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SH-078 – Angela

 

Angela .... (sh-078.zip)
(M/f cons gothic) (136k)
(date posted: Monday PM, March 06, 2000)

Der größte Traum von Tom (34), nämlich ein junges Mädchen zur Freundin zu bekommen, scheint in Erfüllung zu gehen, als er die 13jährige Angela trifft. Sehr schnell kommen sie sich näher, und als die Mutter von Angie nach erstem Zögern ihren Segen dazu gibt, scheint tatsächlich alles perfekt zu sein. Wäre da an Angela nicht eine ganz merkwürdige Eigenschaft...



Angela

Kapitel 1

Ich betrat das Fastfood-Geschäft der Konkurrenz und wurde gleich mit harschen Worten begrüßt.
"Bist du denn wirklich zu blöd, eine Cola von hier nach dort zu tragen?" hörte ich den Manager, meinen alten Schulfreund Werner Haberle, brüllen. Ziel seiner Wut war ein vielleicht 13 Jahre junges, sehr hübsches Mädchen, das vollkommen verschüchtert hinter der Theke stand. Eine dunkle Flüssigkeit lief langsam, aber sicher über den Fliesenboden in Richtung Tische. Das arme Kind wußte nicht, wohin mit den Augen.
"Nun beweg dich!" herrschte er sie an. "Wisch den Dreck auf! Das wirst du ja wohl können." Das Kind wetzte los, wahrscheinlich um Putzmittel zu holen. Ich trat langsam näher an die Theke heran, der Cola ausweichend.
"Probleme, Werner?" begrüßte ich ihn. Er fuhr herum, erkannte mich und nickte wild.
"Mehr als das. Das hat man davon, wenn man seiner Freundin einen Gefallen tun will." Er atmete tief durch, fuhr sich mit den Händen wie verzweifelt durch die Haare und schüttelte gleichzeitig den Kopf. Das perfekte Bild eines gestreßten Mannes, der vor lauter Dummheit um sich herum nicht mehr ein noch aus weiß.
"Aha", sagte ich schmunzelnd. "Das Mädchen ist also deine Freundin?"
"Bist du jetzt auch durchgedreht?" schnauzte er mich an. "Das ist die Tochter meiner Freundin! Sie wollte sich in den Ferien ein paar Mark verdienen, aber was dabei herauskommt, siehst du ja selbst. Mann, Mann, Mann!"
Jetzt hatte ich das Bild. Ich mußte breit grinsen.
"Nun reg dich mal ab, Alter. Hast du noch nie etwas verschüttet?"
"Doch, aber nie so viel und so gezielt wie sie", knurrte er mürrisch, während er dem Mädchen zusah, das wie vom Teufel gejagt durch den Laden raste, in der linken Hand eine Tragetasche aus Stoff, in der rechten eine dünne Jacke, an uns vorbei fegte und hinaus rannte. Werner holte tief Luft.
"Deinen Lohn kannst du vergessen!" brüllte er ihr mit voller Lautstärke hinterher. "Und mit deiner Mutter werde ich auch noch ein paar Takte reden!" Er hatte unglaubliches Glück, daß das Geschäft leer war; diese Vorstellung hätte seinem Ruf sehr geschadet. Doch andererseits... Wären Gäste hier gewesen, hätte Werner auch nicht so einen Aufstand gemacht. Ganz sicher nicht.
Werner funkelte einen Angestellten an, einen jungen Mann, der sich sofort mit Aufnehmer und einem Eimer an die Arbeit machte und die Cola aufwischte. Erst dann wandte er sich wieder zu mir.
"Was führt dich her?" fragte er, wieder vollkommen ruhig und gefaßt.
"Kannst du mir mit einer Kiste Salat aushelfen? Der LKW steht auf der Autobahn und wartet auf neue Reifen. Dem sind gleich zwei geplatzt. Er kommt erst nach Mittag. Eine Kiste rettet mich bis dahin."
"Sicher." Er winkte mich durch. Wir gingen nach hinten und dann über eine Treppe nach unten in den gekühlten Keller, wo die Lebensmittel lagerten. Wir hatten uns schon häufiger gegenseitig geholfen, auch wenn Werner zu der einen und ich zu der anderen Kette gehörte. Doch beim Salat machte das keinen Unterschied. Auch nicht bei den Fritten oder dem Fleisch. Die Unterschiede begannen erst beim Ketchup, dem Senf und der Majonäse. Und natürlich den Brötchen.
Wenig später betrat ich mit einem neutralen Karton, in dem der Salat versteckt war, mein Geschäft. Auch hier war es leer. Sommerferien. Gerade vormittags spürte man das. Die "Frühstücker" kamen von sieben bis neun, dann war Flaute bis etwa gegen elf, bis die ersten Leute vom Einkaufen kamen und sich noch schnell für den Weg nach Hause stärkten.
Ich brachte den Karton ins Lager, packte den Salat schnell in eine Kiste aus Plastik um und brachte diese Kiste dann wieder nach vorne. Tarnung ist alles, dachte ich grinsend, während ich sie auf die Platte stellte. Marko, einer meiner Angestellten, stellte gerade einen Burger und eine Cola auf ein Tablett. Verwundert schaute ich mich um und fand - das Mädchen von gerade eben.
"Ich mach schon", sagte ich zu Marko und griff nach dem Tablett. Für wen das Essen war, konnte sich selbst ein Dreijähriger an einem Finger ausrechnen: außer dem Mädchen war kein Gast hier. Marko nickte und schnappte sich einen Lappen, um die Theke zu säubern.
Ich trug das Tablett zu dem Tisch, an dem das Mädchen saß, und stellte es mit den Worten "Das bestellte Essen, junge Dame" ab. Das Mädchen nickte nur, ohne aufzusehen.
"Danke", wisperte sie erstickt. Als sie dann die Nase hochzog, wußte ich Bescheid. Ich reichte ihr ein Tempotuch, das sie auch sofort ausgiebig benutzte. Ich schaute sie einen Moment lang an, schwankend zwischen Vernunft und diesem anderen Gefühl, was ich seit ein paar Jahren hatte, wenn ich junge Mädchen sah. Das Gefühl siegte.
Ich holte mir einen Kaffee und einen Bewerbungsbogen und setzte mich dann zu dem Mädchen, das mich erstaunt anschaute. Sie erkannte mich nicht, aber das hatte ich auch nicht erwartet. Erstens hatte sie mich kaum angesehen, als Werner sie angebrüllt hatte, und als sie zweitens hinaus gerannt war, hatte sie ihre Augen nur auf die Tür gerichtet gehabt. Ich trank einen Schluck von meinem Kaffee und musterte sie, so wie sie mich musterte.
Sie war hübsch. Wirklich hübsch. Ein schmales Köpfchen auf einem schlanken Hals, umrahmt von weich aussehendem dunkelblondem Haar. Zwei graublaue Augen, die jetzt etwas gerötet waren. Eine gerade Nase, mit einem kleinen Schwenker am Ende nach oben. Ein leicht geöffneter Mund mit nicht zu vollen Lippen und schneeweißen Zähnen dahinter. Das Gesicht symmetrisch. Ein einfaches T-Shirt über einer sich gerade entwickelnden Brust, die noch nicht von einem BH gestützt wurde. Hatte sie auch gar nicht nötig. Zwei schlanke Arme, die in ebenso schlanken, langen Fingern mit abwechselnd silber und blau lackierten Fingernägeln endeten.
Mein Puls beschleunigte sich.
"Ich habe das Theater vorhin mitbekommen", sagte ich, als sie verlegen den Blick abwendete. Sofort flogen ihre Augen wieder zu mir, und ihr niedliches, zierliches Gesicht rötete sich.
"Oh, Scheiße!" flüsterte sie. "Werfen Sie mich jetzt raus?"
"Warum sollte ich?" erwiderte ich lächelnd. "Außer, wenn du deine Cola über mein Hemd schüttest. Wie kam das eigentlich? Ausgerutscht?"
Sie platzte.
"Ach!" wütete sie mit blitzenden Augen. "Das macht der nur, weil ich dem im Weg bin! Immer wenn er sich mit Mami streitet, bin ich schuld! Weil ich mich zwischen sie dränge, sagt er. Mami sagt dann immer, er soll sich nicht so anstellen, und schon fetzen sie sich wieder. Das war nur die Rache für alles." Sie senkte verlegen den Kopf.
"Das hört sich nach einem richtigen Drama an", meinte ich belustigt. Das Mädchen hob den Kopf wieder und sah mich bedrückt an.
"Wenn man nicht drinsteckt", sagte sie leise, "ist das vielleicht lustig. Aber nicht für Mami und mich. Wir können da nicht über lachen. Jeden Abend Streit zu Hause ist nicht mehr komisch."
"Es tut mir leid", entschuldigte ich mich betroffen. Das ganze ging ihr offensichtlich viel mehr an die Nieren, als ich gedacht hatte. "Du hast recht. Das war gedankenlos von mir."
"Sie kennen uns ja nicht", verzieh sie mir. "Aber ich find's trotzdem nicht gut, da Witze über zu machen. Streit ist nie schön. Oder lustig."
Ich verkniff mir, über ihr "da über" auch einen Kommentar abzugeben.
"Warum wirft deine Mutter ihn dann nicht einfach raus?" fragte ich statt dessen.
"Tut sie ja. Sie wartet nur auf den richtigen Moment."
Aha. So, wie ich die Frauen kannte, war der richtige Moment wahrscheinlich genau auf der Autobahn, wenn Werner gerade ein riskantes Überholmanöver bei Vollgas machte. Was für Frauen der richtige Moment war, war für Männer immer der unpassendste Zeitpunkt. Ich wechselte geflissentlich das Thema.
"Hier." Ich schob ihr das Blatt zu. "Wenn du immer noch ein paar Mark verdienen möchtest, dann kannst du das hier tun."
"Was?" Sie riß die Augen auf. "Gehört Ihnen der Laden hier?"
"Nein. Ich bin nur der Manager. So wie Werner bei sich."
"Nur! Der Manager ist doch der Besitzer." Ihre hübschen Augen fuhren über mein Gesicht. "Ich kann wirklich hier arbeiten?"
"Mal sehen. Wie oft wäre das denn?"
"Dreimal die Woche, drei Stunden." Sie zuckte mit den Schultern. "Öfter wollte Werner das nicht. Der hat schon von vornherein gesagt, daß ich doch nur alles durcheinander bringe. Ich wollte aber fünfmal die Woche mit vier Stunden pro Tag arbeiten, und das eben drei Wochen. Was zahlen Sie denn?" Ihre Augen schauten mich neugierig an. Ich entdeckte eine große Menge Humor in ihnen.
"Da reden wir später über", schmunzelte ich. "Jetzt frühstückst du erst mal in aller Ruhe, dann füllst du den Zettel aus und gibst ihn mir. Von deiner Mutter brauche ich auch noch eine Unterschrift, daß sie einverstanden ist, daß du hier arbeiten gehst." Ich tätschelte ganz kurz ihre Hand, die angenehm warm und wundervoll glatt war, bevor ich aufstand. Das Mädchen nickte aufgeregt und stürzte sich auf ihren Burger.
Ich ging lächelnd zurück, in Gedanken noch bei den kleinen Zähnen, die sich in den Burger schlugen. So ein hübsches Mädchen, für drei Wochen bei mir... Mein Herz schlug tatsächlich schneller vor Aufregung.
Während ich langsam in mein Büro schlenderte, überlegte ich, wann genau es begonnen hatte. Den Tag konnte ich nicht benennen, aber das Alter. Ich muß etwa 27, 28 gewesen sein, als mir auffiel, daß ich mir mehr junge Mädchen als Frauen auf der Straße anschaute. Das war im ersten Moment natürlich ein gewaltiger Schock. Ganz bewußt analysierte ich mich und schaute nach, welche Verbindung in meinem Kopf falsch schaltete.
Doch da war nichts Falsches.
Ich stellte halb erschüttert fest, daß junge Mädchen einen nicht zu beschreibenden Reiz auf mich ausübten. Ihre Natürlichkeit, ihre Jugend, ihre Spontaneität. Das helle, ausgelassene Lachen von Stimmen, halb Kind, halb Frau. Das geheimnisvolle Tuscheln, wenn berichtet wurde, wer wen gestern wie lange geküßt hatte. Das kritische, stirnrunzelnde Mustern von Kleidung in der Auslage. Das Ausflippen, Quietschen und Hüpfen, wenn sie sich über Schauspieler oder Sänger unterhielten.
Junge Mädchen. Eine geheimnisvolle Welt, zu der ein Erwachsener so gut wie niemals Zutritt erhält. Der schon durch die Tatsache, daß er ein Erwachsener ist, ausgeschlossen wird.
Außer, es tritt die fast unwahrscheinliche Kombination ein von einem jungen, hübschen Mädchen, das in den Ferien Geld verdienen möchte, und dem Manager eines Fastfood-Restaurants, der vernarrt in junge, hübsche Mädchen war.
Dabei wußte ich ganz genau, daß ich ein Mädchen dieses Alters nicht fürs Bett haben wollte. Darauf kam es mir nicht an. Ich wollte so ein Nymphchen im Arm haben, mit ihm reden und schmusen. Alles andere...
Offen gesagt, konnte ich mir nicht vorstellen, daß es da noch etwas anderes gab. Aus den Unterhaltungen, die ich zum Teil mitbekam, hatte ich gehört, daß erst Mädchen ab 14, 15 ernsthaft über diesen Schritt nachdachten, und das auch nur bei den Mädchen, die aus entsprechenden Schichten kamen. Diejenigen Mädchen mit so genannten kultivierten und gebildeten Eltern ließen sich Zeit damit; meistens bis 16 oder 17, manchmal sogar, bis sie 20 waren.
Doch wie gesagt, das interessierte mich alles nicht. Ich wollte ein niedliches Mädchen wie das von eben zur Freundin haben. Zur richtigen, echten Freundin.
Und genau das war - nach aktueller Gesetzes- und Nachrichtenlage - unmöglich. Ich war 34, und damit war ein Mädchen von 13 Jahren tabu. Verbotene Zone. Explosionsgefahr. Lebensgefahr sogar. Ein falsches Wort, eine falsche Berührung, und man hatte mehr Ärger am Hals, als sich ein gemeiner Anwalt ausdenken konnte.
Aber Anschauen und Träumen durfte man, und genau das hatte ich vor.
Ich blickte auf, als Marko in das Büro kam.
"Da ist ein junges Mädchen mit einem Bewerbungsbogen", sagte er erstaunt. "Sie will dich sprechen."
"Ich komme." Ich stand auf.
"Das wird ein Ferienjob für die Kleine", erklärte ich, während wir durch die Küche nach vorne gingen. "Drei Wochen oder so, nur vormittags. Mal sehen. Wenn's klappt, kann Doris doch noch Urlaub haben." Doris war eine Studentin, eine Halbtagskraft. Sie drängte zwar nicht direkt auf ihren Urlaub, wollte aber doch gerne drei Wochen frei haben, um ihren Eltern beim Renovieren des Hauses zu helfen. Sämtliche Zimmer sollten neu tapeziert werden, die Fenster in der ersten Etage wurden gegen modernere ausgewechselt, und die Zufahrt zur Garage neu asphaltiert. Von den Kleinigkeiten wie Keller und Garage entrümpeln und den Garten neu anlegen gar nicht zu reden.
In meinen Augen war das kein Urlaub mehr.
"Dann ist mir das klar." Zufrieden ging Marko wieder an seine Arbeit. Das Mädchen stand aufgeregt zappelnd vor der Theke. Als sie mich sah, schluckte sie nervös.
"Hier." Sie legte den ausgefüllten Bogen auf die Theke. "Hoffentlich stimmt alles."
"Mal schauen." Ich griff nach dem Blatt und hob es auf.
"So... Vorname: Angela." Ich musterte das Mädchen. "Keine Ahnung, ob das stimmt, aber ein Mädchen bist du jedenfalls. Das sehe ich. Doch, da bin ich mir fast sicher." Angela prustete versteckt, mit roten Wangen. Ich las weiter.
"Nachname: Altmann. Das muß ich dir auch glauben. Adresse: Winzergasse 27. Das glaube ich dir nicht."
"Wieso?" Sie schaute mich verblüfft an.
"Weil alle in der Winzergasse so viel Wein trinken, daß ihre Nasen ganz rot sind. Deine ist aber hübsch hautfarben. Also hast du da gelogen."
Angela starrte mich einen Moment an, dann mußte sie lachen. Ich zwinkerte ihr zu und las weiter.
"Stadt: die hier. Gut. Telefon..." Ich ließ den Zettel überrascht sinken. "Du hast ein Handy?" Danach sah sie nun wirklich nicht aus, auch wenn die Dinger inzwischen für ein Taschengeld zu haben waren.
"Ja, für Notfälle." Sie lächelte verlegen. "Falls Mutti mal später nach Hause kommt, oder mich jemand anruft und mir sagt, ich hätte den Job." Bei den letzten Worten wurde sie rot und senkte den Blick. In diesem Augenblick wollte ich sie am liebsten in den Arm nehmen und drücken.
Aber das ging ja aus den vorhin erwähnten Gründen nicht.
Stumm seufzend schaute ich wieder auf das Blatt. Angela war vor zwei Monaten 13 geworden. Sie ging auf die Gesamtschule in der Südstadt, ganz in der Nähe von hier. Bei dem Feld "Schulabschluß" hatte sie mutig geschrieben: "Keiner, bin ja noch auf der Schule". Und als ich die Begründung las, warum sie hier arbeiten wollte, mußte ich beinahe lachen.
"Eigentlich will ich gar nicht arbeiten, weil ja Ferien sind", stand da in ihrer sauberen Handschrift. "Aber ich brauche eine neue Anlage, weil meine alte krächzt wie ein Rabe mit Mandelentzündung."
Dann fiel mir eine Notiz an der rechten Seite des Blattes auf, wo ein Mädchen ihres Alters normalerweise überhaupt nichts zu suchen hatte.
Die Konzernleitung hatte den Begriff "Vorstrafen" nicht gern gesehen, weil sowieso gelogen wurde, und statt dessen die Formulierung "Eingetragene Vergehen / Gesetzesverstöße" gewählt. Und in genau dieses Feld hatte Angela geschrieben:
"Zweimal Reli geschwänzt, weil's draußen so schön war." Wahrscheinlich hatte sie dafür einen Eintrag ins Klassenbuch bekommen. Ein eingetragenes Vergehen.
War das Mädchen ehrlich!
"Zwei Mal wegen schönem Wetter geschwänzt. Was für eine schlimme Tat." Ich schaute Angela zärtlich an. Ich konnte nicht anders. Sie lächelte scheu und senkte den Blick wieder.
"Na schön", sagte ich bewegt. "Angela, wenn du jetzt noch die Unterschrift deiner Mutter einbringst, kannst du hier anfangen."
Ihr Kopf fuhr hoch, ihre Augen leuchteten.
"Wirklich?" rief sie glücklich. "Wann?"
"Sobald deine Mutter unterschrieben hat. Denn -" Die nächsten Worte waren ins Leere gerichtet. Angela hatte sich das Blatt geschnappt und war wie ein Wirbelwind nach draußen gestürmt. Lächelnd sah ich ihr hinterher, dann holte ich ihre Stofftasche und die Jacke. Beides hatte sie im Eifer des Gefechts zurück gelassen.
Ich ging mit ihren Sachen in mein Büro. Die Tür schloß ich hinter mir. Ich schaute nicht in ihre Tasche, aber ich drückte mir ihre Jacke ins Gesicht und atmete ihren milden Geruch ein, der in der Jacke hing. Anschließend strich ich mit der Wange über den Stoff und stellte mir vor, es wäre Angela...

