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SH-091 - Das Schloß
Das Schloß .... (sh-091.zip)
(m/g rape violent death) (81k) (date posted: Tuesday PM, December 12, 2000)
Nach dem Umzug in eine ehemalige Burg häufen sich die Anzeichen, daß etwas ganz und gar nicht in Ordnung ist. Susi (12) und ihre Freundin Petra (12) werden mit Geschehnissen konfrontiert, die die Familie zu zerstören drohen.
Das Schloß
TEIL 1 - VOR VIER JAHREN
Kapitel 1 - Umzug
Traurig sah die 12jährige Petra zu, wie ihre beste Freundin und Klassenkameradin Susi ihre Bücher und Spielsachen in die Umzugskartons räumte.
"Ihr zieht wirklich um?" fragte sie, als könnte sie es nicht glauben. Susi nickte wütend.
"Ja. In ein Spukschloß." Sie ließ den Stapel Bücher, den sie in den Händen hatte, achtlos in den Karton fallen. "Frag mich nicht, warum. Keine Ahnung."
"Steuergründe." Susannes 18jähriger Bruder Ulrich kam mit hängendem Kopf in ihr Zimmer und setzte sich zu den Mädchen auf den Boden. "Hat unsere Mutter mir gerade erklärt. Vater hat das Schloß gekauft, um es zu renovieren, und dafür bekommt er erstens Geld von der Stadt oder dem Land, und zweitens ist er für die nächsten paar Jahre von allen Steuern für das Grundstück und Haus befreit. Und drittens..." Er stieß die Luft aus. "Drittens werden später, wenn alles wieder in Ordnung ist, Führungen gemacht. Dadurch kassiert er noch mehr Geld."
"Und warum nimmt dich das so mit?" knurrte Susi. "Du hast doch dein Motorrad."
"Eben." Er schüttelte den Kopf. "Das Grundstück liegt über 700 Meter hoch. Hast du eine Ahnung, wie das da im Winter aussieht? Da kann ich mir Schlittschuhe an die Reifen bauen. Martina ist auch nicht gerade begeistert, daß wir jetzt so weit weg wohnen. Sie hat das Schloß damals ja mit uns besichtigt. Sie findet es unheimlich." Martina war Urichs 17jährige Freundin.
"Ich auch." Susi drehte sich zur Seite, nahm den nächsten Stapel Bücher und packte ihn unnötig hart in den Karton.
"Mach den nicht nur mit Büchern voll", riet ihr Bruder ihr. "Sonst wird der zu schwer."
"Muß ich den schleppen? Nein. Also."
Ihr Bruder mußte etwas lächeln. "Der einzige, der sich freut, ist Max. Für ihn ist das ganze Gelände ein großer Spielplatz."
"Kein Wunder", brummte Susi. "Wär ich fünf Jahre alt, würde ich mich auch freuen. Toller Wald, tolle Wiesen, sogar ein kleiner Bach... Aber ich bin zwölf!" Sie warf ihrem Bruder einen vorwurfsvollen Blick zu, obwohl den überhaupt keine Schuld an dem Umzug traf. Er war so dagegen wie sie. "Petra und ich haben vorhin mal ausgerechnet, wie lange ich brauche, um zu ihr zu kommen." Sie griff nach einem kleinen Zettel.
"Erst mal 'ne Viertelstunde bis zur Bushaltestelle laufen. Dann mit der 692, die ganz nebenbei bemerkt nur jede Stunde da fährt, zum Bahnhof. Umsteigen in die Straßenbahn. Alles zusammen knapp 'ne Stunde." Wütend knallte sie den Zettel auf den Boden. "Und der letzte Bus Richtung Schloß fährt abends um acht. Super, nicht? Aus mit mal eben über die Straße laufen. Fuck!" Ihre Freundin wohnte auf der anderen Straßenseite, in dem Haus gegenüber.
Petra schaute ihre Freundin bedrückt an, doch bevor sie etwas sagen konnte, hörten sie die Stimme von Susis Mutter.
"Kinder! Der Möbelwagen kommt in einer Stunde! Beeilt euch!"
Susi schnitt eine Grimasse in Richtung Tür, während Ulrich sich zu Petra drehte. Er wußte, daß sie ihn mehr als nur nett fand, aber erstens war sie mit ihren 12 Jahren viel zu jung für ihn, und zweitens hatte er eine Freundin. Trotzdem behandelte er das Mädchen immer sehr nett und freundlich. Nicht aus Berechnung, sondern weil er eben so war.
"Für dich ist es wohl auch hart", meinte er mitfühlend. "Deine anderen Freundinnen fahren am Wochenende weg?"
"Ja." Das Mädchen seufzte stumm, während Susi leise schimpfend den Rest ihrer Sachen einpackte. Natürlich alle Bücher in einen Karton. Dafür war ein anderer nur halb voll mit T-Shirts. Susi meinte, so hätte sie es leichter beim Auspacken. Und außerdem wäre sie schließlich ein ordentliches Mädchen.
"Wir fahren die letzten drei Wochen weg", sagte Petra. "Alle anderen die ersten drei. Ihr fahrt gar nicht, wie ich gehört habe?"
"Stimmt. Unsere Eltern wollen in den Ferien schon mal den ganzen Kleinkram in Ordnung bringen. Also alle Räume, die wir vorerst nicht benutzen, gründlich sauber machen, Müll abtransportieren, Gespenster raus ekeln und weiß der Geier was noch." Er lächelte bei dem Wort 'Gespenster'.
"Die sollen bloß nicht glauben, daß ich einen Handschlag tu." Susi faltete den Deckel des Kartons zusammen und stand auf. "Ich hab schließlich Ferien. Petra, morgen früh komm ich zu dir, ja?"
"Ich kann dich bringen." Ulrich stand auf. "Martina und ich wollten uns um zehn in der Stadt treffen. Ich hab auch keinen Nerv auf Putzen." Er fuhr Petra kurz über das Haar, worauf die 12jährige glücklich strahlte. "Wenn du magst, Petra, kann ich dich abholen. Mit dem Bike sind das nur knapp 20 Minuten. Und natürlich zurück bringen." Petra platzte beinahe vor Glück bei diesen Worten. Sie nickte aufgeregt.
"Laß das bloß nicht deine Martina hören", meinte Susi spitz. Sie wußte genau, daß Petra ein bißchen in ihren Bruder verliebt war. "Sonst wird die noch eifersüchtig."
Petra wurde knallrot und schaute verlegen zu Boden. Ulrich verbiß sich einen Kommentar. Er war auch gereizt. Er mochte die Gegend, in der sie jetzt wohnten. Mit dem Motorrad waren es nur fünf Minuten bis in die Stadt, und sogar nur zwei Minuten bis zu Martina. In Zukunft mußte er jeweils 15 bis 20 Minuten dazu addieren. Susi traf es noch viel schlimmer. Er konnte sie sehr gut verstehen.
"Martina ist nicht eifersüchtig", erwiderte er deshalb nur. "Genau wie ich. Wir vertrauen uns."
Susi nickte und seufzte. "Tut mir leid, Uli. Mir geht das alles nur tierisch auf den Sack."
Darauf verkniff sich ihr Bruder erst recht einen Kommentar. "Mir auch. Sag mal, wollen wir Petra nicht direkt mitnehmen? Ich muß sowieso mit dem Bike fahren. Und einen Helm, der mir zu klein ist, hab ich auch noch."
"Super!" Susi nickte aufgeregt, und Petra strahlte bis zu den Ohren. "Petra, lauf rüber und frag. Ich muß nur auspacken und einräumen, dann können wir raus in die Freiheit. Machst du das?"
"Supergirl fliegt!" Lachend sprang Petra auf und raste wie ein Blitz los. Ihre langen, blonden Haare flatterten hinter ihr her. Uli sah fragend zu seiner Schwester.
"Supergirl?"
"Wegen ihrer Haare." Grinsend streckte sich Susi. "Weil ihre Augen auch so blau sind wie die von Supergirl. Und weil sie beim Sport wie eine Rakete abdüst. Sie ist beim Laufen die Schnellste in unserer gesamten Stufe. Ihr Trikot ist außerdem so wie Supergirls Kleidung. Blaues Shirt, rote Hose, rote Strümpfe, rote Turnschuhe. Fehlt nur das rote Cape." Sie ließ die Arme sinken. "Martina hat wirklich nichts dagegen, wenn du Petra abholen würdest?"
"Natürlich nicht." Er schaute seine Schwester mit einem gespielten, belehrenden und etwas überheblichen Blick an. "Martina und ich lieben uns so sehr und haben so viel Vertrauen zueinander, daß unsere Beziehung durch andere Menschen nicht gefährdet wird."
"Amen!" kicherte Susi fröhlich. "Du würdest sie wirklich mal abholen?"
"Klar. Martina und ich treffen uns meistens Nachmittags. Morgen ist eine Ausnahme." Er beugte sich vor und senkte die Stimme. "Wir wollten morgen nämlich mit ihrer Mutter reden, ob wir nicht mal eine Woche wegfahren können. Onkel Wolfgang würde uns seinen Wohnwagen kostenlos überlassen. Wir müßten nur für unser Essen sorgen."
Susi seufzte laut, während sie zu ihrem Kleiderschrank ging und nachschaute, ob sie wirklich alles eingepackt hatte. "Du hast es gut. Du kannst dich auf deine Kiste schmeißen und abhauen. Aber ich? Ich muß noch fast drei Jahre warten, bis ich wenigstens ein Mofa fahren darf. Und selbst damit überholen mich noch die Igel."
"Wir schaffen das schon." Er stellte sich neben sie und schloß sie kurz in die Arme. Susi kuschelte sich bedrückt an ihn.
"Ich will da nicht hin, Uli!" meinte sie leise. "Das ist doch so weit weg von allem! Das nächste Büdchen ist am Stadtrand. Fast 'ne halbe Stunde mit dem Rad. Da können die noch so viel von der tollen Landschaft schwärmen. Da draußen sind wir abgeschrieben! Wenn Petra erst mal im strömenden Regen mit dir fährt oder im Schneetreiben von der Haltestelle zu uns läuft..." Sie drückte ihren Bruder fest. Der strich ihr tröstend über den Kopf.
"Ich weiß, Susi. Ich hab riesig viel Glück mit Martina. Sie fährt gerne auf dem Bike mit, egal was für ein Wetter ist. Sie hat ja auch mittlerweile alles, was sie dazu braucht. Aber du und deine Freundinnen... Das ist echt hart. Ich verstehe auch nicht, was unsere Eltern da geritten hat. Na komm." Er drückte sie noch einmal und ließ sie dann los. "Machen wir alles fertig."
Susi nickte bedrückt. Sie schaute sich noch einmal gründlich in ihrem Zimmer um, während ihr Bruder leise hinaus ging, und nahm Abschied. Sie würde zwar ihre ganzen Möbel mitnehmen, doch in Zukunft würde sie nicht mehr Petras Haus und Zimmerfenster sehen. Kein Winken am Fenster mehr, keine geheimen Zeichen. Nichts. Wütend drehte sie sich vom Fenster weg.
"Fuck!"
Wenig später saß Familie Delsing am Frühstückstisch. Petra, die von ihrer Mutter die Erlaubnis bekommen hatte, mitzufahren - jedoch nur unter der strikten Auflage, keinem zwischen den Füßen herum zu laufen -, schaute sich die Familie an, während sie mit ihnen ihr zweites Frühstück zu sich nahm.
Da war der Vater, den Petra sehr gern hatte. Peter Delsing. 46 Jahre alt, fast 1,90 groß, und stattliche Gestalt. Soweit Petra wußte, gehörten ihm sechs oder sieben Autogeschäfte in dieser und noch ein paar mehr in zwei anderen Städten. Er war reich. Das drückte sich bei ihm sowohl in Kleidung als auch Auftreten aus. Er war nicht eingebildet oder arrogant, sondern einfach nur unglaublich selbstsicher. Seine dunkelblonden Haare trug er sehr kurz, fast im Bürstenschnitt, und seine blauen Augen schauten fest und unerschrocken in die Welt.
Wie seine Frau Iris. Fünf Jahre jünger als ihr Mann, doch wie er gebildet und kultiviert. Sie trug ihre braunen, lockigen Haare nicht mehr so lang wie früher, nur noch bis knapp über die Schultern, sah damit dennoch so umwerfend aus wie vor 20 Jahren. Sie war mit 1,86 eine relativ große Frau, doch trotz drei Kinder paßte sie immer noch problemlos in die gleiche Kleidergröße wie vor der Heirat. Ihre braunen Augen schauten mitfühlend auf Petra und Susi. Sie wußte, was die beiden durchmachten.
Ulrich kam nach seinem Vater. Ebenfalls 1,90 groß, doch nicht ganz so kräftig und stattlich gebaut wie sein Vater, mit dessen dunkelblonden Haaren, die er jedoch um einiges länger wachsen ließ, und seinen blauen Augen. Er würde nach diesen Sommerferien die 13. Klasse und das Abitur machen. Danach... Er wußte noch nicht genau, was er studieren wollte, und seine Eltern drängten ihn auch nicht. Er schwankte zwischen Chemie und Medizin. Die endgültige Entscheidung wollte er vom Ausgang des Abiturs abhängig machen.
Uli war als Motorradfahrer in der ganzen Nachbarschaft bekannt, und zwar mit einem sehr guten Ruf. Er hatte mit 15 ein Mofa bekommen, war mit 16 auf ein Kleinkraftrad umgestiegen, hatte dieses mit 17 gegen ein Leichtkraftrad mit 17 PS eingetauscht und fuhr nun, mit 18, eine 250er mit 27 PS. Die wollte er die nächsten zwei Jahre behalten, um dann auf eine 500er und anschließend auf sein Traumbike, eine importierte 900er mit 140 PS, umzusteigen. Er fuhr überaus vorsichtig und riskierte nichts. Dennoch konnte er sein Bike, wie er die kleine Honda liebevoll nannte, auch im extremen Grenzbereich handhaben; dafür fuhr er schon lange genug. Doch rechnete er immer damit, daß andere Verkehrsteilnehmer einen Fehler machen könnten. Diese Einstellung hatte ihn schon mehrmals vor schweren Unfällen bewahrt, in die er mit einer etwas riskanteren Fahrweise garantiert verwickelt worden wäre. Auch aus diesem Grund hatten die Eltern seiner Freundin Martina, mit der er nun seit mehr als vier Jahren zusammen war, nichts dagegen, daß ihre Tochter mit ihm fuhr. Sie hatten zwar etwas Angst, weil ein Motorrad nun mal nur zwei Räder anstatt vier und kein schützendes Blech um sich herum hatte, doch diese Angst war völlig normal, und Uli tat mit seinem Fahrstil auch alles, um diese Angst abzubauen. Auch er schaute während des Essens immer wieder mitfühlend zu Susi, die lustlos aß.
