. Sie stand auf, streckte Brust und Po raus, legte ihre Hand in den Nacken und warf Mark verführerische Blicke zu, unter allgemeinem Gelächter. Sofort flammte in Angie wilde Eifersucht auf. „Sehr gut“, lächelte Mark das Mädchen an. „Noch ein bißchen weiter üben, Steffi, und du bist ein Topstar.“ Unbeeindruckt von dieser Vorstellung wandte er sich wieder der Allgemeinheit zu. „Dann schreiten wir mal zur Verlosung.“ Er ging von Tisch zu Tisch, und jedes Mädchen griff in die Tüte und holte einen kleinen Streifen Papier her- aus. Nachdem alle Zettel verteilt waren, ging Mark zu Maria, die eine Tasche hinter der Theke hervorholte und Mark reichte. Mit der Tasche ging er zu seinem Tisch, öff- nete sie und holte einen dicken Packen Reisetickets heraus. „Los geht’s. Nummer 1: Helgoland.“ Ein Mädchen jubelte auf und kam schnell zu Mark, um sich ihr Ticket abzuholen. „Viel Spaß, Denise“, wünschte Mark. „Nummer 2: Borkum.“ Wieder ein Jubel. Und so ging es weiter. Schon lange, bevor alle Tickets verteilt waren, begann das Tauschen, bis so ziemlich alle Mädchen zufrieden mit ihrem Reiseziel waren. „Zwei Dinge noch zum Schluß“, verschaffte Mark sich mit lauter Stimme Gehör. „Erstens: diejenigen von euch, die nicht ihr Traumziel gewonnen haben, sollten versu- chen, trotzdem Spaß zu haben. Der Veranstalter, der uns diese Reisen geschenkt hat, schwört, daß ihr zufrieden sein werdet. Zweitens: wir haben im letzten Jahr mehr ge- spart als geplant, und so können wir aus unserer Kasse noch jedem einhundert Mark Urlaubsgeld mitgeben...“ Lauter Jubel unterbrach ihn. Mark grinste, und dieses Grin- sen ließ schnell wieder Ruhe einkehren. „Einhundert Mark extra Urlaubsgeld“, wie- derholte er, „neben dem, was der Veranstalter euch noch schenkt.“ Er machte eine Kunstpause. „Und zwar bekommt jede von euch satte fünfhundert Mark Taschen- geld!“ Angie und Katrin hielten sich die Ohren zu, als die Mädchen begeistert auf- schrien. Mark wartete, bis der Trubel sich gelegt hatte. „Gut. Heute nachmittag kommt ein Wagen des Veranstalters, der euch Reiseta- schen, Schirme, Shirts, Jacken und Kappen mit seinem Aufdruck übergeben wird. Die- se Dinger solltet ihr so oft wie möglich tragen; es ist zwar keine ausdrückliche Bedin- gung, aber es wäre eine nette Geste von uns, vor allem in Hinblick auf das nächste Jahr, wenn ich wieder um Urlaub für 80 Mädchen bettele und auf den Knien rutsche. Diejenigen, die uns nach dem Sommer verlassen, sollten fair sein und mitspielen. Ich weiß, daß es lästig ist, Werbeplakat zu spielen, aber tragt die Dinger einfach und denkt nicht dran, was draufsteht. Dann merkt ihr es auch bald gar nicht mehr. Und falls euch doch jemand quer ansprechen sollte, sagt einfach, daß ihr euren Urlaub geschenkt be- kommen habt. Das wird sie verstummen lassen und für Werbung sorgen. Sonntag morgen um sieben kommt ein Reisebus, der euch zum Bahnhof bringen und dort euren Reisebegleitern übergeben wird. Da ihr mindestens zu dritt in einer Gruppe seid, solltet ihr wohl klarkommen.“ Mark klappte seine Liste zu. „Dann mal schönen Urlaub!“
Sonntag vormittag. Der Reisebus war weg, voller fröhlicher und aufgeregter Mäd- chen, das Haus war leer, abgesehen von Mark und den vier Mädchen Angie, Katrin, Anita und Wencke. Inzwischen hatte Angie auch in Erfahrung gebracht, warum die beiden Mädchen hierbleiben wollten: sie würden spätestens im September ausziehen und wollten den Urlaub nutzen, um sich - mit Hilfe des Jugendamtes - eine Wohnung zu suchen. Da diese beiden schon achtzehn waren, ging Angie davon aus, daß sie die beiden nicht oft zu sehen bekommen würde, außer vielleicht zum Essen. Den Rest des Sonntags verbrachten alle fünf faul auf ihren Zimmern oder im Gar- ten, ab Montag brach dann der Ernst des Lebens wieder an. Anita und Wencke waren schon früh aus dem Haus, um sich Wohnungen anzusehen, Angie und Katrin gingen an eine Grundreinigung der Sporträume, wofür sie glatte vier Tage brauchten. Mark kümmerte sich um den Teich und den Garten sowie bestimmte kleinere Reparaturen, für die Angie und Katrin entweder von der Größe her nicht ausreichten oder körperlich zu schwach waren, um bestimmte Dinge zu heben oder festzuhalten. Donnerstag abend waren die Mädchen so kaputt, daß sie noch vor dem Abendessen ins Bett gin- gen und bis Freitag vormittag durchschliefen. Mark notierte für jede von ihnen 200 Punkte für diese immense Arbeit, die sie sehr sauber durchgeführt hatten. Am Freitag nachmittag ging Angie dann daran, eine neue Wäscherei zu finden. Zwar stieß sie bei ihren ersten Anrufen und der Frage, ob die Wäscherei groß genug wäre, um wöchentlich die Bettwäsche von ca. 80 Mädchen abzuholen, auf große Hei- terkeit und mußte oft genug ein zweites Mal anrufen, da einfach aufgelegt wurde, doch ihre Zähigkeit zahlte sich aus. Sie fand schließlich ein Unternehmen, das sofort jeman- den schicken wollte, um sich alles vor Ort anzusehen. Begeistert sagte Angie zu, dann kümmerte sie sich um eine Firma für die Instandhaltung der Zentralheizung. Bei der Eingabe der Rechnungen hatte sie bei der jetzigen Firma ein unbestimmtes Gefühl nach überhöhten Preisen, und sie verließ sich voll und ganz auf ihren Instinkt. Auch hier brauchte sie mehrere Anläufe bei ein- und derselben Firma, doch schließlich fand sie eine Firma, die am Montag jemanden schicken wollte. Befriedigt legte sie auf. „So“, murmelte sie vor sich hin und schaute auf ihre Liste. „Gleich der Wäsche- mensch, Montag um zehn der für die Heizung. Was fehlt noch? Hm... Fenster und Dach. Was war noch mal mit den Fenstern... Ach ja, in der 14 und 22, die schließen nicht...“ „Angie?“ Erschrocken blickte Angie auf und sah Anita und Wencke in der Tür ste- hen. „Wo ist Mark?“ „Keine Ahnung“, gab Angie zu. „Ich hab ihn schon eine Weile nicht mehr gesehen. Braucht ihr ihn, oder kann ich euch helfen?“ „Darfst du einen Mietvertrag unterschreiben?“ grinste Wencke. Angie starrte sie kurz an, dann klickte es. „Ihr habt ‘ne Wohnung?“ fragte sie begeistert und sprang auf. Die beiden erwachsenen Mädchen nickten. „Ja, und was für eine!“ „Ist ja toll“, freute Angie sich. „Wartet, ich rufe Mark.“ Sie ging zur Sprechanlage, drückte auf den Knopf für das ganze Haus und rief: „Mark! Notfall! Dringend ins Bü- ro!“ Grinsend setzte sie sich. Wenig später kam Mark atemlos angerannt und rannte beinahe in die beiden großen Mädchen hinein. „N’Abend“, begrüßte er sie knapp, dann blickte er zu Angie. „Was ist los? Was für ein Notfall?“ „Du mußt zwei Mädchen rausschmeißen“, grinste Angie. Mark starrte verständ- nislos. „Welche Mädchen? Wieso?“ Er drehte sich zu Anita und Wencke um. „Etwa euch?“ Die beiden nickten und grinsten breit. Mark brauchte ein paar Sekunden, dann klickte es auch bei ihm. „Ihr habt eine?“ fragte er begeistert. „Erzählt!“ Aufgeregt schilderten die Mädchen abwechselnd - und manchmal auch gleichzeitig - ihre neue Wohnung, zwei kleine mö- blierte Zimmer im Haus einer älteren Frau, für nur fünfhundert Mark im Monat plus Nebenkosten. Keine Kaution, keine Vermittlung, und der Mietvertrag würde über fünf Jahre laufen, ohne Mietsteigerung. „Ist ja fantastisch!“ rief Mark begeistert aus. „Mensch, habt ihr ein Glück! Wann könnt ihr einziehen?“ „Noch heute“, lachte Anita aufgeregt. „Und wann wollt ihr einziehen?“ grinste Mark. „Morgen früh“, gestand Wencke verlegen. „Wenn’s geht!“ „Sicher geht das, Kinder. Mann, was freu ich mich für euch!“ Neidisch sah Angie zu, wie Mark beide Mädchen kurz drückte, doch sie verstand ihn. Trotzdem war sie neidisch. „Ich mach dann schon mal die Unterlagen fertig“, warf Angie in die Unterhaltung ein. „Habt ihr eure Sparbücher bei euch, oder liegen die hier?“ „Die hat Mark“, sagte Anita. „Aber die brauchen wir erst morgen früh, Angie. Wir gehen jetzt erst mal feiern.“ „Lang und schmutzig“, grinste Wencke. „Sagt Werner. Wir sind gegen Mitternacht zurück, okay?“ „Dieses eine Mal“, schmunzelte Mark. „Dieses letzte Mal“, lachte Anita. „Bis später!“ Aufgeregt gingen sie wieder hin- aus. „Wie kommen die denn in die Stadt?“ fragte Angie. Mark sah angestrengt hinaus. „Taxi“, sagte er, dann ging er zu Angie. „Und wieder zwei weniger“, sagte er wehmü- tig. „Obwohl ich froh bin, daß sie jetzt auf eigenen Füßen stehen können, tut es doch jedesmal etwas weh.“ „Wie lange waren die denn hier?“ „Anita ist gekommen, als sie vierzehn war, Wencke war elf. Fast von Anfang an mit dabei.“ Er hing für einen Moment seinen Gedanken nach. „Wie auch immer. Machst du bitte die Formulare fertig, Angie? Dann können sie morgen schnell in ihre neue Wohnung.“ „Klar“, sagte Angie leise und dachte beklommen an einen bestimmten Tag in ihrer fernen Zukunft.
Eine halbe Stunde später stand Angie mit Frau Hamelen von der Wäscherei im Flur und ließ sich von Mark den Hauptschlüssel geben, damit die Frau sich einige Zimmer ansehen konnte. Angie führte sie hinauf und erklärte, um wieviel Stücke und welches Material sich handelte. „Die meisten Mädchen hier benutzen die Bettwäsche, die das Heim stellt“, sagte sie und schloß ihr eigenes Zimmer auf. „Das ist ganz normal Baumwolle, ebenso wie die Bademäntel und Handtücher. In jedem Zimmer sind zwei Satz Bettwäsche, vier Bademäntel, und um die zwanzig Handtücher.“ Konzentriert schrieb die Frau mit. „Und ihr habt wieviel Zimmer?“ „Vierzig. Einige Mädchen haben ihre eigene Bettwäsche, die kommt dann jeweils mit einem Namensschild. Die sollte auch möglichst nicht verwechselt werden, sonst gibt es hier Krieg. Material ist ebenfalls Baumwolle, oder Frottee. Manche sind bunt bedruckt, aber das sind die wenigsten.“ Angie sah auf ihre Liste. „Ja. Fünf Mädchen haben eigene bunte, und zwei haben eigene weiße Bettwäsche. Keine hat eigene Handtücher oder Bademäntel.“ „Sehr schön“, sagte die Frau und klappte ihr Notizbuch zu. „Wie läuft das bisher ab mit Abholung und Lieferung?“ „Abgeholt wird bisher jeweils Mittwoch vormittag, gegen elf. Zurückgebracht wird Freitag um die Mittagszeit. Müssen Sie noch andere Zimmer sehen?“ „Nein, ich glaube nicht. Stoffe wie Samt oder Seide sind nicht dabei?“ „Nicht bei uns“, schmunzelte Angie. „Soviel Geld haben wir nun auch wieder nicht.“ Sie gingen wieder hinunter in das Büro. Mark saß am Computer und tippte Briefe. Erstaunt sah er Angie an. „Mark, das ist Frau Roswitha Hamelen. Sie möchte uns ein Angebot machen für die Wäsche. Frau Hamelen, das ist Mark Behrens, unser Leiter.“ Die beiden begrüßten sich kurz, dann blickte Mark Angie bewundernd an. „Du verschwendest keine Zeit, was?“ „Wozu auch?“ grinste Angie. „Immerhin muß ich ja auch in der Bettwäsche schlafen.“ Sie führte Frau Hamelen zum Sofa, wo sie sich hinsetzten. „Also“, fragte Angie neugierig. „Was sagen Sie?“ Frau Hamelen blickte kurz und verwundert zu Mark, doch der schaute angestrengt auf den Bildschirm vor ihm und machte keinen Versuch, sich an dem Gespräch zu be- teiligen. Sie brauchte einen Moment, um sich zu fangen, dann war sie wieder ganz professionell. „Tja... was zahlt ihr denn im Moment?“ „Das gilt nicht“, lachte Angie und war wieder ganz das Kind. „Ich hab jetzt so viel von uns erzählt, jetzt sind Sie dran.“ Mark hustete kurz. „Hab mich verschluckt“, ent- schuldigte er sich. „Passiert mir auch manchmal. Hmm... Pro Woche 80 Bettgarnituren, 160 Bade- mäntel und 400 Handtücher, dazu die Nachthemden, Pyjamas und Kleider...“ Sie holte einen Taschenrechner aus ihrer Handtasche und rechnete kurz, doch Angie spürte, daß die Summen bereits feststanden. Sie spürte auch, daß in diesen Summen noch sehr viel Platz für Verhandlungen war. „Also: für die Bettwäsche komplett neun Mark pro Satz, je Bademantel fünf Mark, und je Handtuch zwei Mark. Ein Nachthemd drei Mark, Pyjama vier Mark, Kleid sechs Mark. Das wäre mein Angebot.“ Angie nickte. „Schade. Dann vielen Dank für Ihre Zeit.“ Sie stand auf. „Ist das zu teuer?“ fragte Frau Hamelen schnell. Angie nickte betrübt und setzte sich wieder. „Leider ja. Das meiste Geld fließt in die Ausbildung der Mädchen und in ihre Sparbücher, damit sie später mit möglichst viel Geld im Rücken dastehen, wenn sie hier ausziehen. Wir können für Bettwäsche nur sieben Mark zahlen, und für Bade- mäntel drei. Handtücher sind okay, obwohl unser Satz da bei 1,80 liegt. Das Nacht- zeug liegt auch eine Mark über dem, was wir bisher zahlen.“ „Ist doch lächerlich“, ereiferte Frau Hamelen sich. Angie genoß dieses Spiel; sie spürte, daß Frau Hamelen sich nicht wirklich aufregte, sondern daß das alles dazuge- hörte. „Also was glaubst du, wer wir sind? Die Wohlfahrt?“ Sie beruhigte sich schnell wieder. „Na gut, laß mich noch mal rechnen, aber viel weniger wird es nicht, obwohl... wenn man das auf das Jahr umrechnen würde, könnte ich es vielleicht vor meinem Chef verantworten, aber auf keinen Fall diese Beträge...“ „Ich habe etwas vergessen“, sagte Angie. „Die Wäsche muß nicht von Ihnen gebü- gelt werden, das machen wir hier.“ „Aha?“ sagte Frau Hamelen interessiert. „Dann können wir doch noch etwas dre- hen...“ Sie tippte wild auf die Tasten ein. Schließlich schüttelte sie den Kopf. „Tut mir leid“, sagte sie dann bedauernd. „Bettwäsche 7,20, Bademantel 3,70, Handtuch 1,90, Nachthemd 2,20, Pyjama 3,10, Kleid 5,40. Mehr ist nicht drin, oder ich verliere mei- nen Job.“ Angie überschlug schnell die Zahlen, verglich sie mit dem, was das Heim jetzt zahlte und nickte. „Gut, das hört sich fair an. Mark? Den Aufpreis kriegen wir doch genehmigt, oder?“ „Denke schon“, überlegte dieser. „Immerhin hatte die andere Wäscherei ja auch schon eine Erhöhung angekündigt, und daß wir diese Mengen selber waschen, ist ja überhaupt nicht machbar. Die Maschinen im Keller laufen mit der normalen Kleidung schon fast rund um die Uhr. Doch, Angie, das wird klappen. Ich kriege das schon durch.“ „Gut“, freute sich Angie. „Sind wir im Geschäft?“ „Nur, wenn dein Heimleiter den Vertrag unterschreibt“, sagte Frau Hamelen lä- chelnd. „Sonst ist er leider ungültig.“ „Mark?“ rief Angie. „Du wirst gebraucht!“
„Und? Wieviel haben wir gespart?“ Interessiert beugte sich Mark über das Blatt, auf dem Angie soeben die letzten Zahlen notierte. „Hab’s sofort... Da: 73,10 DM pro Woche weniger als bisher, und da diese Frau Hamelen auch für Hotels wäscht, wird unsere Wäsche wohl sauber ankommen.“ Angie lachte kurz auf. „’Job verlieren’. Pah! Wie kann die Inhaberin rausgeschmissen wer- den?“ „Inhaberin?“ „Hier!“ Angie zeigte Mark das Inserat im Telefonbuch. „Großwäscherei Hamelen. Für die Tochter des Hauses war sie doch wohl etwas zu alt.“ „Alt?“ sagte Mark gekränkt. „Angie, die war in meinem Alter!“ „Mein ich doch“, grinste Angie frech. „Du rufst ja auch nicht deinen Papi an, wenn du etwas entscheiden mußt. Oder doch?“ „Du freche Göre!“ lachte Mark. „Komm sofort her zu mir!“ „Nö!“ Lachend rannte Angie raus. Grinsend sah Mark noch einmal auf die Kalku- lation. Angie hatte durch die neue Firma dem Heim 3800 DM im Jahr erspart. ‘Was für ein Mädchen!’ dachte er bewundernd. ‘Was für ein Mädchen!’