* * *

Keine halbe Stunde später war sie zurück. Atemlos stand sie vor der Theke, mit dem Blatt in der Hand. Ihre schmale Brust hob und senkte sich schnell, ihr Shirt war unter den Armen naß, doch ihre Augen leuchteten.
"Sie hat unterschrieben!" verkündete Angela stolz. "Kann ich jetzt anfangen?"
Ich musterte die Unterschrift. Völlig anderer Stil als die von Angela. Sah echt aus. Ich nickte.
"Kannst du. Komm mit."
Ich führte sie zuerst in mein Büro, wo sie ihre Tasche und die Jacke zurück bekam, dann in den Umkleideraum. Dort suchte ich ihr Hemd und Hose heraus. Das Mädchen war vielleicht 1,65 groß; somit paßten ihr die Sachen von einer früheren Angestellten, die nach ihrer Heirat die Arbeit aufgegeben hatte.
"Wenn du fertig bist", sagte ich zu ihr, "komm bitte in mein Büro. Dann werden wir uns über deine Aufgaben unterhalten."
Sie nickte mit leuchtenden Augen. Ich riß mich von ihrem wunderschönen Anblick los und ging hinaus.
Keine drei Minuten später stand sie in der Tür zu meinem Büro; in der rechten Hand die Kappe, die zur "Ausrüstung" gehörte.
"Die ist zu groß", meinte sie verlegen.
"Darum kümmern wir uns gleich", lächelte ich sie an. "Setz dich, mein - äh, Angela." Was wäre mir denn da beinahe rausgerutscht, fragte ich mich betroffen. ‚Mein Süßes' hatte ich sagen wollen. Tom, schön vorsichtig sein!
Angela setzte sich und sah mich aufmerksam an.
"Ich will dir keinen Streß machen", begann ich. "Normalerweise durchlaufen alle Angestellten eine bestimmte Reihenfolge. Zuerst putzen und wischen, danach Küche. Anschließend Kasse." Angela nickte schnell.
"Wie bei Werner!"
"Genau", lächelte ich. "Da tun wir uns nichts. Nach der Kasse kommt die Position des Supervisors. Der Supervisor paßt auf die Truppe auf, organisiert Arbeitspläne, springt für Kranke ein und so weiter. Viele arbeiten allerdings nur hier oder bei Werner, um sich etwas Geld nebenbei zu verdienen, und wollen gar nicht aufsteigen."
"Wie ich!" strahlte sie. Wenn sie weiterhin so süß und niedlich aus ihrer Uniform schaute, mußte ich sie in den Arm nehmen. Eine starke Sehnsucht nach ihr überfiel mich.
Ich zwang mich zur Neutralität. Eine minderjährige Angestellte. Noch schneller konnte man gar nicht in Ärger geraten.
"Wie du", bestätigte ich. "Deswegen - auch wenn sich alles in mir weigert, ein so hübsches Mädchen wie dich nur zum Putzen einzuteilen - wirst du dich um die Sauberkeit hier kümmern. Hinter den Gästen abräumen, Tische putzen, Aschenbecher saubermachen, Boden fegen und wischen, Tabletts zurück bringen. Aber wie gesagt, Angela: mach dir keinen Streß. Geh's ruhig an. Du bist ja erst 13. Viele Geschäfte haben Sondergenehmigungen, um Kinder wie dich - also alles unter 14 - geringfügig in den Ferien zu beschäftigen, aber das heißt nicht, daß du dich kaputt arbeiten sollst. Okay?"
"Okay!" Sie nickte aufgeregt. "Und was verdiene ich?"
Einen netten Mann wie mich, lag mir auf der Zunge. Ich atmete unmerklich tief ein und aus, um den Sturm in mir zu kontrollieren.
"Zwölf Mark die Stunde. Einverstanden?"
"Und wie!" Sie hüpfte aufgeregt auf ihrem Stuhl. "Werner hat nur zehn Mark gezahlt!"
Das tat ich normalerweise auch, aber hier war eine große Ausnahme angesagt.
"Dann sind wir uns ja einig", lächelte ich. "Jetzt zu deiner Kappe."
Sie reichte mir das Teil. Ich öffnete den versteckten Verschluß, wobei Angela mir aufmerksam zusah.
"Da ist das!" staunte sie. "Ich hab das gesucht, aber nicht gefunden."
"Kein Problem." Ich reichte ihr die Kappe zurück. Sie verstellte etwas, probierte, verstellte noch einmal, probierte, und nickte zufrieden.
"Paßt."
Ein schmales Köpfchen auf einem schlanken Hals, ein liebes, offenes Gesicht, zwei leuchtende, graublaue Augen, weiche dunkelblonde Haare, und eine Firmenkappe auf dem Kopf.
Es war dieser Moment, wo ich mich schlagartig in sie verliebte.
"Noch eins zum Schluß", sagte ich beherrscht. "Wenn die Abfalleimer voll sind, mußt du die Beutel austauschen. Aber nur", betonte ich, "wenn sie nicht zu schwer sind. Manche Gäste werfen halbvolle Becher mit Getränken weg. Manchmal kommt da ein ganz schönes Gewicht zusammen. Wenn es zu schwer für dich ist, sag jemandem Bescheid. Niemand wird dich deswegen auslachen oder verspotten, Angela. Wann möchtest du generell arbeiten? Morgens oder nachmittags?"
"Morgens", erwiderte sie spontan.
"Okay." Ich machte mir eine Notiz. "Neun bis eins?" Es waren Ferien, und sie sollte ausschlafen können. Angela nickte schnell.
"Klingt gut. Kann ich etwas ausschlafen."
Und ich konnte mich zwei ruhige Stunden nur um sie kümmern...
"Also abgemacht." Ich streckte ihr lächelnd die Hand entgegen. Angela ergriff sie und schüttelte sie.
"Abgemacht!" Ihre Augen strahlten, ihre glatte, warme Haut war unvorstellbar angenehm zu spüren. Meine Finger wollten sich in Bewegung setzen, sie zu streicheln. Ich ließ sie schnell los.
"Dann auf."
Sie ging mit mir aus meinem Büro heraus. Ich zeigte ihr, wo die ganzen Putzsachen standen. Angela schaute sich konzentriert um, merkte sich alles und fing, als ich fertig war, auch gleich an. Sie schnappte sich den Besen und wirbelte los.
"Langsam!" rief ich ihr lachend hinterher, als sie wie ein motorisierter Schneepflug durch den Laden raste. Sie schaute glücklich lachend auf, drosselte das Tempo und machte gelassener weiter.
"Ganz schön aktiv", meinte Anja, meine 26jährige Supervisorin, die gerade eingetroffen war. In den Sommerferien fingen nur ganz wenige pünktlich um acht an. Nur die eingeteilte Frühschicht in Minimalbesetzung und der Manager kamen um halb sieben. "Verwandte?"
"Nein. Zufallsbekanntschaft. Ich habe heute morgen bei Werner Salat geholt, weil der LKW eine Panne hat, und er war gerade dabei, sie fertig zu machen, weil sie einen Becher Cola verschüttet hatte. Wenig später saß sie heulend hier. Da habe ich sie eingestellt. Drei Wochen, fünf Tage, vier Stunden vormittags. Angela Altmann, 13."
"Gut." Anja sah Angela noch einen Moment an, um sich Name und Gesicht einzuprägen, bevor sie sich umschaute. "Wie sieht's sonst aus?"
"Bis auf den Salat haben wir noch genug. Der wird so gegen zwei, drei Uhr eintreffen, schätzt der Fahrer. Ihm sind gleich zwei Reifen geplatzt."
Anja zuckte mit den Schultern und machte eine Grimasse. "Zeig mir einen Job, wo es keine Probleme gibt."
"Deinen", grinste ich. "Du kannst immer alles auf die Angestellten oder auf mich schieben."
Anja gab mir einen Schubs und streckte mir die Zunge heraus, bevor sie lachend zum Umkleideraum ging.
Mittlerweile hatte sich das Personal aufgestockt. Marko war hier, ebenso Achim und Bettina. Damit waren drei Kassen belegt. In der Küche standen Gerrit und Bernd. Mit Anja, Angela und mir waren alle Funktionen belegt.
Der Tag konnte beginnen.

Um viertel vor elf machten Anja und ich Pause, um die Pläne für diese Woche durch zu gehen. Ich winkte Angela dazu, damit sie sich nicht ganz überarbeitete. Etwas erhitzt, aber glücklich setzte sie sich dazu. Anja unterhielt sich mit ihr, bis unser Frühstück kam, dann aßen wir und schauten gleichzeitig die Unterlagen durch.
"Freitag wird's voll", meinte Anja. "16 Kinder, ab vier Uhr."
"Perfekt", lachte ich. "Da hat Joachim Schicht." Joachim war der zweite Manager, ein Nachtmensch. Er war morgens unausstehlich, aber nach ein Uhr mittags verwandelte er sich wie Aschenputtel in einen charmanten, umgänglichen Menschen. Anja lachte fröhlich.
"Wenigstens ist er um die Zeit hellwach."
"Richtig. Was sonst noch?"
"Nicht viel." Anja schaute auf ihre Unterlagen. "Du hast Doris schon angerufen?"
"Habe ich. Sie kommt heute nachmittag noch einmal, und ab morgen hat sie drei Wochen frei. Dafür müßten wir Sabine auf die Spätschicht setzen. Sie kommt aber erst übermorgen aus dem Urlaub zurück. Ruf sie bitte abends noch an. Bis dahin teilen wir uns das Saubermachen."
"Okay..." Sie machte sich Notizen. Angela schaute uns aufmerksam zu, während sie in ihren Burger biß. Kleine weiße Zähne. Wundervolle Lippen. Ich blinzelte kurz und sah wieder zu Anja.
Das es so schwer werden würde, hätte ich nicht gedacht.
Wir hatten gerade die letzten Bissen des Frühstücks geschluckt, als eine wahre Traube von Menschen aus einem Reisebus stieg und auf unser Geschäft zusteuerte. Anja schob die Unterlagen zusammen.
"Gelb?" fragte sie schnell. Ich schüttelte den Kopf.
"Bei der Besetzung? Rot."
"Okay." Sie sprang vom Stuhl, nahm ihre Unterlagen und lief zur Theke. Angela sah mich verwirrt an.
"Was heißt das?"
Ich lächelte, während auch ich aufstand. "Alarmstufe Gelb bedeutet: Alle verfügbaren Leute in die Küche und an die Kassen."
"Und Rot?"
"Rot", grinste ich, "bedeutet: Panik!"
Ich strich ihr kurz mit dem Rücken des Zeigefingers über die weiche Wange, bevor auch ich aufstand und mit unseren Tabletts zurück zur Theke eilte. Angela lief hinter mir her.
"Kann ich was helfen?" fragte sie eifrig. Ich nickte.
"Gerne. Du kennst dich schon mit den Getränken aus?"
Sie nickte aufgeregt. "Ja, das hat Werner mir schon gezeigt. Auch den O-Saft und den Kaffee."
"Perfekt. Unsere Geräte sind die gleichen. Dann sei bitte so lieb und füll die Becher. Viel Eis, außer jemand sagt ausdrücklich, er will kein Eis."
Angela grinste. "Macht Werner auch so." Sie lief vor und stellte sich kampfbereit vor den Getränkeautomaten.
Mittlerweile waren die vielleicht fünfzig, sechzig Leute in das Geschäft gekommen. Der Führer der Reisegruppe fragte Anja, ob sie ausnahmsweise bis nach elf Frühstück bekommen könnten, weil sie unterwegs in einen kleinen Stau geraten waren. Nach einem kurzen Blickwechsel mit mir nickte sie.
Dann brach die Arbeit los. Marko, Achim und Bettina nahmen die Bestellungen entgegen, während Gerrit, Bernd, Anja und ich in der Küche standen. Angela tobte sich bei den Getränken aus.
Nach etwa zehn Minuten hatten wir so viel Vorrat, daß Anja mit an die Kassen ging, und noch mal fünfzehn Minuten später hatte der letzte sein Tablett in der Hand und steuerte einen Tisch an. Angela lief sofort los und räumte bei den ersten Gästen, die schon lange fertig waren, die Tische ab.
Krise gemeistert.