Susi war zwölf, und schon jetzt eine Schönheit. Sie hatte die braunen Haare ihrer Mutter geerbt, mitsamt den Locken. Susi trug sie jedoch sehr lang, bis zum Bund der Hose. Es kostete zwar viel Zeit, sie zu waschen und bürsten, doch Susi liebte lange Haare. Sie war mit zwölf schon fast 1,65 groß, womit sie Petra um satte zehn Zentimeter überragte, und mit knapp 42 Kilo extrem schlank. Ihr Knochenbau war jedoch auch sehr zierlich, und nach Auskunft des Hausarztes paßte ihr Gewicht zu ihrer Figur, auch wenn es an der unteren Grenze der Skala lag. Sie begann erst seit einigen Wochen, den ersten Ansatz weiblicher Formen zu bekommen, doch ihre Regel - das wußten alle in der Familie - hatte noch nicht eingesetzt. Sie kam nach den Ferien mit Petra in die siebte Klasse auf dem gleichen Gymnasium, auf das auch ihr Bruder ging.
Susis Augen gaben immer wieder Anlaß zu heiteren Bemerkungen zwischen ihren Eltern, denn die waren leuchtend grün. Weder in der Familie ihrer Mutter noch in der ihres Vaters waren grüne Augen bekannt, doch daß sie das Kind ihrer Eltern war, zeigte sich überaus deutlich in ihrem Gesicht. Form und Schnitt kamen von ihrer Mutter, Nase, Mund und Kinn von ihrem Vater.
Das jüngste Familienmitglied schließlich freute sich auf den Umzug. Max, der Nachzügler, war mit fünf Jahren noch schnell für Abenteuer zu begeistern, und das Schloß samt umliegender Natur betrachtete er als großes Abenteuer. Er hatte schon feste Pläne gemacht, was er zuerst erforschen wollte. Seine braunen Augen schauten aufgeregt über den Tisch, seine dunkelblonden Haare waren vom Toben zerzaust. Ihm war trotz seiner Jugend schon anzusehen, daß er die Figur seines Vaters geerbt hatte. Sein Knochenbau war kräftig, und er sah mehr wie ein Neunjähriger als wie ein Fünfjähriger aus. Er hatte noch ein Jahr Kindergarten vor sich, bevor im nächsten Sommer die erste Klasse auf ihn wartete, worauf er sich schon jetzt freute.
"Wie viele Zimmer hat das Schloß denn?" fragte Petra Susis Mutter, als ihr die Stimmung am Tisch zu bedrückt wurde.
"Vor dem Umbau waren es noch 60 gewesen", erwiderte Frau Delsing. "Nach dem Umbau sind es 46. Die Kinderzimmer wurden vergrößert, genau wie das Schlafzimmer. Den Rest haben wir so gelassen."
"Und wieso wurden die vergrößert?"
"Es ist zwar ein Schloß", antwortete Herr Delsing darauf, "oder besser gesagt: eine alte Burg, doch viele der Zimmer sind klein, Petra. Das Schloß hat insgesamt vier Geschosse. Ganz unten sind acht große Zimmer, im ersten und zweiten Stock waren jedoch jeweils 22 kleine Räume. Winzige Räume sogar. Ich nehme an, daß die für das Gesinde gewesen waren."
"Für was?" fragte Petra verblüfft. Herr Delsing lachte leise.
"Entschuldige. Für die Angestellten damals, die Haus und Hof in Ordnung gehalten haben. Die wurden Gesinde genannt. Nicht zu verwechseln mit Gesindel. Die Kinder haben jetzt jeweils knapp 70 Quadratmeter große Zimmer." Er sah zu seinem ältesten Sohn. "Damit kann Martina auch wesentlich problemloser bei uns übernachten als bisher."
Uli zuckte grinsend mit den Schultern. "Mir macht es nichts aus, wenn sie nachts ganz eng bei mir liegt."
"Würg!" Susi schnitt eine Grimasse, mußte dann jedoch wie der Rest der Familie lachen. Nur Petra schaute kurz, doch sehr traurig auf Ulrich, bevor sie sich um ihr Rührei kümmerte. Iris Delsing, die diesen Blick gesehen hatte, verkniff sich ein mitfühlendes Lächeln und trank schnell einen Schluck von ihrem Kaffe, bevor sie sich prüfend umschaute. Bis auf Petra und Susi waren alle fertig mit ihrem Frühstück. Doch sie hetzte die Kinder nicht; es war noch eine halbe Stunde Zeit, bis der Möbelwagen kam.
"Wo sind die restlichen acht Zimmer?" fragte Ulrich, der Petras Blick nicht gesehen hatte. "Erdgeschoß acht, dann jeweils 22, das macht 52. Fehlen acht."
"Die sind im Dachgeschoß." Iris setzte ihre Tasse ab. "In den vier großen Türmen. Und genau da beginnt auch unsere Arbeit. Die Zimmer sind randvoll mit Müll. Mit allem, was in den letzten dreihundert Jahren nicht weggeworfen worden ist. Und nein", lachte sie, als sie Ulrichs Augen aufleuchten sah, "es sind keine wertvollen Schätze darunter. Einfach nur Müll und Schrott. Selbst ein Antiquitätenhändler, dem wir das vor drei Wochen gezeigt haben, hat nur mitleidig den Kopf geschüttelt und ist wieder abgezogen. Die Räume werden wir in den nächsten Tagen ausmisten."
"Ach ja!" Susi sah trotzig auf. "Petra kommt morgen früh zu uns. Uli holt sie ab. Und heute wollte ich ihr das Grundstück mit allem zeigen, sobald mein Zimmer fertig ist."
"Mach das", lächelte ihre Mutter. "Wir haben zum Ausmisten viel Zeit, Susi. Die ganzen Sommerferien." Susi schwieg vernichtet, stopfte das letzte Stück Rührei in sich und stand auf. Auch Petra war fertig.
"Soll ich abräumen helfen?" fragte sie eifrig. Iris schüttelte den Kopf.
"Lieb von dir, Petra, aber nicht nötig. Du kannst aber gerne mit Susi noch mal durch das Haus gehen, um zu kontrollieren, ob wir nichts vergessen haben."
"Klingt gut." Susi zog Petra schnell mit sich nach draußen. Peter Delsing sah zu seinem Sohn.
"Alles fertig oben?"
"Ja. Susi hat alles eingepackt. Bei Max ist auch alles leer, und bei mir ebenfalls. Trotzdem verstehe ich das nicht." Er warf seinem Vater einen fragenden Blick zu. "Wir sind hier sehr zentral. Susi hat in Zukunft eine sehr lange Fahrt vor sich. Morgens wie Mittags. Max auch, wenn er nächstes Jahr in die Schule kommt. Warum? Ist das Schloß so toll?"
Sein Vater lächelte hintergründig. "Es ist schön, daß du dir Sorgen um deine Geschwister machst, aber die sind unnötig. Deine Mutter wird nächsten Montag ein Auto bekommen. Bisher brauchten wir nur eins, weil ich vieles von hier aus erledigen konnte, aber in Zukunft brauchen wir zwei. Gar keine Frage. Sie wird deine Schwester zur Schule und Max zum Kindergarten fahren und auch abholen."
"Und ich werde auch liebend gerne Taxi für Susis Freundinnen spielen", schmunzelte Iris. "Obwohl wir das bei Petra wohl nicht mehr brauchen, oder? Sieht so aus, als hättest du diesen Job sicher in der Tasche."
Ulrich verzog etwas das Gesicht. "Das ist mir doch selbst etwas unangenehm", gestand er leise. "Ich wage schon kaum, in ihrer Gegenwart etwas von Martina zu erwähnen. Wenn sie 15 oder 16 wäre, könnte man ja noch vernünftig mit ihr reden, aber so..."
"Ist schon okay, Uli", erwiderte seine Mutter herzlich. "Sie schwärmt für dich, aber da muß sie durch. Mußte ich auch, als ich noch jünger und in einer gleichartigen Situation war. Ich wundere mich nur, wie früh sich die Mädchen heutzutage schon verlieben. Oder zumindest es für Verlieben halten. Was meinst du, Peter: Wann wird es bei Susi soweit sein?"
"Nicht vor ihrem 18. Geburtstag!" meinte Peter Delsing bestimmt, dann fiel er in das Lachen seiner Frau und seines Sohnes mit ein. Er war genau wie seine Frau viel zu realistisch, um diesem frommen Wunsch auch nur die kleinste Chance zu geben.
Der Möbelwagen kam pünktlich um zehn Uhr, wie bestellt. Um kurz nach elf war der Wagen voll, und das Haus leer. Susi nahm seufzend ihren kleinen Bruder an die Hand, der den Möbelpackern oft genug im Weg gewesen war.
"Na komm, Mäxchen. Sagen wir dem Haus Auf Wiedersehen."
Der Fünfjährige drehte sich gehorsam um und winkte. "Wiedersehen, Haus!" Dieser Abschiedsgruß machte Susi noch trauriger. Sie schob ihren Bruder zum Auto ihres Vaters und stieg mit ihm hinten ein, wo sie ihn sorgfältig in den Kindersitz setzte und anschnallte. Dann legte sie selbst den Gurt an und schaute mit feuchten Augen hinaus auf ihr altes Zimmer.
Iris blickte kurz zu Ulrich, der Petra gerade seinen alten Helm aufsetzte, und dann zu ihrem Mann Peter. "Wir können wohl."
Er bemerkte den Unterton in ihrer Stimme und lächelte beruhigend. "Sie werden sich dran gewöhnen, Iris. Ganz bestimmt. Sie haben bisher nur einen sehr kleinen Teil gesehen. Sobald Susi ihr neues Zimmer sieht, wird sie ihr altes nicht mehr vermissen. Und heute Abend sagen wir ihr das mit deinem neuen Auto."
"Und wer baut mich auf?" meinte sie mit einem schiefen Lächeln. "Nicht mal eben kurz zum Kaffe zu Yvonne rüber." Yvonne war Petras Mutter. "Nicht mal eben schnell zum Laden laufen und Milch kaufen."
"Drei Tage, Liebes." Er nahm sie zärtlich in den Arm. "Die nächsten drei Tage werden wie im Flug vergehen, und Montag hast du dein neues Auto. Es geht leider nicht schneller. Warum mußtest du auch dieses helle Blau wählen?"
"Weil das meine Lieblingsfarbe ist. Schwarze Autos fährt doch jeder." Sie seufzte leise. "Na gut. Fahren wir. Trotzdem werde ich es vermissen, Peter. Immerhin haben wir fast 20 Jahre hier gewohnt. Außerdem ist jeder Abschied ein kleines Sterben."
"Du bist jung genug, um nicht ans Sterben denken zu müssen." Er küßte sie sanft. "Unser altes Haus gehört immer noch uns, Iris. Wenn es dir wirklich nicht gefällt, dann -"
"Es gefällt mir doch, Peter. Es ist nur... Na ja, eben ein neues Haus, und weit weg von allem. Da hat Susi vollkommen recht."
"Gib dem Schloß eine Chance, Liebes. Gib uns allen eine Chance. Es ist weit weg, aber mit deinem Auto bist du schnell in der Stadt."
Iris seufzte lautlos. "Hast recht. Laß uns fahren, bevor ich noch so ein Gesicht ziehe wie Susi." Entschlossen stieg sie in den Wagen ihres Mannes. Peter ging um den Wagen herum und setzte sich auf den Fahrersitz. Im Rückspiegel sah er, daß Ulrich und Petra bereit waren. Dahinter stand der Möbelwagen mit laufendem Motor.
Es konnte losgehen.
Ulrich hatte Petra seinen alten Helm aufgesetzt und ihn sorgfältig verschlossen. Da es ein schöner Sommertag war und er zwischen den beiden Autos fahren würde, brauchten sie für die kurze Fahrt nicht viel mehr an Schutz. Er stieg zuerst auf. Petra setzte den linken Fuß auf die Fußraste für den Sozius, hielt sich an seinen Schultern fest und schwang sich auf den Sitz.
"Wo kann ich mich festhalten?" fragte sie Ulrich.
"Hinter dir ist ein Griff", erklärte er. "Entweder da, oder an mir."
Petra mußte nicht eine Sekunde überlegen. Sie warf ihre Arme um Ulrich und drückte sich fest an ihn. Sie konnte hinterher immer noch sagen, daß sie sich aus Angst so festgehalten hatte. Glücklich schmiegte sie sich an ihn, legte den behelmten Kopf an seinen Rücken und fühlte sich unbeschreiblich wohl.
Ulrich drückte auf den Anlasser. Der Motor erwachte. Vor ihm tat sein Vater das gleiche. Der große BMW rollte langsam los. Auch Ulrich fuhr an. Er warf einen schnellen, letzten Blick auf das alte Haus, dann konzentrierte er sich auf den Möbelwagen hinter ihm, der ebenfalls los fuhr.
"Nicht so schnell fahren, ja?" rief Petra. Ulrich nickte.
"Ich fahr vorsichtig, Petra. Keine Sorge."
Doch Petra machte sich Sorgen. Darüber, daß die Fahrt viel zu schnell vorbei sein könnte. Sie saß erst ein paar Sekunden hinter ihm, mit ihrem Oberkörper fest an ihn gedrückt, doch sie wünschte sich schon jetzt, ewig so sitzen bleiben zu können. Als es dann auf die Hauptstraße ging und Ulrich beschleunigte, zogen wohlige Schauer durch ihre Brust. Sie drückte sich noch fester an ihn.
Ulrich, der diese Reaktion von Martina kannte, lächelte nur still in seinen Helm. Er wußte, daß sich heutzutage 12jährige Mädchen nicht nur verliebten, sondern daß sie teilweise noch ganz andere Sachen machten. Ihn erstaunte Petras Reaktion nicht im Geringsten. Auch nicht, daß ihre kleinen Brustwarzen in Sekundenschnelle hart wurden.
Die kleine Kolonne fuhr einen Umweg, um der Stadtmitte auszuweichen, die um diese Uhrzeit verstopft sein würde. Das alte Haus lag im Westen der Stadt, das Schloß jedoch weit im Osten. Peter Delsing fuhr deshalb zuerst ein Stück nach Süden, bis er den äußeren Stadtring erreicht hatte, und schwenkte dann auf die Landstraße nach Osten ein. Ulrich beschleunigte langsam, um dem Möbelwagen hinter ihm die Chance zu geben, aufzuschließen. Der BMW vor ihm ging es zügiger an und verschwand schnell aus dem Sichtfeld.