* * *
Als das Telefon in dieser Nacht klingelte, war Angie schneller wach als Katrin. Schnell griff sie nach dem Handgerät und meldete sich. „Jugendhilfe Behrens.“ Sie lauschte angestrengt, dann schaltete sie die Lampe auf ihrem Nachttisch an und griff nach Papier und Kuli. „Natürlich helfen wir dir, keine Frage“, sagte sie sanft. „Wein dich ruhig aus, dann sprich weiter. Wie heißt du?“ Sie notierte. „Gut, Frauke, wein dich erst mal aus, dann reden wir weiter. Mach dir keine Sorgen mehr.“ Für eine Weile hörte Angie nur bitterliches Weinen, das ihr fast das Herz zerriß. Noch bevor diese Frauke überhaupt von sich erzählte, wußte Angie schon, was mit ihr war. Ihr Gespür verfeinerte sich von Tag zu Tag. Sie warf einen Blick auf Katrin, die wieder tief und fest schlief. Schließlich hatte sich das Mädchen am anderen Ende soweit beruhigt, daß Angie sie ausfragen konnte. Schnell hatte sie erfahren, was sie wissen mußte. „Okay, Frauke. Bleib, wo du bist. Es kommt dich jemand abholen. ... Nein, das passiert nicht. Wenn die Grünen dich ausfragen, zeig ihnen den Zettel mit unserer Nummer und sag ihnen, daß du abgeholt wirst, dann passen sie sogar noch auf dich auf. Kannst du dir die Worte ‘Blauer Regen’ merken? Die Frau, die dich abholen kommt, fragt dich danach, damit du sicher bist, daß sie von uns kommt. ... Genau. Nur zur Sicherheit. Wenn dich jemand mitnehmen will, ohne dich nach dem Kodewort zu fragen, schrei, so laut du kannst, und lauf weg. ... Ja, sie fährt gleich los und wird in etwa dreißig Minuten bei dir sein. Hältst du noch solange durch? ... Bist sehr tapfer, Frauke. Mach dir nicht mehr soviel Gedanken, bald bist du sicher. ... Ja, ich werde da sein. Du kommst direkt zu uns hier. ... Natürlich haben wir was zu essen. Und zu trinken. Und ein schönes Zimmer für dich, wenn du hierbleiben willst. Oder willst du wieder nach Hause? ... Kann ich mir denken, würde ich auch nicht. Also gut, Frauke. Ich muß jetzt auflegen, damit ich die Frau anrufen kann, die dich abholt. Wenn du soviel Angst hast, kannst du gleich noch mal anrufen, in fünf Minuten oder so, dann quatschen wir noch, bis sie da ist. ... Nein, bestimmt nicht. Bis gleich, Frauke. Bleib aufrecht!“ Angie drückte eine Taste und wartete, bis am anderen Ende abgenommen wurde. „Miriam? Tut mir leid, dich zu wecken. ... Ja, ziemlich dringend, wie immer. Ein Mädchen, Frauke Meier, 12, braune Augen, braune Haare, lang und gelockt, trägt ein zerrissenes T-Shirt und Jeansshorts, keine Schuhe. Wartet in ... am Bahnhof auf dich. Schaffst du das in einer halben Stunde? ... Ja klar, dumme Frage. So wie du fährst... Nein, keine Kritik, nur Lob. ... Ja, sie kommt zu uns. ... Blauer Regen. ... Nein, ich bleibe wach. Ich denke, daß sie gleich nochmal anrufen wird. Sie hat Angst bis oben- hin. ... Okay, bis gleich dann. Danke, Miriam.“ Angie stand schnell auf, nahm das Handgerät mit und lief hinauf in das Dachgeschoß, wo Mark sein kleines Zimmer hat- te. Leise klopfte sie an. „Komm rein“, hörte sie seine Stimme. Angie trat ein. „Mark, wir bekommen gleich Besuch“, sagte sie. Mark setzte sich auf und schaltete das Licht an. „Was ist mit ihr?“ „Anscheinend hat sie heute“ - Angie sah auf die Uhr: fast halb zwei - „nein, hatte gestern Geburtstag, wurde 12, und alle Onkels haben ihr gezeigt, wie es geht.“ Wü- tend setzte Angie sich auf Marks Bett. „Vergreifen die sich denn an immer jüngeren Mädchen, verdammt?“ „Leider ja“, antwortete Mark. „Vor zehn Jahren lag das Durchschnittsalter bei mißbrauchten Mädchen noch bei 14,3 Jahren. Letztes Jahr waren es 12,9 Jahre. Ten- denz fallend.“ Er warf einen kurzen Blick auf Angie, die nur ein kurzes, dünnes Nachthemd anhatte. „Du solltest dir mehr anziehen, Angie“, sagte er ohne Vorwurf. Angie winkte ab. „Sieht doch keiner.“ „Wann kommt sie?“ Mark hatte kein Interesse, um diese Uhrzeit über Angies Nachthemd zu diskutieren. Er lenkte seinen Blick auf ihre Augen. „Miriam holt sie in knapp 30 Minuten ab, dann nochmal 50 Minuten bis hier... Ge- gen drei, schätze ich.“ „Halb drei“, gähnte Mark. „Miriam kennt keine Gnade, wenn es um mißbrauchte Mädchen geht. Außerdem ist sie NA.“ „NA? Was ist das denn?“ fragte Angie erstaunt. „Nicht Aktiv“, schmunzelte Mark. „Ein weiterer Vorteil unserer sehr guten Zu- sammenarbeit mit den Behörden. Sie kann durch jede Radarfalle mit über 200 jagen, aber ihr Kennzeichen - so wie die aller Helfer - wird nicht verfolgt. Das heißt, sie be- kommt erst mal keine Anzeige. Allerdings muß sie anhand ihres Fahrtenbuches nach- weisen, daß sie für uns unterwegs war, sonst wird’s sehr teuer. Und natürlich darf sie den übrigen Verkehr in keinster Weise gefährden.“ „Kapiere“, sagte Angie und schaute ihr Handgerät an. „ Deswegen notieren wir immer die Zeit der Anrufe und wer das Kind abholt, richtig? Kommst du gleich run- ter?“ „Sicher. Ich zieh mir eben was an. Und das solltest du auch tun, junge Dame. Es gehört sich nicht, das Zimmer eines Herrn in einem durchsichtigen Nachthemd zu be- treten.“ „Das ist doch nicht durchsichtig!“ protestierte Angie verlegen und stand auf. „Wenn du im Licht stehst und ich im Dunklen bin, dann ist es durchsichtig“, sagte Mark ruhig. „Jetzt geh bitte und zieh dir was über, Angie.“ Mit hochrotem Kopf stand Angie auf und rannte hinaus. Mark schüttelte milde lächelnd den Kopf, dann stand er auf und zog sich schnell leichte Sachen an, dann ging er die Treppen hinunter. Auf der ersten Etage traf er Angie, die gerade aus ihrem Zimmer kam. Wie er hatte sie nur ein T-Shirt und eine kurze Hose an. Im Sommer war das Haus wegen seiner dicken Mau- ern wie ein Backofen. War die Hitze erst mal drin, blieb sie auch dort. Im Winter je- doch half es, Heizkosten zu sparen. Angie hatte das Handgerät am Ohr und redete mit jemandem. „Nein, Frauke, das geht schon alles in Ordnung. Ist er jetzt bei dir? ... Prima, sagte ich doch. Wenn der einen deiner Onkels sieht... Genau. Bleib bei ihm, dann passiert dir nichts. Die Frau - sie heißt Miriam - ist schon unterwegs zu dir.“ Vorsichtig ging sie mit Mark die Treppe hinunter und setzte sich mit ihm in das Büro. „Ein Schupo ist bei ihr“, flüsterte sie Mark schnell zu. „Der paßt auf sie auf, bis Miriam da ist.“ Sie konzentrierte sich wieder auf das Mädchen. „Du hörst dich schon viel besser an, Frau- ke. Geht’s dir gut soweit? ... Was war das denn? Lachen und Weinen gleichzeitig? ... Nein, ich will dich nur ablenken, Frauke. Ich mache mich nicht lustig über dich, großes Ehrenwort.“ Fasziniert schaute und hörte Mark Angie zu. Jedesmal, wenn sie am Te- lefon war, spürte Mark ihren Einfluß: beruhigend, aufbauend, beschützend. Kein Wunder, dachte er amüsiert, daß sie dieses Mädchen schon fast zum Lachen brachte. ‘Was berührt mich nur so an ihr?’ überlegte Mark. ‘Sie ist ein Mädchen wie alle anderen, etwas fleißiger vielleicht als viele, sozial orientiert, aber das waren andere vor ihr auch. Vielleicht nicht in diesem Maß, aber immerhin.’ Sein Blick glitt über Angie, die jetzt schon regelrecht mit dieser Frauke scherzte und lachte. ‘Sie hat zugenom- men’, dachte Mark. ‘Als sie hier ankam, sah sie neben Jana aus wie ein dünner Stock im Wald. Und heute ist sie schlank und gut genährt und sieht sogar besser aus als Jana, die sie im letzten Jahr noch in den Schatten stellte. Liegt das in ihrer Figur? Nein. An ihren Augen. Und an ihrer Persönlichkeit. Dreizehn. Kann ein Mädchen in diesem Al- ter schon so etwas wie Charisma haben? Anscheinend ja. Und ich hab sie verdammt gern. Mehr als gern.’ Angie bemerkte Marks Blick und hielt ihm lächelnd stand. Ein Kribbeln machte sich in Marks Eingeweiden bemerkbar. Hastig sah er weg, doch im letzten Moment bekam er noch mit, daß Angie rot wurde und ebenfalls wegsah. ‘Jetzt ganz sachte’, ermahnte er sich. ‘Fang hier keine verrückten Dinge an, Mark Behrens!’ Er zwang sich, wieder dem Telefonat zuzuhören. „Ja, Frauke, das ist sie. Jetzt hast du es geschafft, jetzt wird dir niemand mehr wehtun. ... Bis gleich, Liebes.“ Sie drückte eine Taste und steckte das Handgerät zurück in die Tasche ihrer Hose. „Geschafft“, sagte sie erleichtert. „Sie kommt gleich.“ „Komm mal bitte her, Angie“, bat Mark sanft. Angie sprang auf und eilte zu ihm. „Angie, woher nimmst du diese Energie? Es ist zwei Uhr morgens, und du bist topfit. Wie schaffst du das?“ „Keine Ahnung“, gab Angie zu und lehnte sich leicht an Mark. „Das ist wie... wie Feueralarm. Sobald das Telefon klingelt, denke ich nur noch, daß da jemand Hilfe braucht, und ich bin voll da. Ist das schlimm?“ fragte sie besorgt. Mark legte einen Arm um sie. Angie drückte sich an ihn. „Nein, das ist nicht schlimm, Liebes. Möchtest du ins Bett, oder willst du auf Frau- ke warten?“ „Ich warte!“ antwortete Angie halb entrüstet. „Soll ich die Ärztin anrufen?“ „Weiß ich nicht, Angie. Glaubst du, daß es nötig ist?“ „Nanu?“ lachte Angie. „Höre ich da Vertrauen in mein Gefühl?“ „Sogar sehr viel Vertrauen“, schmunzelte Mark. „Sag: ist es nötig?“ Angie über- legte kurz, dann schüttelte sie bedächtig den Kopf. „Nein, ist es nicht. Aber sie muß dringend duschen oder baden, und was essen. Aber vor allem Zähne putzen.“ Sie sah Mark mit Schmerz in den Augen an. „Sie braucht einen anderen Geschmack im Mund.“ Mark schloß kurz die Augen. Angie spürte seine aufflammende Wut. „Gut“, sagte er schließlich und holte einen Schlüssel aus seinem Schreibtisch. „Angie, sei so lieb und geh in die Küche, ja? Dort findest du eine Tür, direkt neben dem großen Backofen. Schließ sie auf und hol alles, was sie braucht.“ „Tür? Backofen? Da war ich noch nie. Ist da denn noch ein Raum?“ „Hm-m, sowas wie ein kleines Lager. Für Notfälle. Bisher hab ich die Sachen für neue Mädchen immer selbst herausgeholt, aber...“ Er sah Angie nachdenklich an und streichelte kurz ihren Rücken, dann nahm er seinen Arm weg. „Ich denke, daß du reif genug bist, daß du weißt, was sie brauchen könnte. Den Schlüssel kannst du behalten, ich habe auch noch einen.“ „Danke!“ antwortete Angie überwältigt. Sie gab Mark einen Kuß auf die Wange. „Ich werd dich nicht enttäuschen.“ Sie rannte los. „Das weiß ich, Angie“, sagte er leise.