* * *

Um zwei mußte ich Angela den Putzlappen förmlich aus der Hand reißen, sonst hätte sie glatt übersehen, daß schon Feierabend war.
"Du hast uns vorhin sehr geholfen", lobte ich sie, als wir zum Umkleideraum gingen. Angela strahlte mich dankbar an.
"Hier gefällt's mir auch viel besser", sagte sie überzeugt. "Du schreist nicht so rum wie Werner."
"Ich verrate dir mal was." Ich beugte mich etwas zu ihr herunter und flüsterte: "Das macht Werner mit Absicht. Er denkt, je mehr er brüllt, um so mehr hat er seine Leute unter Kontrolle."
"Das sagt Mami auch." Sie sah mich ernst an. "Nur haut das bei uns nicht hin. Wir lassen uns nicht kontrollieren. Mami nicht, und ich auch nicht. Nicht so."
"Niemand läßt sich gerne kontrollieren, mein - mein kleines Putzteufelchen." Angela wurde etwas rot, doch ihre Augen leuchteten.
"Danke, daß ich hier arbeiten darf", sagte sie.
"Gern geschehen." Ich hielt meine Hände, die sie an mich ziehen wollten, unter Kontrolle. "Ich freu mich auch, daß du hier bist. Bis morgen." Gewaltsam riß ich mich von ihrem Anblick los und ging in mein Büro.
Ich vermißte sie schon, obwohl sie noch gar nicht weg war.
Kapitel 2
Um halb vier war der Schichtwechsel abgeschlossen. Die Spätschicht hatte die Arbeit begonnen, die Frühschicht sich umgezogen und war auf dem Weg nach Hause. Ich schlenderte ziellos durch die Straßen, schaute in Geschäfte, ohne richtig zu sehen, was sie anboten, und dachte nur an Angela. An ihre fröhlichen Augen, ihr liebes Gesicht, ihre helle Stimme. In mir war eine nicht zu beschreibende Sehnsucht nach diesem Mädchen. Nicht nach ihrem Körper, sondern nach ihrer Gegenwart. Nach ihrem Wesen, ihrer Persönlichkeit. Nach dem Blick in ihre Augen, in ihre Seele.
Ich war schwer verliebt in sie.
Seufzend betrat ich eine Eisdiele, löffelte dort ein Spaghettieis und dachte nur an morgen früh, neun Uhr, wenn sie wieder bei mir wäre. Schon nach diesem einen Tag hatte sich mein Leben auf diese vier Stunden reduziert, in denen sie im Geschäft half.
Vier Stunden von vierundzwanzig. Fünf Tage von sieben. Drei Wochen von einem Jahr. Fünfzehn Tage von dreihundertfünfundsechzig. Und einer davon war schon vorbei.
Bedrückt aß ich zu Ende, bezahlte, und machte mich auf den Weg nach Hause.
Als sie am nächsten Morgen kam, war es, als bräche die Sonne durch den Nebel.
"Morgen!" grüßte sie fröhlich, während sie auf den Umkleideraum zu steuerte. Ich sah ihr bewegt hinterher.
"Na?" riß mich Bettinas Stimme aus meinen Gedanken. "Du wirst in deinem hohen Alter doch nichts mit kleinen Mädchen anfangen?"
Das war ein großer Schritt über die Grenze.
Ich wirbelte zu Bettina herum und sah sie wütend an. Die 18jährige blickte in meine Augen und erschrak.
"Tut mir leid, Tom!" entschuldigte sie sich betroffen. "Ich hab das -"
"Bettina!" unterbrach ich sie aufgebracht, von den anderen besorgt beobachtet. "Das Mädchen ist 13. Vom gesetzlichen Status her noch ein Kind. Weißt du, was mir blüht, wenn sie sich hier verhebt oder verletzt? Wenn sie ausrutscht und sich etwas bricht? Dann habe ich so viele Ämter und Anwälte auf dem Hals, daß mir auch ein Maschinengewehr nicht mehr da raus hilft. Darf ich vorschlagen, daß du in Zukunft mehr überlegst, bevor du den Mund aufmachst und dumme Behauptungen in die Welt setzt?"
Das Mädchen nickte vernichtet.
"Tut mir wirklich leid", entschuldigte sie sich erneut. "Das habe ich alles nicht gewußt."
"Schon gut." Ich ließ den Ärger mit einem tiefen Atemzug entweichen und sah in die Runde. "Das gilt für euch alle. Achtet bitte auf sie. Wenn sie sich mit einem schweren Müllsack abmüht, erwarte ich, daß einer von euch ihr hilft. Auch, wenn sie versucht, zwanzig oder dreißig Tabletts zu schleppen. Sie ist hier zur Aushilfe, aber sie ist ein Kind, und genau das letzte hat Priorität. Also lacht nicht über sie, wenn sie etwas trägt, was über ihre Kräfte geht, sondern helft ihr bitte." Alle Köpfe nickten. Ich sah zu Bettina, mein Ärger war verschwunden.
"Wieder Freunde?"
Sie lächelte verlegen. "Klar. Tut mir echt leid. Das wußte ich alles nicht. Ist das wirklich so streng?"
"Bei Kindern, die in den Ferien arbeiten? Ja. Anja, wenn du einen Moment Luft hast, zeig Bettina mal den Ordner mit den Bestimmungen."
"Den großen, vollen, schweren?" fragte Anja amüsiert.
"Genau den. Und jetzt Schluß damit. Alles zurück an die Arbeit."
"An welche?" Marko sah sich um. Der Laden war leer, wie immer um diese Uhrzeit. Ich wandte mich schmunzelnd zu ihm.
"Du findest bestimmt etwas. Oder soll ich für dich suchen?"
"Bloß nicht!" lachte er und ging an die Eismaschine, um sie zu säubern. Ich schaute amüsiert in die Runde, die sich schnell verstreute. Sofort irrten meine Gedanken wieder ab.
Angela.
Wo immer ich hin blickte, ich sah nur Angela.



Ich steigerte mich in etwas hinein. Ich wußte es, konnte aber nichts dagegen tun. Dafür war die Wirkung, die dieses hübsche Mädchen auf mich hatte, viel zu groß. Ich sah sie nur an, bei allem, was sie tat, und stellte mir vor, mit ihr Arm in Arm über eine Wiese oder durch einen Wald zu laufen, ihre Haare und das Gesicht zu streicheln, sie an mir zu spüren, ihren sanften, unaufdringlichen Geruch zu riechen.
Es tat höllisch weh. Von den Nachmittagen und Abenden, an denen ich alleine zu Hause saß und von ihr träumte, gar nicht zu reden.
Ich machte ihr fast pausenlos unaufdringliche Komplimente, hübsch verpackt in andere Nettigkeiten, doch außer einem verlegenen Lächeln kam keine Reaktion.
Warum sollte sie auch darauf reagieren? Sie war ein junges Mädchen, und ein - von ihrer Sicht aus gesehen - alter Mann paßte einfach nicht in ihr Weltbild.
Nicht so, wie ich es mir erträumte.
Ich war glücklich und verträumt, wenn sie im Geschäft war. Ich war sarkastisch und gereizt, wenn sie fort war. Ich war einsam und unglücklich, wenn ich zu Hause war.
Ich liebte sie, aber genau das konnte ich ihr nicht sagen.
Unter diesen schmerzhaften Konflikten verging die Woche. Am Freitag hielt ich ihren Anblick nicht mehr aus. Ich wußte, wenn sie weiter zu mir kommt, würde etwas passieren, was ich nicht mehr verantworten konnte. Weder vor ihr noch vor mir. Deshalb bat ich sie, als sie Feierabend machte, in mein Büro.
Zögernd kam sie herein. "Hab ich was falsch gemacht?" fragte sie ängstlich.
"Nein, Angela. Mach die Tür zu und setz dich."
Sie schloß die Tür und nahm Platz, die Augen etwas ängstlich und fragend auf mich gerichtet. Ich schob ihr einen Umschlag zu.
"Dein Geld."
"Danke." Sie lächelte schüchtern. Sie öffnete den Umschlag, sah hinein und stutzte. Dann zählte sie das Geld. Sie sah verwirrt auf.
"Das ist doch viel zu viel!"
"Nein." Ich atmete aus. "Das ist das Geld für deine drei Wochen, Angela. Du mußt nicht mehr kommen. Du darfst nicht mehr kommen."
"Wieso?" Nun war sie vollkommen verwirrt. "Weil ich 13 bin?"
"Nein." Ich sah ihr direkt in die Augen, als ich die Worte und Gefühle in mir nicht mehr zurück halten konnte. "Weil ich mich in dich verliebt habe, Angela. Schwer verliebt. Wenn du weiter hierher kommst, werde ich dich spätestens am Montag in den Arm nehmen und küssen. Deshalb, mein Süßes. Aber das ist mein Problem. Ich habe dir versprochen, daß du drei Wochen hier arbeiten kannst, und du sollst nicht unter meinen Gefühlen leiden. Jetzt geh nach Hause und kauf dir deine Anlage."
Das Mädchen saß reglos auf ihrem Stuhl und sah mich nur an. Mein Gefühl für sie schlug über mir zusammen.
"Geh bitte!" flehte ich sie an. "Angela, verschwinde auf der Stelle, oder ich küsse dich hier und jetzt!"
Sie sprang auf und rannte hinaus. Hinaus aus meinem Büro, hinaus aus dem Geschäft, hinaus aus meinem Leben.