Nach insgesamt vierzig Minuten Fahrt, die Petra wie zwei Minuten vorkamen, bog Ulrich in einen kleinen Weg ein und bremste herunter. Der Weg zum Schloß war etwa zehn Meter asphaltiert, bevor es auf Schotter ging. Konzentriert wich er den Schlaglöchern aus und näherte sich in einem weiten Bogen dem Schloß, das heute ganz anders aussah, als er es in Erinnerung hatte. Staunend hielt er mitten auf dem Weg an.
Die dunkelgrauen, fast schwarzen Steine, die dem Schloß einen unheimlichen Eindruck verliehen hatten, glänzten nun hellgrau und ließen es aussehen wie frisch erbaut. Das ganze Moos an der Nordseite war verschwunden und durch Holzgitter ersetzt, an denen Wildrosen in die Höhe klettern konnten. Auch Efeu war gepflanzt worden. Die alten, vermoderten Fenster waren durch moderne ersetzt worden, die sich harmonisch in das Bild des Schlosses einfügten. Auch das ganze wilde Unkraut neben dem Weg war mittlerweile entfernt worden.
"Boah!" hörte er Petra hinter sich sagen. "Das sieht ja toll aus!"
Ulrich mußte ihr recht geben; es sah viel schöner aus als vor einem halben Jahr, als sie das Schloß zum ersten Mal gesehen hatten. Er fuhr schnell los, als der Möbelwagen hinter ihm hupte, und hielt Sekunden später neben dem BMW seiner Eltern, die samt Susi und Max schon vor der Treppe zum Eingang standen. Ulrich ließ Petra absteigen, wobei er merkte, daß sie noch einmal kräftig mit dem Oberkörper über seinen Rücken rieb, und bockte dann das Bike auf. Er half Petra, den Helm abzunehmen, und blickte in zwei strahlende Augen.
"Hast dich gut gehalten", lobte er sie. "Und perfekt in die Kurven gelegt."
"Ich hab mich einfach nur an dir festgehalten", kicherte sie geschmeichelt und verlegen. "Mehr nicht."
Iris schmunzelte versteckt, als sie Petras harte Brustwarzen durch deren T-Shirt sah, und wandte sich schnell an die Möbelpacker, die auf Anweisungen warteten. Susi sicherte sich gleich ihre Freundin.
"Gehen wir hoch!" meinte sie aufgeregt. "Das sieht alles viel besser als beim letzten Mal aus. Komm!"
Die beiden Mädchen rannten die zwölf Stufen zur Tür hinauf. Stolz zog Susi ihren Schlüssel, den sie genau wie ihr Bruder schon gestern bekommen hatte, öffnete die schwere Tür, die sich lautlos und sehr leichtgängig öffnete, und blieb staunend stehen. Es hatte sich alles verändert. Als sie das Schloß mit der Familie im Winter besichtigt hatte, hatte es einfach nur verkommen und dreckig ausgesehen, doch heute...
Die hellgrauen Steinmauern der Halle glänzten hell im Sonnenlicht, das durch große Fenster herein kam. Der Parkettboden schimmerte frisch geputzt, und die großen Teppiche erstrahlten in satten Farben. Die breite Treppe nach oben sah wieder nach Stein aus, nicht nach Unrat und gut bevölkerten Nestern von Insekten. Der breite Läufer, der auf jeder Stufe mit funkelnden Messingschienen befestigt war, schimmerte in einem satten, dunklen Rot. Sämtliche Türen, die vor einem halben Jahr noch aussahen, als würden sie beim ersten Niesen in kleine Splitter zerbrechen, blitzten unter Möbelpolitur. Auch die vier dicken Säulen, die das obere Geschoß stützten, glänzten wieder in hellem Stein und waren nicht mehr von Spinnweben überzogen. Susi fand nur ein Wort für das alles:
"Geil!"
Petra nickte begeistert. "Sieht voll cool aus! Wo ist dein Zimmer?"
"Im zweiten Stock. Komm!" Susi rannte aufgeregt die Treppe hoch. Petra lief direkt hinterher.
Auch Ulrich war schwer beeindruckt. Iris und Peter nahmen sich lächelnd in den Arm und schauten ihrem Sohn zu, wie er mit großen Augen in die Halle ging, die etwa sieben Meter breit und fünf Meter lang war. Ulrichs Finger fuhren anerkennend über das weiße, glänzende Holz der Türen. Iris und Peter hatten sich für diese Farbe entschieden, weil sie sehr viel besser zu Hellgrau paßte als Braun. Die großen Fenster waren aus der gleichen Produktionslinie wie die Tür. Gemeinsam boten sie ein perfektes Bild.
Max' Zimmer war als letztes in den Möbelwagen geräumt worden, um den kleinen Jungen beim Einzug aus dem Weg zu haben. Iris ging mit ihm vor, um den Möbelpackern den Weg zu zeigen. Peter blieb mit Ulrich unten.
"Und?" meinte Peter schmunzelnd. "Immer noch Vorbehalte?"
"Wenn der Rest so aussieht wie das hier..." Er schüttelte den Kopf. "Dann nicht mehr."
"Sieht es." Sein Vater wurde etwas ernster. "Die Zimmer, in denen wir anfangs wohnen werden, sind fertig. Abgesehen von den Möbeln natürlich. Möchtest du für uns Pizza holen? Wenn du zurück kommst, dürften die Leute fertig sein. Dann essen wir, und anschließend machen wir eine kleine Führung."
"Pizzas mit der Honda." Ulrich sah seinen Vater mitleidig an. "Soll ich die auf den Motor legen, damit die heiß bleiben?"
"Kannst es versuchen." Grinsend gab sein Vater ihm den Autoschlüssel. "KFZ-Schein ist im Handschuhfach. Hier ist Geld." Er drückte ihm einen Hunderter in die Hand. "Weißt du, was Petra gerne ißt?"
"Das gleiche wie Susi. Pilze und Schinken."
"Gut. Bis gleich dann. Ach ja: Fahr am besten im zweiten Gang an, sonst verstreust du den Schotter bis zur Landstraße."
"Okay!" Schmunzelnd machte sich Ulrich auf den Weg. Bei einem BMW 750, der auf über 370 PS getunt war, war das ein Rat, den er bestimmt befolgen würde. Er hatte viel zu viel Respekt vor diesem Kraftpaket.
Susi und Petra waren mittlerweile in Susis neuem Zimmer angekommen und dort wie vom Schlag getroffen stehen geblieben. Vollkommen überwältigt starrte Susi auf die sechs großen, von der Decke bis zum Boden reichenden Fenster, die mit einem Gitternetz aus weißen Holzstreben durchzogen waren; auf die leuchtend weißen Gardinen, die mit dicken blauen Bändern von den Fenstern ferngehalten wurden; auf die königsblauen, schweren Vorhänge, die an dicken, messingfarbenen Schienen hingen. Die untere Hälfte des Natursteins war rundherum mit weiß lasiertem Holz verkleidet. Auf der Fensterseite fanden die Mädchen viele Schränke und Regale in gleicher Farbe, wie auch an den anderen drei Wänden. Vor einem der sechs Fenster, durch die unglaublich viel Licht herein kam, stand ein brandneuer Schreibtisch mit einem ebenso neuen, äußerst bequem aussehenden Bürostuhl. Der Boden war fast vollständig von einem dicken weißen Berber verdeckt.
"Und?" Iris war dazu gekommen. Sie legte den Mädchen je einen Arm um die Schultern. "Gefällt es dir, Susi?"
Das Mädchen nickte sprachlos. Königsblau war ihre Lieblingsfarbe. Den Blick auf den strahlend weißen Teppich gerichtet zog sie sich die Turnschuhe aus und ging auf Strümpfen in ihr neues Heim. Iris stieß lautlos und erleichtert den Atem aus. Damit war das Schwierigste geschafft. Sie zwinkerte Petra, die ebenso überwältigt aussah wie Susi, kurz zu und ging dann mit Max in sein neues Heim, das ebenso eingerichtet war wie das von Susi und Ulrich, nur daß der jüngere Sohn Grün, der ältere jedoch Orange als Hauptfarbe hatte.
Auch Petra zog sich schnell die Schuhe aus und ging vorsichtig in Susis Zimmer. Susi blieb mitten im Zimmer stehen und schaute sich mit leuchtenden Augen um.
"Ist das riesig!"
Damit hatte sie recht. Durch das Zusammenlegen mehrerer Zimmer verfügte sie nun über einen Raum von zehn Metern Länge und fast sieben Metern Breite. Die Fenster besaßen eine Breite von über einem Meter, bei einer Höhe von über fünf Metern. Staunend gingen die zwei Mädchen an eines der Fenster und schauten hinaus. Sie blickten genau auf die Wiese hinter dem Schloß, die an einen Wald voller Tannen grenzte. Während Petra überwältigt in die herrliche Natur schaute, suchte Susi nach dem Griff, um das Fenster zu öffnen.
Doch da war keiner. So sehr sie auch schob, drückte und zog, das Fenster blieb zu.
"Mußte ja so kommen!" meinte sie schließlich verärgert. "Das war ja viel zu schön, um wahr zu sein."
"Stimmt was nicht?"
Die Mädchen drehten sich um. Susis Vater streckte seinen Kopf durch die Tür. Susi schnitt eine Grimasse.
"Die Fenster gehen nicht auf. Soll ich hier ersticken, oder was?"
"Bei deiner großen Klappe wäre das eine gute Idee." Grinsend kam er herein. "Schau mal hinter die rechte Gardine, du kleiner Unwirsch."
Stirnrunzelnd schob Susi die Gardine samt Vorhang etwas beiseite. Sie fand einen schmalen Schalter mit vier markierten Stellungen. Ihr Vater kam zu ihr.
"So ist das Fenster zu." Er deutete auf den Schalter, der ganz unten war. "Halb unten ist manuell, halb oben ist stufenlos, und oben ist ganz auf."
"Wie, manuell?" Susi drückte den Schalter in die Mitte. Mit einem leisen Klacken öffnete sich das Fenster einen Spalt, der von oben bis unten reichte. Sie schob das Fenster zur Seite, das fast lautlos in der Mauer verschwand.
"Geil!" Sie drückte den Schalter wieder ganz nach unten. Leise summend schloß sich das Fenster wieder. Fröhlich kichernd schaltete Susi nach ganz oben. Das Fenster öffnete sich vollständig. Vor dem Fenster war ein weißes Gitter aus Eisen angebracht, etwa einen Meter hoch.
"Die Stellung 'Manuell' ist für einen eventuellen Stromausfall oder ein Versagen des Motors gedacht. Damit wird das Fenster entriegelt. Ganz rechts an der Wand ist der Hauptschalter, mit dem alle Fenster gleichzeitig geöffnet oder geschlossen werden können. Alle Zimmer in dem Schloß sind so", erklärte ihr Vater. "Selbst bei Max. Er ist zwar erst fünf, aber er weiß seit seinem Sturz vom Balkon, daß Höhen sehr gefährlich sein können."
Susi nickte schnell. Ihr kleiner Bruder hatte mit drei Jahren den Balkon erstiegen und war gut vier Meter nach unten gefallen. Glücklicherweise mitten in dichte Büsche, die ihm zwar von Kopf bis Fuß die Haut aufgerissen, jedoch keinen Knochenbruch verursacht hatten. Seitdem hatte der Kleine einen gesunden Respekt vor allem, was keinen Boden hatte.
"Und nun", meinte ihr Vater lächelnd, "da das Fenster aufgeht und du leider nicht erstickst: wie gefällt es dir?"
"Toll!" Sie warf sich an ihren Vater und drückte ihn stürmisch. "Viel, viel besser als nach Weihnachten. Da sah das ja hier aus wie ausgekotzt und nicht weggewischt."
"Deine erfrischende Ausdrucksweise überrascht mich doch immer wieder." Er strich ihr lächelnd durch das Haar. "Kein Maulen und Knurren mehr?"
"Nicht in den nächsten zehn Minuten", kicherte Susi. "Apropos Meckern: Wie läuft das mit Mittagessen? Das Rührei war ja nur ein Ei für jeden."
"Dein überaus freundlicher Bruder ist bereits unterwegs, scheibenförmige Nahrung für die arme, fast verhungernde Familie zu holen."
Susis Kopf hob sich ruckartig, die grünen Augen leuchteten voller Erwartung. "Pizza?"
"Genau. Für Petra natürlich auch." Er zwinkerte dem Mädchen zu. "Die packt er übrigens in die Mitte, damit sie ganz heiß bleibt. Extra für dich." Petra lächelte verlegen und wurde etwas rot.
"Wann wird denn mein Zimmer eingeräumt?" fragte Susi aufgeregt.
"Jeden Moment. Bei Max sind sie so gut wie fertig. Deswegen bin ich hier. Weißt du schon, wie du die Möbel haben willst?"
"Ähm..." Susi sah sich hektisch um. Darüber hatte sie noch gar nicht nachgedacht. "Wo sind überall Lichtschalter?"
Ihr Vater zeigte sie ihr, woraufhin Susi sehr schnell entschied, wo Bett und Kleiderschrank stehen sollten.
Gerade noch rechtzeitig, denn gut zwei Minuten später kamen die Leute mit ihrem Bett und den ersten Kartons an. Susi nannte ihnen die Plätze, wo was stehen sollte, und Petra zog sich erst mal aus der Schußlinie zurück.
Keine zwanzig Minuten später hatte Susi fast alle ihre Möbel wieder; nur der Kleiderschrank und ihr alter Stuhl fehlten. Aufgekratzt ging sie unterstützt von Petra daran, ihre neuen Schränke und Regale zu füllen.
Kapitel 2 - Neue Freunde
Die sechs saßen auf dem Fußboden in dem Raum, der das neue Eßzimmer werden würde, sobald die bestellten Möbel eingetroffen waren, und stärkten sich mit der tatsächlich noch heißen Pizza. Petra saß zwischen Susi und Ulrich, wobei sie darauf achtete, daß ihr Knie öfter mal gegen Ulrichs Bein drückte. Natürlich ganz unabsichtlich. Ulrich, der ihr keine Hoffnungen machen wollte, rutschte unmerklich immer mehr von ihr weg, doch genauso unmerklich kam Petra nach, bis er schließlich aufgab und sie machen ließ. Sonst hätte er sich nach und nach bei seinem Vater auf den Schoß gesetzt.
Peter Delsing war fast fertig mit seiner Pizza, als es draußen laut und kräftig hupte. Schnell stand er auf, wischte sich die Hände an einer Serviette ab und lief nach draußen.