Angie fand den kleinen Raum schnell. Sie öffnete die Tür, schaltete das Licht ein und blieb staunend stehen. Der Raum - etwa zwei Meter breit und vier Meter lang - war voller Regale, in denen von Handtüchern über Seife und Zahncreme bis zu Medi- kamenten und Verbandsmaterial alles mögliche gelagert war. Sie schluckte, als sie er- kannte, wie sehr Mark ihr vertraute. Allein für die hier gelagerten Medikamente wie Schlaftabletten, Schmerzmittel und Beruhigungspillen würde sie von manchen Mäd- chen viel Geld bekommen können. Schnell überflog sie die Sachen, dann nahm sie eine Zahnbürste, Zahncreme, etwas Verbandszeug und Wundcreme sowie eine Packung Slipeinlagen. Sie überlegte kurz, dachte an Frauke, dann griff sie noch nach einer klei- nen Packung Schmerzmittel. Ihr Gespür sagte ihr, welche sie nehmen sollte. Ihr inzwischen geschulter Verstand notierte, hier ebenfalls eine Bestandsaufnahme zu machen und mit Mark und der Ärztin abzugleichen, denn daß dieser Raum nur von den beiden Erwachsenen verwaltet und genutzt wurde, war ihr sofort klar. Sie schal- tete das Licht wieder aus, schloß die Tür und verriegelte sie sorgfältig, dann lief sie zu Mark zurück und legte die Sachen auf den Tisch vor ihm. Mark sah die Schmerz- tabletten und schaute Angie fragend an. „Sagt mein Gefühl“, erklärte sie nur. Mark griff nach der Packung, öffnete sie und las den Beipackzettel, dann nickte er. „Kann auf keinen Fall schaden. Ist dir aufgefal- len, ob etwas fehlt oder nachbestellt werden muß?“ „Weiß nicht“, überlegte Angie. „Wozu ist der Raum denn genau?“ „Zum einen lagert Doktor Siebner ihr Material darin, was sie nicht dringend im Untersuchungsraum benötigt. Zum anderen bewahre ich dort alles auf, um ein Zimmer mit der Erstausstattung zu versehen. Zum Beispiel morgen. Nein, nachher“, verbes- serte er sich schmunzelnd. „Nachher werden Anita und Wencke ausziehen. Sobald sie draußen sind, wird sämtliche Wäsche entfernt und für die Reinigung eingepackt, dann wird das Zimmer mit den Sachen aus dem Lager neu ausgestattet. Sobald die alten Sa- chen aus der Reinigung kommen, packe ich sie wieder ins Lager.“ „Deswegen war die ganze Wäsche in Plastikfolie eingepackt“, überlegte Angie. „Klar, kapier ich.“ Sie schaute Mark an. „Darf ich den Schlüssel wirklich behalten, Mark?“ „Ja, Angie. Solltest du mich enttäuschen, lag der Fehler bei mir, und nicht bei dir.“ „Das werd ich nicht, Mark.“ Sie blickten sich lange an. Mark sah zuerst weg. „Gut. In welches Zimmer bringst du sie?“ „Heute nacht schläft sie in meinem Bett, und morgen... Welches Zimmer haben Anita und Wencke?“ „Die 3. Dann sind noch frei die 39 und die 40.“ „Dann bekommt sie die 3. Oder ist noch ein Mädchen alleine?“ „Ja, aber Thea ist 17, wird im Oktober 18. Ich weiß nicht, ob das gut ist.“ „Nee, dann kommt sie in die 3. Soll ich schon alles vorbereiten?“ fragte Angie eif- rig. Mark lachte. „Langsam, Angie. Laß Anita und Wencke erst mal ausziehen, dann darfst du losle- gen.“ Angie grinste verlegen und zog kurz den Kopf zwischen die Schultern. „Schon gut.“ Sie lief zu dem Schrank mit den Getränken. „Möchtest du auch was? Mein Mund ist ganz trocken.“ „Ja, ein Wasser, bitte. Angie, nimm dir irgendwas, aber bitte keine Cola. Sonst kannst du gar nicht mehr schlafen.“ „Okay.“ Mit zwei Gläsern und einer Flasche Wasser kam sie zurück. Sie schenkte erst Mark ein, dann füllte sie ihr Glas. „Mark, wo bekommen wir eigentlich die ganzen Lebensmittel her?“ Mark trank einen Schluck, dann antwortete er Angie. „Die Getränke und Lebens- mittel kommen von einem Großhandel. Der beliefert zwar eigentlich keine Privatkun- den, aber da wir ein Verein sind und die Getränke und Speisen den Mädchen gewis- sermaßen in Rechnung stellen“ - er zwinkerte Angie zu - „gelten wir als Wiederver- käufer und können so wesentlich günstiger einkaufen. Warum fragst du? Du hast doch die Rechnungen gesehen, Angie.“ „Schon, aber ich hab mich nicht für die Firmen interessiert, sondern nur, wofür die Rechnung war. Wie gehst du vor, wenn du so eine Firma ansprichst?“ Mark und Angie unterhielten sich über die Führung des Heims, bis es an der Haustür klingelte. Mark schaute auf den Monitor, dann öffnete er das Tor. Angie stand bereits an der Haustür und öffnete sie. Miriam fuhr vor, hielt den Wagen an und stieg aus. Sie lief um den Wagen herum und half Frauke beim Aussteigen, dann führte sie das weinende Mädchen herein. „Hallo, Frauke“, begrüßte Angie das Mädchen. Frauke hatte weder eine Tasche noch einen Koffer bei sich. Sie war ein paar Zentimeter kleiner als Angie, aber kräfti- ger gebaut. Angie bemerkte einige rote Striemen in ihrem Gesicht. ‘Ohrfeigen’, dachte sie wütend. Frauke trug ein blaßrotes T-Shirt, das zerrissen war, und Jeansshorts, an der der oberste Knopf fehlte. Das Mädchen war barfuß. Diese Musterung dauerte nur eine Sekunde. Das Mädchen sah auf, als es Angies Stimme hörte. „Hab ich - hab ich mit dir telefoniert?“ Angie nickte leicht. Frauke lief zu ihr und klammerte sich an sie. Angie umarmte und tröstete sie, dabei führte sie das Mädchen in das Büro, während Mark und Miriam noch kurz miteinander redeten, dann kam Mark dazu. Mark merkte schnell, daß Frauke kaum zusammenhängend reden konnte, deshalb warf er Angie einen kurzen Blick zu. Angie verstand und nahm Frauke mit in die Kü- che, wo sie ihr schnell zwei Brote machte, die das Mädchen gierig verschlang und mit viel Milch herunterspülte, dann ging Angie mit ihr auf ihr Zimmer und steckte sie in die Wanne. Als Frauke sauber war, gab Angie ihr die Wundcreme, die Frauke sofort auftrug, anschließend putzte sie sich ausgiebig die Zähne, bis sie den widerwärtigen Geschmack im Mund losgeworden war. Dann steckte Angie sie in ihr Bett, legte sich dazu und nahm das Mädchen in den Arm, bis es schluchzend eingeschlafen war.
* * *
Obwohl Angie nur wenig geschlafen hatte, wachte sie doch fast zur gewohnten Zeit auf. Sie fühlte sich zwar noch etwas müde, doch zum Weiterschlafen war sie zu wach. Zärtlich blickte sie Frauke an, die eingerollt schlief. Sie strich ihr sanft über die Haare, dann stand sie vorsichtig auf und ging zu Katrin. „Katrin?“ Sie schüttelte ihre Freundin sanft an der Schulter. „Katrin, aufwachen!“ Murrend schlug Katrin die Augen und blinzelte. „Was denn los?“ „Könntest du in meinem Bett weiterschlafen? Wir haben Zugang.“ Katrin stützte sich auf ihren Ellbogen und sah zu Angies Bett. Dann gähnte sie ausgiebig und lächelte Angie an. „Lieb von dir“, sagte sie zuckersüß. „Mich zu wecken, damit ich weiter- schlafen kann.“ „So bin ich zu dir“, grinste Angie und half Katrin, aufzustehen. „Wie eine Mutter.“ Katrin stieg vorsichtig in Angies Bett und mummelte sich ein. „Dann bring mir heute Frühstück ans Bett, Mutti“, murmelte sie, schloß die Augen und schlief weiter. Grin- send zog Angie die Sachen an, die sie schon letzte Nacht getragen hatte, dann ging sie leise hinaus und eilte in die Küche, um sich Frühstück zu machen. Als sie ihr letztes Brot auf hatte, kam Mark herein. „Angie?“ sagte er verblüfft. „Es ist noch nicht mal sieben! Was machst du denn schon so früh auf?“ „Konnte nicht mehr schlafen“, sagte Angie wahrheitsgemäß. „Soll ich dir Früh- stück machen?“ „Bin ich schon so alt, daß du mir helfen mußt?“ grinste Mark. „Nein!“ erwiderte Angie verlegen. „Ich dachte, ich - könnte dich verwöhnen.“ „Dann verwöhn mich mal mit zwei Toasts.“ „Kommen sofort“, strahlte Angie und lief in die Küche. Wenige Minuten später kam sie mit einem Teller zurück und stellte ihn vor Mark hin. „Was möchtest du trin- ken?“ „O-Saft, bitte. Dann setz dich zu mir, oder hast du was vor?“ „Nein“, sagte Angie und füllte zwei Gläser mit Orangensaft, dann setzte sie sich zu Mark, der herzhaft in den ersten Toast biß. „Sind Anita und Wencke schon wach?“ „Und wie!“ grinste Mark. „Ich schätze, die werden gleich auftauchen.“ „Ab wann können die denn in ihre Wohnung?“ „Wencke sagte, ab neun Uhr. Ich wette, die können nicht stillsitzen vor Unge- duld.“ „Kann ich mir denken“, sagte Angie leise und dachte voller Unbehagen an den Tag, an dem sie das letzte Mal hier sitzen würde. Nicht, daß sie Angst vor der Welt hatte. Nein, das hatte einen anderen Grund. „Hallo“, sagte Mark leise und legte eine Hand auf ihre Schulter. „Angie, nicht! Bis dahin ist noch so lange, wer weiß, was bis dahin alles passiert.“ Angie blickte auf. „Kannst du Gedanken lesen?“ „Nein“, lachte Mark leise. „Aber ich kenn dich inzwischen ganz gut.“ Er legte sei- nen Zeigefinger unter ihr Kinn und streichelte die Stelle unter ihren Lippen leicht mit dem Daumen. „Denk nicht soviel nach“, sagte Mark leise. „Laß es einfach auf dich zukommen, okay?“ „Okay“, antwortete Angie mit einem dünnen Lächeln. Sie griff nach Marks Dau- men und gab ihm einen leichten Kuß darauf, dann sprang sie auf. „Hab noch was zu tun“, rief sie und rannte hinaus.
„Ob die sich wirklich melden?“ fragte Angie, als das Taxi mit Anita und Wencke das Grundstück verließ. Mark nickte leicht. „Ja, am Anfang tun sie das. Dann läßt es schnell nach, wenn sie neue Freunde finden, und plötzlich hört es auf. Das mußt du verstehen, Angie“, sagte Mark sanft. „Die Jahre hier sind ein Teil des Lebens, den die Mädchen nun hinter sich haben. Sehr viele gute Erinnerungen, aber auch viele schlechte sind mit dem Heim verbunden, und die Mädchen haben jetzt ein neues Leben vor sich. Ich kann ihnen deswegen nicht böse sein.“ Er lächelte Angie zu. „Das beste Mittel gegen trübe Gedanken ist Arbeit. Gehen wir an die Nummer 3?“ Angie nickte fröhlich. „Machen wir! Ich hol die neuen Sachen aus dem Lager, okay?“ „Warte, ich helf dir, sonst wird es zu viel.“ Mark hatte recht. Zwei Sätze Bettwä- sche, vier Bademäntel und zwanzig Handtücher hatten doch ein ansehnliches Gewicht. Dazu kamen Nachthemden, Pyjamas und Kleider. Sie trugen die Sachen hoch, dann wurden Wohnraum und Bad gründlich saubergemacht. Schließlich waren die alten Sa- chen in zwei großen Plastikbeuteln verstaut. „Danke, Angie“, lächelte Mark. „Jetzt kümmere dich mal wieder um Frauke, viel- leicht ist sie schon wach.“ „Mach ich.“ Angie drückte Mark kurz. „Daran könnte ich mich gewöhnen“, schmunzelte sie, dann ließ sie ihn los und lief in ihr Zimmer. ‘Ich fürchte, ich auch’, dachte Mark besorgt und brachte die Beutel hinunter.
Angie kam genau rechtzeitig in ihr Zimmer. Als sie eintrat, war Katrin im Bad, und Frauke räkelte und streckte sich gerade. Angie ging zu ihr und setzte sich auf das Bett. „Morgen“, sagte sie munter. „Gut geschlafen?“ „Ganz toll!“ strahlte Frauke, setzte sich auf und umarmte Angie herzhaft. „Vielen, vielen Dank für deine Hilfe... äh, wie heißt du nochmal? Ich hab’s vergessen.“ „Nicht schlimm“, lachte Angie. „Ich heiße Angela, aber man nennt mich Angie.“ „Danke, Angie, daß du mir so toll geholfen hast. Ich wußte wirklich nicht, wohin.“ „Deshalb haben wir überall die Zettel liegen“, schmunzelte Angie. „Damit Mäd- chen wie du wissen, wo sie Hilfe bekommen. Hungrig?“ „Wie ein Wolf“, seufzte Frauke. „Ich hab aber nichts anzuziehen!“ „Wir aber“, lachte Angie und ging zu ihrem Schrank. „Hier, bis zum Frühstück wird das reichen.“ Sie warf Frauke ein langes T-Shirt zu. „Was machen deine Wun- den?“ „Fühlt sich schon besser an“, lächelte Frauke und zog schnell das T-Shirt über. „Die Creme wirkt gut.“ „Soll sie auch. Sei so lieb und wasch dich da immer, wenn du auf Toilette warst, und trag dann etwas von der Creme auf. Auch innen.“ „Mach ich“, antwortete Frauke verlegen und stand auf. „Was gibt’s denn zum Frühstück?“ „Was du möchtest. Komm mit, ich zeig’s dir.“ Sie nahm das Mädchen an die Hand und ging mit ihr in den Essensraum. „Normalerweise ist es hier voller“, lächelte sie. „Mit dir haben wir jetzt 74 Mädchen hier, aber die anderen sind im Moment in Ur- laub.“ „Die sind auch alle abgehauen?“ staunte Frauke und setzte sich an einen Tisch na- he der Theke. „Alle abgehauen“, bestätigte Angie. „Und alle aus dem gleichen Grund wie du.“ Sie lächelte Frauke zu. „Und ich. Was möchtest du? Graubrot? Toast? Brötchen?“ „Zwei Scheiben Graubrot, mit Fleischwurst, bitte.“ „Schon in Arbeit.“
Nach dem Frühstück versammelten sich Angie, Frauke und Mark in seinem Büro. Wieder bewunderte Angie Marks „Verwandlung“ von einem lockeren, fröhlichen Freund in den liebevollen Beschützer, der für jedes Problem Verständnis hatte. Ihr ent- ging völlig, daß sie sich in gleichem Maße veränderte, wenn sie mit jemandem redete, der Probleme hatte. „So, Frauke“, sagte Mark sanft. „Als erstes: möchtest du wieder nach Hause?“ „Auf keinen Fall!“ rief das Mädchen erschrocken. „Nie wieder!“ Sie fing an, zu weinen. „Ich will nicht mehr dahin.“ „Schon gut, Frauke“, tröstete Angie das Mädchen. „Mark muß das fragen, weil wir mit dem Jugendamt zusammenarbeiten.“ „Schon gut“, schniefte das Mädchen. „Ich will hierbleiben!“ „Kannst du auch“, lächelte Mark. „Dein Zimmer ist schon fertig, Angie und ich haben es schon vorbereitet. Möchtest du erzählen, was dir passiert ist?“ Angie flüsterte ihr etwas zu. Frauke nickte. „Ja.“ Sie zog die Nase hoch. „Ich wohne seit drei Jahren bei meinem Onkel. Meine Eltern sind tot. Gestern hatte ich Geburtstag, und mein Onkel hat eine Feier für mich gemacht, eine richtig schöne, mit all meinen Freundinnen und Freunden.“ Das Telefon klingelte. „Einen Moment, bitte“, bat Mark und meldete sich. „Ja?... Oliver, hallo! Wie geht’s? ... Ja, mir auch, danke. Was kann ich für dich tun? ... Aha... Ja, sie ist hier. Ge- stern nacht gekommen, um halb drei. ... Das übliche, Oliver. ... Ja, denke ich schon. Sobald ich alles weiß, geht es auf dem gewohnten Weg weiter. ... Natürlich, ihr als erste. ... Alles klar, bis dann.“ Er legte auf und schaute Frauke an, die ihn erschrocken ansah. „Keine Sorge, Frauke, das war nur die Polizei. Dein Onkel sucht dich, aber hier wird er dich nicht wegholen können. Nicht, wenn du hierbleiben willst. Erzähl weiter.“ Erleichtert setzte Frauke ihre Geschichte fort. „Nach der Feier, so gegen neun, waren alle weg, und mein Onkel und ich haben aufgeräumt. Dann klingelte es, und ein paar von seinen Freunden kamen rein.“ Sie weinte wieder. „Sie - sie haben mich ausgezogen, obwohl ich mich gewehrt habe, und - und auf den Tisch gelegt und dann - und dann...“ Sie klammerte sich wieder an Angie fest. „Schon gut, Frauke“, flüsterte Angie und streichelte das Mädchen zärtlich. „Wein dich aus, das hilft.“ Sie warteten geduldig, bis Frauke sich wieder gefangen hatte. „Frauke“, sagte Mark dann in seiner sanften Stimme, „wir melden dem Jugendamt, daß du bei uns wohnst und hierbleiben willst, ja? Dazu brauche ich aber deinen Namen und deine Adresse. Hast du Angst, daß dein Onkel dich später mal finden könnte?“ Frauke nickte ängstlich. „Gut. Dann darfst du dir einen neuen Namen aussuchen, ge- nau wie Angie.“ „Neuen Namen?“ Verwirrt sah Frauke zu Angie. „Angie ist gar nicht dein richtiger Name?“ „Doch“, lachte Angie. „Seit ich hier bin. Frauke, wenn du einen neuen Namen hast, wird dein Onkel dich nie finden. Wär doch toll, oder?“ Zögernd nickte das Mädchen. „Doch, das wär schön. Kann er mich dann wirklich nicht finden?“ „Wie denn?“ lächelte Mark. „Er sucht nach Frauke, aber du heißt Anne oder Sabi- ne oder Yvonne oder so.“ Verstehen zog über Fraukes Gesicht. „Doch“, sagte sie entschlossen. „Das mach ich.“ „Gut, dann komm bitte zu mir und such dir einen neuen Namen aus.“ Wenig später war Frauke Meier verschwunden. Sie existierte nicht mehr. Dafür wurde Yvonne Fernes geboren.