Kapitel 3

Die Nachricht, daß mein Co-Manager Joachim sich bei einem Unfall das Handgelenk gebrochen hatte und für drei Wochen ausfiel, konnte mich nach diesem Vormittag auch nicht mehr erschüttern. Anja bot sofort an, seine Schicht zu übernehmen, doch ich ließ sie für heute auf der Tagschicht. Sie würde den morgigen Samstag covern, ich den Sonntag. Ab Montag sollte sie dann die Spätschicht fahren.
Ich blieb bis halb zwölf und fiel, als ich endlich zu Hause war, todmüde ins Bett. Ich schloß die Augen und sah sofort wieder Angela vor mir, die mich betroffen anschaute, als ich ihr meine Liebe erklärte. Angela, die aus meinem Büro rannte, als wäre der Teufel persönlich hinter ihr her.
Irgendwann, nach viel zu vielen Bildern, kam der Schlaf.
Ich wachte erst gegen zehn Uhr auf. Eine ausgiebige Dusche und ein kräftiges Frühstück mit Kaffee, Schwarzbrot, Fleischwurst und Käse stellten meine Kraft wieder her. Den ganzen Tag im Haus zu verbringen hatte ich jedoch keine Lust, und so fuhr ich zum Naherholungsgebiet im Süden der Stadt, um dort einen langen Spaziergang zu unternehmen.
Es war ein gut durchdacht angelegtes Gelände. Ein großer Park mit vielen schattigen Wegen, mehreren Spielplätzen für Kinder, Tischtennisplatten, Basketballkörben und Feldern für Fußball und Volleyball. In den Ferien war hier Hochbetrieb, und an schönen Schultagen tobten sich auch schon mal Schulklassen mit Sportunterricht hier aus. Eisverkäufer fuhren schon früh morgens ihre Autos herein, gefolgt von Limonade- und Frittenbuden. Mehrere kleine Teiche sorgten für frische, kühle Luft, und am Ende des Parks führten zwei breite Wege in einen dichten, stillen Wald; einer am rechten Ende, der andere am linken.
Genau diesen linken steuerte ich an, gedankenverloren und bedrückt.
Angela.
Was zur Hölle faszinierte mich so an ihr? Sie war nicht das hübscheste Mädchen, das ich jemals zu Gesicht bekommen hatte, also mußte da etwas anderes sein. Aber wieso konnte ich mich in ein 13jähriges Mädchen verlieben, ohne Hoffnung darauf, daß sie mein Gefühl erwiderte? Wieso hatte ich das zugelassen?
Oder anders gefragt: warum konnte ich mich nicht dagegen wehren?
Ich war aus dem Alter heraus, wo ich auf ein liebes Gesicht herein fiel. Doch bei Angela war mehr im Spiel. Viel mehr. Der Wunsch, sie im Arm zu halten und zu küssen, war eine Sache. Der Wunsch, sie ständig um mich herum zu haben, sie immer in meiner Nähe zu wissen, war jedoch eine ganz andere, und sehr viel stärker. Wäre sie in meinem Alter gewesen, hätte ich ihr die Verlobung angeboten, doch sie war erst 13.
Halb verzweifelt senkte ich den Kopf, schaute nur auf den Weg unter meinen Füßen und trottete in Richtung Wald. Daß ich ihn erreicht hatte, merkte ich nur daran, daß die Luft kühler, die Schatten dunkler und der fröhliche Lärm der spielenden Kinder leiser wurde.
Ganz in Gedanken nahm ich die Wege, die zu einem kleinen Fluß mitten im Wald führten. Dort zu sitzen und auf das strömende Wasser zu schauen half mir, meine Gedanken zu sortieren. So als ab das Wasser auch die Blockaden in meinem Kopf fort spülen würde.
Ich bog schließlich auf den Weg ein, der genau zum Fluß führte, als ich eine bekannte Stimme hörte.
"Tom?"
Ich stockte mitten im Schritt und sah mich um.
"Angela!"
Sie saß etwa fünf Meter entfernt auf einer Bank, neben ihrer Mutter, wie ich annahm, denn die Ähnlichkeit war groß. Frau Altmann, die in meinem Alter war, rauchte eine Zigarette und sah mich forschend an.
"Das ist der Idiot, der dich gefeuert hat?" fragte sie ihre Tochter belustigt, die auf der Stelle flammend rot wurde.
"So hab ich das nicht gesagt!" fauchte sie. "Ich sagte - Ach!" Wütend verschränkte sie die Arme vor ihrer wundervollen, kleinen Brust, warf sich an die Lehne der Bank und schmollte. Auch wenn ich nicht wußte, was ich jetzt machen sollte, war ich sehr erleichtert, daß Angela mir keinerlei Feindseligkeit entgegen brachte.
"Kommen Sie ruhig her", meinte Frau Altmann. "Wir beißen nicht."
"Sicher?" knurrte Angela. "Mußt du eigentlich immer alles ausplappern?"
"Da bin ich genau wie du." Sie zwinkerte ihrer Tochter zu, die ihr Schmollen einstellte und nun wütend in die Welt blickte. Zögernd kam ich näher. Frau Altmann stand auf, hob jedoch sofort den linken Fuß an. Ich blieb stehen.
"Keine Angst!" lachte sie fröhlich. "Ich hab mir eine Blase gelaufen. Deswegen sitzen wir hier und machen Pause. Sie haben nicht zufällig ein großes Pflaster dabei?"
"Nein, leider nicht. Nur ein Taschentuch."
Frau Altmann verzog das Gesicht. "Da hätte ich auch drauf kommen können. Maja Altmann. Sie sind...?"
"Thomas Berger. Auch genannt Tom Burger."
"Wie passend!" Belustigt drückte sie meine Hand und setzte sich anschließend wieder hin, den linken Fuß vorsichtig auf den Boden stellend.
"Der Preis der Mode", seufzte sie. "Warum gibt es keine Schuhe, die schick und bequem sind? Warum immer nur eins von beiden?"
"Damit viele Schuhe verkauft werden." Ich sah zu Angela. "Mit dir alles in Ordnung?"
"Ja!" knurrte sie. "Gibt's irgendwo Mütter, die nicht so Plaudertaschen sind wie meine?"
"Du hast damit angefangen, kleine Maus. Setzen Sie sich doch, sonst bekomme ich einen steifen Nacken."
Sie saß am Ende der Bank, Angela in der Mitte. Innerlich seufzend setzte ich mich neben Angela, die etwas näher zu ihrer Mutter rutschte.
"Jetzt möchte ich gerne mal Ihre Version hören", begann Frau Altmann, die sich vorsichtig den linken Schuh auszog. An ihrer Ferse war eine dicke Blase zu sehen, kurz vorm Platzen. "Was ist gestern genau passiert? Angela hat nur etwas von ihren 13 Jahren und Gefahr und Arbeit gebrabbelt. Da konnte kein Mensch draus schlau werden."
"Erzähl doch auch noch, daß du Werner vor die Tür gesetzt hast", meinte Angela zuckersüß. "Oder was wir zum Frühstück hatten." Sie sprang auf die Füße und ging einige Meter weit weg. Mit dem Rücken zu uns blieb sie stehen und schimpfte leise vor sich hin.
Warum liebte ich sie so? Warum tat es so weh, sie anzusehen?
"Tja...", begann ich, nach Worten suchend, die nicht in meinem Kopf waren. "Das ist nicht so einfach zu erklären."
"Wenn es einfach wäre, hätte ich Angela bestimmt verstanden", lachte sie leise. "Fangen Sie einfach an. Ich würde da wirklich sehr gerne mehr über hören." Daher hatte Angela das!
"Na ja", meinte ich umständlich. "Es ist... Eben wegen der ganzen Geräte, die wir haben. Wegen des Risikos. Und weil Angela noch so jung ist."
"Und das wußten Sie nicht vorher?" Sie holte ein Taschentuch aus ihrer Tasche und legte es sorgfältig um das hintere Leder ihres Schuhs.
"Doch, natürlich. Nur..." Ich suchte verzweifelt nach Worten, doch in mir war nur Angela.
"Ich meine, es ist eine Sache, es zu wissen, aber jemanden in Angelas Alter plötzlich mitten in dem Trubel zu sehen, ist eine ganz andere." Lahm, lahm, lahm!
"Verstehe." Frau Altmann steckte vorsichtig ihren Fuß in den Schuh und drückte ihn mit gequältem Gesicht hinein. "Geht eh nicht gut. Die platzt gleich. Und da haben Sie sich einfach so entschlossen, sie zu feuern?"
"Nein, nicht gefeuert. Eher - den Vertrag aufgehoben."
"Und Abstandssumme gezahlt. Ich traue mich nicht, aufzustehen." Sie schaute sich ihren Fuß an. "Warum?"
"Warum was?"
"Ihr die volle Summe gezahlt. Angela will es nicht annehmen, und ich auch nicht." Sie schaute mich fragend an. "Also?"
"Wie ich Angela gestern schon sagte, soll sie unter meiner Dummheit nicht leiden." Angela verstand. Sie drehte sich halb zu uns um und sah mich - ja, wie? Traurig? Hoffend? an.
"Jetzt macht das Sinn." Sie stand vorsichtig auf. "Die platzt. Todsicher. Na ja, wenigstens wird das Leder nicht versaut. Danke für den Tip."
"Gern geschehen. Kann ich irgendwie helfen?"
"Ja." Sie sah mich an, und in diesem Moment verschwand alles Lustige aus ihren Augen. "Reden Sie noch mal mit Angela. Sie hat Sie gestern als Idiot bezeichnet. Das -"
"Mutti!" fauchte Angela dazwischen. "Halt doch deinen vorlauten Mund!"
Frau Altmann warf ihrer Tochter einen ermahnenden Blick zu. Angela drehte sich wieder wütend um.
"Das tut sie nur, wenn sie irgend jemanden wie die Pest haßt oder sehr mag", setzte sie ihre Rede fort. "Was genau bei Ihnen zutrifft, da schweigt sie sich über aus. Aber sie sagte ganz klar, daß sie nicht verstanden hat, was gestern genau los war."
"Ich dachte, das hätte ich deutlich gemacht." Ich sah zu Angela, die sich wieder zu uns drehte.
"Das hast du", sagte sie leise. "Aber ich weiß immer noch nicht, warum. Was dahinter steckt."
Mein Herz schlug schneller, voller Hoffnung.
"Das klingt nach einem tollen Ansatz für ein klärendes Gespräch", lachte Frau Altmann. "Angie, ich rauche noch eine oder zwei Zigaretten. Ich muß Mut sammeln, um weiter zu gehen. Ihr klärt das unter euch." Sie sah mich auffordernd an. Ich nickte ergeben.
"Schön. Ich kann's versuchen."
"Geben Sie sich Mühe", meinte sie mit einem versteckten Lächeln. "Bei 13jährigen dauert es sehr lange, bis man den Verstand erreicht hat."
"Verdammt, Mutti!" Angela stampfte tatsächlich mit dem Fuß auf. "Hältst du jetzt die Goschen!"
"Oh, oh!" lachte Frau Altmann. "Da ist ein Orkan im Anzug. Hoffentlich kommen Sie lebend zurück, Herr Burger - Herr Berger." Sie mußte herzhaft lachen.
"Tut mir leid. Irgendwie sitzt der Spitzname."
"Wer ist jetzt doof?" murmelte Angela, jedoch so laut, daß wir es hörten. Frau Altmann lächelte mir zu.
"Gehen Sie. Reden Sie mit ihr. Da ist wohl noch vieles unausgesprochen."
In der Tat. Sehr vieles.
Ich nickte ihr zu und ging zu Angela. Als ich neben ihr war, marschierte sie los, in Richtung Fluß. Ich paßte mich ihrem Tempo an.
"Kommt ihr oft hierher?" fragte ich sie, als wir ein paar Meter gegangen waren. Angela nickte, ohne mich anzusehen.
"Ja. Jeden Samstag. Wir sind um acht in der Stadt, wegen Einkaufen, und kommen danach hierher. Die Schuhe hat Mami sich gestern gekauft, deswegen tut ihr das heute so weh. Es war irgendwie eine Zwischengröße, die passen sollte. Aber haut wohl nicht hin." Sie zuckte mit den schmalen Schultern. "Was war gestern los?"
"Das, was schon die ganze Woche los war", erwiderte ich leise. Angela verschränkte die Arme, während sie langsam weiter ging.
"Als du nach deinem Streit mit Werner bei uns im Geschäft gesessen hast, fand ich, daß du ein sehr hübsches Mädchen bist, Angela. Nachdem ich deine ganzen Kommentare von wegen Schule, Rabe und Vorstrafen gelesen hatte, fing ich an, dich sehr zu mögen, und als du dann in unserer Kleidung vor mir standest, hat es zugeschlagen. Das war los, Angie. Daß ich dich liebe."
Sie nickte schweigend.
Wortlos gingen wir hundert, hundertfünfzig Meter, bevor sie redete.
"Du sagst", fragte sie leise, "daß du mich liebst?"
"Das sage ich nicht nur, das ist so."
"Und warum schickst du mich dann weg?"
"Genau deswegen." Ich suchte - mal wieder! - nach Worten. Angela ließ mir Zeit.
"Schau", sagte ich, als meine Gedanken einigermaßen zusammenhängend verliefen. "Wenn jemand in meinem Alter liebt, setzt er auch unbewußt eine ähnliche Reaktion bei der Frau voraus. Nicht, daß sie ihn auch unbedingt liebt, aber daß sie auf seine Signale, seine Worte, seine Gesten anspricht oder zumindest reagiert, positiv wie negativ. Das kannst du natürlich nicht, weil du erst 13 bist und das alles noch nicht kennst." Sie nickte leise.
"Aber trotzdem ist das Gefühl für dich da, Angie. Ein so starkes Gefühl, daß ich manchmal denke, ich -" Ich brach ab. Es hatte keinen Sinn, diesem jungen Mädchen etwas von der Intensität meiner Gefühle zu erzählen. Damit würde ich sie nur erschrecken, verängstigen. Ich mußte es auf dem Level versuchen, mit dem ihre Erfahrung klar kam.
"Ich habe dich sehr lieb, Angie", sagte ich leise. "Sehr, sehr lieb, auch wenn wir uns erst eine Woche kennen. Lieber, als ich einen Menschen zuvor lieb gehabt habe. Das, was wir jetzt machen, nämlich gemeinsam spazieren gehen, habe ich mir gewünscht. Und daß du in meinem Arm bist, während wir gehen, auch. Daß ich dich bei mir spüren kann, Angie. Das macht dir vielleicht Angst, eben weil ich so viel älter bin als du, aber das ist das, was ich für dich empfinde. Ich träume davon, so oft wie möglich in deiner Nähe zu sein, mit dir zu reden, dich zu sehen, dich reden und lachen zu hören." Ich verstummte, als mir die Aussichtslosigkeit meiner Worte bewußt wurde.
"Und deshalb hast du mich gefeuert", sagte sie leise. "Weil du mich in deiner Nähe haben willst. Das verstehe ich nicht."
"Ich habe dich nicht gefeuert, Angie. Ich habe dich zu deinem eigenen Besten weggeschickt. Wie würdest du reagieren, wenn ich dich plötzlich in den Arm nehme und küsse, wie sich Erwachsene küssen?"
"Keine Ahnung", gestand sie wispernd, mit feuerroten Ohren und Wangen. "Ich weiß ja nicht mal, wie sich Erwachsene küssen."
"Ich aber. Und ich weiß, daß dir ein solcher Kuß im ersten Moment Angst machen würde. Eben weil du es nicht kennst. Und das ist genau das, was ich nicht will, mein Süßes: daß ich dir Angst mache. Aber andererseits weiß ich, wenn du weiter bei uns arbeitest, daß ich dich irgendwann in den nächsten ein, zwei Tagen in den Arm nehmen würde. Nicht kameradschaftlich, sondern so, wie ich für dich empfinde." Ich schaute sie an, doch ihr Blick war starr nach vorne gerichtet.
"Dann kommt noch dazu, daß ich 21 Jahre älter bin als du. Du bist 13, ich bin 34. Daß ich dich so sehr liebe, ist wirklich nur mein Problem. Genau deswegen hast du das volle Geld bekommen. Ich kann nichts dazu, daß ich mich in dich verliebt habe, und du kannst nichts dazu. Aber du sollst auf keinen Fall darunter leiden, daß ich meine Gefühle nicht im Griff habe. Verstehst du?"
Sie nickte schweigend.
"Deswegen habe ich dich weggeschickt, mein Süßes. Weil ich sonst etwas tun würde, was dir Angst macht. Dich umarmen, dich küssen, dich streicheln."
Angela stieß laut den Atem aus, sagte aber nichts.
Wir hatten inzwischen den kleinen, nicht ganz zwei Meter breiten, flachen Fluß erreicht. Wortlos ließ sich Angela auf den Boden sinken, die Beine im Schneidersitz verschränkt. Ich setzte mich etwa einen Meter von ihr entfernt hin. Sicherheitsabstand.
Für mich.
"Mama und Papa haben sich getrennt, als ich fünf war", sagte sie scheinbar zusammenhangslos. "Die haben sich nur gestritten. Daran kann ich mich noch erinnern. Aber mich hat keiner gefragt, ob ich wollte, daß sie sich trennen." Sie nahm zwei kleine Steine vom Boden auf und spielte damit in ihrer Hand, während sie auf das Wasser schaute.
"Mich hat auch keiner gefragt, bei wem ich bleiben wollte. Ich wollte nicht bei Mama sein, ich wollte auch nicht bei Papa sein. Ich wollte bei beiden sein. Mit ihnen zusammen sein. Trotz dem ganzen Streit und so. Dann hat mich keiner gefragt, ob ich wollte, daß Mutti neue Freunde hat, die mal bei uns übernachteten. Waren nicht viele, nur vier oder fünf in den ganzen Jahren, aber ich wollte die nicht. Ich wollte Papa wieder haben." Sie warf die Steine sorgfältig in den Fluß und nahm zwei neue in die Hand.
"Dann wollte ich nicht, daß Mama wieder arbeiten geht. Da war ich zehn. Genau zehn. Sie sagte, daß ich jetzt ein großes Mädchen wäre und mir selber das Essen machen könnte. Ging auch gut, aber ich wollte Mama bei mir haben. Und Papa." Sie warf auch die zwei neuen Steine in den Fluß und sah mich an. Der Blick ihrer graublauen Augen ging mir durch und durch.
"Jetzt kommst du an, sagst, du liebst mich, und schickst mich weg. Ich weiß nicht mal genau, was Liebe eigentlich ist, Tom, aber ich will weiter bei dir arbeiten. Ich will das Geld nicht geschenkt haben, sondern verdienen. Jede Mark davon. Und trotzdem fragt keiner, was ich will. Immer wird über meinen Kopf hinweg entschieden. Immer." Sie schluchzte kurz, sprang auf und rannte den Weg zurück.
Ihr Weinen drang wie stumpfe Messer in mein Herz.
Kapitel 4