"Der Container", erklärte Iris Delsing auf die fragenden Blicke hin. "Für den Müll. Uli, wann holst du Martina?"
"Gegen drei. Bis dahin müßte ich mit meinem Zimmer durch sein."
"Also läuft alles wie geplant. Perfekt." Sie machte ein zufriedenes Gesicht. "Petra, wir wollten es Susi zwar erst heute Abend sagen, aber ich konnte noch nie Geheimnisse für mich behalten." Die Augen der beiden Zwölfjährigen füllten sich mit Neugier.
"Am Montag bekomme ich ein eigenes Auto, Susi. Ab dann kommst du sehr viel schneller in die Stadt." Sie lächelte herzlich, als sich die beiden Mädchen aufgeregt quietschend umarmten. "Zwar nicht viermal an einem Tag, aber einmal pro Nachmittag. Einverstanden?"
"Und wie!" stieß Susi erleichtert aus. "Scheint ja doch alles besser zu sein, als ich dachte."
"Trotzdem mußt du immer erst maulen, nicht wahr?"
"Natürlich", nahm Ulrich seine Schwester in Schutz. "Sie hat ja auch oft genug recht gehabt. Außerdem seid ihr selbst schuld daran, Mutter. Warum habt ihr alles so still und heimlich gemacht? Wenn wir gewußt hätten, wie gut das hier aussieht, hätten wir uns bestimmt besser benommen."
"Vielleicht", grinste Susi schnell, bevor ihre Mutter antworten konnte.
"Weil wir das bis Montag selbst noch nicht gewußt haben." Ihr Vater kam zurück und setzte sich wieder zu ihnen. Die drei älteren Kinder sahen ihn neugierig an, während Max, der schon lange satt war, sich mit flinken Füßen auf den Weg in sein Zimmer im ersten Stock machte, um mit seinen Spielsachen zu spielen. Peter Delsing sah seine übrigen Kinder abwechselnd an, wobei er auch Petra nicht ausließ.
"Wir haben das Schloß letztes Jahr im Mai gekauft", erklärte er. Die Augen der drei Kinder wurden groß. Peter lächelte entschuldigend. "Im Mai. Sieben Monate, bevor wir es euch gezeigt haben. Warum? Weil es Mai wie eine Ruine ausgesehen hat. Bis zum Dezember war es so, daß man es halbwegs vorzeigen konnte. Die Renovierungen haben alles in allem über ein volles Jahr gedauert. Erst am Montag kamen die Gardinen, Vorhänge und Teppiche, und erst da haben eure Mutter und ich gesehen, daß es tatsächlich so schön aussah, wie wir es uns vorgestellt hatten."
"Es ist außerdem sehr viel mehr neu als das, was das Auge sieht." Iris Delsing schluckte das letzte Stück ihrer Pizza herunter, wischte sich ebenfalls die Hände und legte dann die leeren Kartons zusammen. "Elektrik ist neu. Wasserleitungen sind neu. In jedem Zimmer sind diese Energiesparlampen, die jahrelang halten. Die Steine, aus denen das Schloß gebaut worden ist, mußten Stück für Stück mit besonderen Chemikalien behandelt werden, damit sie wieder so aussahen wie am ersten Tag. Innen und außen. Wir wußten nach den ersten paar Steinen, wie die Originalfarbe aussah, aber trotzdem war es ein Risiko. Wir mußten nämlich die Einrichtung für die Zimmer hier unten, die speziell nach unseren Wünschen angefertigt wird, aufgrund dieser paar Steine auswählen. Genau wie die Farben in euren Zimmern. Nun ist Weiß zwar nur selten ein Risiko, aber daß es so gut zu dem Hellgrau der Steine paßt, hätten wir uns bis Montag auch nicht vorgestellt. Fenster und Türen sind nach alten Vorlagen hergestellt worden, damit sie auch wirklich zu dem Schloß passen." Sie hob lachend die Hand, als Ulrich etwas sagen wollte.
"Nein, wir werden euch nicht verraten, was das alles gekostet hat. Sonst wollt ihr nur mehr Taschengeld."
"Kann passieren!" Lachend warf sich Susi an Petra, die dadurch gegen Ulrich gedrückt wurde. Der legte schnell seinen Arm um sie, um sie aufzufangen, was sie wegen des Stücks Pizza in ihrer Hand nicht selbst tun konnte. Sie warf ihm einen schnellen verliebten Blick zu, bevor sie feuerrot wurde und mit gesenktem Kopf in die Kruste der Pizza biß.
"Hier unten", sagte Peter schnell, um Petras Verlegenheit zu überspielen, "sind zwar acht Zimmer, aber wir benutzen vorerst nur drei. Das hier wird das Eßzimmer. Morgen werden ein großer Tisch, die Stühle dazu und ein paar kleinere und größere Schränke sowie viele Regale angeliefert und aufgebaut. Dann haben wir noch die Küche und das Wohnzimmer. Den Rest schauen wir uns gleich an, wenn Petra in aller Ruhe aufgegessen hat. Wir müssen uns nicht hetzen." Das Mädchen lächelte schüchtern und biß schnell in ihre Pizza.
Zwei große Bissen darauf war sie fertig. Iris packte ihren Karton zu den anderen und brachte den Abfall hinaus. Derweil ging ihr Mann mit Ulrich, Susi und Petra schon einmal vor.
"Wohnzimmer", meinte er nur, als sie in dem Raum ganz hinten links von der Halle aus standen. Schweigend und sehr beeindruckt schauten die drei Kinder auf den Raum, der fast 100 Quadratmeter groß war. Auch hier sorgten viele große Fenster für helles Licht. Susi zählte 16 Fenster. Die schweren Vorhänge ließen sich wie in den Kinderzimmern motorgesteuert öffnen und schließen. Der Ausblick aus den Fenstern entsprach dem in Susis Zimmer.
Die Möbel, die bisher in dem alten Wohnzimmer gestanden hatten, kamen in diesem Raum gar nicht richtig zur Geltung. Susi überlegte kritisch, woran das wohl liegen mochte.
"Wir haben auch hier neue Sofas und Sessel bestellt", sagte ihr Vater, während ihre Mutter sich der kleinen Führung wieder anschloß. "Massivere, die zu dem Schloß passen. Das dauert aber noch zwei, drei Wochen, bis die kommen. Nächste Woche wird hier noch ein letztes Mal intensiv gearbeitet; dann baut ein Schreiner die Regalwände ein." Er lächelte entschuldigend.
"Wir haben zwar die Termine so weit wie möglich aufeinander abgestimmt, aber Lücken ergeben sich immer wieder."
"Was ist das schwarze Ding da?" fragte Susi. "Was da so groß und breit in der Gegend herum steht?"
"Unser neuer Fernseher." Er ging zu dem flachen Couchtisch, nahm eine Fernbedienung auf und schaltete den Fernseher ein. Kurz darauf erwachte der ein Meter sechzig breite und neunzig Zentimeter hohe Bildschirm zu einem trotz des hellen Zimmers farbensprühenden Leben. Fasziniert schauten die drei Kinder darauf, bis Susi als erste schaltete.
"Und wo ist der alte?" fragte sie ihren Vater mit einer Stimme, die jedem klar machte, daß Ärger im Anzug war.
"Der steht jetzt in meinem Zimmer."
"Was?" Wütend fuhr Susi zu ihrem Bruder herum. "Und wieso bei dir? Warum nicht bei mir?"
Ulrich lächelte verschmitzt. "Weil du noch keinen Freund hast."
"Hä?" Verwirrt wandte sich Susi an ihre Mutter. "Was labert der da?"
"Erkläre ich dir, wenn du 18 bist." Ihre Mutter mußte an sich halten, um nicht herzhaft zu lachen. Susi verstand. Schmollend wandte sie sich ab.
"Gehen wir weiter." Auch ihr Vater hatte alle Mühe, sich seine Belustigung nicht anmerken zu lassen. Er schob Petra, die ebenfalls verstanden und Ulrich verletzt angesehen hatte, sanft nach draußen.
Die Küche war komplett neu und schimmerte metallen. Iris hatte sich zwar zuerst gegen diese Farbe gewehrt, doch nach und nach eingesehen, daß die Metallflächen viel einfacher sauber zu halten waren als furniertes Holz. Mittlerweile freute sie sich schon auf die ganzen neuen Geräte, die sie am nächsten Tag mit einem leckeren Essen einweihen wollte. Küche und Eßzimmer waren durch eine breite Tür miteinander verbunden, durch die sogar ein breiter Rollwagen paßte.
Das Bad im Erdgeschoß versetzte den Kindern einen weiteren angenehmen Schock: groß und hell. Hier war kein Naturstein mehr zu sehen; alles war unter hellbraunen Fliesen versteckt. Vier Lampen gaben genügend Licht, um es selbst nachts taghell zu erleuchten.
"Das ist das Gästebad", erklärte Iris. "Toilette, Dusche, Waschbecken. Oben teilen sich Ulrich und Max ein Bad, wir und Susi haben jeweils ein eigenes. Diese Badezimmer sehen aber genauso aus wie das hier, nur daß es dort noch Badewannen gibt."
"Puh!" Ulrich schüttelte den Kopf. "Vier Badezimmer! 46 Zimmer! Leute, das muß doch irrsinnig gekostet haben!"
"Hat es auch." Sein Vater zuckte mit den Schultern. "Aber ich finde, es hat sich gelohnt. Oder?" Die Köpfe der Kinder nickten nachdrücklich.
"Und was ist in den anderen Zimmern hier?" fragte Susi neugierig.
"Schauen wir doch mal." Ihr Vater legte seinen Arm um ihre Schultern und führte sie hinaus.
Im ersten der fünf vorerst nicht benutzten Zimmer lag nur Staub. Sonst nichts. Keine Bilder an den Wänden, keine Teppiche, keine Schränke oder Regale. Nur Staub. Das zweite, dritte und vierte Zimmer sahen genauso aus. Nur das fünfte war voll. Randvoll.
Mit verstaubten Büchern.
"Unsere Bibliothek!" Peter Delsing machte eine dramatische Gebärde und mußte dann selbst lachen. "Diese Bücher waren über drei Zimmer verteilt. Wir haben sie hier zusammen untergebracht. Übernächstes Wochenende kommt Vater Abraham und -" Er unterbrach sich, als sich Susi lauthals lachend den Bauch hielt. "Ist was?"
"Vater Abraham!" Susis Gesicht lief vor Lachen rot an. "Bringt der seine Schlümpfe mit?"
"Was?" Peter Delsing brauchte einen Moment, bis er verstand. Er seufzte grinsend.
"Nein, Susanne. Es ist nicht Vadder Abraham, sondern Vater Abraham. Er ist Vorsteher eines Klosters in der Nachbarstadt. Er wird sich über das Wochenende diese ganzen Bücher hier ansehen und uns sagen, welche davon historisch bedeutsam sind und welche nicht." Er schüttelte den Kopf, weil seine Tochter noch immer brüllend lachte. Auch Petra kicherte, prustete und lachte abwechselnd.
"Das hat man davon, wenn man seine Kinder auf eine öffentliche Schule schickt", meinte er zu seiner Frau. "Wir hätten sie doch ins Kloster stecken sollen."
"Meine Rede, aber auf mich hört ja keiner." Sie schmiegte sich breit grinsend an ihren Mann. Der wartete geduldig, bis Susis Lachanfall nachgelassen hatte und seine Tochter wieder ansprechbar war.
"Gehen wir mal nach oben", schlug er vor.
Sie gingen hinauf in den ersten Stock. Aus einem Zimmer drangen Max' fröhliche Geräusche. Iris ging zu ihm und blieb bei ihm, während Susi, Petra, Ulrich und Peter Delsing weiter in den zweiten Stock gingen. Oben angekommen streckte er beide Hände weit aus.
"Rechts und links sind weitere Treppen", erklärte er. "Die rechte führt hinauf ins Dachgeschoß. Die ersparen wir uns. Das ist nichts als ein Gang, der einmal um das ganze Schloß herum führt und die vier Türme miteinander verbindet. Das können wir uns beim Ausmisten noch genug ansehen. Wir gehen jetzt links hinauf."
Der Aufgang war nichts anderes als eine schmale Wendeltreppe aus Stein. Mehrere Lampen gaben ausreichend Licht ab. Ganz oben befand sich eine Tür, die Susis Vater mit einem dicken Schlüssel, den er von einem Haken neben der Tür genommen hatte, aufschloß. Helles Tageslicht flutete in den Aufgang.
Etwas geblendet gingen sie die letzten Stufen hinauf und standen im Freien. Susi riß Petra an der Hand mit sich zur Brüstung, die aussah wie aus einem alten Ritterfilm. Überwältigt schauten die Mädchen aus einer Höhe von weit über zwanzig Metern auf die Landschaft herunter.
"Nicht schlecht, was?" meinte ihr Vater schmunzelnd, der mit Ulrich dazu gekommen war. Auch der 18jährige war schwer beeindruckt. Der Vater erklärte weiter.
"Die vier Türme hier sind von außen nicht begehbar. Deswegen auch die zweite Treppe unten. Das war wohl damals günstiger für die Verteidigung der Burg. Der Gang, durch den wir gerade gekommen sind, konnte notfalls nur von einem oder zwei Männern verteidigt werden. Also hatten selbst dann diejenigen Angreifer, die sich per Seil oder sonst was bis auf diese Etage hoch gehangelt hatten, keine Chance, weiter zu kommen. Die Zimmer in den Türmen sind eigentlich eher unter den Türmen. Von dort aus führen ebenfalls Treppen nach oben zu den Schießscharten."
"Mir kommt da gerade ein ganz furchtbarer Gedanke." Ulrich schaute sinnend auf die Schießscharten, die jetzt ebenfalls mit Fenstern versehen waren. "Wer putzt die Fenster?"
"Regen und Wind." Er lachte, als die drei Kinder ihn verblüfft anschauten.
"Nein, nicht ganz. Ab Montag kommt täglich eine Putzfrau, die sich um die bewohnten Zimmer kümmern wird. Daß eure Mutter das macht, ist ausgeschlossen. Dafür ist das hier viel zu groß. Alle zwei Wochen kommt vormittags eine Firma, die die Fenster putzt. Das Schloß hier hat viel zu lange schäbig ausgesehen."
Ulrich bekam ein merkwürdiges Gefühl im Magen, als er seinen Vater dies sagen hörte. Er spürte, daß der Vater nicht alles über dieses Schloß sagte, was er wußte.
"Warum wolltest du dieses Schloß überhaupt haben?" fragte er, als der Blick seines Vaters wieder klar geworden war. Der zuckte ratlos mit den Schultern.