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„Angie“, seufzte Mark und versuchte, Angies Griff zu lösen, mit dem sie ihn um- klammert hielt. Unruhig rutschte er auf seinem Stuhl hin und her, doch Angie folgte seinen Bewegungen, ihre Wange an seine Schulter gelehnt. „Wir müssen uns einmal ernsthaft über dein Schmusebedürfnis unterhalten.“ „Warum?“ fragte Angie in aller Unschuld. „Ist das denn so schlimm für dich?“ „Ja. Nein. Darum geht es doch gar nicht, Angie.“ Um aus Angies Griff zu ent- kommen, hätte Mark Gewalt anwenden müssen, und das wollte er nicht. Er entschloß sich, teilnahmslos zu sein. „Worum geht es denn dann?“ „Das hab ich dir doch schon erklärt. Erstens darf ich das nicht, und zweitens will ich das nicht.“ „Warum nicht?“ „Du weißt, warum ich es nicht darf, Angie. Ich bin erwachsen, und ihr...“ „Nein, warum du es nicht willst. Tu ich dir weh?“ „Nein. Ich will es nicht, weil... Nun, weil es nicht gut ist.“ „Mir tut es gut“, schmunzelte Angie. „Mark, ich weiß, daß du lieb bist und mir nichts tust. Laß mich doch noch. Nur ein bißchen, ja? Mußt ja nicht mitmachen, wenn du nicht willst.“ „Das hab ich auch nicht vor.“ Marks Stimme klang eisig, seine Hände fielen zu beiden Seiten des Stuhls herunter. ‘Und ich krieg dich doch noch’, dachte Angie. ‘Lange halt ich das nicht mehr aus’, dachte Mark frustriert. ‘Ich möchte ihr so gern zeigen, daß ich sie auch lieb hab, aber ich darf sie nicht bevorzugen. Ich darf es nicht!’ Er seufzte innerlich, weil Angie ihn nicht losließ. Schließlich siegte seine Gutmütig- keit. Er legte eine Hand auf ihren Rücken, die andere in ihren Nacken und drückte sie leicht an sich. Angie schmunzelte unmerklich. Sie wollte Mark nicht aufregen, sie wollte einfach in seiner Nähe sein, ganz nah bei ihm, um ihm zu zeigen, wie gern sie ihn hatte. Mehr nicht. Sie sagte kein Wort, sonnte sich still in dem Gefühl seiner Hände, die langsam und leicht über ihren Nacken und den Rücken strichen. ‘Vielleicht sehe ich das alles zu eng’, überlegte Mark. ‘Angie weiß, wann sie Ab- stand halten muß; bisher wollte sie nur schmusen, wenn niemand in der Nähe war und keine Gefahr bestand, daß jemand uns sehen könnte. Und trotzdem, ich sollte es nicht tun.’ Angie spürte, wie Marks Widerstand langsam schmolz. Zufrieden mit sich, drückte sie ihn ein letztes Mal, dann ließ sie ihn los. „Danke“, strahlte sie ihn an. „Das hat echt gutgetan. So. Was machen wir jetzt?“ „Viel zu tun ist nicht mehr“, überlegte Mark. „Die Mädchen sind in Urlaub, Katrin lernt für die Schule, Yvonne verarbeitet. Die Zimmer sind soweit in Ordnung, bis auf... Richtig! Angie, was ist mit den Fenstern und dem Dach?“ „Da hab ich am Freitag keinen mehr erreicht, die waren alle schon im Wochenen- de. Ich ruf die am Montag noch mal an. Ach ja, Montag kommt jemand wegen der Heizung. Ich hatte das Gefühl, daß mit der Rechnung von der Firma, die sich im Mo- ment darum kümmert, was nicht stimmt.“ „Komisch“, sagte Mark und sah Angie nachdenklich an. „Das Gefühl habe ich auch seit letztem Jahr. Es war nie jemand da, und trotzdem stehen vier Besuche zu je 200,- DM auf der Rechnung.“ „Hast du mal nachgefragt?“ „Ja, aber mir wurde gesagt, daß ich zu den Zeiten gerade nicht da war, und eines der Mädchen hätte den Monteur hereingelassen. Aber als ich die Mädchen fragte, wußte niemand, wovon ich rede.“ „Wußte ich’s doch!“ Grimmig stand Angie auf. „Gleich Montag morgen ruf ich andere Firmen an.“ Sie sah Mark fragend an. „Mark?“ „Was denn, Angie?“ „Kann es sein, daß mein Gefühl für so Sachen... irgendwie stärker wird?“ „Was meinst du mit ‘stärker’?“ Angie überlegte etwas und griff unbewußt nach Marks Hand, der sie nicht wegzog. „Es fing letztes Jahr an“, sagte Angie dann. „Ich wußte plötzlich genau, wann mein Vater unaufmerksam war, und in dem Moment hab ich ihn kaltgestellt. Dann die gan- zen Telefonate mit den Jungs und Mädchen. Ich seh sie immer deutlicher vor mir, noch bevor sie sagen, wie sie aussehen und so. Aber diese Bilder sind irgendwie... komisch. Sie stimmen, und sie stimmen doch nicht.“ Sie zog die Oberlippe zwischen die Zähne und dachte angestrengt nach. Mark blieb still sitzen und hielt ihre Hand fest. „Ich sag mal so“, redete Angie plötzlich weiter. „Bei Yvonne war das so: ich hab sie gesehen, mit den Haaren und den Augen, und sie sah genauso aus, wie ich sie ge- sehen hab, nur etwas dicker. Auf dem Bild, was ich gesehen hab, war sie ganz dünn, fast wie ein Gespenst. Aber nicht schrecklich, weißt du? So war das eigentlich bei al- len, Mark. Sie waren alle unheimlich dünn, sahen aber richtig gut aus. Sportlich. Stimmt auch nicht so ganz, aber... ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll. Das ganze Aussehen stimmt, aber es ist trotzdem ganz anders.“ Sie sah Mark mit einem Blick an, der sich seinem Verständnis vollkommen entzog. „Es ist fast so, als würde ich sehen, wie sie ganz tief innen drin sind, Mark. So, als ob ich...“ „Als ob du ihre Seele sehen würdest?“ fragte Mark mit einem leichten Schauder. Angie nickte ernst. Mark zog sie auf seinen Schoß und umarmte sie; nicht, weil Angie Trost brauchte, sondern weil dieses Thema ihm mehr Angst machte als Angie. Angie lehnte sich an ihn. „Bei der Frau Hamelen war das auch so, Mark. Als sie sagte, wieviel Geld sie ha- ben wollte, konnte ich richtig sehen, wie weit ich sie herunterhandeln konnte. Hat dann ja auch geklappt. Das meine ich, Mark. Ich spüre immer mehr, und immer stärker.“ „Macht dir das Angst, Angie?“ „Nein“, sagte Angie langsam. „Das ist wie beim Malen. Ich fange mit ein paar Strichen an, und es wird immer mehr und mehr, aber ich weiß immer, wo ich bin und was ich noch tun muß. Wie bei diesem Gespür. Ich frag mich nur, was da noch kommt...“ „Einfach abwarten, Angie“, sagte Mark weich. „Ich habe keine Ahnung von dem, worüber du geredet hast; dieses Gefühl kann ich zwar nachvollziehen, aber meine Ah- nungen gehen bei weitem nicht so weit wie deine. Aber eins weiß ich sicher, mein Kleines: mit diesem Gespür hilfst du Menschen, und damit ist für mich klar, daß du niemals überfordert sein wirst mit dem, was in dir passiert.“ „Glaubst du wirklich?“ fragte Angie erleichtert. „Da bin ich ganz sicher.“ Er zog Angies Kopf zu sich und gab ihr einen Kuß auf die Wange. Angie grinste frech. „Was denn jetzt?“ „Ganz einfach“, kicherte Angie. „Ich muß nur meine Sorgen bei dir abladen, und schon nimmst du mich in den Arm und gibst mir sogar einen Kuß.“ Mark stöhnte auf, und Angie sprang lachend von seinem Schoß herunter. „Mark, kann ich heute abend nochmal kommen? Ich möchte über ein Problem mit dir reden.“ „Raus!“ rief Mark lachend und sprang auf. Mit hellem Lachen eilte Angie aus der Tür.
„Herein!“ Angie betrat Yvonnes Zimmer. „Hi, Yvonne. Wie geht’s?“ „Danke, gut“, lächelte der Neuzugang. „Ich fühl mich schon ganz wie Zuhause hier. Angie?“ „Ja?“ „Ich hab doch alles zu Hause vergessen, meine Kleidung und so... Was soll ich denn anziehen?“ „Stimmt“, schlug Angie sich ärgerlich vor den Kopf. „Ich werd alt. Sekunde mal eben.“ Sie ging zur Sprechanlage und drückte den Knopf. „Mark?“ Sekunden später kam die Antwort. „Ja?“ „Angie hier. Sag mal, könntest du mit Yvonne in die Stadt fahren? Sie hat doch ih- re ganzen Klamotten zu Hause gelassen.“ „Sicher. Sofort?“ „Wäre gut“, grinste Angie. „Yvonne steht vor einem ganz leeren Kleiderschrank und jammert.“ Sie zwinkerte Yvonne zu, die aufgeregt lächelte. „Kein Problem. Kannst du ihr Sachen von dir leihen, bis wir zurückkommen?“ „Auch kein Problem. Sie kommt dann gleich runter.“ Angie wandte sich zu Yvon- ne. „Dann komm mal mit in mein Zimmer, wir machen dich jetzt stadtfein.“ Lachend gingen die Mädchen los. Zwei Stunden später hörte Angie Marks Wagen vorfahren. Kurz darauf ging die Haustür. „War was?“ fragte Mark, als er und Yvonne mit einem Haufen Einkaufstüten zurückkamen. Angie verneinte. „Zwei Anrufe, aber keiner für uns. Yvonne, erzähl! Was hast du gekauft?“ „Ganz niedliche Röcke!“ strahlte das zwölfjährige Mädchen. „Und jede Menge Blusen und Hemden. Und Schuhe und Strümpfe und - und - und...“ „Und alles, was sie braucht, um bis zum nächsten Winter zu kommen“, lachte Mark. Yvonne strahlte ihn glücklich an. „Soll Angie dir helfen beim Einräumen, oder schaffst du das allein?“ „Bin doch schon zwölf!“ erwiderte Yvonne entrüstet. „Wenn du mir nur beim Rauftragen helfen könntest...?“ „Stets zu Diensten“, lächelte Mark. „Angie, ich bin gleich wieder da.“
* * *
„Und was genau soll hier geschehen?“ fragte der Monteur am Montag morgen. Er hatte seinen leichten Schock, mit einem kleinen Mädchen reden zu müssen, noch im- mer nicht so ganz überwunden. „Wir suchen eine Firma, die die Wartung der Heizung übernimmt“, sagte Angie sachlich. „Die Firma, die das jetzt macht, betrügt. Wir können es nicht nachweisen, aber sie betrügt.“ „Aha“, antwortete der Monteur nickend. Er verstand kein Wort. „Und ich soll euch jetzt sagen, was wir im Jahr dafür verlangen?“ „Genau“, sagte Angie. „Allerdings muß ich Sie warnen. Wenn Sie versuchen, uns hereinzulegen, werde ich das wissen.“ Sie lächelte den Monteur an. „Wir legen niemanden herein“, antwortete er gekränkt. Doch bei sich dachte er, diesem unverschämten Kind zu zeigen, wer hier das Sagen hatte. Er beugte sich über die Armaturen und klopfte hier und da auf ein Meßinstrument, dann studierte er sorg- fältig die Anzeigen. Schließlich richtete er sich auf. „Tja“, sagte er dann gedehnt, „da wird in nächster Zeit eine größere Reparatur fällig, und zwar...“ „Sie lügen“, stellte Angie ruhig fest. „Aber versuchen Sie es ruhig weiter. Zwei Versuche haben Sie noch, dann rufe ich eine andere Firma an.“ Der Monteur sah An- gie verärgert an. „Das kannst du doch überhaupt nicht beurteilen!“ fuhr er Angie an. „Ich sage, daß die Heizung bald repariert werden muß!“ „Vielen Dank für Ihre Zeit“, sagte Angie ruhig und wies ihm den Weg zur Tür. „Sie finden alleine hinaus?“ Drei Minuten später saß Angie bei Mark im Büro und kochte vor Wut. „Dieser arrogante Arsch!“ tobte sie. „Nur weil ich noch klein bin, denkt der, der kann mich reinlegen! Ha! Hat der sich aber geschnitten, dieser Flachwichser.“ „Angie!“ Mark zwang sich, nicht zu lachen. „Komm, mein kleines Teufelchen, jetzt machen wir das gemeinsam.“ Um Angie zu beruhigen, zog er sie auf seinen Schoß, und sofort war sie völlig ruhig und lieb. Gemeinsam gingen sie die Firmen durch und vereinbarten Termine. Mark legte die Besuche so, daß sie zur gleichen Zeit erscheinen würden. Die Anrufe wegen der Reparaturen für das Dach und die beiden Fenster übernahm Angie dann wieder; die bisherigen Firmen waren vertrauenswürdig und arbeiteten bereits seit Jahren mit dem Heim zusammen. „Gut“, sagte Angie schließlich. „Wegen der Heizung kommen die also alle am Mittwoch nachmittag. Und dann?“ „Dann werden wir sie gegeneinander ausspielen“, lächelte Mark. „Wir knallen ih- nen unsere Vorstellungen um die Ohren, und dann heißt es: Friß oder stirb!“ So war es dann auch. Mittwoch nachmittag trafen fünf Vertreter von fünf Firmen ein, versammelten sich mit Mark und Angie im Heizungskeller hinter der Küche und lauschten interessiert Marks Erklärungen. Als Mark von Notdienst sprach und ver- langte, daß innerhalb von 45 Minuten nach Anruf ein Techniker erscheinen sollte, auch an Sonntagen oder Feiertagen, wünschten drei der Herren noch einen schönen Tag und verabschiedeten sich. Dann sprach Mark davon, daß die Heizung im Winter bei einer Störung innerhalb von 2 Stunden wieder laufen mußte, und übrig blieb noch einer. „Sehr schön“, schmunzelte Mark. „So in etwa hatte ich mir das gedacht.“ Angie schickte während der nachfolgenden Verhandlungen ihr Gespür auf die Reise und gab Mark durch Nicken oder Kopfschütteln Signale. Nach etwas mehr als einer Stunde war der Vertrag perfekt; sogar Angie hatte ein ‘sehr gutes Gefühl dabei’, wie sie sagte. Damit war dies erledigt. Dafür bahnte sich ein neues Problem an, aus einer völlig anderen Richtung.