Als ich zurück zur Bank kam, wo Angela und ihre Mutter gesessen hatten, waren sie fort. Ich schaute angestrengt über die drei Wege, die sich hier kreuzten, und entdeckte sie fast sofort, etwa 50 Meter entfernt. Frau Altmann hatte sich auf ihre Tochter gestützt und hüpfte auf einem Bein. Ihre Blase war wohl aufgeplatzt.
Ich blieb einen Moment unentschlossen stehen, doch die Höflichkeit siegte. Ich lief hinter ihnen her und hatte sie recht schnell eingeholt.
"Brauchen Sie Hilfe?" fragte ich, etwas außer Atem. Frau Altmann schüttelte lachend den Kopf.
"Nein, Flügel! Haben Sie Red Bull dabei?"
"Auch das nicht", bedauerte ich.
"Was für ein Langweiler", meinte sie zwinkernd zu ihrer Tochter, die schüchtern lächelte. "Oder?" Angela zuckte nur mit den Schultern. Sie schaute mich kurz an und sofort wieder weg.
"Ich kann Sie tragen", bot ich an. Dieses Angebot wurde von Frau Altmann sorgfältig erwogen.
"Ist zwar irgendwo lächerlich", meinte sie dann, "aber ich habe auch keine Lust, mir das ganze Fleisch durch zu scheuern. Wie am besten?"
"Auf die moderne Art."
Bevor sie etwas erwidern konnte, stand ich hinter ihr, schob meinen Kopf zwischen ihren Beinen durch und richtete mich auf, die Hände an ihre Unterschenkel gelegt. Frau Altmann schrie erschrocken auf, klammerte sich mit Armen und Beinen an mich, wobei sie mich halb erwürgte, und hielt sich schließlich an meinem Kopf fest.
Angela bekam einen Lachanfall, als sie ihre Mutter panisch auf meinen Schultern zappeln sah. Sie preßte den linken Unterarm vor ihren Bauch, deutete mit dem rechten Zeigefinger auf ihre Mutter, und stieß vor Lachen unartikulierte Laute aus.
"Ruhe da unten!" lachte Frau Altmann, die endlich ihren perfekten Sitz gefunden hatte. "Den Langweiler nehme ich zurück. So hat mich schon lange niemand mehr überrascht. Haben Sie noch mehr auf Lager?"
"O ja!" kicherte Angela. "Er hat's richtig gut drauf, andere zu überraschen." Sie schaute mich an, und dieser Blick voller Wärme und schüchterner Zuneigung ließ mein Herz rasen.
"Dann sollte eine von uns ihn ganz schnell heiraten, bevor sich irgendeine dumme Kuh ihn sichert." Sie wurde ernst. "Geht es wirklich, Herr Berger?"
"Ja. Aber nur, wenn ich Ihnen während des Gehens nicht meinen Lebenslauf erzählen muß." Ich legte meine Hände um ihre Fußgelenke und setzte mich langsam in Bewegung.
"Sieht das geil aus!" kicherte Angie ausgelassen. "Mutti, du siehst aus wie ein Affe mit Hämorrhoiden!"
"Warte, bis ich wieder stehe!" knurrte die Mutter, mußte aber auch lachen. Langsam wurde mir klar, woher Angela diesen Humor in ihren Augen hatte.
Ich paßte meine Atmung dem Gehen an. Zwei Schritte einatmen, zwei Schritte ausatmen, zwei Schritte nicht atmen. So ging es ganz gut.
Wo steht Ihr Auto?" fragte ich, als ich mich an das Gehen mit der ungewohnten Last vertraut gemacht hatte.
"In der Tiefgarage, wo es hingehört. Wir wohnen gleich am Anfang des Parks, in dem Wohnblock dort. Schaffen Sie es wirklich?"
"Bestimmt."
Frau Altmann war schlank wie ihre Tochter. Ich schätzte ihr Gewicht auf 60 Kilo; bei einer Größe von etwa 1,75 kein zu hohes Gewicht. Ich war zwar nicht Arnold Schwarzenegger, aber auch beileibe kein Woody Allen.
Langsam und vorsichtig ging ich zurück, bei jedem Schritt auf den Weg achtend. Angela ging schweigend neben uns her. Etwa in der Mitte des Parks begannen meine Knie, weich zu werden, doch ich hielt durch, bis wir vor der Haustür standen, wo ich Frau Altmann vorsichtig absetzte.
"Das kann ich gar nicht wieder gut machen", sagte sie dankbar, während sie sich die Schuhe auszog. "Sie sehen ziemlich geschafft aus."
"Geht schon", sagte der Macho in mir.
"Lad ihn doch zum Essen ein!" ließ sich Angela leise vernehmen. "Dann kann er sich wieder erholen."
"Hast ja doch meinen Verstand geerbt." Sie strich ihrer Tochter kurz über das Haar, was heftigen Neid in mir auslöste, und sah mich dann an. "Einverstanden? Es ist alles vorbereitet, muß nur schnell im Backofen warm gemacht werden."
"Aber nur, wenn ich nicht störe." Aus den Augenwinkeln sah ich, daß Angela ihren Kopf schüttelte.
"Das tun Sie nicht", erwiderte Frau Altmann, während sie den Schlüssel aus ihrer Tasche holte. "Schließt du auf, Angie?"
Wenig später standen wir im Aufzug, der uns in den sechsten und obersten Stock brachte, und noch einen Moment später waren wir in der Wohnung.
"Angie", meinte Frau Altmann, "führ unseren Gast ins Wohnzimmer und biete ihm was zu trinken an. Ich muß mir erst mal ein Pflaster auf die Blase pappen."
"Gerne." Angela sah mit einem scheuen Lächeln zu mir. "Kommst du?"
Sie führte mich durch die gemütlich eingerichtete Diele mit in einem Mauervorsprung versenkter Garderobe, Läufern und zwei kleinen Schränkchen in das Wohnzimmer. Ich sah auf den ersten Blick, daß Frau Altmann gut verdienen mußte. Die Möbel waren nicht direkt Luxus, aber weit über dem normalen Standard.
Die gut fünf Meter breite Schrankwand bestand aus pechschwarz lasierten Brettern, mit geschlossenen Schränken um unteren Teil. Einige Glastüren, hinter denen Fotos von Angela und ihren Eltern standen, lockerten die strengen Linien auf. Ein großer 16:9 Fernseher beherrschte ein Modul, eine sehr teuer aussehende Musikanlage das zweite. Über der Anlage waren zwei Regale voll mit LPs, in den Fächern daneben entdeckte ich Reihen über Reihen mit CDs.
"Mutti mag Musik", sagte Angela mit einem leichten Lächeln. "Ich auch. Deswegen gehe ich ja arbeiten. Ich möchte auch eine richtig gute Anlage haben."
Ich nickte, während ich mich weiter umsah.
Die meisten Regale waren mit Büchern voll. Ich entdeckte die kompletten Werke von Frederick Forsythe und Arthur Hailey, und sogar Klassiker wie Goethe, Schiller und Faust. Die Bücher sahen benutzt aus, als würden sie tatsächlich gelesen.
Im linken Teil des Wohnzimmers, wenn man herein kam, stand ein Eßtisch für vier Personen nebst vier bequem aussehenden Stühlen. An dem feinen Schlitz in der Mitte des Tisches konnte man erkennen, daß der Tisch sich ausziehen ließ. Das Holz war, wie ich vermutete, Eiche natur.
Im rechten Teil befand sich die Sitzgruppe, bestehend aus acht weißen Lederelementen, in einem Halbkreis angeordnet. Vor den Sitzen stand der flache Tisch: eine glänzende Rauchglasplatte auf einem verchromten Gestell. Kleine Deckchen, eine Blumenvase mit Dauerblumen und drei Kerzenständer milderten den kühlen Eindruck des Tisches. Sitzgruppe und Tisch standen auf einem dicken Teppich. Das Wohnzimmer war, wie auch die Diele und wohl die anderen Zimmer, mit Teppichboden bedeckt.
"Schön!" sagte ich, ehrlich bewundernd. "Schön und gemütlich."
"Wir fühlen uns hier auch sehr wohl. Komm mal zum Fenster."
Wir gingen an das große Fenster und schauten direkt auf den Park.
"Mein Zimmer hat auch ein Fenster zum Park", sagte Angie leise. "Das andere zur Straße. Es ist zwar etwas kleiner als Mamas Schlafzimmer, aber ich wollte das gerne haben. Das Fenster im Schlafzimmer geht nämlich nur auf die Straße."
Ich sah sie an, wie sie verträumt auf den Park blickte, und konnte mich nicht mehr beherrschen. Wie von selbst legte sich mein Arm um ihre schmalen Schultern. Angie sagte nichts. Sie bewegte sich auch nicht. Sie blieb nur stehen. Verlegen nahm ich meinen Arm wieder weg.
"Es tut mir leid", flüsterte ich beschämt. "Sehr leid, Mädchen."
"Schon gut." Auch sie flüsterte. Sie drehte sich zu mir. "Was möchtest du trinken?"
"Etwas Kaltes, bitte. Saft oder Sprudel. Ist egal." Ich wagte nicht, ihr in die Augen zu sehen.
"Dann setz dich. Ich mach eben den Backofen an und hol dir was." Sie lief hinaus.
Ich stieß den Atem aus und ließ mich schwer in einen der Ledersessel fallen.
Aus.
Mit einer einzigen unbeherrschten Geste alles kaputt gemacht.
Aber genau deswegen hatte ich sie doch weggeschickt, verdammt noch mal! Ich wußte doch, was für ein Gefühl in mir war, und daß ich es nicht mehr lange im Griff haben würde.
Als ich Schritte hörte, sah ich auf. Frau Altmann kam herein, und zwar barfuß.
"Luft heilt am besten", meinte sie trocken, während sie sich auf den Sessel neben mir fallen ließ. "Ich habe nur etwas Creme drauf geschmiert. Wie geht's Ihnen? Sie sehen ziemlich fertig aus."
"Gestern war ein langer Tag", seufzte ich. "Der Manager, mit dem ich mir die Arbeit teile, hatte einen Unfall und kann zwei oder drei Wochen nicht kommen. Linke Handgelenk gebrochen. Nicht schlimm, also nicht kompliziert, aber er fällt eben aus. Er ist dummerweise auch noch Linkshänder, so daß er vollständig ausgeschaltet ist. Somit mußte ich gestern von halb sieben in der Früh bis halb zwölf abends schuften."
"Und dann noch mich schleppen." Sie sah mich vorwurfsvoll an. "Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?"
"Es ging ja gut", erwiderte ich lächelnd. "Im Moment sind nur meine Beine etwas am Zittern."
"Nochmals Danke; das war sehr lieb von Ihnen." Sie drückte kurz meine Schulter, bevor sie sich umdrehte und tief Luft holte.
"Angie? Wo bleibt -"
"Schon da!" fauchte Angela, die in diesem Moment zur Tür hereinkam. In den Händen trug sie ein Tablett mit verschiedenen Kartons Saft und drei Gläsern. "Schrei mich bloß nicht an!"
"Hui!" lachte Frau Altmann. "Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?"
"Du!" Sie stellte das Tablett vorsichtig auf dem Tisch ab und verteilte Kartons und Gläser, während sie weiter schimpfte. "Du plauderst alles mögliche aus, erzählst total Fremden Sachen, die keinen was angehen, und überhaupt! Das laß ich mir nicht mehr gefallen, klar?"
"Ich dachte, Tom wäre kein Fremder für dich."
"Doch! Bei so Sachen schon. Du erzählst einfach Sachen total aus dem Zusammenhang raus." Sie blitzte mich an. "Was willst du haben? Orange oder Apfel?"
"Das kann man auch etwas höflicher fragen, Angie", sagte ihre Mutter sanft. Angies Kopf fuhr zu ihr herum.
"Ich hab aber keinen Bock drauf, höflich zu sein!" fuhr sie ihre Mutter an. "Warum entscheidest du nicht einfach, was er trinken soll? Das kannst du doch so gut!" Sie knallte das Glas, das sie in der Hand hielt, auf den Tisch, sprang auf und lief weinend hinaus. Sekunden später fiel eine Tür laut ins Schloß. Frau Altmann sah mich fragend an.
"Können Sie den Zusammenhang herstellen? Ich nicht."
"Vielleicht." Ich berichtete bedrückt von dem, was Angela mir am Fluß erzählt hatte. Frau Altmann nickte nachdenklich, als ich fertig war.
"Verstehe. Also der Streß der Jahre, locker gesagt. Was möchten Sie denn nun trinken?"
"Ist egal."
"Mir auch." Sie lächelte schelmisch. "Wir haben von beidem noch genug."
"Dann bitte Apfel."
Sekunden später trank ich einen erfrischend kühlen Schluck.
"Das muß die Pubertät sein", überlegte Frau Altmann laut, während sie sich ihr Glas eingoß. "In dem Alter habe ich meinen Eltern sogar vorgeworfen, daß sie mich geboren haben."
In diesem Moment knallte es laut in einem Zimmer hinter uns.
"Wutanfall", grinste Frau Altmann. "Wie ich damals."
Bevor ich etwas sagen konnte, knallte es ein weiteres Mal, und dann hörten wir Angela toben: "Warum lebe ich überhaupt, verdammt noch mal?", begleitet von einem weiteren Knall und einem wütenden Quietschen. Frau Altmann biß sich auf den Finger, um nicht zu lachen.
"Meine Tochter. Eindeutig. Alle Zweifel ausgeräumt. Nun schauen Sie nicht so unglücklich drein, Herr Berger. Sie sind ja wohl kaum schuld an Angies oder meinem Leben."
"Das stimmt vielleicht, aber zumindest daran, daß Angela seit gestern etwas unter Streß steht."
"Da muß sie durch. Stört es Sie, wenn ich Musik anmache? Ohne kann ich kaum leben." Ohne auf meine Antwort zu warten, sprang sie auf und lief zur Anlage. Einen Augenblick später erklang ein lokaler Sender, der leichte Popmusik spielte. Als sie zurück zum Sofa kam, stürmte Angie herein.
"Durst", knurrte sie nur und ließ sich vor dem flachen Tisch auf die Knie fallen.
"Angie", sagte ihre Mutter leise. "Ich habe das Gefühl, daß sich bei dir sehr viel angestaut hat, wo du vielleicht über reden möchtest. Ist das so?"
Der sanfte, liebevolle Ton beruhigte Angie etwas. Sie nickte leicht.
"Ja. Aber nicht jetzt." Sie warf mir einen schnellen Blick zu.
"Und ich", sagte ich ebenso leise, "möchte mich sehr entschuldigen, falls ich etwas gesagt oder getan habe, was du nicht so recht erfassen konntest."
"Schon gut." Sie lächelte leicht. "Ich hab das von gestern nicht verstanden, aber das hast du mir ja erklärt. Alles andere ist okay. Ich komm dann Montag wieder zu dir, ja?"
"Nein." Ich sah sie fest an. "Ich habe dir das erklärt, Angela. Es ist zu riskant. Für uns beide."
"Ja, das hast du erklärt." Sie trank einen Schluck von ihrem Orangensaft. "Trotzdem. Wir haben einen Vertrag, und den will ich einhalten. Ich bin Montag um neun Uhr da."
"Das bist du nicht."
"Bin ich doch!" erwiderte sie hitzig. "Das mit den Risiken kannst du dir - Ich meine, ich finde nicht, daß das zu riskant ist. Glaube ich einfach nicht. Es sind ja immer andere Leute dabei, die auf mich aufpassen."
"Du willst es wohl nicht verstehen!" sagte ich aufgebracht. "Angela, wieso erkläre ich dir lang und breit, worum es geht, wenn du das einfach so weg schiebst?"
"Weil es jetzt endlich mal so laufen soll, wie ich das will!" fauchte sie mich an. "Nicht immer, wie du es willst. Wie Mami es will. Wie es jeder Idiot da draußen will! Nein, jetzt wird das gemacht, was ich will. Schluß."
"In diesem Fall wirst du es akzeptieren müssen, Angela. Du weißt nicht, was passieren kann, aber ich weiß es. Klar?"
"Süß!" Frau Altmann lachte fröhlich. "Wie in alten Zeiten."
"Halt dich da raus!" raunzte Angela ihre Mutter an. "Ihr habt mich immer weg geschickt, wenn ihr euch gestritten habt. Jetzt bist du dran. Raus mit dir."
"Wie war das?" grinste Frau Altmann. "Du wirfst mich aus meinem eigenen Wohnzimmer raus?"
"Ja!" Angela war auf 180. "Werner und du habt mich auch aus meinem Zimmer gejagt, weil ihr euch da gestritten habt. Raus!"
"Wo sie recht hat, hat sie recht." Frau Altmann stand grinsend auf. "Der Überlebende bekommt eine doppelte Portion Nudelauflauf." Lachend lief sie hinaus und schloß die Tür. Angela sah ihr nicht einmal hinterher.
"Ich bin Montag um neun Uhr da", sagte sie heftig. "Ich laß mir doch keine 480 Mark schenken! Zum Geburtstag ja, aber nicht so."
"Es geht doch nicht um das Geld, Kind!" erwiderte ich halb verzweifelt. "Es geht darum, daß ich das mache, was ich vorhin gemacht habe. Und noch mehr!"
"Genau das meine ich ja. Es sind ja immer andere Leute dabei. Da kannst du das nicht machen." Sie lächelte zufrieden. "Und außerdem... Egal. Ich bin Montag um neun Uhr da."
"Angie!" Ich ließ mich auf den Boden sinken und kniete, so wie sie. "Willst du das nicht verstehen? Du spielst mit einem Feuer, von dem nicht einmal ich weiß, wie ich es löschen soll. Es ist schlicht und einfach zu riskant!" Ohne es recht zu bemerken, griff ich nach ihren kleinen Händen und hielt sie sanft fest.
"Das habe ich schon kapiert", erwiderte sie leise, ohne ihre Hände weg zu ziehen. "Aber ich will nicht, daß du das willst, was ich nicht will."
Das war zu kompliziert für mich. "Bitte?"
Angie holte Luft.
"Paß auf. Du willst, daß ich nicht mehr komme. Aber das will ich nicht. Also will ich nicht, daß du willst, daß ich nicht mehr komme. Klar?"
"Halb."
"Immerhin." Sie lächelte schüchtern, zog ihre Hände sanft aus meinen, stützte sich auf meinen Schultern ab und stand auf. "Montag, neun Uhr."
"Angela, bitte!" Auch ich stand auf. "Merkst du nicht, daß ich dich berühren möchte? So wie jetzt eben? Wie soll das gehen, wenn du mir vier Stunden vor der Nase herum tanzt?"
"Wenn du mich berühren willst", sagte sie leise, mit einem leichten Funkeln in den Augen, "mußt du mich aber erst fangen!" Sie gab mir einen kräftigen Schubs, der mich in den Sessel fallen ließ, und lief fröhlich lachend hinaus.
Noch während ich einen bitteren, sehr obszönen Fluch herunter schluckte, kam Frau Altmann wieder herein, mit einem neugierigen Gesichtsausdruck.
"Alles geklärt?"
Ich stieß den Atem aus und antwortete mürrisch: "Nein. Sie will Montag um neun Uhr zur Arbeit erscheinen. Ich finde das nicht gut!"
"Sie hat ihren Dickkopf. Und ihren Stolz." Frau Altmann ließ sich in den Sessel fallen, zog beide Beine an und drehte sich zu mir. "Essen ist in zehn Minuten fertig." Ihr Gesicht wurde sehr ernst.
"Ich hatte vorhin, bei dem Streit zwischen Ihnen und Angie, den ganz leisen Eindruck, daß es um etwas völlig anderes ging als um das, was die Worte sagen sollten. Was genau soll ihr denn passieren? Oder was kann ihr passieren?"
Ich zog schnell den Manager in mir über meine Seele und sah sie an.
"Erstens: sie könnte sich Hände und Unterarme im Öl für die Fritten verbrühen. Zweitens: sie könnte sich die Finger an der Eismaschine aufschneiden. Bis auf den Knochen. Drittens: sie könnte sich an dem Grill verbrennen. Sehr böse. Viertens: sie könnte beim Putzen auf der Treppe zu den Toiletten ausrutschen und 23 Stufen nach unten fallen. Fünftens bis Zwanzigstens: sie könnte sich an allem möglichem verletzen, woran ich jetzt nicht einmal denken kann. Ich will nicht sagen, daß es so kommen muß, aber es könnte sein, und genau das Risiko ist mir zu hoch. Ich wußte es zwar schon vorher, aber erst, als ich Angela durch die Küche wirbeln sah, ist mir richtig bewußt geworden, worauf ich mich mit ihr eingelassen habe."
"Verstehe." Sie zog die Unterlippe zwischen die Zähne. "Aber andererseits... Angie kocht hier, für uns. Sie kennt den Unterschied zwischen einem scharfen und einem stumpfen Messer. Und sie hat mir erzählt, daß sie sowieso nicht in der Küche putzt oder dort arbeitet. Richtig?"
"Das ist richtig", gab ich widerstrebend zu. "Ich sage auch nur, daß die Möglichkeit besteht."
"Hm." Sie legte den Kopf etwas schräg, spielte mit einer Strähne ihres ebenfalls dunkelblonden Haares und sah in die Unendlichkeit.
Ich seufzte stumm, mir der Ironie der Situation bewußt werdend. Zuerst wollte ich eine niedliche kleine Freundin haben, und jetzt, wo sich die Möglichkeit ergab, schreckte ich davor zurück.
Verrückt.
Angela kam zurück. Sie setzte sich wortlos auf den Sessel neben ihrer Mutter, schmiegte sich an sie und sah wie sie zum Fenster hinaus.
"Na, kleine Maus?" sagte Frau Altmann leise, ohne sich umzudrehen. "Alles im Griff?"
"Mehr oder weniger." Angie lächelte leicht. "Wird sich zeigen. Ich paß ganz bestimmt auf, Mutti."
"Hoffentlich. Herr Berger hat mir erzählt, wie gefährlich die Geräte in der Küche sind."
"Ich weiß. Hat er mir ja auch erklärt. Und nicht nur die. Auch alles andere." Ihr Blick wanderte zu mir, ihre Augen zeigten nur noch Entschlossenheit. "Aber damit komme ich klar."
"Dann muß Herr Berger eben gut auf dich aufpassen und dich keine Sekunde aus den Augen lassen", lächelte Frau Altmann. "Deckst du den Tisch? Dann hole ich alles andere."
"Klar." Sie drückte ihre Mutter noch einmal, bevor sie aufstand und in die Küche ging.
Kapitel 5
Während des Essens erzählte Frau Altmann von ihrem Beruf. Sie arbeitete als stellvertretende Geschäftsführerin in einem großen Baumarkt ganz in der Nähe, bezeichnete sich jedoch etwas ironisch als "Mädchen für alles". Trotzdem war nicht zu überhören, daß ihr Beruf ihr sehr viel Freude machte.
Auch nicht, daß sie eine ebenso humorvolle und doch entschlossene Art wie ihre Tochter hatte. Unter der ruhigen Oberfläche brodelte bei beiden ein heißer Vulkan namens Temperament.
Nach dem Essen zog sich Frau Altmann Schlappen an, und es ging wieder hinaus in den Park.
"Wir laufen am Samstag immer mindestens zwei Stunden", erklärte sie auf dem Weg durch den Park. "Getragen werden zählt dabei nicht."
"Wie geht es denn Ihrem Fuß?"
"Er wird überleben." Sie zwinkerte mir zu. "Wo waren wir vorhin stehen geblieben? Ach ja. Werner Haberle. Ist der wirklich so ein Brüllaffe, oder tut er nur so? Ich tendiere zwar zu letzterem, aber ganz sicher bin ich mir da nicht."
"Er tut nur so. Ganz sicher. Er ist etwas unsicher. War er schon damals in der Schule. Er meint, wenn er brüllt, kann sich niemand gegen ihn stellen. Jedenfalls hat er das lauteste Organ, das ich jemals gehört habe."
"Das sagten meine Nachbarn auch", lachte sie fröhlich. "Na ja, wieder ein Fehlschlag. War nicht der erste."
"Sie haben ihn tatsächlich rausgeworfen?"
"O ja." Sie nickte munter. "Er fing an, mehr und mehr Klamotten von sich anzuschleppen, und ich durfte sie waschen. Das hab ich ja noch mitgemacht. Aber als es dann ans Bügeln ging, habe ich mich glatt verweigert. Das habe ich nun wirklich nicht eingesehen. Er arbeitet höchstens acht oder neun Stunden am Tag, ich mindestens acht oder neun. Da kann er sich auch seine Hemden und Hosen selber bügeln. Oder sehe ich das falsch?" Sie warf mir einen fragenden Blick zu.
"Nein, absolut nicht", erwiderte ich lächelnd. "Wenn zwei berufstätig sind, sollte die Arbeit auch gerecht geteilt werden."
"Exakt meine Meinung. Als sich dann mehr und mehr von ihm bei mir stapelte, schnauzte er mich Donnerstagabend an, warum nichts gebügelt ist. Daraufhin habe ich ihm wortlos seine ganze Wäsche in die Hände gedrückt, die Wohnungstür aufgehalten und ihn nur angesehen."
"Und wie!" prustete Angie los. "Der hat geglotzt wie ein Auto mit Totalschaden!"
"Eigentlich noch dämlicher", grinste Frau Altmann. "Er hat zumindest sehr schnell kapiert, was meine Haltung ausdrückte, und ist belämmert abgezogen. Gestern hat er mich in der Firma angerufen und sich tausendmal entschuldigt und gemeint, daß es nie wieder vorkommen würde, daß er sich ändern wurde und die ganze Palette rauf und runter. Ich hab ihm nur höflich gesagt, daß weder meine Tochter noch ich Dienstmädchen sind, die er herum kommandieren kann, und aufgelegt. Das Spiel hat er dreimal gemacht, über den ganzen Tag verteilt, und seit heute morgen ist Ruhe."
"Solltest du auch etwas für ihn tun?" fragte ich Angie überrascht. Sie nickte grinsend.
"Seine Strümpfe zusammen legen. Habe ich auch. Einen schwarzen mit einem grünen, einen blauen mit einem roten, einen kurzen mit einem langen..." Sie drückte sich lachend an ihre Mutter, die Angie fest an sich zog.
"Da tun wir beide uns nichts", grinste sie breit. "Es passiert nur sehr selten, daß wir so laut werden wie Angie vorhin, aber das bedeutet, daß wirklich viel im Argen liegt. Meistens leisten wir stillen Widerstand."
"Wie bei dem Frank!" Angie schmiegte sich kichernd an ihre Mutter. "Weißt du das noch, Mutti?"
"Als wäre es gestern gewesen." Sie schaute mich an, aus ihren Augen liefen schon die Lachtränen.
"Frank war wie Sie ein Manager, Herr Berger. Aber bei weitem hektischer und nervöser. Er kam eines Abends an, völlig aufgelöst, und verlangte, seine Hemden zu waschen. Er bat nicht, er fragte nicht; nein, er verlangte. Er mußte am nächsten Morgen irgendwo hin fliegen. Wohin, weiß ich nicht mehr."
"Nach Rom", half Angie aus.
"Richtig. Nach Rom. Jedenfalls erklärte ich ihm, daß ich gerade Angies Sachen in die Maschine gestopft hätte. Er wurde leicht ausfallend und meinte, das interessierte ihn einen Sch..." Sie zwinkerte mir zu. Ich nickte lächelnd.
"Also gut, sagte ich mir, nachdem ich es noch ein zweites Mal versucht hatte. Die Maschine lief ja noch nicht lange. Ich hab mir also seine Hemden genommen, sie zu Angies Sachen gepackt und die Maschine angeworfen." Mutter und Tochter drückten sich lachend; Angie sah mit leuchtenden Augen zu mir.
"Was Frank nicht wußte", plapperte sie aufgekratzt, "war, daß ich mir an dem Tag neue Sachen gekauft hatte. Die haben so nach Chemie gestunken, daß wir sie erst mal waschen wollten. Weißt du, was das für Sachen waren?"