"Ich kann es dir nicht erklären, Junge. Wirklich nicht. Schon als kleines Kind habe ich mir gewünscht, hier zu wohnen. Als Jugendlicher hat mir der Anblick des herunter gekommenen Schlosses weh getan. Körperlich weh. Dank eurer phantastischen Mutter, die mich bei diesem verrückten Plan sehr unterstützt hat, ist es nun soweit." Ulrich stellte bewegt fest, daß die Augen seines Vaters feucht geworden waren.
"Ich kann nur sagen", meinte Peter Delsing leise, "daß ich mich jetzt, hier und jetzt, zum ersten Mal in meinem Leben wirklich zu Hause fühle. Als ob ich hierher gehören würde. Zusammen mit meiner Familie." Er schüttelte den Kopf.
"Gut!" meinte er dann mit normaler Stimme. "Der Schlüssel zur Tür hier oben hängt sehr hoch. Susi, du mußt dich ziemlich strecken, um ihn zu erreichen. Er hängt wegen Max so hoch, und er soll auch so hoch hängen bleiben. Vergeßt das bitte nicht. Wenn Max hier herunter fällt, helfen auch keine Büsche mehr."
"Gleich mal probieren!" Susi flitzte zurück zur Tür und tastete nach dem Schlüssel. Sie bekam ihn mit Müh und Not zu fassen.
"Woher wußtest du ihre Höhe?" fragte Ulrich erstaunt, während Susi den Schlüssel wieder zurück an den Haken hängte. Sein Vater grinste breit.
"Weil ich genau weiß, ab welcher Höhe sie nicht mehr an meine Schokolade in der Schrankwand kommt, ohne auf einen Stuhl steigen zu müssen." Er schlug Ulrich, der sich vor Lachen krümmte, auf die Schulter. "Ich geh wieder runter, zu Max. Schließt ab, wenn ihr fertig seid."
"Ich komm mit!" rief Susi sofort. "Petra, kommst du?"
"Gleich!" Die 12jährige schaute sehnsüchtig auf die Landschaft. Vater und Sohn wechselten einen kurzen Blick, worauf Ulrich nickte.
"Ich bleib bei ihr. Sie kommt ja nicht an den Schlüssel." Petra war knapp 1,55 groß. Peter Delsing dankte seinem Sohn mit einem kurzen Lächeln und ging dann mit Susi zusammen zu seiner Frau und Max. Ulrich stellte sich neben Petra an die 1,20 hohe Brüstung. Gemeinsam schauten sie auf den kleinen Bach, der in der Mittagssonne fröhlich blitzte und funkelte. Ulrich wollte gerade eine Bemerkung über das gesunde Gras machen, als er bemerkte, wie Petra sich langsam näher an ihn schob. Ulrich atmete tief durch. Er hatte eine Freundin, die er sehr liebte. Er mußte mit Petra ein ernstes Wort reden.
Aber wie? Wie sollte er mit einem 12jährigen Mädchen reden, das in ihn verschossen war? Derartige Situationen gehörten nicht zu seinem Erfahrungskreis. Sollte er ihr sagen, daß er sie zwar nett fand, daß aber mehr nicht drin war? Oder sollte er so tun, als würde er ihre Annäherungsversuche nicht bemerken? Vielleicht sollte er zuerst mit Martina darüber reden. Sie war ein Mädchen und wußte wahrscheinlich viel besser, was er machen sollte.
Doch, entschied er erleichtert. Das würde er tun. Es wurde sowieso Zeit, sie abzuholen. Er mußte gut 20 Minuten fahren, um zu ihr zu kommen; nicht mehr die zwei Minuten die Straße runter.
"Wir müssen langsam wieder runter", meinte er deshalb zu Petra, sie schon ziemlich dicht bei ihm stand. Das Mädchen nickte leicht.
"Du hast deine Freundin sehr lieb, nicht wahr?" fragte sie leise. Ulrich nickte. Urplötzlich wußte er, was er zu sagen hatte.
"Ja, Petra. Das sind Sachen, die man nicht mehr steuern kann. Du triffst jemanden und bist plötzlich verliebt. Das passiert jedem von uns." Petra nickte.
"Stimmt. Das passiert jedem von uns."
"Und manchmal hat man das Glück, daß der andere einen auch liebt. Und manchmal eben nicht. Verstehst du? Man kann für das eine genauso wenig wie für das andere."
"Ich verstehe", wisperte Petra. "Fährst du mich denn nachher trotzdem nach Hause?"
Sie klang so traurig, daß Ulrich über seinen Schatten sprang, sie in den Arm nahm und drückte. Sofort schlangen sich ihre Arme wie eiserne Klammern um ihn.
"Natürlich fahr ich dich heim, Petra", sagte er sanft. "Ich hol dich auch gerne immer ab und bring dich zurück. Es ist nur so, daß ich eben Martina liebe. Dich finde ich sehr nett, aber sie liebe ich. Verstehst du?"
"Ja!" Sie schaute mit leuchtenden Augen zu ihm auf. Er fand sie nett; sehr nett sogar! Also war doch noch nicht alles verloren. Sie hatte noch Chancen. Es kam doch alle naselang vor, daß sich Leute in andere Leute noch mehr verliebten, als sie in ihre derzeitigen Freundinnen oder Freunde verliebt waren. Und er würde sie nachher zurück fahren. Sie hatte noch Chancen.
Ulrich war glücklich darüber, daß sie es so gut aufgenommen hatte. Er strich ihr kurz über Kopf und Rücken und ließ sie dann los. "Gehen wir runter. Ich muß Martina abholen."
"Ist gut." Petra, die noch ganz unter dem wohlig kribbelnden Gefühl seiner Hände an ihrem Kopf und ihrem Rücken stand, löste sich von ihm. Sie ging vor und wartete am Fuß der Treppe, bis Ulrich die Tür abgeschlossen hatte und wieder bei ihr stand. Dann schenkte sie ihm einen herzlichen Blick aus ihren schönen blauen Augen.
"Ich finde dich auch sehr nett, Uli. Auch wenn ich erst zwölf bin. Findest du, daß man mit zwölf noch ein Kind ist?"
"Manche nicht." Er fuhr ihr lächelnd durch das Haar. "Komm, Petra. Wir haben noch zwei hohe Etagen vor uns."
"Zum Glück geht's jetzt runter. Darf ich dich noch einmal drücken?"
"Ein Mal." Er streckte seine Arme aus. Petra flog hinein und drückte ihn kräftig. Ulrich schloß sie stumm seufzend in seine Arme. Auch als er Sekunden später merkte, daß ihre Brustwarzen wieder hart wurden und sich in seinen Bauch drückten, blieb er ruhig und drückte sie einfach nur, bis sie sich freudestrahlend von ihm löste. Impulsiv gab er ihr einen kleinen Kuß auf die Stirn.
"Bis nachher, Petra. Ich muß wirklich los."
"Bis nachher." Sie sah ihm verliebt hinterher, bis er auf der Treppe nach unten verschwunden war.
Er hatte sie geküßt!
Glücklich schwebte sie die Treppen hinunter.
Er hatte sie geküßt!
* * *
Martina gab sich von dem neuen Aussehen des Schlosses ebenfalls sehr beeindruckt.
"Unvorstellbar!" meinte sie überwältigt, als sie Ulrichs neues Heim mehrere Sekunden lang angeschaut hatte. "Vor einem halben Jahr war das noch eine unheimliche Bruchbude, und heute sieht es aus, als wäre es gerade erst fertig gestellt worden."
"Keine Angst mehr?" fragte Ulrich lächelnd.
"Wenn es innen so aussieht wie von außen, dann nicht mehr. Fahr los; ich will den Rest sehen."
Ulrich legte den ersten Gang ein und fuhr die restlichen Meter bis zum Eingang. Martina stieg von der Maschine und nahm den Helm ab. Rostrotes, langes Haar kam zum Vorschein, das sie mit wenigen Handgriffen in Ordnung brachte. Ihre blaugrünen Augen schauten bewundernd auf die Stufen.
"Sieht alles wie neu aus. Wie haben deine Eltern das geschafft?"
"Mit Chemie. Die Segnungen der modernen Zeit. Komm rein."
Während Martina die Stufen hoch ging, schaute Ulrich sie bewundernd an. Seine Freundin war 1,77 groß, sportlich und schlank. Sie trug ihre Lieblingsfarbe: schwarz. Schwarzes Hemd, schwarze Jeans, schwarze Schuhe. Sie sah von Jahr zu Jahr umwerfender aus, fand Ulrich. Als er sie kennen gelernt hatte, war sie gerade 13 geworden. Ein vorlautes, freches Ding war sie damals gewesen, wie seine Schwester es heute war. Aber er hatte ihr saftig Kontra gegeben, und aus den witzigen Streitereien war Freundschaft entstanden, und daraus, als sie 14 geworden war, Liebe, die sich jedes Jahr mehr und mehr vertiefte.
Er lief schnell hinter ihr her, überholte sie, schloß die Tür auf und hielt sie ihr mit einer galanten Bewegung auf. Martina bedankte sich mit einem gnädigen Nicken, dann warf sie sich lachend an ihn und küßte ihn.
"Macht drinnen weiter!"
Die beiden fuhren auseinander, als sie Susis lachende Stimme hörten. Die Zwölfjährige schaute die beiden strahlend an. "Denn drinnen können euch die Nachbarn nicht zusehen."
"Susanne Delsing!" Martina sah sie strafend an. "Eines Tages werfe ich dich den Piranhas zum Fraß vor."
"Das überleben die nicht!" Lachend drückte Susi Martina. "Hi, Tina!"
"Hi, Susi." Martina drückte sie schmunzelnd an sich. "Schon eingelebt?"
"Ja!" Susi löste sich strahlend von ihr. "Das ist total geil! Viel besser als damals, wo wir das angesehen haben. Komm rein!"
Sie wiederholte die Führung ihres Vaters und endete wie er in der staubigen Bibliothek. Martina pfiff leise durch die Zähne.
"Bücher über Bücher. Wahnsinn!"
"Deswegen nennt man das Bibliothek!" kicherte Susi. Martina schnappte nach ihr, doch Susi kannte Ulrichs Freundin gut genug und hatte sich schon in Sicherheit gebracht. Seufzend wandte sich Martina an Ulrich.
"An wen erinnert mich dieses freche und unerzogene Mädchen bloß?"
"Soll ich es sagen?" grinste Ulrich. Martina drückte ihn stürmisch.
"Untersteh dich!"
Susi kam wieder näher, während Martinas Blick staunend über die Unmengen von Büchern glitt. Plötzlich löste sie sich von Ulrich und ging näher an die Regale heran. Sie murmelte leise, ihr Finger glitt dabei über die Buchrücken und hinterließ Wischspuren in dem Staub.
"Schaut euch das an!" meinte sie schließlich. "Alles nur übersinnlicher Kram. Hexen, Gespenster, Magie. Dann hier: Spuk, Teufelsaustreibung, und Besessenheit. Total abgedreht."
"Genau die richtige Bettlektüre für Susi", meinte Ulrich. "Oder?"
"Laß mal", winkte seine Schwester ab. "Obwohl... Das mit Teufelsaustreibung klingt gut. Vielleicht kriegen wir dich damit wieder normal."
"Ein Buch reicht da nicht mehr." Ulrich formte seine Hände zu Krallen, machte ein dämonisches Gesicht und ging auf seine Schwester los. Die rannte kreischend und lachend hinaus.
"Als würde ich in einen Spiegel gucken." Martina wandte sich lächelnd zu Ulrich. "Magst du mich deswegen? Weil ich dich an deine Schwester erinnere?"
"Natürlich", grinste Ulrich breit. "Wenn ich dich anschaue, sehe ich immer noch das kleine 13jährige Mädchen vor mir."
"Du kleine Mißgeburt!" Lachend drückte sie ihn. "Ich hätte dich doch damals im Schwimmbad ersäufen sollen."
"Als ich gerade in deinem Bikinihöschen war?"
"Nein. Hinterher natürlich."
Sie küßten sich kurz, dann führte Ulrich sie durch den Rest des Hauses. Auch den tollen Ausblick vom Dach enthielt er ihr nicht vor.
"Das ist das Allerbeste!" Martina stellte sich ganz dicht an die Brüstung und sah nach unten. "Uli, ist das ein herrlicher Blick!"
"Finden wir auch. Max ist sowieso von allem hier begeistert; er spielt schon kräftig auf der Wiese. Susi war von ihrem Zimmer so beeindruckt, daß sie gar nicht mehr daran dachte, zu maulen, und ich... Als ich die ganzen eingerichteten Zimmer gesehen habe, fühlte ich mich auch gleich viel wohler hier."
"Kann ich verstehen. Wenn der Rest auch noch aufgeräumt und sauber ist, muß das hier richtig toll sein. Ist es jetzt auch schon; versteh mich da nicht falsch. Aber es sind noch so viele Zimmer! Was wollt ihr damit machen?"
"Das frage ich mich auch. Aber das werden die Eltern schon wissen. Bisher hat es ja auch gut geklappt. Gehen wir zu den anderen ins Wohnzimmer?"
"Später." Martina schaute ihm tief in die Augen. "Zeig mir dein Bett noch mal. Ich hab vergessen, wo das steht."
Susi und Petra waren ebenfalls nicht im Wohnzimmer. Die beiden Mädchen erkundeten den Bach und den Wald, als sich bei Petra die vielen Getränke zu Wort meldeten. Schließlich hielt das Mädchen es nicht mehr aus.
"Komm gleich wieder!" sagte sie gepreßt und lief los. Susi sah ihr grinsend hinterher.
"Du und deine Sextanerblase", murmelte sie kichernd. Sie setzte sich hin, streckte die Füße aus, stützte sich mit den Händen im Rücken ab und schaute träumend in den strahlend blauen Himmel.
"Doch", meinte sie nach einer Weile. "Hier kann man es aushalten."
"Mir gefällt es hier auch."
Susi fuhr erschrocken zusammen, als sie eine fremde Stimme hörte. Sie schaute sich blitzschnell um und fand ein Mädchen in ihrem Alter. Sie starrte das Mädchen verblüfft an.
Das Mädchen war bildhübsch; das mußte selbst Susi zugeben. Sie war vielleicht zwölf oder dreizehn Jahre alt, hatte volles, schneeweißes Haar, und leuchtend schwarze Augen. Ihr Blick war sehr traurig, als hätte sie schon viel Leid erlebt. Sie trug ein sehr langes weißes T-Shirt, das so lang war, daß es fast wie ein Nachthemd wirkte. Das Mädchen war etwa so groß wie Petra. Sie trug keine Schuhe oder Strümpfe.