* * *
„Angie? Schläfst du schon?“ „Nein, Katrin. Was hast du?“ „Kann ich rüberkommen zu dir?“ „Klar, schlüpf rein.“ Schnell war Katrin in Angies Bett, deckte sich zu und legte ih- ren Kopf auf Angies ausgestreckten Arm. „Leg los“, sagte Angie leise und schaute ihre Freundin an. „Was hast du auf dem Herzen?“ „Ich hab jetzt so langsam alles in meinem Kopf geordnet“, fing Katrin umständlich an. „Es ist alles fein säuberlich aufgeräumt und abgelegt, nur eins noch nicht...“ „Und was ist das?“ Katrin schmiegte sich näher an Angie heran und legte ihre Stirn an Angies. „Bei all den Männern, die... das mit mir gemacht haben, war einer dabei, der ist nicht gleich auf mich draufgesprungen, sondern der hat vorher mit mir geredet und mich gestreichelt. Bei dem habe ich mich wohlgefühlt, wenn man das überhaupt so nennen kann. Bei dem hatte ich die wenigste Angst, weil ich wußte, der tut mir nicht weh.“ Angie wartete. Sie spürte zwar, was Katrin auf dem Herzen hatte, aber sie wollte es hören. Auch aus dem Grund, weil sie selbst eine ähnliche Frage auf dem Herzen hatte und nicht so recht wußte, an wen sie sich damit wenden konnte. „Na ja, jedenfalls hab ich mich gefragt, ob es uns - also uns Mädchen hier, die alle sowas hinter sich haben - ob es für uns möglich ist, daß wir jemals Spaß daran haben, mit Jungs in unserem Alter herumzutoben und zu flirten, zu knutschen und so. Du weißt, was ich meine?“ „Ich weiß“, flüsterte Angie. „Ob wir jemals die Angst vor dem verlieren, was man Sex nennt. Richtig?“ „Genau“, lächelte Katrin und rutschte noch näher an Angie heran. Ihre Oberkörper lagen nun eng aneinander. „Angie, ich will dich nicht irgendwie... quälen oder nerven oder so, aber... könntest du mir vielleicht einen - einen Kuß geben?“ „Was für einen Kuß?“ fragte Angie ruhig. „So wie zwei Schwestern, oder wie zwei, die sich sehr liebhaben?“ „Wie zwei, die sich sehr liebhaben“, antwortete Katrin fast unhörbar. Angie spürte Katrins Verlegenheit überdeutlich. „Warum möchtest du das?“ fragte Angie leise und streichelte das Haar ihrer Freundin. „Vielleicht... einfach nur aus dem Grund, um zu sehen, ob ich Angst bekomme, wenn... wenn dieses Gefühl in mich kommt. Das, was die Männer immer gespürt ha- ben, was in ihrem Blick lag. Verstehst du?“ „Sprich es aus, Katrin“, lächelte Angie und gab ihr einen ganz sanften Kuß auf den Mund. „Sprich es aus.“ „Lust“, wisperte Katrin mit roten Ohren. „Warum möchtest du denn Lust empfinden, Katrin?“ „Ich weiß doch nicht, ob ich es überhaupt empfinden möchte, Angie. Ich - ich will nur sehen, wie ich dabei reagiere.“ „Einen Kuß“, überlegte Angie lächelnd. Katrin nickte und versteckte ihren Kopf unter Angies Wange. „Was ist denn, wenn du wirklich Lust empfindest, Katrin? Was machen wir dann? Sollen wir dann einfach unserem Gefühl folgen?“ Katrin zuckte die Schultern. „Ich weiß es doch nicht, Angie“, murmelte sie aus ihrem Versteck. „Ach, vergiß es. Tut mir leid, daß ich gefragt habe.“ Sie drehte sich um, um aufzustehen, doch An- gie hielt sie fest. „Abhauen gilt nicht“, lachte Angie leise. „Dreh dich wieder zu mir. So ist gut. Ka- trin, hör mir bitte zu. Ich hab dich sehr, sehr lieb. Du bist so etwas wie meine kleine Schwester für mich.“ Sie gab Katrin einen weiteren Kuß auf die Lippen. „Und meine kleine Schwester kann mich alles fragen, hörst du? Alles! Jetzt hör auf, zu schmollen, und gib mir einen Kuß, so wie du wolltest. Ich hab dich nämlich wirklich lieb, Katrin.“ Angie drehte sich auf den Rücken und streckte ihre Arme nach Katrin aus. Katrin griff nach dem Lichtschalter und schaltete die kleine Lampe auf dem Nachttisch aus, dann fühlte sie mit den Händen nach Angies Kopf. Sie legte ihre Hände auf Angies Wangen und senkte ihren Kopf, bis sie Angies Lippen fand. Sie spürte, daß Angie sich ihr vor- behaltlos öffnete, daß Angie ihr vertraute. Und daß Angie sie liebte, wie eine kleine Schwester. Katrin drückte ihre Lippen auf Angies Mund, zögernd zuerst, dann etwas fester. Angie umarmte ihre Freundin und drückte sie an sich, streichelte sie im Rücken, im Nacken, am Kopf. Katrin fühlte sich sicher, verstanden, akzeptiert. Sie entspannte sich, ihre Lippen wurden weich und bewegten sich leicht auf und ab. Angie ging mit. Katrin badete in einem Gefühl aus Vertrauen und Akzeptanz, ihr Kuß wurde zärtlicher, intensiver. Angie erwiderte in gleichem Maße. Katrin spürte in sich die ersten leichten Wellen von diesem Gefühl, das ihr so viel Angst und Schmerzen bereitet hatte, doch diesmal war es viel besser. Kein Gedanke an Schmerz, nur Verständnis und Liebe. Ih- re Hände gingen zu Angies Oberkörper, streichelten sie durch das Nachthemd, genau- so, wie sie gestreichelt werden wollte, aber alles, was sie bekommen hatte, waren rau- he Hände, die grob zupackten und ihr dort weh taten. Sie lebte an Angie das aus, was sie selbst suchte, und Angie gab ihr genau das zurück: Zärtlichkeit. Die beiden Mädchen lagen halb auf-, halb nebeneinander, küßten sich mit gerade erwachender, jugendlicher Leidenschaft, streichelten sich an Kopf, Haar, Rücken und Brust, und genossen das Gefühl von Liebe und Sicherheit, daß sie sich gegenseitig ga- ben. Katrin schob ein Bein zwischen Angies Beine und drückte mit ihrem Unterleib an Angies Oberschenkel. „Darf ich?“ flüsterte sie heiser. „Klar“, flüsterte Angie zurück und spannte die Muskeln in ihrem Bein an. „Sei nur nicht so laut, ja? Wär doch peinlich, wenn man uns draußen hören könnte.“ „Das passiert nicht“, sagte Katrin leise und drückte sich an Angies Bein. „Angie, du bist sowas von lieb, ich glaub, ich hab mich in dich verliebt.“ „Natürlich hast du das“, lächelte Angie und küßte ihre Freundin zärtlich. „Schwestern sind immer ineinander verliebt.“ Liebevoll beobachtete sie Katrin, die, trotz zwei Jahre heftigen Verkehrs mit Männern, nun endlich anfing, ihren Körper zu entdecken. ‘Und dabei hilft sie mir mehr als sie ahnt’, dachte Angie, während Katrin auf den Flammen der Leidenschaft schwebte. ‘Dadurch kann ich spüren, was sie fühlt, und so auch meine Angst verlieren. Ich liebe dich auch, Katrin.’ Sie legte ihre Hände auf den Po ihrer Freundin und half ihr. Katrin stöhnte leise, und Angie küßte sie ver- liebt. Langsam näherte Katrin sich der Erfüllung, und als es so weit war, glaubte An- gie, die innerlich fest mit Katrin verbunden war, gemeinsam mit Katrin über den Wol- ken zu schweben, in einem Land, in dem es keine Schmerzen und keine Gewalt gab, sondern nur Liebe, Zärtlichkeit und Erfüllung. Die lauten Geräusche wurden in einem langen und ausgiebigen Kuß erstickt. Schließlich kam Katrin von ihrer Reise zurück. Sie legte ihre Wange an Angies und weinte. „Das war so wunderschön“, schluchzte sie leise. „Danke, Angie. Ich liebe dich!“ „Ich liebe dich auch, Katrin“, flüsterte Angie und gab ihrer Freundin einen letzten, zärtlichen Kuß. „Jetzt komm in meinen Arm, dann schlafen wir zusammen ein.“ „Und wachen zusammen auf, ja?“ Katrin rutschte neben Angie, legte ihren Kopf auf Angies Arm und ihre Hand auf Angies Bauch. „Genau. Und morgen reden wir nicht mehr drüber, sondern freuen uns einfach, okay?“ „Okay, Angie. Gute Nacht.“ „Gute Nacht, Katrin. Schlaf schön.“
Am Frühstückstisch fühlte Mark sich als Außenseiter, als fünftes Rad am Wagen. Er wußte nicht genau, woran das lag, bis er seinen geschulten Blick anlegte und die Mädchen unvoreingenommen beobachtete. Angie war so ruhig wie schon lange nicht mehr, dabei aber zufrieden, glücklich, und friedlich von innen heraus. Katrin sah ge- nauso aus, doch immer, wenn sie Mark ansah, schlich sich ein Schuldgefühl in ihr Ge- sicht. Mark zählte zwei und zwei zusammen, und bekam vier heraus. ‘Nichts Ungewöhnliches’, ermahnte er sich, als er einen heftigen Stich Eifersucht verspürte. ‘Völlig normal, Mark. Erinnere dich an das, was dir beigebracht wurde, Mark.’ Mit diesen Worten bekam er sein Gefühl langsam wieder in den Griff. Katrins Schuldgefühl hatte Vorrang, sie sollte nicht leiden. Er wartete, bis alle mit dem Frühstück fertig waren, dann streckte und reckte er sich. „Ich hoffe“, sagte er dann mit einem Lachen in der Stimme, „daß die Aufpasser vor Ort mit den Mädchen nicht allzu viele Probleme haben, vor allem nicht, was die Zimmerverteilung angeht.“ Angie merkte sofort, worauf Mark hinauswollte, und schaute ihn dankbar an. Ka- trin fragte nach, wie von Mark geplant. „Was meinst du?“ „Och“, grinste Mark, „es kann vorkommen, daß manche Mädchen nicht nur in ei- nem Zimmer, sondern sogar in einem Bett schlafen, und das jede Nacht. Manche Auf- passer sind damit leicht überfordert und reagieren völlig falsch.“ Katrin verschluckte sich beinahe an ihrem Saft. „Wieso falsch?“ fragte sie nach ei- nem leichten Hustenanfall. „Sieh mal“, sagte Mark behutsam und sah Katrin freundlich an. „Alle Mädchen hier haben das gleiche hinter sich, wie du weißt. Aber trotzdem hat jedes einzelne Mädchen einen starken Wunsch nach Nähe und Zärtlichkeit, nach Trost und Gebor- genheit. Egal ob zwölf oder siebzehn, der Wunsch ist da, und das ist auch völlig nor- mal. Nun kommt es häufig vor, daß Mädchen, die sich ein Zimmer teilen, auch mitein- ander über ihre Wünsche reden, und plötzlich stellen sie fest, daß sie mehr füreinander empfinden. Also gehen sie zusammen in ein Bett und spüren, daß direkt neben ihnen jemand liegt, dem sie vertrauen können. Das ist schon sehr viel wert, und es hilft den Mädchen ungemein, wieder Selbstvertrauen zu bekommen. Verstehst du?“ Katrin nickte leicht mit dem Kopf; unsicher, in welche Richtung Marks kleine An- sprache ging. „Tja, da liegen sie also nebeneinander, Nacht für Nacht, und plötzlich merken sie, daß der Wunsch nach Nähe abgelöst wird durch den Wunsch nach Zärtlichkeit. Nach Berührungen. Nach Schmusen.“ Katrin wurde rot, doch Mark plauderte munter weiter, ohne darauf zu achten. „Da sie sich so sehr vertrauen, schmusen sie eben miteinander. Das bedeutet nicht, daß sie plötzlich lesbisch geworden sind oder so, es bedeutet nur, daß sie schmusen wollen. Ist doch auch völlig normal, oder?“ Er schaute Angie an. „Absolut“, grinste Angie. „Immerhin hatten sie ja lange Zeit niemanden, der sie mal in den Arm genommen hat, und das braucht ein junges Mädchen nun mal.“ Sie lächelte Mark unschuldig an. Er schluckte die Spitze. Katrins Blick flog von einem zum anderen. „Wie auch immer“, fing Mark sich wieder, „wenn so etwas vorkommt, sollten die Mädchen nicht groß darüber nachdenken, sondern sich einfach freuen, daß sie jeman- den haben, mit dem sie reden, lachen, weinen und auch schmusen können. Und wenn aus dem Schmusen plötzlich mehr wird... Na und? Wenn beide es wollen, weil sie sich vertrauen, dann soll es doch so sein, oder?“ „Ganz meine Meinung“, schmunzelte Angie. „Immerhin haben die Mädchen alle- samt die schlechte Seite vom Sex erfahren, und jetzt erfahren sie die gute Seite.“ „Völlig richtig, Angie“, sagte Mark begeistert. „Das hilft sogar, daß die Mädchen wieder völlig auf die Reihe kommen. Denn sei ehrlich: was nützt es, wenn die Mäd- chen hier ausziehen und haben noch immer eine Heidenangst vor Sex?“ „Das wäre völlig irrsinnig“, stimmte Angie zu. „Ich frage mich nur, ob das - ich meine, ob die Mädchen das dann auch noch später tun.“ „Die wenigsten“, sagte Mark. „Und das auch nur solange, bis sie jemanden gefun- den haben, der ihre Angst und Scheu versteht und sehr sanft mit ihnen umgeht. Aber den werden die Mädchen automatisch finden. Durch ihre Erfahrungen sind sie so ge- witzt, daß die sogenannten Ausbeuter sowieso keine Chance haben. Die Mädchen spü- ren, wer es ehrlich mit ihnen meint, und wer nicht. Noch einen Saft, Katrin?“ „Nein, danke“, sagte Katrin angespannt. „Ich - ich muß mal.“ Sie sprang auf und lief hinaus. „Ich denke, sie hat’s kapiert“, schmunzelte Angie. „Das war toll von dir, Mark.“ „Das ist mein Job“, lächelte er zurück. „Hat’s ihr denn geholfen? Bitte keine De- tails, nur die grobe Übersicht.“ „Ja, es hat. Übersicht Ende.“ „Gut“, lachte Mark. „Das ist die Hauptsache. Hattet ihr die Tür abgeschlossen?“ „Nein. Das kam ganz unerwartet.“ „Denk dran, ja?“ „Mach ich.“ Angie stand auf und ging zu Mark. „Mark, du bist wirklich total in Ordnung. Jetzt gibt’s die Belohnung.“ Er sah fragend zu ihr und bekam einen Kuß auf die Lippen. „Angie! Was zum Henker...“ „Schon gut“, grinste Angie und lief hinaus. „War nur ein kleines Dankeschön.“
„Er weiß es!“ Mit Panik in den Augen blickte Katrin zu Angie. „Kind!“ lachte Angie und setzte sich neben Katrin. „Hast du denn nicht zugehört? Das ist alles völlig normal. Er weiß es also. Und? Glaubst du, daß das zum ersten Mal hier passiert? Oder zum letzten Mal?“ Sie zog Katrins Kopf an sich und legte ihre Wange auf Katrins Haare. „Katrin, mach dir keine Gedanken darüber. Er weiß es, und er weiß auch, daß du es brauchst. Hat er mit einem einzigen Wort gesagt, daß es schlecht ist?“ „Nein“, antwortete Katrin leise. „Siehst du. Ich kann dir garantieren, daß er nicht einmal denkt, daß es schlecht ist.“ Sie zerwuschelte Katrins kurze Haare, bis ihre Freundin sich lachend wegrollte. „Na also, da ist meine Katrin ja wieder.“ Grinsend warf sie sich auf Katrin und kitzelte sie gnadenlos, bis Katrin mit letzter Kraft nach Gnade schrie. Erhitzt legten die Mädchen sich nebeneinander und hielten sich an den Händen. „Du bist echt in Ordnung“, seufzte Katrin und legte ihren Kopf auf Angies Brust. Angie spielte mit Katrins Haaren. „Du doch auch. Wollen wir noch weitertoben, oder sollen wir endgültig aufstehen?“ Katrin nickte. „Aufstehen. Aber... darf ich heute abend wieder zu dir ins Bett?“ „Wann du möchtest, und solange du möchtest“, schmunzelte Angie. Dafür bekam Angie einen dicken Kuß.