Ich schüttelte den Kopf, auch wenn ich mir schon denken konnte, wie es ausging.
"Zwei knallrote T-Shirts", lachte Frau Altmann, "und einen roten Sweater. Als Franks Hemden aus der Maschine kamen, ist er beinahe tot umgefallen. Was vorher Weiß war, war nun herrlich Rosa. Richtig satt Rosa. Frank hat wortlos seine Sachen genommen und ist verschwunden. Auch so ein Chaot."
"Er ist aber erst abgezogen", fiel Angie ein, "als du ihm ganz unschuldig gesagt hast, daß Rosa wunderbar zu einem grauen Anzug paßt."
"Ach ja. Das war der Tropfen in dem vollen Faß." Sie wischte sich die nassen Augen an ihrer Bluse ab. Auch ich mußte lachen.
"Mehr Tricks verraten wir nicht", sagte sie dann, als sie sich wieder beruhigt hatte. "Aber wir haben noch jede Menge auf Lager. Jede Menge. Ist es bei Ihnen auch so lustig?"
"Das fragen Sie einen Junggesellen?" erwiderte ich schmunzelnd. "Nein, eigentlich nicht. Eher schön ruhig und friedlich. Wenn ich merke, daß eine Frau nicht auf der gleichen Wellenlänge wie ich ist, bekommt sie gar nicht erst die Chance, ihre Sachen bei mir unterzubringen."
"Das klingt nach Charakter." Sie schaute mich fragend an. "Oder nach Angst?"
"Beides", erwiderte ich sofort. "Charakter, weil ich wirklich nur eine Frau zu mir lassen will, mit der ich mich sehr gut verstehe. Und Angst... Aus dem gleichen Grund. Eine Beziehung ist in meinen Augen zu wertvoll und zu vielfältig, um sie auf schwache Füße zu stellen."
"Das sehe ich auch so." Sie drückte ihre Tochter an sich, während wir den Park verließen und den Wald betraten. "Bei mir kommt noch dazu, daß ich Angie nicht einen x-beliebigen Mann vorsetzen kann. Sie muß sich auch mit ihm verstehen; das ist bei mir oberstes Gebot. Bisher war niemand dabei, auf den das alles zutraf, und so sind wir seit Donnerstagabend wieder zu zweit."
"Ist mir aber auch recht so", meinte Angie. "Der war ja wirklich nur am Brüllen."
"Mit mir kann er das auch ruhig machen, kleine Maus. Aber nicht mit dir." Sie strich Angie über das Haar und sah zu mir.
"Ich habe völlig vergessen, Sie zu fragen, ob wir vielleicht irgendwelche Pläne durchkreuzen, Herr Berger. Nicht, daß Sie aus Mitleid oder Pflichtgefühl mit uns laufen."
"Nein, das auf keinen Fall. Meine Supervisorin übernimmt heute, ich morgen. Das geht schon."
"Und so geht das weiter, bis dieser - wie hieß er noch? - Joachim wieder einsatzfähig ist?"
"Nein. Nur dieses Wochenende. Ab Montag übernimmt Anja die Spätschicht."
"Anja ist Ihre Supervisorin?"
"Genau. Leider die einzige. Normalerweise gehören zu jeder Filiale drei Manager und drei Supervisor, aber seit Januar wurden mal wieder Rationalisierungen eingeführt, unter denen nun alle leiden müssen."
"Ist bei uns ähnlich", erwiderte sie munter. "Ich könnte auch jemanden gebrauchen, der mir zur Hand geht, aber mein Chef sagt immer die berühmten zwei Worte: ‚Iss nich'."
"Bei uns heißt das: ‚Gibt's nicht'. Aber spätestens wenn die Überstunden einfliegen, wird sich jemand Gedanken machen müssen."
"Werden bei Ihnen die Überstunden bezahlt?" fragte sie ungläubig.
"Ja und nein. Nein, wenn es normale sind, also eine oder zwei zusätzlich. Ja, wenn eine komplette Schicht dazu gemacht werden muß. Dann ja. Andernfalls würde sich niemand für den Supervisor oder Manager bewerben."
"Also doch wie bei uns", meinte sie zufrieden. "Pech. Muß ich doch dableiben."
Wir redeten und lachten und plauderten den ganzen Weg über, und ich wünschte mir doch nichts sehnlicher, als mit Angie alleine hier zu sein. Sie im Arm zu halten, ihr ins Ohr zu flüstern, wie sehr ich sie liebte, ihr weiches Haar zu streicheln. Der Schmerz, sie neben ihrer Mutter zu sehen, nur knapp einen Meter entfernt und doch unerreichbar, war beinahe unerträglich.
Angie hingegen war wieder vollkommen sie selbst. Die Differenzen des Vormittages waren ad acta gelegt, und nun benahm sie sich wieder so, wie sie war: offen, fröhlich, munter. Kein Blick in meine Richtung, der etwas anderes als Instrument der neutralen Kommunikation war, keine Geste, die auf eine Intensivierung unserer Beziehung hindeuten konnte. Rein nichts.
Sie war ja auch erst 13.
Wir verbrachten eine gute halbe Stunde am Fluß, wo Angie wieder mit kleinen Steinen spielte, und als Frau Altmann aufstand, sagte das Mädchen:
"Geh vor, Mutti. Wir kommen gleich nach. Ich muß mit Tom noch was besprechen."
"Aber nicht wieder toben", erwiderte ihre Mutter. "Sonst verschreckst du noch die Eichhörnchen."
Ich setzte mich wieder, während Frau Altmann den Weg, den wir gekommen waren, zurück ging, und sah fragend zu Angie.
"Was gibt's?"
"Nichts." Sie lächelte scheu. "Laß uns einfach was sitzen, ja?"
"Hältst du das für eine gute Idee?" fragte ich angespannt. Angie zuckte mit den Schultern.
"Weiß nicht. Warum soll das keine gute Idee sein?"
"Nach allem, was ich dir von meinen Gefühlen für dich erzählt habe?"
"Und?" Sie sah mich unergründlich an. "Wirst du mich fesseln, mir was antun und dann töten?"
"Angie!" Ich war regelrecht schockiert. "Nichts davon. Kind, was denkst du von mir?"
"Was denkst du von mir?" fragte sie leise. "Tom, du weißt seit Montag, daß du mich liebst, wie du sagst. Mir hast du es gestern gesagt. Ich bin 13. Ich habe keine Ahnung, was richtige Liebe ist, also zwischen Mann und Frau, und ich weiß überhaupt nicht, wie ich damit umgehen soll. Also daß du mich liebst." Sie warf ihren Stein hoch in die Luft. Er fiel mit einem leisen Platschen in den Fluß. Angie hielt bereits den nächsten in der Hand.
"Wenn du so weiter machst, baust du noch einen Staudamm." Ich mußte das Thema wechseln. Ich mußte es tun.
"Au ja!" kicherte sie hell. "Aber das kann man verhindern."
Sie beugte sich vor, steckte beide Hände tief in den Fluß und holte eine dicke Ladung nasser Steine heraus, die sie vor ihren Knien auf den Boden fallen ließ. Plötzlich stockte sie und sah mich schelmisch an.
"O nein!" lachte ich. "Angie, das läßt du -"
Zu spät. Zwei Handvoll Wasser flogen in meine Richtung und spritzten kalt und naß in mein Gesicht. Angie sprang fröhlich lachend auf und rannte davon.
"Du Biest!" Ich sprang auf und rannte hinter ihr her. Angie schlug einen Haken nach dem anderen; meine glatten Straßenschuhe hatten auf dem steinigen Weg keine Chance gegen ihre Sneaker. Doch ich paßte auf und merkte mir, wann sie einen Haken schlug, und griff im genau richtigen Moment zu. Lachend wirbelte Angie herum, prallte gegen mich und schaute mich strahlend an.
"Du hast mich gefangen!" sagte sie etwas außer Atem. "Und jetzt? Was machst du mit deiner Beute?"
Die Sehnsucht in mir wurde übermächtig.
"Ganz viel lieb haben", flüsterte ich, während ich sie an mich drückte.
Zum ersten Mal in meinem Leben hielt ich ein junges Mädchen im Arm. Alle Hemmungen, alle Blockaden, alle Überzeugungen verschwanden, als ich diesen schlanken Körper an mir spürte. Ich preßte sie an mich, fuhr mit beiden Händen über ihr tatsächlich sehr weiches Haar, flüsterte vollkommenen Unsinn in ihr Ohr und weinte fast vor Glück, als Angie sehr zögernd und sehr locker ihre Arme um mich legte.
"Mein Süßes", flüsterte ich, den Tränen nahe. "Ich liebe dich so sehr, Angie. Mehr, als ich sagen kann."
Sie nickte nur leicht, während sie ihren Kopf etwas drehte und die Wange an meine Brust legte. Ich spürte ihre Haare unter meinen Fingern, ihre Wange, ihren Kiefer. Alles in mir schrie danach, sie nie wieder los zu lassen, doch als Angie sich bewegte, gab ich sie sofort frei. Sie lächelte mich sehr schüchtern an, drehte sich auf dem Absatz um und lief los, ihrer Mutter hinterher.
Kapitel 6
"Jetzt alles geklärt?" fragte Frau Altmann, als wir wieder zu dritt waren. Angie lächelte still."Ja, Mutti. Alles geklärt. Ich weiß jetzt, wie ich mich verhalten muß, und Tom weiß, daß mir nichts passieren kann."
"Die Worte hör ich wohl", seufzte Frau Altmann. "Allein mir fehlt der Glaube. Du paßt auf, daß du nicht an diese gefährlichen Geräte gehst?"
Angie grinste kurz. "Ganz bestimmt, Mutti. Die faß ich nicht an, bevor ich sie nicht besser kenne."
"Gut." Sie schaute ihre Tochter fragend an. "Sag mal... War da gerade irgendein Doppelsinn in deinen Worten?" Mir wurde heiß und kalt.
Angie riß sich los und rannte lachend vor uns weg.
"Fangt mich!" rief sie fröhlich. Frau Altmann schüttelte den Kopf.
"Manchmal weiß ich wirklich nicht mehr, wo 13 hingehört: zum Kind oder zum Erwachsenen."
"Viel schlimmer", seufzte ich überzeugt. "Zum Teenager."
"O ja!" lachte Frau Altmann. "Die Gruppe habe ich verdrängt." Sie stützte sich auf meine Schulter, hob den linken Fuß und schaute nach ihrer offenen Blase. Ziemlich viel Staub und Dreck hatte sich auf die Creme gesetzt.
"Gibt hoffentlich eine Blutvergiftung", sagte sie sehnsüchtig und stellte den Fuß wieder ab. "Ich könnte mal zwei Wochen Urlaub vertragen."
"Darf ich Sie etwas fragen, Frau Altmann?"
"Sicher." Wir gingen wieder los, hinter Angie her, die schon fast außer Sichtweite war.
"Wegen Angie. Offenbar verdienen Sie sehr gut. Warum muß Angie dann arbeiten gehen, um sich eine neue Anlage zu kaufen?"
"Das haben wir so abgemacht." Sie machte eine Grimasse und zuckte mit den Schultern.
"Vor zwei Jahren bin ich ein Geschäft gegangen und habe gesagt, ich suche für meine elfjährige Tochter eine Stereoanlage. Der Verkäufer wollte mir so ein Mickymausgerät für 99 Mark andrehen, das Angie todsicher in der Luft zerpflückt hätte. Ich habe dem Herrn ziemlich deutlich gesagt, was ich davon halte, und wurde - wahrscheinlich aus Rache - mit einem Gerät abgespeist, was im Geschäft gut, zu Hause aber nur noch furchtbar klang. Keine Ahnung, wie die das gemacht haben. Ich habe die Anlage zurück gebracht, aber im Geschäft klang sie eben wieder gut." Sie seufzte leise.
"Dummerweise haben Angie und ich vorher abgemacht, daß sie diese Anlage bekommt, aber dann nichts mehr. Außer zum Geburtstag und Weihnachten und so weiter. Als ich mir dann im April die neue Anlage gekauft habe, wurde Angie neidisch bis in die Haarspitzen. So kam das." Sie schaute mich entschuldigend an.
"Das behalten Sie jetzt für sich, ja? Sobald Angie die drei Wochen bei Ihnen um hat, lege ich noch etwas drauf, und dann bekommt sie eine richtig gute. Deshalb. Zum einen, weil ich schuld bin, daß sie so eine Quetsche hat, aber zum anderen, damit sie schon jetzt lernt, daß Geld nicht auf den Bäumen wächst. Sicher, ich verdiene ganz gut, aber ich arbeite mir dafür auch die Seele aus dem Leib. Sie kennen das."
Ich nickte. "Ja, ich kenne das. Aber dann ist mir das klar. Ich hatte mich schon am Montag gewundert, als Angie eine Handynummer angegeben hat."
"Das hat sie von mir bekommen, weil ich manchmal unvorhergesehen länger arbeiten muß. Angie hängt ja auch nicht jede Sekunde des Tages zu Hause ab, sondern tobt irgendwo in der Stadt herum."
"Hat sie viele Freundinnen?" fragte ich beiläufig.
"Nein. Und genau das macht mir Sorgen." Sie atmete tief ein und aus.
"Angie leidet noch immer sehr unter der Trennung von ihrem Vater", sagte sie bedrückt. "Sie leidet außerdem unter dem, was Psychiater ‚Kontaktarmut' nennen. Nur daß sie es eben so will. Sie könnte ein ganzes Dutzend Freundinnen haben, eben weil sie schlau, hübsch und umgänglich ist, aber sie will es ums Verrecken nicht. Sie will sich nicht binden."
"Weil sie Angst hat, es könnte wieder zerbrechen."
"Exakt, Herr Doktor. Sie ist jeden Tag in der Stadt, schaut hier, bummelt da, kauft dort, aber immer alleine. Gelegentlich trifft sie ein paar Leute aus ihrer Klasse und verbringt etwas Zeit mit denen, aber richtige Freundschaften... Nein, das lehnt sie ab." Sie schaute mich traurig an.
"Und sie weiß genau, was sie da tut. Sie hat irgendwo akzeptiert, daß ihr Vater und ich uns getrennt haben, aber trotzdem vermißt sie ihn wie wahnsinnig, auch wenn sie da nicht über redet. Immer, wenn ich sie frage, warum sie keine Freunde hat, meint sie nur trocken, daß sie keine braucht. Sie käme auch alleine klar. Auch deswegen hat sie das Handy bekommen: damit sie immer das Gefühl hat, daß sie mich erreichen kann, egal wo sie ist."
"Und sie weiß tatsächlich, daß -"
"Ja. Sie weiß, warum sie keine Freunde haben will. Das hat sie mir ganz offen gesagt. ‚Mutti, ich brauch keine Freunde. Ich will keine. Weil, die bleiben ja nicht ewig bei mir, und ich will sie nicht verlieren. Also schaff ich mir erst gar keine an.' Originalzitat Angela Altmann, 12 Jahre alt." Sie stieß den Atem aus.
"Dagegen kommt keiner an, Herr Berger. Nicht gegen eine so tiefe Überzeugung."
"Nicht gegen einen so tief sitzenden Schmerz."
"Richtig. Auch das war ein Grund, warum ich ihr gestattet habe, arbeiten zu gehen. Damit sie mal eine andere Form von Gemeinschaft außerhalb ihrer Schule kennen lernt. Eine Gruppe von Menschen, die gemeinsam arbeitet. Wo sich Freundschaften bilden und auch zerbrechen, aber die Menschen deswegen trotzdem nicht sterben."
"Warum ist die Ehe denn zerbrochen, wenn ich fragen darf?"
"Warum?" Sie lachte hell. "Mein Ex war eifersüchtig wie ein Hahn, aber ich war treu wie ein Dackel. Allerdings auch bissig wie ein Pitbull. Beantwortet das Ihre Frage?"
"Doch, ja", schmunzelte ich. "Ich kann mir schon denken, wie das ablief."
"Genau deshalb. Ich habe ja irgendwo noch akzeptiert, daß er meine Jacken, Hosen und Mäntel nach Adressen abgesucht hat, aber als er daran ging, sich persönlich davon zu überzeugen, daß ich keinen Verkehr mit einem Mann gehabt hatte, war bei mir Schluß."
Ich blieb mitten im Schritt stehen und sah sie entgeistert an. "Hat er etwa das gemacht, was ich jetzt befürchte?"
Sie nickte grimmig. "Hat er. Ich war noch nicht ganz zur Tür rein, da hatte ich schon seine untersuchende Hand da. Das habe ich mir nicht gefallen lassen. Nicht ein einziges Mal." Sie atmete tief durch, um sich wieder zu beruhigen.
"Entschuldigung", sagte sie dann. "Obwohl das jetzt acht Jahre her ist, regt es mich immer noch gewaltig auf. Reden wir von etwas anderem. Wie macht sie sich?"
Der Themenwechsel war mir sehr recht. Ich hatte gehört, daß es solche Männer gab, aber mit einer Frau zu reden, die das erlebt hatte, ging mir doch sehr nahe.
"Sehr gut. Sie ist fleißig und gründlich. Wenn mittags gestreßte Frauen mit Kindern kommen, spielt Angela mit den Kindern und lenkt sie etwas ab, so daß die Frauen wenigstens mal einen Moment Ruhe haben. Trotzdem achtet sie darauf, ob irgendwo etwas abzuräumen ist."
"Schön." Sie freute sich ehrlich. "Hat meine Erziehung doch nicht ganz versagt."
Das Objekt unserer Unterhaltung kam allmählich wieder auf uns zu gelaufen. Ausgelassen wie ein kleines Kind rannte sie auf die offenen Arme ihrer Mutter zu. Im letzten Moment machte ich einen Schritt nach vorne, fing Angie am Bauch und warf sie über meine Schulter. Sie quietschte erschrocken auf und lachte dann ausgelassen, als ich sie wieder abstellte.
"Gefangen!" rief ich. Angela nickte mit leuchtenden Augen.
"Mit einem ganz gemeinen Trick." Sie ging an die Seite ihrer Mutter und schmiegte sich an sie. "Worüber habt ihr geredet?"
"Über Ehe, Kinder und all den anderen Terror, den es auf der Welt gibt." Sie drückte Angie lächelnd an sich. "Du hast dich ausgetobt?"
"Beinahe." Sie griff um ihre Mutter herum, schlug mir auf den Bauch und rannte wieder los.
"Fang mich!"
"Bei diesem Wirbelwind muß ich mir Bolas anschaffen", grinste ich. Frau Altmann lachte fröhlich.
"Oder ein sehr stabiles Lasso."
"Mal sehen, ob ich sie einhole." Ich lief los, hinter Angie her, die sich im Laufen nach uns umdrehte.
"Viel Glück!" rief mir Frau Altmann hinterher.
Angela quietschte auf, als sie sah, daß ich hinter ihr her war. Sie erhöhte ihr Tempo, schlug aber diesmal keinen Haken. Ich lief so schnell, wie ich es auf dem rutschigen Weg wagte, und holte sie allmählich ein. Angie drehte wieder ihren Kopf, sah, daß ich näher kam, und quietschte wieder hell, doch noch immer lief sie geradeaus.
Dann war ich endlich hinter ihr. Meine Seiten fingen schon etwas an, zu stechen. Ich griff im Laufen nach ihrer Hand. Angie schrie erschrocken auf und lachte dann hell. Wir wurden langsamer und blieben schließlich atemlos stehen. Da ihre Mutter in Sichtweite war, wagte ich nicht, sie in den Arm zu nehmen.
"Hab dich", keuchte ich. Angie nickte atemlos.
"Und jetzt?"
"Ich hab dich lieb."
Sie lächelte mit roten Wangen und ging um mich herum, ohne ihre Hand aus meiner zu ziehen.
"Gehen wir zu Mutti."
"Bin kaputt!" Ächzend ließ sich Angie in einen Sessel fallen.
"Du bist aber auch mindestens doppelt so viel gelaufen wie ich. Setzen Sie sich doch, Herr Berger. Oder wollen Sie schon gehen?"
"Daran dachte ich. Ich bin Ihnen lange genug zur Last gefallen."
"Also der Spruch", lachte Frau Altmann, "steht eigentlich mir zu. Soll er sich verdrücken, Angie?"
"Das überlaß ich dir", erwiderte Angie mit geschlossenen Augen. "Ich krieg sowieso nicht mehr viel mit."
"Du machst Komplimente!" lachte Frau Altmann ausgelassen. "Willst du eben duschen gehen?"
"Au ja!" Angie atmete noch einmal tief durch, dann sprang sie auf und lief hinaus.
"Sie können ruhig noch bleiben", forderte Frau Altmann mich auf. "Sie stören uns nicht, falls Sie das denken. Wenn Angie der Meinung wäre, Sie störten, hätte sie das schon unmißverständlich zum Ausdruck gebracht."
"Und was ist mit Ihnen?" fragte ich zögernd. Ich wollte wegen Angie noch bleiben, hatte aber das Gefühl, die Gastfreundschaft schon über Gebühr strapaziert zu haben.
"Das gleiche. Wenn ich nicht will, daß jemand hier ist, mache ich das auch sehr schnell deutlich. Setzen Sie sich."
"Jetzt muß wohl ich sagen, daß ich hoffentlich keine Pläne durchkreuze."
"Keine. Ich bin über die Woche so lange außer Haus, daß ich froh bin, am Wochenende mal Zeit für meine kleine Maus zu haben. Keine Party, kein Date." Sie lächelte schelmisch. "Ich bin aus dem Alter raus, wo ich Action um jeden Preis haben muß."
Ich mußte lachen. "Ich dachte, daß das eine Phase wäre, die vom Alter unabhängig ist."
"Stimmt auch wieder."
Wir setzten uns.
"Obwohl", überlegte Frau Altmann, "recht viele Frauen, die ich so kenne, nie aus dieser Phase heraus kommen. Immer auf der Suche, aber was sie suchen, wissen sie auch nicht so recht. Kennen Sie diesen Typ?"
"Leider zur Genüge. Im Grunde suchen sie sich selbst, denke ich. In der Reflexion über andere Menschen."
"Und definieren sich dadurch, ohne ihre eigene Persönlichkeit in den Vordergrund zu stellen. Welcher Satz ist Ihnen von der Schule noch am lebhaftesten in Erinnerung?"
"Was?" lachte ich. "Ist das Ihr Ernst?"
"Mein voller Ernst. Also?"
Ich mußte nicht lange nachdenken. "Ein Vergleich meines damaligen Deutschlehrers, als wir über Sprache, Kommunikation und Sprachebenen gesprochen haben. Er machte uns das an einem Beispiel über eine Baustelle deutlich, an der ein Ziegelstein herunter fällt. Er sagte, die korrekte Sprachebene für diesen Fall wäre: ‚Mensch, paß auf!'"
"Und die nicht korrekte?"
Ich lachte herzhaft. "Gib acht, mein Freund", sagte ich langsam und geziert. "Mich deucht, ein greulich Ziegelstein, von oben kommend, hat zum Ziel sich deinen Kopf erkoren." Im Hintergrund hörten wir die Dusche angehen.
"Cool!" lachte sie amüsiert. "Gefällt mir. Bei mir war es ein Satz unserer Physiklehrerin. Der Spruch von Archimedes über das Hebelgesetz: ‚Gib mir einen Punkt, und ich hebe dir die Welt aus den Angeln.' Das hat mich ziemlich beeindruckt, auch wenn ich Jahre gebraucht habe, die Analogie auf mein Leben zu übertragen." Sie beugte sich vor, griff nach ihrem Glas und lehnte sich wieder zurück. "Was hat Ihr Beispiel für Sie bewirkt?"
Die Unterhaltung war so locker, daß ich die Falle nicht bemerkte.
"Eigentlich nur, daß ich mich mit meiner Wortwahl auf den Menschen, mit dem ich rede, einstelle. Mehr nicht."
"Und wahrscheinlich, daß Sie auf das achten, was Sie sagen."
"Natürlich. Sie nicht?"
"Nein." Sie stellte das Glas ab, ihre Augen fixierten mich. "Ich sage das, was ich denke. Aber ich mache keine Anstalten, etwas so umzuschreiben, daß die Umwelt nicht mitbekommt, wo ich eigentlich über rede."
Erst jetzt spürte ich die Falle. Eiskalt und spitz.
"Auch direkte Rede kann manchmal mißverstanden werden", erwiderte ich ruhig. "Was genau meinen Sie?"
"Ich meine, daß Angie sich nicht binden will. Trotzdem geht sie an Ihrer Hand. Ich meine, daß Sie ihr erklärt haben, daß die Arbeit höllisch gefährlich ist, und trotzdem bleibt sie ganz cool und gelassen, obwohl sie Schmerz überhaupt nicht aushält. Schon wenn sie sich irgendwo leicht sticht, tut sie, als würde ihr der Arm bei lebendigem Leib ausgerissen. Und ich meine, daß Worte für einen Menschen diese und für einen anderen Menschen jene Bedeutung haben können. Daß sich zwei Menschen, die ein Geheimnis miteinander teilen, unbewußt auf eine Sprachebene einigen und damit alle anderen hinters Licht führen können. Was genau ist gestern vorgefallen, Herr Berger?"
Die Falle schnappte endgültig zu, stahlhart und fest.
"Das, was ich gesagt habe", antwortete ich so ruhig und fest wie möglich. "Ich habe eingesehen, daß es für Angie zu gefährlich ist, bei uns zu arbeiten, und die Konsequenzen gezogen."
Sie lächelte dünn. "Wieder reden Sie auf einer Ebene, die nicht die meine ist." Sie stellte ihr Glas ab, beugte sich zu mir und sah mir tief in die Augen.
"Na los, Tom", flüsterte sie. "Du willst dich doch einem Menschen mitteilen, das sehe ich dir an. Reden befreit, das weißt du so gut wie ich. Es belastet dich, und das schon seit Jahren. Rede mit mir, Tom. Erzähl es mir. Es wird auch unter uns bleiben. Versprochen. Es macht dich verrückt, Angie permanent zu sehen und zu wissen, daß du nicht an sie heran kommst. Stimmt's? Sag's mir, Tom. Sprich dich aus. Befreie dich. Angie löst etwas in dir aus, was du einerseits willst, andererseits aber ablehnst. Erzähl es mir, Tom. Ich habe dafür Verständnis. Rede mit mir. Laß es einfach nach draußen. Sag mir, ob du die hübsche, 13jährige Angie haben willst. Sag es mir."
Normalerweise hätte ich über diesen plumpen Versuch, mir mein tiefstes Geheimnis entreißen zu wollen, schallend gelacht.
Aber nicht heute.
Nicht, nachdem ich Angie meine Liebe gestanden hatte. Sie im Arm gehalten hatte. Sie gestreichelt hatte.
Die Spannung, unter der ich seit Montag stand, hielt diesen Angriff von Angies Mutter einfach nicht mehr aus. Er war die dünne Nadel, die sich in einen prall gefüllten Luftballon bohrte.
Und genau wie der Luftballon zerplatzte auch ich.
Ich schlug die Hände vor mein Gesicht und weinte, wie ich seit meiner Kindheit nicht mehr geflennt hatte. Der ganze Druck, die ganze Belastung der letzten Jahre und speziell der letzten Woche brach sich mit aller Macht den Weg nach außen. Ich spürte kaum, wie Maja mich an sich zog, mich umarmte und auffing.
"Ich liebe sie", schluchzte ich erstickt. "Ich liebe sie wirklich, Maja. Ich könnte ihr nie etwas tun. Ich möchte sie einfach nur um mich haben. Sie sehen. Mit ihr reden. Mehr nicht. Wirklich nicht mehr!"
"Ich weiß", sagte sie leise. "Sie ist ein hübsches Mädchen."
"Das auch, aber nicht nur." Meine Stimme kippte vom Tenor zum Sopran und zurück. "Ich liebe sie wirklich, Maja. Nicht ihren Körper, nicht ihr Aussehen. Ich liebe ihre Offenheit, ihr Wesen, ihr Lachen. Ihre Freundlichkeit. Ihre ganze Art." Meine Stimme brach endgültig. Ich klammerte mich an Maja, als wäre sie der Fels in stürmischer Brandung, und weinte, schluchzte und stammelte nur noch.