"Hallo!" sagte Susi, die sich schnell von ihrem kleinen Schock erholt hatte. "Wer bist du?"
"Annette. Und du?"
"Susanne, aber ich werde nur Susi genannt."
"Schöner Name." Annette setzte sich zu ihr, ihr gegenüber hin. "Du wohnst jetzt hier?"
"Ja, mit meinen Eltern und meinen Brüdern. Wohnst du auch hier in der Nähe?"
Das Mädchen schaute etwas ratlos drein. "Nicht direkt. Ich komm nur gerne hierher. Ich mag diesen Wald."
"Ja, der ist wirklich schön." Susi sah sich kurz um. "Wo wohnst du denn? In der Stadt?"
"Sozusagen. Mehr am Stadtrand."
Susi nickte verstehend. "Das ist ja nicht allzu weit von hier. Obwohl... Zu Fuß ist das immer noch ein gutes Stück."
Annette lächelte. "Ich bin gut zu Fuß. Ich laufe lieber, als daß ich in diesen - Autos fahre. Die finde ich beengend. Die fahren auch viel zu schnell."
Susi dachte kurz an den Wagen ihres Vaters und grinste.
"Kann schon sein. Auf welche Schule gehst du denn?"
Annette seufzte. "Können wir nicht einfach so reden? Mußt du immer fragen?"
"Entschuldige!" Susi schaute das Mädchen betroffen an. "Sicher können wir reden. Nur - Äh, meine Freundin Petra kommt gleich. Wenn dich das nicht stört."
"Nein, das stört mich nicht." Annette lächelte kurz. "Wenn du möchtest, kannst du mir etwas von dir erzählen, Susi. Was du so magst und was nicht. Ich mag gern Pferde und Kühe. Und barfuß im Gras laufen. Im Oktober sammle ich Kastanien. Manche röste ich und esse sie, und manche... Aus denen bastle ich kleine Figuren."
"Das mach ich auch!" Susi beugte sich mit leuchtenden Augen vor. "Ich bau kleine Roboter und laß die gegeneinander kämpfen. Und du?"
"Roboter?" Annette schaute sie fragend an. "Was sind Roboter? Und warum spielst du Kampf?"
Nun war es an Susi, das Mädchen fragend anzusehen. "Was Roboter sind? Nun... Das sind mechanische Menschen. Also eher künstliche Menschen. Nein, eigentlich sind das gar keine Menschen. Eher -"
Annette lachte fröhlich auf. "Du bist lustig, Susi! Wie kann es denn künstliche Menschen geben? Das geht doch gar nicht!"
Susi musterte das Mädchen nachdenklich. Irgend etwas stimmte nicht mit ihr.
"Wann bist du geboren, Annette?" fragte sie bemüht ruhig. Annette fuhr sich mit der Hand über die Stirn.
"Ich - ich kann mich nicht genau erinnern." Sie lächelte entschuldigend. "Deswegen mag ich keine Fragen, Susi. Ich weiß viele Dinge nicht."
Nun ergab es für Susi einen Sinn. Offenbar war diese Annette aus irgendeinem Krankenhaus abgehauen, weil sie an Gedächtnisstörung litt. Dann war das lange T-Shirt tatsächlich ein Nachthemd.
"Ich frage nicht mehr", versprach sie dem Mädchen. "Hast du Lust, mit uns zu spielen?"
"Das war schon wieder eine Frage!" lachte Annette fröhlich. "Aber so etwas kannst du mich fragen. Nur nichts über mich, weil ich da viele Dinge nicht mehr weiß. Bist du mir böse deswegen?"
"Quatsch!" Susi lächelte das Mädchen beruhigend an. "Wenn du magst, kann ich dir mal unser Haus zeigen. Unser neues Schloß." Und ihr Vater, überlegte sie schnell, wußte bestimmt, was man mit dem Mädchen tun konnte. Wie man ihr helfen konnte.
"Nicht so gerne", erwiderte Annette. "Ich bin lieber im Freien."
"Ich eigentlich auch, obwohl das Schloß jetzt richtig schön aussieht. Da sind jetzt so große Fenster drin, daß du glaubst, du stehst im Freien. Und von ganz oben hast du eine tolle Aussicht auf die Landschaft. Vielleicht möchtest du die mal sehen."
"Ganz oben?" Annette schüttelte ängstlich den Kopf. "Nein, eigentlich nicht. Wer hoch hinaus will, wird tief fallen, sagt -" Sie brach ab.
"Sagt wer?" hakte Susi nach. Annette sah sie verstört an.
"Ich weiß nicht", flüsterte sie. "Irgend jemand hat mir das mal gesagt. Es war wichtig, also hab ich mir das gemerkt. Aber wer hat das gesagt?" Sie stand auf und lief unruhig im Kreis herum.
"Wer hat das gesagt?" murmelte sie ununterbrochen. "Wer hat mir das gesagt?"
Susi war klar, daß sie diese Annette so schnell wie möglich zum Schloß kriegen mußte. Irgendwie. Dieses Mädchen brauchte Hilfe. Vielleicht wußte die Polizei schon, daß sie abgehauen war, und suchte sie. Oder sie war gar nicht abgehauen, sondern irgendwie verloren gegangen. Doch auch dann würde die Polizei sie suchen. Susi entschied spontan für eine Lüge.
"Du magst doch Pferde", sagte sie laut, um das Murmeln des Mädchens zu übertönen. "Wir haben ein Pferd. Zwei! Eine ganze Herde. Möchtest du sie mal sehen? Oder streicheln?"
Annette blieb stehen. Ihr Gesicht zeigte ein trauriges Lächeln.
"Ihr habt keine Pferde, Susi. Nur dein Bruder hat eins, und das ist eine Mißgeburt. Es macht außerdem Krach und stinkt. Aber es läuft sehr schnell."
"Willst du das mal sehen?" fragte Susi eifrig. "Das steht vorm Schloß. Sollen wir hingehen?"
Annette zögerte. Susi hörte Petras Schritte näher kommen. Auch Annette hörte sie. Sie schaute mißtrauisch in die Richtung, aus der Petras Schritte kamen.
"Das ist meine Freundin", beruhigte Susi sie. "Sie heißt Petra. Sie ist sehr nett. Sie hat auch helles Haar, fast so hell wie du. Und sie mag auch Kühe."
"Ich hätte auch gerne wieder eine Freundin", bekannte Annette leise. "Das ist schon so lange her, daß ich eine hatte."
"Wir können ja Freundinnen sein", schlug Susi schnell vor. "Wenn du magst."
"Sehr gerne." Annette lächelte scheu. "Ich bin manchmal etwas vorsichtig bei neuen Menschen. Warum, weiß ich nicht."
"Ist doch nicht schlimm." Sie hörte Petra neben sich auf den Boden fallen.
"Was ist nicht schlimm?" fragte Petra atemlos.
"Nichts." Susi sah sie aufgeregt an. "Petra, das hier ist Annette."
"Hä?" Petra schaute sich suchend um. "Wo? Wer?"
"Na, hier!" Susi schaute auf die Stelle, wo Annette noch vor wenigen Sekunden gewesen war.
Annette war weg. Verschwunden. Als hätte es sie nie gegeben.
Kapitel 3 - Fragen
"Und ich sage euch, sie war da!" Susi schlug bekräftigend auf den Tisch. "Sie war so deutlich da wie ich jetzt."
"Hm?" Ulrich sah fragend auf. "Hat da jemand was gesagt?"
"Uli!" Sein Vater sah ihn streng an. "Hör den Unsinn auf. Susi, wie hat das Mädchen ausgesehen?"
"Also nochmal!" Stöhnend ließ sich Susi in das Sofa fallen. "So groß wie Petra. Ganz lange, schneeweiße Haare. Pechschwarze Augen. Weißes Nachthemd. Trauriger Blick. Und ein bißchen sehr verwirrt in der Birne."
"Also kein Wunder, daß sie dir angeboten hat, deine Freundin zu werden", stichelte Martina. Genau wie Ulrich stand sie mit beiden Beinen fest auf der Erde. Plötzliches Verschwinden gab es in ihrer Welt nicht.
"Martina?" Peter Delsing sah sie beherrscht an. "Es liegt mir fern, dir Vorschriften machen zu wollen, aber Kommentare dieser Art helfen uns momentan nicht unbedingt weiter."
"Bleib friedlich, Peter", ermahnte ihn seine Frau leise. "Du mußt niemanden angreifen. Ich weiß selbst nicht, was ich von Susis Geschichte halten soll."
"Ich aber; und genau deswegen rege ich mich auf." Er atmete tief durch und setzte sich.
"Es war im April", erzählte er dann leise. "Ich war mittags mal kurz hier und habe nachgeschaut, wie weit die Elektriker waren. Ich redete gerade mit dem Meister, als ich aus dem Augenwinkel gesehen habe, wie sich jemand in den Eingang schlich. Ich drehte mich um und sah..." Er nickte, als seine Frau ihn sprachlos ansah. "Ein junges Mädchen in einem langen weißen Nachthemd, mit langen weißen Haaren und schwarzen Augen. Und einem sehr traurigen Blick. Der Meister fragte mich in dem Moment etwas, ich sah zu ihm, und als ich mich wieder umdrehte, war das Mädchen weg." Er zog Susi an sich und nahm sie beschützend in den Arm.
"Deswegen glaube ich ihr, und deswegen will ich solche Bemerkungen wie die beiden gerade vorerst nicht mehr hören. Der Herr über die Elektrik hat das Mädchen übrigens nicht gesehen, obwohl er so stand, daß er sie hätte sehen müssen."
"Du hast sie wirklich gesehen, Papi?" fragte Susi erleichtert. "Ich bin nicht plötzlich verrückt geworden?"
"Nein, Susi. Ich habe sie auch gesehen." Er runzelte die Stirn. "Ich kann mich allerdings an keine Meldung in den Nachrichten oder der Zeitung erinnern, mit der sie gesucht wurde. Wenn sie seit April vermißt wird, hätte da irgend etwas sein müssen."
"Vielleicht wird sie schon länger vermißt", wandte seine Frau ein.
"Möglich. Dann bleibt die Frage offen, wie sie einen Winter da draußen überlebt hat. Wie sie von April bis jetzt überlebt hat. Wir haben immerhin Mitte Juli. Susi, war ihr Nachthemd schmutzig?"
"Nein. Das war ganz sauber."
"Als ich sie gesehen habe, auch. Sie kann nicht drei Monate das gleiche Nachthemd anhaben, ohne es im Wald schmutzig zu machen. Das ist unmöglich. Und sie hatte auch keinen Koffer dabei, in dem sie Ersatzhemden hat. Außer..." Er runzelte die Stirn.
"Außer was?" Susi setzte sich auf. "Sag's, Papi! Außer was?"
"Außer..." Er sah seine Tochter ratlos an. "Sie ist ein Geist."
"Ein Geist." Ulrich hatte sich bis jetzt am Riemen gerissen, doch das war jetzt zuviel. Martina schaute angestrengt woanders hin, um nicht laut los zu lachen. Iris musterte ihren Mann besorgt, während sich Susi auf die Schenkel schlug.
"Ich wußte es! Wir haben ein Spukschloß gekauft."
"Ein Geist." Ulrich schüttelte mitleidig den Kopf. "Tut mir leid, Vater, aber da hakt es bei mir. Ihr entschuldigt uns?"
"Natürlich." Delsing schaute nachdenklich auf Susi, die seinen Blick voller Erwartung erwiderte. "Susi, wo hast du sie gesehen? Kannst du mir das zeigen?"
"Klar!" Die Zwölfjährige sprang auf. Ulrich und Martina standen ebenfalls auf und gingen sich leise unterhaltend hinaus.
"Dann komm." Susis Vater kam auf die Füße und folgte seiner Tochter hinaus. Übrig blieben Iris Delsing und Petra, die sich schulterzuckend anschauten.
Nur Max störte das alles nicht. Er spielte selbstvergessen vor dem Fernseher.
Susi und ihr Vater gingen um das Haus herum, über die Wiese und in den Wald. Susi sah sich mehrmals prüfend um, bis sie schließlich an einer Stelle stehen blieb.
"Hier", sagte sie sicher. "Hier war es."
"Okay. Setzen wir uns."
Sie ließen sich auf den weichen, trockenen Boden sinken und schwiegen eine Weile. Dann lächelte der Vater.
"Ich habe ganz vergessen, wieviel Spaß das macht, einfach so im Wald zu sitzen."
"Macht es auch. Ganz besonders, wenn die Eltern nicht dabei sind und man Unsinn machen kann."
"Na!" Er zog sie lachend an sich und kitzelte sie, bis sie vor Lachen kaum mehr Luft bekam. Dann hielt er sie nur leicht an sich gedrückt fest. Susi kuschelte sich an ihn.
"Soll ich sie rufen, Papi?"
"Nein. Wir warten."
Ulrich und Martina hatten sich auf sein Zimmer zurück gezogen. Ulrich saß an seinem Tisch, Martina lag halb in dem Bett.
"Ein Geist." Sie schüttelte spöttisch den Kopf. "Glaubst du das?"
"Natürlich nicht. Es gibt keine Geister." Er sah besorgt zu ihr. "Was machen wir, wenn das bei Susi was Ernstes ist?"
"Das wäre allerdings schlimm." Sie setzte sich ratlos auf. "Glaubst du, daß es was Ernstes ist?"
"Ich hoffe nicht. Ich möchte sie nicht in der Klapsmühle wissen."
Sie tauschten einen langen, ratlosen Blick.
Im Wald setzte Susi sich aufrecht hin. Sie hatte keine Geduld mehr.
"Ich rufe sie jetzt", meinte sie entschlossen. "Entweder, oder." Als ihr Vater nicht reagierte, legte Susi die Hände an den Mund und rief Annettes Namen. Zuerst zögernd, dann immer entschlossener und lauter, bis sie am Ende fast brüllte.
Doch Annette ließ sich nicht blicken.
Schließlich gab Susi frustriert und verärgert auf. "Tolle Freundin!" murrte sie, während sie aufstand. "Da tut sie so, als ob -" Sie brach ab und setzte sich vor Schreck gleich wieder hin. Annette war wie aus dem Nichts erschienen und saß vor ihnen. Peter Delsing versteifte sich.
"Du machst einen ganz schönen Krach", sagte sie mit einer Spur Vorwurf in der Stimme. Susi stöhnte erleichtert.
"Warum bist du nicht gleich gekommen?"