„Mark, wieso hast du eigentlich nie die Firma wegen der Klimaanlage angerufen?“ fragte Angie am Freitag morgen in einer Schreibpause. Mark zuckte die Schultern. „Hab ich schon, aber die Dinger verbrauchen dermaßen viel Strom, daß sie zu teuer waren, auch wenn wir für die Installation und die Geräte nichts bezahlen mußten. Deswegen habe ich es gelassen. Die paar Monate im Jahr müssen die Mädchen eben unten zur Schule gehen.“ „Kapiere“, sagte Angie nachdenklich. „Was liegt sonst noch an? Für diese Woche, meine ich?“ „Nichts. Eine gewisse junge Dame hat so fantastisch gearbeitet, daß zum ersten Mal seit fast fünf Jahren nichts mehr zu tun ist.“ Er ging zu Angie und drückte sie kurz. „Als Belohnung hat sich diese gewisse junge Dame einen Ausflug verdient, und zwar mit ihrer Freundin. Einen Tagesausflug nach Konstanz. Ohne Aufsicht.“ „Echt?“ Begeistert sprang Angie auf und kletterte an Mark hoch, bis sie ihm direkt in die Augen sehen konnte. „Ist das dein Ernst?“ „Sicher“, schmunzelte er. „Yvonne und ich werden eine Inventur in der Küche durchführen, damit sie auch ein paar Punkte verdient, und Katrin und du werdet die Innenstadt unsicher machen. Yvonne braucht etwas zu tun; sie sitzt den ganzen Tag auf ihrem Zimmer und langweilt sich.“ „Geil!“ Angie drückte Mark kräftig. „Das ist so lieb von dir. Wann sollen wir denn fahren?“ „Such es dir aus. Entweder, sobald du fertig bist, oder jetzt sofort. Ich ruf euch ein Taxi, das euch ins Dorf bringt, von da aus könnt ihr mit dem Bus weiter. Wie weit bist du mit Karate?“ „Gelber Gürtel hängt in meinem Schrank“, lachte Angie. „Und der Trainer meint, wenn ich mich nicht allzu blöd anstelle, kommt der nächste im Dezember. Warum?“ „Nur zu meiner Sicherheit, damit ich weiß, daß du dich wehren kannst.“ „Ich muß mich nicht wehren“, grinste Angie. „Katrin und ich werden so laut sein, und soviel Unsinn machen und reden, daß keiner freiwillig in unsere Nähe kommt. Ich tipp dann eben schnell den Brief fertig, ja? Rufst du das Taxi? Und sagst Katrin Be- scheid? Tut ihr auch mal gut, wenn sie rauskommt.“ Schon saß Angie wieder an der Tastatur und tippte schnell den Brief zu Ende. Mark drückte Angie noch einhundert Mark in die Hand und schnitt ihren überwältigten und gestammelten Dank schnell ab. Zehn Minuten später standen die beiden Mädchen vor dem Tor und winkten dem Taxi zu, das halb auf den Feldweg fuhr und sie einsteigen ließ. Dann wendete es und brachte sie ins Dorf, wo sie auf den Bus warteten, der alle 30 Minuten fuhr. Sie hatten Pech und mußten etwa 25 Minuten warten, doch die Zeit verflog für die Mädchen, die sich lachend und gestikulierend unterhielten. In Konstanz selbst wurden sofort die Kaufhäuser gestürmt, jede Menge Kosmetik- proben eingehamstert, alle Arten von Sonnenbrillen aufgesetzt, modische und total ver- rückte Hüte anprobiert, dann stromerten sie lachend durch die Schmuckabteilung, blie- ben ehrfürchtig vor den ausgestellten Stücken stehen und bewunderten die feinen und kostbaren Arbeiten ausgiebig, danach zog es sie magisch in die Musikabteilung, in der sie CDs über Kopfhörer hörten, zumindest solange, bis eine Verkäuferin, die das Sin- gen der beiden nicht mehr ertragen konnte, sie verjagte. Mit ungebrochener Begeiste- rung stürmten die Mädchen dann die Spielwarenabteilung und bauten aus den ausge- stellten Puppen und Stofftieren einen Zoo, bis ebenfalls ein Verkäufer kam und dem fröhlichen Treiben mit barschen Worten ein schnelles Ende setzte. Aber es gab ja noch viel mehr Kaufhäuser. Gegen Mittag leisteten sich die Mädchen ein Schnitzel mit Fritten und Salat in ei- nem niedlichen, kleinen Restaurant, um neue Energie zu tanken, dann wurde der Nachmittag in Angriff genommen. Diesmal mußten die kleinen Läden dran glauben, in denen Angie und Katrin ein Teil nach dem anderen in die Hand nahmen, kritisch mu- sterten und es wieder zurückstellten. Angie fand etwas, was sie suchte, und bezahlte schnell, bevor Katrin es mitbekam, dann hüpfte sie zu ihrer Freundin, die ihr Regal noch nicht ganz fertig hatte. Und weiter ging es zum nächsten Geschäft. Völlig ausgelaugt saßen sie schließlich wieder im Bus, der sie zurück ins Dorf brachte. Angie schaute schnell auf die Uhr: kurz nach sechs. „War toll, nicht?“ fragte sie Katrin, die begeistert zustimmte. „Ich dachte schon, in dem Laden mit den Anglersachen würden sie uns rausschmeißen“, kicherte Katrin. Angie grinste. „War vielleicht doch keine so gute Idee, in dem kleinen Raum die Angel auszuwerfen.“ „Nee“, lachte Katrin auf. „’ne gute Idee war’s nicht, aber es hat Spaß gemacht! Außerdem war ja kein Haken dran.“ Sie legte ihren Kopf auf Angies Schulter. Angie legte einen Arm um sie und drückte sie an sich. „Mit Haken hättest du wahrscheinlich die ganze Tapete von den Wänden geris- sen“, schmunzelte Angie. „Hm-m“, grinste Katrin. „Vielleicht mach ich das beim nächsten Mal.“ Sie drückte sich enger an Angie, die spürte, in welcher Stimmung ihre Freundin war, und schwieg. Katrin rieb ihre Wange leicht an Angies Schulter, und Angie legte ihre Wange an An- gies Kopf. Dies behielten sie bei, bis der Bus im Dorf hielt und sie aussteigen mußten. „Taxi oder laufen?“ fragte Angie. „Acht Kilometer laufen?“ fragte Katrin entgeistert. „Nach dem ganzen Marsch durch die Stadt?“ „Warum nicht?“ grinste Angie. „Ich dachte nur, weil die Fußwege zum Heim so wunderschön still sind, und wir Arm in Arm gehen können, und weil so herrliches Wetter ist...“ „Überredet“, kicherte Katrin. „Aber nur wegen dem schönen Wetter!“ „Natürlich“, schmunzelte Angie und nahm ihre Freundin an die Hand. Fröhlich marschierten sie los. Außerhalb des Dorfes wechselten sie auf die andere Straßenseite, sprangen über einen kleinen Bach direkt neben der Landstraße, und waren auf dem Fußweg, der par- allel zur Straße verlief, jedoch durch eine Reihe von Bäumen davon abgetrennt war. Hier streckte Angie mit einer einladenden Geste ihren Arm aus. Mit einem scheuen Lächeln nahm Katrin das Angebot an und legte ihren Arm um Angies Taille. Schwei- gend gingen sie so einige Minuten. „Das war ein schöner Tag“, sagte Katrin dann leise. „Danke, Angie.“ „Sag Mark Danke“, erwiderte Angie. „Er hat uns freigegeben. Aber ich fand’s auch schön. Vor allem, weil du mitgekommen bist.“ „Mach mich nicht verlegen“, grinste Katrin mit roten Ohren. „Ich mein das ernst, Katrin“, sagte Angie nachdrücklich. „Du bist das Mädchen, mit dem ich am liebsten zusammen bin. Nicht nur, weil wir uns innerlich ähnlich sind, sondern weil ich dich lieb habe.“ „Ich dich auch“, erwiderte Katrin sanft. „Angie, darf ich dich was fragen?“ „Klar, schieß los.“ „Warum... warum machst du eigentlich nie was, wenn ich - wenn ich abends bei dir bin?“ „Die Frage hätte sich heute abend erledigt“, schmunzelte Angie. „Katrin, ich habe die letzten Abende einfach nur auf dich geachtet, was du fühlst und so, damit ich mei- ne Angst auch verliere. Ich glaube, sie ist nicht mehr so stark wie vorher, und das wollte ich heute abend auch mal probieren.“ „Ehrlich?“ strahlte Katrin. „Mann, bin ich froh! Ich kam mir schon blöd vor, weil du - weil du immer nur auf mich Rücksicht genommen hast und mich hast machen las- sen.“ „Heute abend nicht mehr“, lächelte Angie. „Heute abend mach ich mit. Verlaß dich drauf.“ „Ich freu mich sogar schon drauf“, grinste Katrin und blieb stehen. „Du bist wirk- lich ein Schatz, Angie.“ „Du auch“, sagte Angie leise und schaute ihre Freundin an. „Ein Kuß für den Rest des Weges?“ „Gerne“, flüsterte Katrin. Die Lippen der Mädchen trafen sich, dann verschwand die Welt um sie herum. „Wow!“ machte Katrin schließlich. „Was war denn das?“ Angie grinste verlegen. „Ich sagte doch, daß ich nicht mehr so viel Angst habe.“ „Das hab ich gemerkt“, lachte Katrin und holte tief Luft. „Was wird dann erst nachher?“ Angie grinste breit. „Nachher? Nachher gehen wir beide zusammen in die Wanne, dann waschen wir uns gegenseitig, dann trocknen wir uns gegenseitig ab, und dann hüpfen wir in die Falle.“ Sie zwinkerte Katrin zu. „Und dann wird’s erst richtig ge- mütlich.“ „Angie?“ „Ja?“ „Können wir nach Hause rennen? Jetzt sofort?“
„Wanne ist fertig!“ rief Angie. „Komme!“ antwortete Katrin. Kurz darauf stand sie in dem Badezimmer. „Tür ist abgeschlossen.“ „Fein“, lächelte Angie. „Dann komm mal zu mir.“ Katrin ging auf Angie zu und blieb dicht vor ihr stehen. Angie ging in die Knie und öffnete zuerst Katrins Jeans, dann ihre Schuhbänder. Katrin stützte sich bei Angie ab und ließ sich die Schuhe aus- ziehen, dann zog Angie Katrins Hose herunter. Katrin hob erst den rechten, dann den linken Fuß, und die Hose lag auf dem Boden. Angie stand auf und zog Katrins T-Shirt hoch. Katrin streckte die Arme hoch, Angie zog ein weiteres Mal, dann war auch das T-Shirt weg. Sie umarmte Katrin und drückte sie zärtlich an sich. Katrin strich mit ih- ren Lippen sanft über Angies Wange und Schläfe. „Du bist so lieb“, murmelte sie glücklich. Angie schob ihre Hände in Katrins Höschen und legte sie ihrer Freundin auf den Po. Ganz sacht bewegte sie die Halbkugeln gegeneinander. Katrin atmete schnel- ler. „Ich muß dich doch auch noch ausziehen“, sagte sie schließlich und machte sich los. Schnell hatte sie Angie von Hemd, Hose, Schuhen und Strümpfen befreit. Katrin drückte sich an Angie und rieb ihre Brust an der ihrer Freundin. „Langsam, langsam“, lachte Angie leise. „Das Wasser wird kalt.“ „Dann wärm ich es wieder, so heiß, wie ich bin“, kicherte Katrin und ließ Angie los. Die Mädchen zogen sich die Unterhosen aus und stiegen in die Wanne. Angie setzte sich hin, Katrin ließ sich vorsichtig zwischen Angies Beinen nieder. Dann nahm Angie die Seife, schäumte ihre Hände ein und wusch ihrer Freundin den Rücken. Sie nahm neuen Schaum auf, dann legte sie ihre Arme um Katrin und seifte ihren Oberkör- per ein. Katrin legte ihren Kopf nach hinten, auf Angies Schulter. „Laß dir Zeit da“, flüsterte sie. „Mach ich“, gab Angie ebenso leise zurück und küßte ihre Freundin auf die Schläfe. Sanft massierte sie den Schaum in Katrins Brüste, die etwas größer als ihre eigenen waren, aber nicht sehr viel. Zärtlich massierte sie die harten Nippel, drückte vorsichtig darauf, zog sie leicht hervor, und massierte wieder. „Du machst mich wahnsinnig“, murmelte Katrin glücklich. „Könntest du - könntest du mich etwas - etwas reiben?“ „Sofort“, lächelte Angie und streichelte Katrins Bauch im Wasser, dann ging sie mit ihrer Hand etwas tiefer. „Glaub aber nicht, daß ich das für jede meiner Freundin- nen mache!“ „Tu ich nicht“, grinste Katrin. „Oh ja, da ist schön!“ Angie hatte den sensiblen Punkt erreicht und massierte ihn nun mit der rechten Hand, mit der linken streichelte sie Katrins Brüste. „Soll ich nur außen reiben“, fragte Angie leise, „oder auch etwas nach innen ge- hen?“ „Versuch’s mal innen, aber bitte ganz vorsichtig. Ich weiß nicht, wie ich reagiere.“ ‘Ich schon’, grinste Angie innerlich. Sie ging mit dem Mittelfinger den kleinen Schlitz entlang, bis sie den Weg gefunden hatte, dann drückte sie leicht dagegen. „Hmmm!“ machte Katrin erregt. Sie zog ihre Beine an und drückte die Knie nach außen. „So schön?“ flüsterte Angie. Katrin nickte heftig. „Ja. Fantastisch!“ Angie drückte weiter, bis ihr Finger halb verschwunden war. Katrin wand sich vor Vergnügen. Sie drehte ihren Kopf zu Angie, in ihren Augen lag Sehnsucht und Lust. Angie küßte sie, streichelte und rieb sie, bis Katrin sich versteifte. Angie schob ihren Finger hinein, so- weit es ging und preßte ihren Handballen gegen Katrins empfindlichste Stelle. Katrin stieß heißen Atem in Angies Mund, küßte Angie leidenschaftlich und erregt, bis sie wieder ruhiger wurde. Angie legte beide Arme um ihre Freundin und hielt sie sanft fest, bis Katrins Atem wieder normal klang. „Jetzt aufstehen“, sagte sie dann. „Ich hab dich nur halb gewa- schen.“ „Ja, Mutti“, grinste Katrin und stand auf, Angie ebenfalls. Angie nahm die Seife und schäumte Katrins Bauch ein, ebenso die Arme, dann verteilte sie die Seife mit den Händen. Nicht rauh, aber auch nicht so sanft wie vorher. Dann kamen Katrins Beine dran, und zum Schluß ihr Po und der Unterleib. Hier war Angie jedoch wieder sanft, sehr zu Katrins Vergnügen. „Scheint, als ob deine Angst wirklich weg ist“, grinste Angie und seifte ihre Freun- din auch innen ein. Katrin nickte mit verschwommenen Augen. „Angie, das - das - beim ersten Mal, also vorhin, da - da dachte ich, es wäre irgend jemand, der da was in mich steckt, aber - aber ich wußte, daß - daß du es bist. Etwas fester, bitte. Ja, so. Hmmm! Und - und deswegen glaub - glaub ich, daß ich - keine Angst mehr habe. Et- was tiefer? Ohhhh! Jaaa! Hmm!“ Katrin schloß ihre Augen, als Angie sie gründlich versorgte. Mit einem leisen Schrei kam Katrin erneut. Angie konnte ihr gerade noch helfen, sich hinzusetzen, dann verließen Katrin sämtliche Kräfte. Glücklich und zufrie- den lehnte sie sich an Angie. „Weißt du“, murmelte Katrin selig, „das ist wie Erinnerungen austauschen. Ich meine, du schmeißt die bösen raus und tust statt dessen gute Erinnerungen rein.“ Angie spülte die Seife von ihrer Freundin und schmunzelte. „Ach ja? Was hältst du davon, meine bösen Erinnerungen rauszuschmeißen?“ „Gleich“, seufzte Katrin. „Gib mir noch ein paar Minuten, ja?“ „Sicher“, lachte Angie. „Ich wasch mich eben schnell, ja?“ „Hm-m“, machte Katrin lächelnd. „Aber morgen wasch ich dich. Versprochen!“ Wenig später waren die Mädchen sauber, abgetrocknet und in Angies Bett, ohne Nachthemden oder Shirts. Angie legte sich auf den Rücken. Katrin sah etwas Angst in Angies Blick und erinnerte sich an ihr Gefühl vor ein paar Tagen. „Keine Angst“, flüsterte sie Angie ins Ohr. „Ich bin ganz lieb.“ „Ich weiß“, wisperte Angie. „Gibst du mir einen Kuß?“ Katrin beugte sich über Angie und küßte sie sanft und zärtlich. Ihre Zungen suchten und fanden sich, Katrins Hände glitten über Angies kleine Brüste. Angie gab sich Katrin voll und ganz hin, sie schob jeden Gedanken an Angst weit von sich. Sie spürte Katrins Liebe, und ihr sanf- tes Wesen. Sie schloß die Augen und gab sich ganz hin. Katrins Hände strichen über Angies Brust, dann weiter nach unten, über den Bauch bis in den Schritt. Angie öffnete ihre Beine. Für einen kurzen Moment zuckte das Bild ihres Vaters in ihr auf, doch dies wurde sofort verdrängt von der Gewißheit, daß Ka- trin bei ihr war. Katrins Hand legte sich auf die Stelle, die Angies Vater so mißbraucht hatte, und streichelte sie sanft und rücksichtsvoll. Angie entspannte sich. Als Katrin den sensiblen Punkt fand, stöhnte Angie leise auf. Katrins Kuß wurde intensiver, ge- fühlvoller, ihre Bewegungen kräftiger und rhythmischer. Angie umarmte Katrin heftig, als sie spürte, daß es losging, und das erste Mal in ihrem Leben hatte sie einen Orgas- mus, noch dazu einen, den sie einem Menschen verdankte, der sie ebenso liebte wie sie ihn. Von Katrin. Angie stöhnte kräftig auf, als die Wellen über ihr zusammenschlugen. Katrin drang vorsichtig in sie ein, und rieb sie von innen und außen gleichzeitig. Angie schlang ihre Beine um Katrin und drückte ihre Freundin mit aller Kraft an sich, dann explodierte sie. Ungeahnte Freude fegte durch ihren kindlichen Körper, jede Nervenzelle sang ein Lied der Erregung, jedes Stückchen Haut brannte vor Lust. ‘So schön kann das also sein’, dachte ein kleiner Teil von ihr erstaunt, während sie sich an Katrin preßte, die sie noch immer streichelte und küßte. Schließlich sank sie ermattet zusammen. Katrin legte sich neben sie und nahm diesmal Angie in den Arm. Angie kuschelte sich an Katrins Brust zurecht und schloß die Augen. Kurze Zeit später schliefen die Mädchen. Als Angie am nächsten Morgen erwachte, lag sie noch immer in der gleichen Posi- tion: in Katrins Armen, ihr Kopf an Katrins Brust. Voller Dankbarkeit und Zärtlichkeit schaute sie Katrin an. Viel hatten sie sich gegenseitig gegeben in den letzten Tagen, und viel hatte jede von ihnen dadurch gewonnen. Ohne zu überlegen, küßte sie die schlafende Katrin auf die Brust, dann auf den Mund. Katrin schnurrte im Schlaf und lächelte, dann drehte sie sich auf den Rücken. Angie gab ihr einen weiteren gehauch- ten Kuß, dann stand sie vorsichtig und leise auf. Schnell sah sie auf die Uhr, dann schlüpfte sie eilig in ihren Bikini und verließ leise das Zimmer. Hastig lief sie die Treppen hinunter in den Keller und ins Schwimmbad. Sie hatte Glück: gerade, als sie das Bad betrat, stieg Mark aus dem Wasser. Sie lief zu ihm und umarmte ihn kräftig. „Sag nichts“, flüsterte sie eindringlich. „Halt mich bitte nur fest. Ganz fest.“ Mark, dessen Arme aus Reflex ganz abgespreizt waren, spürte, daß Angie nicht mit ihm spielte. Er legte seine Arme um sie und drückte sie an sich, dabei achtete er darauf, mit einer gewissen Gegend seines Körpers Abstand zu halten. Seine Hand streichelte An- gies Wange und ihre Haare, bis Angie ihn losließ. „Danke“, flüsterte sie mit strahlen- den Augen. „Das hab ich gebraucht!“ Mit einem Sprung war sie im Wasser und be- gann ihre morgendlichen Runden. „Übrigens“, rief sie aus dem Wasser. „Guten Mor- gen!“ „Guten Morgen, Angie“, lachte Mark. „Ich warte mit dem Frühstück auf dich, okay?“ „Toll! Danke!“
* * *
„Ich hab jetzt auch viel von meiner Angst verloren“, erklärte Angie und biß in ih- ren Toast. „Deswegen das heute morgen. Ich wollte nur gucken, ob sie wirklich fast weg ist.“ „Ich hatte mich schon gewundert“, sagte Mark nachdenklich. „Im Badeanzug hast du mich noch nie berührt, geschweige denn umarmt.“ „Hm-m“, stimmte Angie zu. „Genau das mein ich ja. Ich meine, wir waren beide fast... Ach, egal. Auf jeden Fall geht’s mir jetzt viel besser!“ „Freut mich, Angie. Das freut mich wirklich. Schätzt du, daß das noch lange wei- tergeht?“ „Glaube nicht“, überlegte Angie ernsthaft. „Ich denke, vielleicht ein paar Wochen, wenn überhaupt, dann sollte sich das legen.“ „Von Katrins Seite auf, oder von dir aus?“ „Von ihr aus“, sagte Angie ernst. „Von mir aus könnte in ein paar Tagen Schluß sein damit. Ich weiß dann alles, was ich wissen muß, aber sie braucht es noch. Vier, höchstens fünf Wochen noch.“ „Sehr schön“, sagte Mark in einem neutralen Ton, doch tief innen spürte er große Erleichterung. Die Bilder, die ihm seine Phantasie vorgaukelte, schob er entschlossen weg. „Tut mir leid“, entschuldigte Angie sich. „Das wollte ich nicht.“ „Was wolltest du nicht?“ fragte Mark erstaunt. „Na, daß - daß du daran denkst“, antwortete Angie verlegen. „Was macht Yvon- ne? Hat ihr die Inventur gestern Spaß gemacht?“ Mark war dankbar für den Themenwechsel. „Mehr oder weniger“, lächelte er. „Zumindest ging der Tag für sie schneller rum.“ „Waren gestern viele Anrufe?“ „Nein, kein einziger. Die neue Anlage ist wirklich super. Jeder bekommt nur noch die Anrufe aus seiner Gegend, und bei uns ist im Moment wohl alles ruhig.“ „Zum Glück“, bekräftigte Angie. „Je weniger Anrufe, desto weniger Probleme draußen.“ „Genau. Was hast du heute vor?“ „Ausruhen, dann Faulenzen, dann wieder ins Bett“, grinste Angie und gähnte herz- haft. „War der Stadtbesuch so anstrengend?“ lachte Mark. Angie nickte. „Ja, aber nicht nur das. Wir sind vom Dorf bis hierher gelaufen, und...“ Sie erstarrte. „Mist! Mein Ge- schenk!“ Sie sprang auf, daß der Stuhl zu Boden fiel, und rannte hinaus, in ihr Zimmer. Kurz darauf war sie wieder da. „Hab ich ganz vergessen“, entschuldigte sie sich atemlos. „Hier, dreißig Mark zurück, die sind übrig geblieben. Taxi, Bus, Essen und so.“ Sie stellte ein kleines Päckchen vor Mark. „Und deswegen“, grinste sie. „Ist für dich!“ „Danke!“ sagte Mark überrascht. Er packte das Geschenk vorsichtig aus und fand einen kleinen Löwen aus Glas. „Der ist ja süß“, staunte Mark. „Vielen Dank, Angie!“ „Gern geschehen“, lachte sie fröhlich. „Ich geh Katrin wecken.“ Nachdenklich sah Mark ihr hinterher. Gleich zwei Überraschungen am frühen Morgen, dachte er. Zuerst das Geld, was Angie nicht verbraucht hatte, und dann auch noch ein Geschenk für ihn.