Irgendwann, eine halbe Ewigkeit später, beruhigte sich der Sturm in mir. Ich schämte mich vor Maja und vor mir selber, als ich mich langsam wieder aufrichtete. Maja reichte mir ein Taschentuch, das ich mit einem knappen Kopfnicken entgegen nahm und benutzte.
Ich wagte nicht, aufzusehen, und schwieg beschämt. Auch Maja sagte kein Wort. Ich spürte nur ihre tröstende Hand an meiner Schulter, und das war fast mehr, als ich ertragen konnte.
"Warum?" flüsterte ich.
"Darum", sagte sie leise. "Angie ist meine Tochter, Tom. Ich muß sicherstellen, daß niemand mit ihr Schindluder treibt."
"Das hat er auch nicht", hörte ich Angie sagen. Entsetzt schloß ich die Augen. Hatte sie etwa alles mitbekommen?
"Hat er wirklich nicht?" fragte Maja.
"Nein, Mami. Er hat mich am Fluß in den Arm genommen, weil wir Fangen gespielt haben, aber als ich von ihm weg wollte, hat er mich sofort losgelassen. Ohne Wenn und Aber."
"Hm. Was hat er am Freitag gesagt?"
"Daß er mich liebt. Daß er mich umarmen und küssen würde, wenn ich noch öfter zu ihm komme. Daß ich zu meiner eigenen Sicherheit verschwinden soll."
"Und trotzdem willst du wieder zu ihm?"
"Ja." Das kam ganz fest. So fest, daß mir schwindelig wurde. "Weil ich weiß, daß er mich mag und mir nichts tut. Das hätte er schon am Fluß machen können, wenn er das gewollt hätte. Aber er hat mich immer gewarnt, daß er sich nicht mehr lange im Griff haben würde, und trotzdem hat er mich nur umarmt und am Kopf gestreichelt."
"Und was ist mit dir?"
Eine längere Pause, dann ein Wispern: "Ich mag ihn auch, Mami. Schon seit Montag, als er so nett zu mir war, nachdem ich von Werner abgehauen bin. Er hat immer nach mir geschaut und mir geholfen, wenn ich was nicht wußte oder wenn was zu schwer für mich war. Nie gemeckert. Und er hat mich auch nie betatscht, so wie du mir gesagt hast. Nie. Nur eben vorhin umarmt und am Kopf gestreichelt."
"Und sofort losgelassen?"
"Ja. Im gleichen Moment, als ich weg wollte. Ganz und gar losgelassen."
"Hm." Ihr Daumen strich sanft über meine Schulter. Ich sammelte mich allmählich wieder.
"Du bist sicher, daß du weißt, was du tust, kleine Maus?"
"Ja, Mami. Ganz sicher."
"Obwohl du jetzt weißt, was er ist?"
"Das wußte ich schon vorher." Ich hörte das Lächeln in ihrer Stimme. "Als er sagte, daß er mich liebt, und mich dann weggeschickt hat. Das würde doch sonst keiner tun, oder? Die meisten würden mich doch direkt auf ihren Schoß ziehen."
"Ein satter Punkt für dich."
"Außerdem hab ich ja noch -"
"Schon klar", unterbrach Maja hastig. "Ich weiß, was du meinst, Angie. Was machen wir jetzt mit ihm?"
"Das ist deine Entscheidung", sagte Angie leise. "Aber er hat ja nichts Böses gemacht. Kann er denn morgen wieder zu uns kommen?"
"So wie ich das verstanden habe, muß er morgen wieder diese Hammerschicht machen, kleine Maus. Vom frühen Morgen bis in die tiefe Nacht."
"Stimmt ja." Angies Stimme klang traurig.
"Na komm", meinte Maja aufmunternd. "Montag ist auch noch ein Tag. Hilfst du mir beim Abendessen?"
"Mach bitte du", bat Angie. "Ich bleib bei ihm."
"Okay."
Die Hand an meiner Schulter drückte noch einmal tröstend zu, dann stand Maja auf. Sofort rutschte Angie neben mich.
"Hi", sagte sie leise. Ich nickte nur. Ich wagte nicht, sie anzusehen.
"Sei Mutti nicht böse", wisperte sie. "Sie wollte nur sicher gehen."
"Ich weiß. Aber was denkst du jetzt von mir?"
"Daß du in Ordnung bist." Ihre Hände legten sich auf meine. "Das glaube ich wirklich, Tom. Du hast mir die ganze Woche ein Kompliment nach dem anderen um die Ohren gehauen. Das fand ich total süß, auch wenn ich nicht wußte, was ich darauf sagen sollte. Aber dann deine Warnung vor dir..." Ihre Hände drückten leicht zu. "Ich bin nur abgehauen, weil ich Angst hatte, daß es nicht beim Umarmen und Küssen bleibt. Verstehst du? Daß du mich bedrängst. Und das wäre ganz bös ausgegangen."
"Genau dazu bin ich nicht der Typ", erwiderte ich leise. "Angie, auch wenn ich noch so verrückt nach einem Menschen bin, könnte ich dennoch nie Gewalt anwenden. Nie. Ich kann das einfach nicht."
Angie lachte leise. "Und dann machst du so ‚nen Aufstand und stellst dich als den bösesten Menschen auf der ganzen Welt hin? Du bist ja noch verrückter als Mami und ich."
"Das kann hinkommen." Ich hob den Kopf und sah Angie an. Sie hatte geduscht, das roch ich sofort. Sie trug eine Shorts und ein weites T-Shirt, beides in türkis.
"Du siehst mal wieder super aus", lächelte ich. Sie lächelte scheu zurück.
"Siehst du?" flüsterte sie. "Ich weiß nicht, was ich darauf sagen soll. Ich find's schön, wenn du das sagst, aber eine Antwort hab ich nicht."
"Mußt du auch nicht. Darf ich dich umarmen?"
"Darfst du." Sie schmiegte sich an mich, legte sogar ihre Arme um mich und drückte mich. Ich schloß sie in meine Arme, zog ihren frischen, milden Duft in meine Nase und fuhr mit beiden Händen sanft über ihr noch etwas feuchtes Haar.
"Du bist noch feucht hinter den Ohren", zog ich sie auf. Angie kicherte leise.
"Weiß ich! Mit 13 darf man das aber noch sein."
"Du hast ja so recht, mein Süßes." Ich drückte sie etwas fester an mich. Angie legte ihren Kopf zurecht und lag dann still in meinem Arm.
Doch diesmal nicht unbeteiligt, wie ich vermutete.
"Gefällt dir das?" flüsterte ich. Sie nickte spontan.
"Ja. Sehr." Aus der Küche drang das Klappern von Tellern. "Mußt du morgen wirklich so lange arbeiten?"
"Leider ja. Aber nur morgen. Ab Montag wieder normal."
"Kommst du dann Montag zu uns?"
Ich legte meine Nase an ihr Haar. "Wenn deine Mutter es erlaubt, gerne."
"Das wird sie schon." Sie regte sich. Ich ließ sie sofort los. Angie setzte sich auf, griff nach meiner Hand und nahm sie in ihre beiden.
"Mutti sagt, daß du heute hier schläfst."
"Aha?" Ich zog die Augenbrauen hoch. "Hat sie auch gesagt, warum?"
"Ja. Weil du nachher, wenn du alleine im Bett liegst, entweder eine totale Depression oder eine - eine - na, wie heißt das Gegenteil davon? Wenn man total high ist?"
"Euphorie?"
"Genau. Eins von beiden kriegst du, sagt sie, und das solltest du besser nicht alleine kriegen."
"Sie scheint sich ja sehr genau damit auszukennen."
"Tut sie. Woher, sagt sie dir auch noch gleich."
Ich sah in ihre schönen, graublauen Augen und ertrank beinahe darin. Ohne daß ich es bewußt wollte, streckte ich meine Arme nach ihr aus. Angie lächelte schüchtern und ließ sich gegen mich sinken.
"Ich liebe dich so sehr!" flüsterte ich, während ich sie an mich drückte.
Angie schwieg, doch sie umarmte mich kräftiger als vorher.