"Ich war etwas müde und habe überlegt, ob ich kommen sollte, aber dann fiel mir wieder ein, daß wir jetzt Freundinnen sind. Ich weiß auch wieder, was Roboter sind. Das sind Maschinen, die dem Menschen Arbeit abnehmen, nicht wahr? Und das Pferd von deinem Bruder ist ein Motorrad." Sie rieb sich sanft über die linke Schläfe.
"Deine Fragen helfen mir", meinte sie zögernd. "Sie tun mir erst weh, aber dann helfen sie mir, mich zu erinnern." Sie schenkte Susi ein schüchternes Lächeln, bevor sie zu ihrem Vater sah. "Dich habe ich schon mal gesehen."
"Vor drei Monaten." Delsing räusperte sich schnell, weil seine Stimme viel zu rauh klang. "Im Eingang des Schlosses."
"Vor drei Monaten?" Das Mädchen runzelte die Stirn. "War das nicht gestern? Nein, gestern war Susi hier." Sie zuckte mit den Schultern. "Ich vergesse sehr viel."
Bevor Susi etwas sagen konnte, beugte sich ihr Vater etwas vor.
"Annette, wo wohnst du?" fragte er das Mädchen mit nun wieder ruhiger Stimme.
"Hier", erwiderte Annette, die mit einer Hand in Richtung Wald hinter ihr wedelte.
"Du hast also keine Wohnung?"
"Doch." Annette lächelte leicht. "Eine kleine. Mir ist aber oft sehr langweilig, weil ich keine Freunde habe. Deswegen laufe ich viel hier herum. Wer bist du?"
"Susannes Vater. Hast du auch einen Vater?"
Das Mädchen runzelte die Stirn, während Susi sie gespannt ansah.
"Ich weiß nicht", sagte Annette nach einer Weile. "Ich glaube ja. Ich kann mich nicht erinnern."
"Wenn meine Fragen dir weh tun", sagte er sanft, "dann sag es mir, Annette. Ich möchte dir nicht weh tun."
"Das geht schon. Nicht alle Fragen tun weh. Was ist ein Vater? Nein, ich weiß wieder! Doch, ich hatte auch einen Vater. Und einen - eine - eine Mutter. Ja, eine Mutter!" Sie lachte erleichtert. "Ich weiß wieder! Ich hatte auch einen Vater und eine Mutter."
"Du hattest?" fragte Delsing behutsam. "Leben sie nicht mehr?"
"Ich weiß nicht." Sie warf ihm einen traurigen Blick zu. "Die Frage tut weh."
"Wegen deiner Eltern?" hakte er schnell nach. "Oder wegen dem Wort: leben?"
Annette sank zusammen. "Ich möchte jetzt gehen", flüsterte sie, dann war sie weg. Spurlos verschwunden. Delsing stieß laut den Atem aus.
"Du hast alles gesehen?" fragte er seine Tochter. "Alles gehört?"
Susi nickte ernst. "Ja, Papa. Alles. Ist sie wirklich ein Geist? Warum hat Petra sie nicht sehen können?"
"Ich weiß es nicht, Susi." Er schüttelte nachdenklich den Kopf, während seine Hände nach einem kleinen Ast griffen und ihn langsam zerbrachen. "Vielleicht hat Petra sie nicht sehen können. Vielleicht hat sich Annette ihr nicht gezeigt. Vielleicht ist sie verschwunden, als Petra ankam. Ich weiß es nicht. Aber ein Geist ist sie wohl. Du hattest recht mit dem Spukschloß, kleine Maus." Er zog seine Tochter an sich und drückte sie leicht.
"Sag den anderen Bescheid", forderte er sie dann auf. "Wir fahren Eis essen. Alle zusammen."
Susi sprang auf und raste ohne ein weiteres Wort los. Delsing warf einen Blick in den Wald.
"Entschuldige, Annette", sagte er leise. "Ich wollte dir nicht weh tun."
Er stand auf. Im gleichen Moment sah er Annette wieder vor sich, ihre schwarzen Augen traurig auf ihn gerichtet.
"Es war das Wort 'leben'", wisperte sie. "Bist du lieb zu deiner Tochter?"
"Ja, Annette. So lieb ich sein kann."
"Ich habe keine Angst vor euch. Warum nicht? Ich habe sonst immer Angst vor neuen Menschen. Schon immer. Nur bei euch nicht. Warum nicht?"
"Vielleicht", antwortete Delsing langsam, "weil du spürst, daß wir dir nichts tun wollen."
Annette runzelte die Stirn. "Spüre ich das?" Sie lauschte in sich, den Blick ins Unendliche gerichtet. "Ich weiß nicht. Aber ich glaube, ihr tut mir nichts."
"Wir tun dir nichts, Annette", versicherte Delsing mit tiefem Ernst. "Weißt du noch, ob dir jemand etwas getan hat?"
Annette fiel in sich zusammen. "Die Frage tut sehr, sehr weh. Ich weiß nicht. Jemand wollte mir helfen. Es tut zu weh. Ich weiß nicht."
"Warum hast du dich Petra nicht gezeigt?" lenkte er schnell ab. Annette legte den Kopf schräg. Ihre Augen wurden groß. Unheimlich groß.
"Weil sie auch bald umzieht", flüsterte sie. "Dann habe ich eine richtige Freundin. Sie wird ganz in meiner Nähe wohnen. Da ist nämlich noch viel Platz."
Delsing lief eine Gänsehaut über den Nacken.
"Wann?" fragte er rauh. "Und wo?"
Annette blickte ihn traurig an. "Ich muß jetzt gehen. Kommt ihr bald wieder?"
"Wann, Annette?" Seine Augen nagelten sie fest. "Und wo?"
"Ich muß gehen." Sie verschwand.
"Annette!" rief Delsing scharf. "Komm zurück!"
Annette kam nicht zurück. Sie blieb verschwunden. Delsing fuhr sich verzweifelt durch das Haar. Wenn Annette ein Geist war und wenn ihre kleine Wohnung ein vielleicht unentdecktes Grab war und wenn Petra auch bald in ihre Nähe umziehen würde, ließ das nur einen einzigen Schluß zu. Einen völlig verrückten und kaum zu erklärenden, nichtsdestotrotz einen Angst einflößenden, fast in Panik versetzenden Schluß.
Delsing weigerte sich, diesen Schluß zu ziehen. Er wandte sich um und ging langsam zurück zum Schloß.
* * *
Obwohl Iris die vielen neuen Küchengeräte noch nicht kannte, zauberte sie in gewohnt kurzer Zeit ein überaus leckeres Essen, das die sieben Menschen voller Genuß und Lob für die Köchin verspeisten. Danach brachte Susi ihren Bruder Max ins Bett. Anschließend traf sie sich mit Petra in ihrem neuen Zimmer. Ulrich zog sich mit Martina ebenfalls zurück, so daß die Eltern nun endlich in Ruhe miteinander reden konnten. Peter Delsing versuchte, das heute Erlebte in so verständliche Worte wie nur möglich zu verpacken. Doch der Unglaube seiner Frau war größer.
"Ich glaube dir, daß du das gesehen hast, Peter", meinte sie schnell, als sich seine Miene etwas verdüsterte. "Es ist nur so, daß ich nicht an solche Dinge glaube."
"Das war ein Widerspruch in sich." Er schaute sie munter an. "Oder?"
"In gewisser Weise." Sie schmiegte sich an ihn. "Ich formuliere um. Du hast etwas erlebt, was du für wahr hältst. Du glaubst daran. Für dich ist diese Wahrheit subjektiv und objektiv wahr. Kannst du mir noch folgen?"
"Bis ans Ende der Welt."
"Möchte ich auch hoffen. Für dich ist das, was du gesehen hast, wahr. Susi hat es auch gesehen. Für sie ist es also auch eine objektive Wahrheit. Ich habe es nicht gesehen, deshalb kann ich es nur als subjektive Wahrheit deinerseits annehmen. Ich glaube dir, daß du etwas gesehen hast, was du für wahr hältst, aber ich glaube nicht an solche Dinge, weil ich sie noch nie erlebt habe."
"Jetzt macht es Sinn." Er küßte sie kurz. "Dennoch bereitet es mir Kopfschmerzen, Iris. Wenn dieses Mädchen tatsächlich ein Geist ist und irgendwie in die Zukunft sehen kann, dann sieht es für -"
"Pst!" Sie legte ihm schnell einen Finger auf die Lippen. "Man kann schlimme Dinge auch herbei reden. Erklärst du mir noch den Geschirrspüler? Wo was rein kommt? Ich bin zu faul, die Anleitung zu lesen."
"War ich auch. Lesen wir sie gemeinsam?"
In Susis Zimmer fand eine ähnlich intensive Unterhaltung statt, allerdings über ein anderes Familienmitglied.
"Er ist so süß!" quietschte Petra glücklich. "Er hat mich geküßt!"
"Er hat dir einen Kuß auf die Stirn gegeben", verbesserte Susi sie. "Wie einem kleinen Mädchen, das zu schnell ein großes Mädchen sein will. Ich sag nur zwei Worte: 18. Martina."
"Ich weiß ja!" Petra ließ sich mit lang ausgestreckten Armen auf Susis Bett fallen und seufzte glücklich. "Er hat mich geküßt!"
Susi verdrehte die Augen. Mit einem Satz saß sie auf ihrem Bett.
"Werd erwachsen!" knurrte sie Petra an. "Gut, du wurdest heiß, als du hinter ihm gesessen hast. Kannst dir ja nachher was Gutes tun, wenn du zu Hause bist."
Petra wurde rot, hielt dem vorwurfsvollen Blick ihrer Freundin jedoch trotzig stand.
"Mach ich auch. Kann mir keiner verbieten."
"Ich will dir doch nichts verbieten." Susi legte sich neben sie, den Arm einladend ausgestreckt. Schmollend kuschelte sich Petra an sie.
"Ich will nur nicht, daß du unglücklich wirst", sagte sie leise. "Uli hat eine Freundin, Petra. Die 17 ist. Mit der er richtig Sex macht. Du hast noch nicht mal richtig geküßt."
"Das könnte er mir doch alles zeigen", wehrte Petra sich. "So nach und nach."
"Sicher. Über die nächsten drei Jahre verteilt." Sie strich ihrer Freundin, die traurig wurde, über den Kopf. "Er hat mit Martina erst geschlafen, als er 16 war. Da war sie 15. Meinst du, er wartet noch mal drei Jahre? Oder zwei?"
Petra machte ein unglückliches Geräusch. "Wenn ich aber doch in ihn verliebt bin?"
"Er aber nicht in dich!" Sie klopfte mit ihren Fingerknöcheln leicht gegen Petras Stirn. "Ist jemand zu Hause? Hört mich jemand?"
Petra begann leise zu weinen. "Er ist immer so nett zu mir!" schluchzte sie. "Und vorhin auf dem Motorrad wurde ich wirklich ganz heiß. Er hat beim Absteigen auch gewartet, bis ich zuerst runter war, damit ich mich nochmal gründlich an ihn drücken konnte. Dann hat er mich geküßt. Und in den Arm genommen. Da muß was sein!" Sie rollte sich in Susis Arm und weinte still vor sich hin. Susi drückte sie an sich.
"Da ist auch was", flüsterte sie Petra ins Ohr. "Bei dir. Bei ihm nicht. Er hat es nur nett gemeint, Petra. Mehr nicht. Er betrügt Martina nicht. Und zwölf ist viel zu jung für ihn. Schlag dir das aus der Birne. Außerdem..." Sie zog Petra ganz eng an sich. "Möchtest du mich wirklich als Schwägerin haben? So verliebt kannst du doch gar nicht sein, daß du mich dazu haben willst, oder?"
"Doch." Petra weinte zwar noch, doch in ihrer Stimme erklang ein leises Lachen.
"Nee, das willst du nicht. Soll ich echt den ganzen Tag um euch herum hängen und dich beim Saugen und Putzen antreiben, während er die Füße hoch legt?"
"Ey!" Petra boxte sie leicht. "Du kannst mir ja auch helfen."
"Kommt gar nicht in die Tüte. Du bist die Ehefrau. Du machst den Haushalt. Wie Mama bei uns."
Petra seufzte laut. "Du willst mir das wirklich ausreden, nicht wahr?"
"Ja." Sie gab Petra einen Kuß auf die Stirn. "Siehst du? Das war ein Kuß. Habe ich dich geküßt?"
Petra wand sich. "Nein. Nicht richtig."
"Genau wie Uli. Vergiß ihn, Petra. Nach den Ferien suchen wir dir einen richtig netten Typen. Okay?"
"Will keinen anderen."
"Und wie du das willst. Das bring ich dir schon noch bei. Wir haben noch mehr als sechs Wochen Zeit. Und ab Montag holt Mami dich ab und bringt dich zurück. Dann ist wieder eine Gefahr weg, und du kannst ihn noch besser vergessen."
"Ich will ihn aber nicht vergessen!" Petra warf sich mit einem schnellen Schwung auf Susi und funkelte sie böse an. "Ist bei dir jemand zu Hause? Hört da jemand zu?"
"Nein!" Susi nahm alle Kraft zusammen, warf Petra herum, und einen Moment später rollten die beiden lachend und kämpfend auf den Boden. Der Aufprall wurde zum Glück durch den dicken weißen Berber gedämpft.
* * *
Punkt halb zehn stand Ulrich, von Kopf bis Fuß in Leder gekleidet, im Wohnzimmer; in den Händen zwei Helme. Sein Blick fing den von Petra ein, die erst strahlte, als sie ihn sah, dann traurig wurde, weil sie gehen mußte, und sofort wieder strahlte, weil sie hinter ihm sitzen konnte. Sie verabschiedete sich hastig von allen, drückte Susi kurz und ließ sich dann mit leuchtenden Augen den Helm aufsetzen. Martina lächelte; halb mitfühlend, halb amüsiert. Ulrich schloß sogar den Reißverschluß ihrer Jacke, doch das tat er mehr aus Eigenschutz als aus Höflichkeit. Keine zwei Minuten später fuhr er mit Petra hinter ihm sitzend davon.
Das erste, was Petra tat, als sie auf die Landstraße einbogen, war ihre Jacke so weit zu öffnen, daß sie ihre winzigen Brüste durch das T-Shirt wieder an Ulrichs Rücken pressen konnte. Und das tat sie mit wahrer Leidenschaft. Ulrich bekam wegen des dicken Leders nicht viel davon mit; er spürte nur ihre feste Umarmung. Er verspürte eine kurze Trauer für Petra, weil sie sich Hoffnungen machte, wo es keine gab, dann konzentrierte er sich wieder auf das Fahren.