Angie schloß das Zimmer wieder ab, zog sich schnell aus und legte sich zu Katrin, dann gab sie ihr einen langen, sanften Kuß. Katrin erwachte und erwiderte den Kuß zärtlich. „Morgen, Angie“, schnurrte sie dann und nahm Angie in den Arm. „Morgen, du Langschläfer“, lächelte Angie. „Langschläfer?“ protestierte Katrin. „Ich steh auch immer um halb sieben auf!“ „Es ist aber schon sieben durch“, lachte Angie leise. Katrin zuckte mit den Schul- tern. „Ist nur, weil ich mich so wohlfühle“, schmunzelte sie. „Magst du mich richtig wecken?“ „Deswegen bin ich hier“, lachte Angie und rollte Katrin auf den Rücken, dann warf sie das Oberbett auf den Boden. Sie schaute ihre nackte Freundin an. „Mal überlegen... Was hatten wir bisher? Und was fehlt noch? Ach ja!“ Sie preßte ihre Lippen auf Ka- trins Busen und küßte sie dort, ihre Zunge spielte mit dem Nippel, der schnell hart wurde. Katrins Hände griffen nach Angies Kopf und drückten ihn langsam nach unten. Willig ließ Angie sich führen, bis ihr Gesicht über Katrins Scham war. Katrin griff nach Angies Beinen und zog sie über sich. Angie und Katrin gingen in die 69, dann war nichts mehr zu hören außer erregtem Stöhnen und leisem Schmatzen. Als Angie Katrins Zunge in sich spürte, zuckte sie zuerst erschrocken zusammen, doch sie ermahnte sich sofort, daß dies eine Therapie sei, für Katrin wie für sie selbst. Sie entspannte sich wieder, und nach einigen Sekunden konnte sie es sogar genießen. Angie zwängte ihre Arme zwischen Katrins Beine, drückte sie auseinander und faßte ihre Freundin an den Po. Sie bohrte ihre Zunge in Katrins Scheide, preßte ihren Mund auf die Schamlippen und saugte und lutschte. Katrin bewegte sich wild hin und her und vergalt Angie ihre Bemühungen in gleicher Weise. Schnell waren die Mädchen am Ziel angelangt. Katrin kam zuerst. Angie preßte ihre Lippen hart auf Katrins Klitoris und küßte sie wild, dann schlug es auch bei ihr zu. Ineinander verkeilt, küßten und leckten sich die Mädchen, bis das Gefühl nachließ. Angie drehte sich geschafft um und legte sich neben Katrin. Sie tauschten noch einige zärtliche Küsse aus, dann blieben sie still liegen. „Ich hab das Gefühl, meine ganze Jugend nachzuholen“, kicherte Katrin plötzlich und schmiegte sich an Angie. „Weißt du“, flüsterte sie und legte ihre Lippen an Angies Ohr, „daß ich schon mit 9 an mir rumgespielt habe? Und mit 10 hatte ich meinen aller- ersten Orgasmus.“ „Das ist früh“, lächelte Angie und drückte ihr Ohr an Katrins Lippen. Katrins Zun- ge fuhr heraus und stieß in die Ohrmuschel. Angie legte eine Hand auf Katrins Po und drückte sie an sich. „Sag mal, sollen wir dir nicht einen netten Jungen besorgen, mit dem du dann weiterüben kannst?“ „Ach was“, lachte Katrin leise. „Noch nicht.“ Dann fuhr sie auf. „Angie!“ sagte sie völlig verblüfft. „Hast du das gehört?“ „Hm-m“, grinste Angie. „Sind wir jetzt völlig geheilt?“ „Nö! Mag nicht geheilt sein!“ schmollte Katrin, dann lachte sie auf und warf sich stürmisch auf Angie. „Du bist eine süße kleine Hexe, weißt du das?“ Sie knabberte an Angies Unterlippe. Angies Zunge kam heraus und leckte über Katrins Oberlippe. „Du machst mich wahnsinnig“, murmelte Katrin glücklich. „Und ich liebe dich wahnsinnig. Wollen wir nochmal?“ „Wenn du möchtest“, schmunzelte Angie. „Aber diesmal gehst du nach oben, klar?“ „Bin schon auf dem Weg!“ Sie drehte sich etwas herum und küßte Angie so wild und erregt an der Brust, daß Angies Lust urplötzlich aufflammte. Katrin leckte sie ab, von der Brust über den Bauch bis zu den Beinen, dann stieß sie ihren Kopf zwischen Angies Beine. Angie zog Katrins Becken etwas zu sich herunter und stieß ihre Nase tief in Katrin hinein. Es dauerte nicht lange, bis die Mädchen ihren zweiten Höhepunkt an diesem Morgen hatten. „Das tat gut!“ lachte Katrin. „Jetzt hab ich Hunger!“
Angies Schätzung war völlig richtig. Katrin tobte etwa zwei Wochen lang mit An- gie herum, bis zu fünfmal am Tag, in der dritten und vierten Woche ließ es dann sehr nach, und in der fünften Woche geschah es nur noch ein einziges Mal, danach nie wie- der. Ab und zu schliefen die Mädchen zwar noch zusammen in einem Bett, aber es kam nicht mehr zu den intimen Berührungen wie vorher. Katrin brauchte es nicht mehr. Doch wie zwischen Angie und Jana, so war auch zwischen Katrin und Angie ein Band entstanden, das die Mädchen immer verbinden würde; eine stille Zusage, daß eine immer für die andere da war, egal, wann und wo.
* * *
„Das ist meine liebste Jahreszeit“, seufzte Angie und sah aus Marks Bürofenster. „Ich mag den Oktober. Ich mag die roten Blätter, und diese Stimmung nach Vollen- dung und Neuanfang. Alles kommt zur Ruhe, alles wird langsamer und langsamer. Im November dann die Stürme, dieses Wehren gegen das Ende des Jahres, und dann der Dezember, der alles unter seinem weißen Tuch bedeckt, unter dem sich neues Leben formt und darauf wartet, hervorzukommen. Ist doch eigentlich genau wie bei uns, oder?“ Mark trat hinter Angie und legte seinen Arm von vorn um ihre Schultern. Angie griff mit beiden Händen danach und hielt ihn fest. „Ich meine, ein Mädchen kommt hier an und wird ruhig, dann kommt der Sturm, wenn sie ihren Schmerz rausläßt, und dann wächst ein neuer Mensch in dem alten heran, so wie die Pflanzen unter dem Schnee.“ „So schwermütig heute?“ Mark fuhr Angie mit der freien Hand durch die Haare. Angie drückte ihren Kopf an Mark. „Nein, nicht schwermütig“, sagte sie leise. „Nur ein bißchen nachdenklich.“ „Kann ich dir dabei helfen?“ „Hn-n“, machte Angie. „Geht gleich wieder vorbei. Manchmal brauch ich das, um mich wieder so richtig freuen zu können. Ich will hier nicht weg, Mark!“ Es dauerte einige Sekunden, dann hatte Mark Angies letzten Satz registriert. Er nickte leicht, ohne etwas zu sagen. Auch er wollte Angie nicht mehr missen. Er mochte sie sehr, er fühlte sich wohl, wenn sie in seiner Nähe war, er konnte mit ihr reden und lachen, und sie verstanden sich besser als manches langjähriges Paar. Aber die Regel bestand nun einmal: wenn ein Mädchen volljährig war und eine Ausbildung angefan- gen hatte und sich davon eine kleine Wohnung leisten konnte, dann mußte sie raus. Andererseits würde Angie in ein paar Wochen vierzehn werden. Sie war inzwi- schen mit Katrin in die Gymnasialgruppe gewechselt und kam dort mehr als ordentlich mit. Sie arbeitete aber auch hart dafür, genau wie Katrin. Sie waren jetzt in der 8. Klasse, hatten also noch mehr als zwei Jahre Schule vor sich bis zur Mittleren Reife, und vielleicht machten sie ja sogar das Abitur, auch wenn das bedeuten würde, sie müßten jeden Morgen nach Konstanz hineinfahren, da das Heim weder die Reifeprü- fung anbot noch ein Studium finanzierte. Aber selbst das würde bedeuten, daß sie mit neunzehn fertig mit der Schule war und für sich selbst sorgen mußte. ‘Kommt Zeit, kommt Rat’, dachte Mark traurig und drückte Angie an sich. Zum ersten Mal war Mark sorgenfrei, was die Umarmung eines seiner Zöglinge anging. Er strich Angie erneut über die Haare. Angie legte ihren Kopf an seinen Arm und erfreute sich an Marks Nähe. Sie zog unabsichtlich an Marks Arm, der vor ihrer Schulter lag; dadurch rutschte er genau auf ihren kleinen Busen und drückte darauf. Sofort durch- fuhr Angie ein heißes, wohliges Gefühl, doch es wurde sofort unterbrochen, da Mark seinen Arm wegzog. „Entschuldige“, sagte Angie schnell. „War mein Fehler.“ „Schon gut“, erwiderte Mark. So kurz die Berührung auch war, sie hatte ihm mächtig zugesetzt. „Wann fängt Katrins Feier an?“ lenkte er sich ab. „Um drei. Ach ja!“ Angie drehte sich aufgeregt um und sah zu Mark hoch. „Du bist eingeladen!“ „Danke“, lächelte Mark, „aber die Einladung kann ich nur annehmen, wenn ihr im Aufenthaltsraum feiert. Ich besuche kein Mädchen auf ihrem Zimmer.“ „Weißt du was, Mark?“ sagte Angie ruhig. „Nein, was denn?“ „Deine selbstgemachten Regeln gehen mir inzwischen ganz gewaltig auf die Ner- ven!“ Wütend riß Angie sich los und stapfte hinaus. Mit einem lauten Geräusch flog die Tür zu.
Angie hatte ursprünglich vorgehabt, Mark zu bitten, beim Bäcker im Dorf eine Torte für Katrins Feier abzuholen, doch nach diesem Patzer ging sie persönlich und zu Fuß, die ganzen acht Kilometer hin und zurück. Der Rückweg war schwieriger, da die Torte schwer war und Angie bei jedem Schritt darauf achten mußte, wo sie ihre Füße hinsetzte. Etwa auf der Hälfte des Weges sah sie Marks Wagen entgegenkommen. Mit dem ganzen Stolz ihrer fast vierzehn Jahre hob sie ihren Kopf und sah geradeaus. Sie hörte den Wagen bremsen und wenden, dann hielt er neben ihr. „Steig bitte ein, Angie“, bat Mark sie. Angie ignorierte ihn gekonnt und ging wei- ter. Mark fuhr langsam neben ihr her und bat sie erneut, doch einzusteigen, doch Angie blickte weiterhin starr geradeaus. Marks Wagen machte einen Satz nach vorne und fuhr weg. Mit grimmiger Miene setzte Angie einen Fuß vor den anderen. Knapp eine Stunde später war die Torte im Kühlschrank, Angies Stimmung auf dem Siedepunkt und Marks Laune auf dem Nullpunkt. Heftig drückte er auf den Knopf der Sprechanlage, der seine Stimme in das ganze Haus übertrug. „Angela Maron, so- fort in mein Büro!“ bellte er in das Mikrofon. Angie, die gerade ihr Zimmer betreten hatte, zuckte zusammen, zeigte dem Lautsprecher einen Vogel und setzte sich auf ihr Bett. Katrin bekam Angst, als sie Angie sah. Soviel Wut in den Augen hatte sie bei Angie noch nie gesehen. Sie ging zögernd zu ihrer Freundin und setzte sich neben sie. „Was ist denn?“ fragte sie leise. Angie schüttelte den Kopf. „Du solltest besser aus der Schußlinie gehen“, sagte Angie eisig. „Hier knallt es gleich furchtbar. Ich bin in genau der richtigen Stimmung dafür!“ „Willst du nicht zu Mark gehen? Er hat doch nach dir gerufen!“ „Und?“ Angies Stimme hätte kochendes Wasser in Eis verwandelt. „Der kann ru- fen, bis er heiser wird.“ Katrin hielt es für das Klügste, sich aus dem Staub zu machen. „Ich geh mal ein bißchen spazieren“, sagte sie nervös und eilte hinaus. Kurz darauf hörte Angie Marks laute Stimme. „Wo ist Angie?“ Katrins Antwort konnte sie nicht hören, aber wenige Sekunden später wurde die Tür zu ihrem Zimmer aufgerissen. „Mark!“ sagte Angie überrascht. „Du besuchst mich? Auf meinem Zimmer? Was für eine schöne Überraschung! Komm doch rein!“ Das tat Mark auch, mit einer Miene, die jeden anderen Menschen sofort zum Abhauen bewogen hätte. Angie blieb seelen- ruhig sitzen. „Setz dich doch. Möchtest du etwas zu trinken?“ „Angie, was sollte der Unsinn vorhin?“ „Welcher?“ fragte Angie unschuldig. „Dein Unsinn, den du verzapft hast? Oder daß ich die Torte für Katrin abgeholt habe. Entschuldige bitte, aber du mußt dich schon klarer ausdrücken.“ Der Umgang mit den Mädchen aus dem Gymnasium hatte an Angies Wortschatz und Ausdrucksweise Wunder bewirkt. „Daß du nicht eingestiegen bist und mich ignoriert hast“, sagte Mark beherrscht und setzte sich neben Angie auf ihr Bett. Seine Augen sprühten Feuer. „Ach, das!“ lachte Angie. „Das tut mir leid, Mark. Ich war so in Gedanken, daß ich dich gar nicht gehört habe.“ Sie schenkte ihm ihr strahlendstes Lächeln. „Wollen wir jetzt über deinen Unsinn reden?“ Mark verspürte den Impuls, Angie den Hals umzudrehen. Gleichzeitig wollte er sie umarmen, küssen und streicheln. Sekundenlang schwankte er zwischen den beiden Möglichkeiten, dann stand er auf. „Angie, hör mit bitte zu“, sagte er dann mit seiner gewohnten, sanften Stimme. „Ich bin schon sehr lange in diesem Geschäft. Als Mann, der ich nun einmal bin, mußte ich mir selbst bestimmte Regeln machen, damit ich nicht pausenlos in Schwie- rigkeiten gerate. Gut, du verstehst das nicht, oder du willst es nicht verstehen. Das ist dein Problem. Aber du...“ „Dann sag mir bitte, wo das Problem ist, nachher zu unserer Feier zu kommen“, sagte Angie wütend. „Katrin ist hier, ich bin hier, und noch ein paar Mädchen. Wenn du darin ein Problem siehst, hast du wirklich mehr Probleme, als ich dachte.“ Sie stand ebenfalls auf. Seit dem letzten Jahr war sie ein gutes Stück gewachsen und reichte Mark nun bis knapp unter den Hals und nicht mehr nur bis zum Bauch. Ihre Augen blitzten wütend. „Glaubst du etwa, wir werfen dich auf ein Bett und ziehen dich aus? Oder was?“ „Nimm dich zusammen, Angie!“ Mark wurde ärgerlich. „Darum geht es doch gar nicht!“ „Richtig!“ fauchte Angie. „Ich weiß, worum es geht. Du hast schlicht und einfach Angst. Nicht vor mir, nicht vor Katrin, nicht vor irgend einem anderen Mädchen.“ Sie ging so nah an Mark heran, daß sie ihren Kopf in den Nacken legen mußte, um seine Augen zu sehen. „Nein, mein lieber Mark, du hast Angst vor dir! Angst, daß du wieder leben könntest. Fühlen könntest. Lieben könntest!“ Sie gab Mark einen Stoß, der ihn unvorbereitet traf. Er fiel auf Angies Bett und sah sie erstaunt an. „Davor hast du doch Angst, oder?“ tobte Angie. Sie war außer Kontrolle. „Angst, dich wieder zu verlieben. Angst, deine eigenen Regeln zu brechen. Regeln! Pah! Das sind doch alles nur Aus- flüchte! Mann, du hast ja noch dickere Mauern gebaut als Katrin! Von mir aus kannst du in deinem selbstgebauten Grab verrotten! Du spürst ja nicht mal, wenn dich jemand wirklich liebt, du selbstgefälliger, selbstgerechter Arsch!“ Jedes einzelne Wort von Angie traf Mark wie ein glühender Pfeil. Er wurde blaß, dann sah er rot. Buchstäblich. Er sprang auf und riß Angie von den Füßen. Sie schwebte knapp zwanzig Zentimeter über dem Boden. „Na los!“ höhnte sie. „Schlag mich doch! Das könnt ihr Männer doch am Besten! Gewalt ist ja so viel leichter als Nachdenken! Na los, schlag schon zu! Oder wirf mich aufs Bett und fick mich! Bedien dich ruhig! Das hab ich alles schon mitgemacht.“ Die Luft zwischen Angie und Mark schien zu flimmern, so viel Energie schoß aus beider Augen. „Aber dazu hast du wohl auch keinen Mumm, oder?“ rief Angie spöttisch aus. „Geh doch gleich in die Kiste und mach hinter dir zu! Wieso willst du eigentlich noch leben? Du bist doch schon tot, Mann!“ Angies Worte rissen tiefe Löcher in Marks Verteidigung. Schutzwälle fielen, Mau- ern brachen ein, und hervor schoß die Erkenntnis, daß Angie völlig recht hatte. Ein tiefer Schmerz, geboren vor Jahren und genährt durch weitere Jahre Einsamkeit, kam ans Licht und löste sich auf, dahinter blieb ein großer, leerer Fleck, der nur durch Mark selbst wieder gefüllt werden konnte: durch seine Bereitschaft, wieder zu leben. Noch immer hielt er Angie in der Luft, noch immer tobte und schimpfte sie, doch Mark war in einem Zustand der totalen Selbsterkenntnis. Der wichtigste Teil von ihm, seine Seele, setzte sich mit den neuen Erfahrungen auseinander, akzeptierte sie und verwarf die alten. Doch, seine Regeln waren wichtig gewesen, sowohl für die Sicher- heit und das Vertrauen der Mädchen, die in seinem Heim wohnten, als auch für ihn, um nicht unvorhergesehen in eine Situation zu kommen, die für ihn und das Heim nur Probleme und Ärger bedeutet hätte. Aber Mark sah genauso klar, daß es auch Aus- nahmen geben konnte. Und daß diese Ausnahmen genauso akzeptiert werden mußten wie die Regeln. Als er das erkannt hatte, brach eine weitere Mauer. Alle Gefühle für Angie, die er in den letzten Monaten entwickelt und erfolgreich unterdrückt hatte, strömten hervor und erfüllten ihn. Er holte Angie näher heran, hielt sie unter dem Po mit seinem linken Arm fest, legte seine rechte Hand in ihren Nacken und küßte sie zärtlich, mit all seiner Liebe für sie. Angie schlang Arme und Beine um ihn und erwiderte den Kuß, ebenfalls mit all ihrer Liebe. Zeit und Raum waren nur noch Begriffe, die für Angie und Mark keine Gültigkeit mehr hatten, als sie sich endlich und deutlich ihre Liebe füreinander gestanden. Schließlich trennte Angie sich von Marks Lippen und legte ihren Kopf an seine Schulter. „Na endlich!“ lächelte sie. „War das eine schwere Geburt!“ „Hast ja recht. Du hast ja so recht!“ Mark streichelte sie zärtlich. „Jetzt alles wie- der gut?“ „Bei mir ja“, grinste Angie. „Und bei dir?“ „Denke schon. Mir ist irgendwie... so leicht innerlich.“ „Das ist toll!“ strahlte Angie. „Dann paßt ja nachher viel Kuchen rein! Du kommst doch?“ „Sicher komm ich“, lächelte Mark „Wenn ihr mir einen Kaffee besorgt, bleibe ich sogar.“ „Den sollst du haben“, freute Angie sich. Sie gab Mark einen zärtlichen Kuß. „Ich lieb dich so, Mark.“ „Ich liebe dich auch, Angie.“
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„Ihr seid doch komplett übergeschnappt!“ Fassungslos schaute Katrin auf ihre Beute: viele CDs, einige preiswerte, aber modische Ringe und Ohrclips, ein Riesenpo- ster von Nana, ein bemaltes und lackiertes Gipsmodell einer altmodischen Kutsche mit vier Pferden, jede Menge Süßigkeiten und sogar ein ganz weiches Stofftier, ein Schäf- chen. Dazu jede Menge lustig-verrückte Glückwunschkarten und diese Riesentorte, auf der vierzehn Kerzen fröhlich flackerten. Mark hatte sie bezahlt, aber um möglichen Problemen und Gerüchten vorzubeugen, hatte er mit Angie abgesprochen, daß die Torte von ihr kommen sollte. Angie hatte den Grund eingesehen und sich danach ge- richtet. Nur Katrin wußte noch Bescheid. „Total abgedreht seid ihr!“ wiederholte Katrin gerührt, dann umarmte sie jedes ein- zelne Mädchen stürmisch. Auch Mark bekam seine Ration, der damit wesentlich bes- ser umgehen konnte als noch vor einigen Stunden. „Jetzt die Torte!“ rief Angie und drückte Katrin ein langes Messer in die Hand. „Wir haben Hunger!“ Konzentriert blies Katrin die Kerzen aus und machte den ersten tiefen Schnitt. Angie bekam das erste Stück. „Für deine ganze Hilfe“, sagte Katrin be- wegt und drückte Angie erneut. „Bring mich nicht zum Heulen, sonst verschmiert mein Make-up!“ lachte Angie. Da Angies Abneigung gegen Kosmetik allgemein bekannt war, erntete sie einen Rie- senlacher für diesen Kommentar. Nach dem Kaffee wurde viel geredet, gelacht, gespielt und erzählt, bis spät abends. Gegen elf waren Angie und Katrin dann alleine. Schnell wurde aufgeräumt, dann duschten sie und gingen ins Bett. Am Sonntag gönnte Angie sich einen faulen Tag. Marks „Heilung“ hatte sie doch ziemlich beansprucht, weil sie zum ersten Mal persönlich daran beteiligt war. Sie zog sich eine dicke Hose, einen warmen Pullover und feste Schuhe an, schlüpfte in ihren Mantel und setzte sich hinter dem Haus auf einen Stuhl. Sie legte die Füße hoch und verbrachte den Tag mit Dösen und Träumen. Am Montag war sie dann wieder fit.
Angie wurde inzwischen auch von den älteren Mädchen akzeptiert, die sonst auf eine 13jährige leicht herabblickten, aber ihr Talent, mit jedem Problem umgehen zu können und jeden Menschen als Menschen zu behandeln, hatte ihr viele Freunde ein- gebracht. Ihre Geburtstagsfeier Anfang November mußte im Aufenthaltsraum stattfin- den, weil ihr Zimmer einfach zu klein war. Angie war überwältigt von den vielen Mädchen, die ihr gratulierten und kleinere Geschenke machten. Mark, der ganz genau wußte, wie hoch Angies Ansehen war, schmunzelte über ihre Verblüffung. Am Samstag nach Angies Geburtstag bat Mark Katrin, für ein paar Stunden auf das Telefon aufzupassen, da er mit Angie zu einer kleinen Konferenz müßte. Katrin sagte zu, und wenig später saßen Mark und Angie im Auto und fuhren Richtung Konstanz. „Was denn für eine Konferenz?“ fragte Angie neugierig. „Eine sehr wichtige“, antwortete Mark trocken. „Du mußt auf jeden Fall dabei- sein.“ Aufgeregt wollte Angie mehr wissen, doch Mark schwieg und verriet nichts. Nach längerer Fahrt hielt Mark schließlich vor einem großen und vornehm ausse- henden Hotel. Ziemlich eingeschüchtert betrat Angie die weiträumige Empfangshalle und folgte Mark, der zielstrebig zu einer bestimmten Tür ging und sie öffnete. Stau- nend trat Angie in ein großes, elegantes Restaurant. Mark redete kurz mit einem Kell- ner, der sie dann zu einem kleinen Tisch direkt am Fenster führte. Von dort hatten sie einen herrlichen Blick auf die umgebende Landschaft. Verwirrt sah Angie sich um und setzte sich, dann fragte sie Mark, wo sie hier wä- ren. „In einem erstklassigen Restaurant“, schmunzelte Mark. „Wenn du hier erst einmal gegessen hast, willst du nie wieder hier weg.“ „Warum sind wir denn hier? Was für eine Konferenz passiert denn hier?“ Mark weidete sich an Angies Verwirrung „Nun reg dich mal nicht auf“, lächelte er. „Wir beide machen hier eine Konferenz. Ich wollte dich einfach zum Essen einladen, um deinen Geburtstag mit dir nachzufei- ern.“ Angie strahlte. „Mark!“ sagte sie glücklich. „Das ist so... Jetzt bin ich ganz sprachlos.“ „Was für eine Seltenheit“, grinste Mark. „Na komm. Wir essen erst lecker, dann quatschen wir noch ein bißchen.“
Das Essen war wirklich traumhaft. Noch nie hatte Angie ein so köstliches Steak gegessen, und das Gemüse dazu schmeckte einfach himmlisch. Satt und zufrieden lehnte Angie sich zurück. „Hattest recht“, stöhnte sie und rieb sich den Bauch. „Hier esse ich jetzt jeden Tag. Mann, war das lecker!“ „Erzähl Maria bloß nichts davon, sonst wirft sie eine gefrorene Hammelkeule nach mir.“ Ausgelassen lachten und redeten sie noch eine Weile, dann kam Mark auf den tatsächlichen Grund seiner Einladung zu sprechen. „Angie, hast du schon bestimmte Pläne für deine Zukunft?“ „Ja“, gab Angie traurig zu, „aber die gehen alle nicht.“ Sie blickte Mark kurz an. „Meine Pläne spielen sich alle innerhalb des Heims ab, aber da ich da raus muß...“ Sie zuckte die Schulter. „Deswegen sind wir hier, Angie“, sagte Mark leise. „Ich suche auch nach einem Weg, dich bei mir zu behalten, und ich glaube, ich habe einen gefunden.“ Angie fuhr elektrisiert auf. „Echt?“ „Ja, ich denke schon. Allerdings müßtest du zwei Dinge dafür tun.“ Angie hörte gespannt zu. „Erstens: du müßtest dein Abitur schaffen und zweitens Sozialarbeit stu- dieren. Dann könntest du nach dem Studium als eine Art... Beraterin oder Therapeutin bei uns eingestellt werden.“ Er lächelte Angie zu, die ihr Glück kaum fassen konnte. „Natürlich weiß ich, daß du dieses Studium eigentlich nicht brauchst, aber wie du weißt, arbeiten wir mit den Behörden zusammen. Auch wenn sie sehr tolerant in vielen Dingen sind, wollen sie doch auf jeden Fall und bei allen Mitarbeitern, die auf der Ge- haltsliste stehen, einen qualifizierten Abschluß sehen. Daran führt kein Weg vorbei. Bis zum Abi könntest du bei uns wohnen, und ich werde schon vorher versuchen, für dich eine Ausnahmeregelung zu erwirken, daß du auch während des Studiums bei uns bleiben kannst. So eine Art permanentes Praktikum.“ Angie verstand nur die Hälfte von Marks Worten, aber sie verstand, daß sie bleiben durfte und das Heim nicht ver- lassen mußte. Ihre Augen füllten sich mit Glückstränen. „Hey!“ lachte Mark leise. „Du kannst doch hier nicht einfach heulen, Angie. Nach- her denkt der Koch noch, sein Essen war versalzen.“ „Tut mir leid“, lächelte Angie und rieb sich die Augen trocken. „Es ist stärker als ich.“ „Ich weiß“, antwortete Mark und griff nach ihrer Hand. „Ich will dich auch nicht verlieren, mein Engelchen.“
* * *
Einige Jahre später hatte Angie ihr Abitur in der Tasche, ebenso wie Katrin und Ja- na. Jana zog aus dem Heim aus, als ihr Antrag auf Studienbeihilfe bewilligt worden war, und wohnte während ihres Studiums mit einer anderen Studentin zusammen. An- schließend bekam sie eine Stelle als Historikerin in einem Museum. Katrin studierte nicht; sie machte eine Ausbildung in Hauswirtschaft und übernahm nach und nach Marias Job, die sie gründlich anlernte und einwies. Als Katrin soweit war, daß sie die Küche mit sämtlichem Wareneinkauf in der Hand hatte, ging Maria in Rente, schaute aber von Zeit zu Zeit herein, um „nach dem Rechten zu sehen“. Angie folgte dem Weg, den Mark ihr aufgezeichnet hatte. Sie studierte Sozialarbeit und erwarb sich nach bestandener Prüfung das Recht, in dem Bereich zu arbeiten, der ihr so sehr am Herzen lag. Mark stellte sie den entsprechenden Leuten vor, und kurz darauf hatte sie ihren Vertrag. Glücklich und stolz zog sie in Marks Zimmer, aus dem sie niemand mehr herausbekam.
E N D E
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