Fünf Minuten vor zehn rollte er in die Einfahrt vor Petras Haus, schaltete in den Leerlauf und den Motor nebst Licht aus. Er ließ Petra die kurze Freude, sich beim Absteigen noch einmal an ihm zu reiben, bevor er die Maschine auf den Seitenständer kippte. Im gleichen Moment öffnete sich die Haustür. Petras Eltern kamen heraus. Petra lief mit aufgesetztem Helm auf sie zu und erzählte aufgeregt von dem ganzen Tag, bis ihr Vater lachend an dem Helm zog. Kichernd umarmte Petra ihn und stieß ihn dabei natürlich kräftig mit dem Helm vor die Brust.
Doch sie beruhigte sich schnell, als Ulrich ihr erklärte, wie der Helm aufging, und als er ihr sagte, daß sie ihn behalten dürfte, war ihre Welt wieder voll Sonne und Glück. Ulrich verabredete mit ihr, sie am nächsten Morgen um neun Uhr abzuholen, dann redete er noch kurz mit ihren Eltern, bevor er sich schließlich zügig auf den Rückweg machte. Martina hatte nämlich nach einem kurzen Telefonat mit ihren Eltern entschieden, im Schloß zu übernachten, so daß er auf dem Rückweg deutlich schneller fuhr als auf dem Hinweg. Statt der üblichen 20 Minuten brauchte er nur 13.
Allmählich kam das Schloß zur Ruhe. Max schlief schon seit über zwei Stunden tief und fest. Susi war die nächste. Sie weihte ihre neue Wanne mit einem ausgedehnten Bad ein, ging anschließend durch die Verbindungstür, die geschickt mit der Wand verschmolz, zurück in ihr Zimmer, und hörte ihren Bruder zurück kommen. Für ein paar Minuten stellte sie sich an eines der weit geöffneten Fenster, um die Stille der Natur und die immer dunkler werdenden Farben des Himmels zu genießen, bevor sie schließlich die Vorhänge schloß und in ihr Bett sprang. Sie schaltete das Licht aus und wollte noch ein paar Minuten wach liegen, um die Stille zu genießen, doch der Umzugstag forderte seinen Tribut: sie schlief auf der Stelle ein.
Ulrich und Martina nahmen ebenfalls noch ein Bad; natürlich zusammen. Auch sie stellten sich noch einen Moment an ein Fenster, bevor bei ihnen die Leidenschaft siegte und sie umschlungen ins Bett sanken.
Die Eltern hingegen blieben noch bis elf Uhr auf und besprachen die nächsten Wochen. Um viertel nach elf lagen sie in ihren Betten, fest eingeschlafen.
Und Petra?
Petra hatte sich kurz gewaschen und dann ins Bett geworfen. Blitzschnell befreite sie sich von ihrer Schlafanzughose, brachte ihre Finger an ihren Schritt und rieb sich zu einem Orgasmus, der ihr den Atem raubte. Überglücklich rollte sie sich auf die Seite und schlief ein, die rechte Hand fest an ihre Scheide gedrückt.
Sie wachte am nächsten Morgen schon um halb sieben auf, ging gründlich duschen, fönte sich die Haare besonders ausgiebig und locker und wartete nach dem Frühstück ungeduldig auf Ulrich, der pünktlich um neun Uhr vorfuhr und wieder normales Hemd und Jeans trug. Die Lederkleidung zog er nur abends und nachts an. Tagsüber sah er, was auf der Straße lag, aber in der Dunkelheit konnte es, wenn er ein Hindernis sah, schon zu spät sein.
Wie gestern wechselte er noch ein paar Worte mit Petras Mutter, bis die Zwölfjährige demonstrativ auf das Motorrad stieg, den Helm aufsetzte und umständlich verschloß. Ihre Mutter Yvonne seufzte lächelnd, wünschte Ulrich eine gute Fahrt und wartete, bis die beiden davon fuhren, dann ging sie ins Haus.
Petra ließ ihre Arme auf der Fahrt immer tiefer sinken, paßte es den Erschütterungen des Motorrades an, bis sie fast auf dem Gürtel seiner Hose lagen. Ulrich schaltete einen Gang höher, schob ihre Hände mit links und einem kräftigen Ruck wieder nach oben, und fuhr kommentarlos weiter. Petra ergab sich stumm seufzend in ihr Schicksal. Er konnte jedoch nicht verhindern, daß sie auf der Fahrt über die Landstraße kräftig ihre Brust an seinem Rücken rieb. Er nach sich vor, mit Martina zu reden. Sollte sie versuchen, durch diesen kleinen Dickkopf zu kommen; sie war immerhin auch ein Mädchen und kannte vielleicht bessere Argumente als er.
Fast schon erleichtert bog er schließlich zum Schloß ein, bremste auf den gut zehn Metern Asphalt kräftig herunter, wobei Petra genauso kräftig gegen ihn gedrückt wurde, und fuhr vorsichtig über den Schotter bis vor das Schloß. Als sie beide abgestiegen waren und die Helme vom Kopf genommen hatten, schaute er sie streng an, doch Petra erwiderte den Blick so sehnsüchtig und lieb, daß er aufgab. Er legte seufzend seinen Arm um ihre schmalen Schultern und führte sie ins Haus. Dort tat er so, als ob er ihr einen Klaps auf den Po geben würde, und schickte sie grinsend zum Teufel. Kichernd rannte Petra die Treppen zu Susis Zimmer hinauf, während Ulrich Martina einsammelte. Er hoffte, daß ihre Mutter gute Laune hatte und den kurzen Urlaub genehmigte. Er betete dafür. Genau wie Martina.
Die beiden waren gerade losgefahren, als ein Möbelwagen den Weg zum Schloß herauf kam. Ulrich wich ihm aus, bog auf die Landstraße ein und drehte den Gasgriff herum. In Sekunden waren die beiden verschwunden.
Der Möbelwagen hielt vor dem Schloß. Iris und Peter Delsing zeigten den Männern den Weg ins Eßzimmer, und eine halbe Stunde später sah der Raum schon sehr viel gemütlicher aus.
In der Mitte des Zimmers thronte der neue, dunkelbraune Eßtisch; eine Maßanfertigung für ganze zwölf Personen. Die dazu passenden zwölf Stühle standen ordentlich darum herum. Fünf kleinere und zwei größere Schränke vermittelten den Eindruck eines Zimmers, das benutzt und bewohnt wurde. Iris und Peter nickten sich glücklich zu.
Susi und Petra spielten den Vormittag über mit Max, den Nachmittag verbrachten sie damit, den Wald näher zu erforschen. Je näher der Abend kam, um so aufgeregter wurde Petra, bis sie von nichts anderem als der Rückfahrt redete. Und natürlich davon, wieder ganz dicht hinter Ulrich zu sitzen. Susi war fast schon froh, als es halb neun wurde und Ulrich die Zwölfjährige einsammelte. Susi sah den beiden noch hinterher, bis sie außer Sichtweite waren, dann ging sie baden und anschließend noch etwas ins Wohnzimmer.
* * *
Martina saß in Ulrichs Zimmer, vor dem laufenden Fernseher, und schaute immer wieder und mit wachsender Unruhe auf die Uhr. Ulrich hatte nur eben Petra nach Hause bringen und dann sofort zurück kommen wollen. Das war jetzt über eine Stunde her. Besorgt stand sie auf, schaltete den Fernseher aus und ging hinunter ins Wohnzimmer. Iris Delsing bemerkte Martinas sorgenvollen Blick sofort.
"Was hast du?" fragte sie das Mädchen.
"Uli." Martina setzte sich neben Ulrichs Mutter auf das Sofa. Am anderen Ende des Raumes unterhielten sich Susi und ihr Vater über die neue Regalwand und ihr Aussehen, das Peter Delsing mit vielen Gesten verdeutlichte.
"Er hätte schon längst zurück sein sollen, oder?"
"Vielleicht hat er Petra noch zu einem Eis eingeladen", meinte Iris lächelnd. "Machst du dir deswegen etwa Sorgen?"
"Natürlich nicht." Martina lächelte dünn. "Er hat zwar mit mir über Petra geredet, aber deswegen mache ich mir keine Sorgen. Erstens vertraue ich ihm, und zweitens ist Petra nicht ganz seine Altersklasse. Nein, ich fragte mich nur, wie lange er wohl fährt."
"Etwa 20 Minuten. Heute Morgen waren es 40, weil er dem Möbelwagen den Weg gezeigt hat. Der kam durch die Seitengassen nicht so gut durch, aber es war immer noch schneller als quer durch die Stadt zu fahren. Er braucht nur um die 20 Minuten herum."
"Also insgesamt 40." Martina runzelte die Stirn. "Geben wir noch zehn Minuten dazu, um mit Petras Eltern zu reden, dann sind wir bei 50. Er ist aber seit knapp 70 Minuten weg."
"Das sind nur 20 Minuten, Tina." Iris drückte ihre Hand, als sie merkte, daß das Mädchen sich tatsächlich große Sorgen machte. "Du weißt doch am besten von uns, wie gut und vorsichtig er fährt. Vielleicht redet er doch noch einmal ausführlich mit Petra und macht ihr klar, daß es sinnlos ist, was sie sich von ihm erträumt." Auch sie sah auf ihre Uhr.
"Es ist erst halb zehn, Tina. Gib ihm noch eine halbe Stunde. Petras Mutter sagte, sie muß gegen zehn zu Hause sein. Wenn sie um halb neun gefahren sind, spricht alles dafür, daß sie noch miteinander reden." Sie drückte lächelnd Martinas Hand. "Und sonst tun sie ganz bestimmt nichts."
"Das weiß ich doch." Das Mädchen lächelte dünn. "Ich hab nur kein gutes Gefühl, das ist alles."
"Wie lief es mit deiner Mutter?" lenkte Iris das Mädchen ab.
"Gut. Sie hat es erlaubt, aber wir sollen morgen noch mal mit meinem Vater reden. Er wird aber wohl auch dafür sein. Es ist ja nur eine Woche."
"Aber immerhin eine Woche, in der ihr allein seid. Das ist etwas, was eure Beziehung sehr vertiefen wird." Iris redete und redete mit ihr, doch Martina war nur mit halbem Ohr dabei. Ihr ungutes Gefühl war zu stark, um es zu ignorieren.
Das ungute Gefühl überfiel schließlich auch Iris, als sich um zehn nach zehn Petras Mutter Yvonne telefonisch meldete und fragte, ob ihre Tochter schon auf dem Weg sei. Ulrich war sehr zuverlässig; wenn er sagte, er wäre um die und die Uhrzeit da und da, war er auch da. Plus minus zwei, drei Minuten; mehr nicht. Iris beruhigte Yvonne und vereinbarte mit ihr, daß sie um halb elf erneut anrufen sollte, wenn sie bis dahin nichts gehört hatte. Nachdem beide aufgelegt hatten, schickte Iris Susi ins Bett. Wütend verzog sich die Zwölfjährige; sie wollte auch wissen, was mit ihrer Freundin war.
Die Minuten bis halb elf vergingen viel zu langsam. Sowohl Iris wie auch Peter Delsing wurden allmählich von einer großen Unruhe erfüllt. Halb elf kam und verging. Um fünf nach halb elf klingelte das Telefon. Iris schaute ihren Mann bittend an, der sofort den Hörer aufnahm und sich meldete. Schon während der ersten Worte wurde Iris klar, daß weder Ulrich noch Petra aufgetaucht waren. Ihre und Martinas Hand verkrampften sich umeinander.
Peter Delsing legte auf. Sein Gesicht war ausdruckslos.
"Ich fahre die Strecke ab", sagte er. "Wenn sie einen Unfall hatten, werde ich sie finden."
"Und wenn du sie nicht findest?" fragte Martina, die Ulrichs Eltern duzte, seit sie 16 war. Auf den Wunsch von Ulrichs Eltern hin.
"Dann haben wir ein Problem." Ohne ein weiteres Wort eilte er hinaus. Sekunden später dröhnte der Motor des BMW auf, das Geräusch von aufspritzendem Kies ertönte. Dann entfernte sich das Motorgeräusch schnell. Iris und Martina sahen sich halb verzweifelt an.
Trotz seines rasanten Starts fuhr Peter Delsing sehr langsam über die Landstraße, mit eingeschalteter Warnblinkanlage. Die meiste Zeit über ließ er das Fernlicht an; blendete nur ab, wenn ein Wagen entgegen kam, was jedoch nicht sehr häufig vorkam. Durch die Sommerferien war die Straße nur wenig befahren.
Er hatte fast die halbe Strecke zur Stadt hinter sich gebracht, als er auf der Straße etwas aufblitzen sah. Er bremste hart, hielt den Wagen an und sprang hinaus. Einen Moment später hielt er ein Stück gelbes Blinkerglas in der Hand. Beherrscht sah er sich um. Etwa zwanzig Meter vor sich fand er eine Lücke in dem hohen Gras, das am Rand der Landstraße wuchs. Er flog förmlich zurück in den BMW, drückte einmal auf das Gas und hielt neben der Lücke an.
Sofort fand er Ulrichs Motorrad, das gute fünf Meter hinter dem hohen Gras auf der Wiese lag.
Peter Delsing schoß aus dem Wagen heraus und auf das Motorrad zu. Es lag auf der linken Seite; der vordere und hintere Blinker waren abgebrochen. Der Notschalter stand auf "Aus"; ein Indiz dafür, daß Ulrich noch gemerkt hatte, daß etwas passierte, und sofort den Stromkreis des Motorrades unterbrochen hatte, damit das Bike kein Feuer fing.
Aber wo war Ulrich? Wo war Petra?
Delsing schaute nervös hin und her, doch es war zu dunkel. Er unterdrückte einen Fluch, als er zurück zum Auto rannte und eine starke Taschenlampe holte. Mit der suchte er das Gelände ab. Fast sofort entdeckte er den dunkelblauen Helm seines Sohnes.
Er rannte zu der gut zehn Meter entfernten Stelle, ließ sich neben seinem reglosen Sohn auf den Boden fallen und fühlte am Hals nach seinem Puls. Der ging schwach, doch er war noch vorhanden. Delsing ließ einen Moment voller Erleichterung den Kopf sinken, dann stand er auf und suchte in der Luftline zur Straße nach Petra.
Doch die war nicht zu finden. Auch nicht im näheren Umkreis.
Delsing stellte sein Suchen ein. Es hatte keinen Sinn; er war allein, und das Gelände viel zu groß. Er zog sein Handy, um einen Krankenwagen anzufordern, dann rief er die Polizei an. Danach seine Frau.
Erst dann führte er den schwersten Anruf von allen: Yvonne und Arne zu erklären, daß ihre zwölfjährige Tochter Petra verschwunden war.
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