* * *

"Ich wollte eigentlich Psychologie studieren", erzählte Maja, als wir nach dem Abendessen wieder zu dritt auf der Sitzgruppe saßen. "Aber als ich von dieser Studie erfuhr, habe ich es ganz schnell sein gelassen."
"Welche Studie?" Das kräftige Abendessen und die ruhige, selbstverständliche Art, mit der Maja und Angie mit meinem Geheimnis umgingen, hatten mich wieder aufgebaut.
Etwas, wenigstens.
"Eine Studie, die die Hintergründe offen legte, warum jemand Psychologie studiert. Das Ergebnis war recht eindrucksvoll. Es besagte, daß 45% Psychologie lernen wollten, um sich selbst zu beherrschen, 50% wollten andere beherrschen, und nur 5% wollten anderen helfen." Sie trank einen Schluck von ihrem Kaffee. "Da ich nicht ganz genau benennen konnte, in welche Gruppe ich gehörte, habe ich es sein gelassen und statt dessen BWL gewählt. Bin ich heute auch ganz froh drum."
"Ich auch!" lachte ich; halb fröhlich, halb bitter. "Wer weiß, was du dann mit mir angestellt hättest."
Angie, die außen neben ihrer Mutter saß, flüsterte ihr etwas ins Ohr. Maja nickte. Sofort stand Angie auf. Maja rutschte etwas nach außen, und Angie setzte sich in die Mitte zwischen uns. Maja sah sie kurz an, lächelte etwas traurig und schaute dann wieder zu mir.
"Auch nicht viel mehr. Bestimmt nicht. Das, was ich gemacht habe, war keine Psychologie, sondern Physik." Sie stellte ihre Tasse zurück auf den Tisch.
"Hebelgesetz. Männer wie du, Tom, leiden generell unter einem großen Schuldgefühl. Den jungen Mädchen - oder Jungen - gegenüber, aber am meisten sich selbst gegenüber. Das war der Punkt, an dem mein Hebel ansetzte." Sie lächelte schelmisch. "Ich sagte doch, daß mich dieser Satz sehr geprägt hat."
Angie griff nach meiner Hand, nahm sie zwischen ihre beiden und schmiegte sich an ihre Mutter. Maja strich ihr lächelnd über den Schopf.
"Aber im Ernst", sagte sie dann. "Männer wie du wollen darüber reden. Es gibt nur ganz wenige Menschen, die über Jahre oder Jahrzehnte hinweg ein dermaßen großes Geheimnis für sich behalten können. Früher oder später reden sie darüber. Alle. Dann lieber in einer Umgebung, in der sie aufgefangen werden können. Ich rede jetzt allerdings nicht von den Menschen, die in einem Kind nur ein Objekt sehen. Die sind eine ganz andere Gruppe."
"Wie der Martin", sagte Angie leise und schüttelte sich. Maja nickte.
"Ja. Der Martin." Sie sah mich an. "Martin trat vor etwa zwei Jahren in mein Leben. In unser Leben. Ich fand heraus, daß er an Angie mehr als nur interessiert war, und eines Nachts erwischte ich ihn dabei, wie er nackt vor ihrem Bett stand und Angie sein ‚Spielzeug', wie er es nannte, in die Hand drückte."
"Sag ihm alles", flüsterte Angie, als ich geschockt schwieg. Maja schüttelte den Kopf.
"Nein, kleine Maus. Wir sind ja nicht mal sicher, ob -"
"Du bist nicht sicher. Ich schon." Angie sah zu mir.
"Mami hat ihn nicht dabei erwischt. Mami hat nur gesehen, wie er ins Bad gerannt ist. Schreiend, weil sein Haar brannte."
Das war der Punkt, wo ich den Faden verlor.
"Seine - Haare haben gebrannt? Aber -"
"Ich sag's dir." Sie schaute kurz zu ihrer Mutter, die ablehnend mit dem Kopf schüttelte, und wieder zu mir.
"Keiner kann was mit mir machen, was ich nicht will", sagte sie leise. "Wenn's doch jemand tut, geht es ganz böse aus. Für den, nicht für mich."
"Wir sind uns da nicht sicher, Angela", wandte ihre Mutter ein.
"Doch, Mami. Ich bin mir sicher. Ich spür das. Das ist da."
"Was ist da?" fragte ich verdutzt. "Wovon redest du, Angie?"
Sie schluckte. "Von - von dem Feuer in mir." Sie zuckte verlegen mit den Achseln. "Wenn ich bedrängt werde, dann wird das wach. Richtig wach. Dann kann ich das auf den bringen, der mir was tun will. Wie bei Martin. Er hat mir sein - sein Ding da durch das ganze Gesicht gerieben, und als ich davon wach wurde, hat er es mir in die Hand gegeben." Sie senkte errötend den Kopf. Ihre Mutter kniff die Lippen zusammen und sah mit feuchten Augen zum Fenster hinaus.
"Dann", flüsterte Angie, während ich wie erstarrt zuhörte, "hat er gesagt, ich soll dran lutschen. Da hab ich richtig Angst bekommen, weil ich mich geekelt hab. Aber er wollte unbedingt, daß ich das tue, und hat so fest an meinem Hals gedrückt, daß ich den Mund aufgemacht habe. Und da ging's los." Sie schaute mich an, ebenfalls mit schwimmenden Augen.
"Tom, ich hab das Feuer in mir ganz doll gespürt, und ich wußte, wie ich mich wehren kann. Also hab ich mich gewehrt, eben weil ich riesengroße Angst hatte, und da haben seine Haare gebrannt. Er rannte schreiend raus, ist vor die Wand geknallt, hingefallen, wieder aufgestanden, vor die nächste Wand gelaufen und so weiter. Davon ist Mami natürlich wach geworden. Sie stand total geschockt in ihrer Tür und hat Martin noch gesehen, wie er sich endlich ins Bad gerettet hat."
Maja nickte. "Er sah aus wie eine laufende Fackel", sagte sie leise, wie in Gedanken. "Der ganze Körper nackt, nur oben auf dem Kopf Feuer. Es war ein entsetzlicher Anblick." Sie drückte Angie an sich. "Aber wenn ich da schon gewußt hätte, was vorgefallen war, hätte er von mir aus bis auf die Knochen verbrennen können." Ihre Augen funkelten kalt wie Eis.
"Ein elfjähriges Mädchen so zu überfallen. Um zwei Uhr morgens. Das kriege ich nicht in meinen Kopf rein."
"Ruhig", sagte Angie mit einem leichten Lächeln. "Ist ja nichts passiert."
"Dir zum Glück nicht."
"Und ihm auch nicht viel." Angie sah wieder zu mir, der ich sie ungläubig anstarrte. "Wir sind dann hinter ihm her, ins Bad. Er hatte die Brause angedreht und sich die Haare gelöscht. War alles verbrannt da oben." Sie schauderte wieder leicht. "Fünf Minuten später ist er aus der Wohnung geflüchtet."
"Mit meiner Hilfe." Maja sah mich wütend an. "Er hat so über Angie geschimpft, Tom. Das kannst du dir nicht vorstellen. ‚Was ist das für ein Monster?' hat er hysterisch geschrien. ‚Die gehört eingesperrt! Zugemauert! Die ist doch nicht mehr normal!' Und so weiter und so fort." Sie drückte Angie beschützend an sich. "Als ich dann von Angie hörte, was genau passiert war..." Sie schüttelte den Kopf.
"Ich bin in die Küche gejagt, habe das größte Messer genommen, was da war, und bin wieder zurück ins Bad gelaufen. Als Martin mich so sah, hat er die richtige Panik bekommen. Er ist freiwillig abgezogen."
"Und wie!" kicherte Angie. "Ganz nackt nach draußen gerannt ist er!"
Maja nickte grimmig. "Seine Kleidung konnte er am nächsten Morgen aus der Mülltonne holen. Was für ein - Angie, hör weg! - Arschloch!"
"Hab nichts gehört!" kicherte Angie fröhlich.
"Gut." Maja beruhigte sich wieder und sah mich an.
"Tom, das Phänomen ist bekannt. Es heißt Pyrokinese und tritt häufig - na ja, nicht sehr häufig, aber doch oft bei Jugendlichen in der Pubertät auf. Da gibt es genügend Untersuchungen über. Es wird vermutet, daß viele ungeklärte Brände auf das Konto von überreizten oder nervösen Jugendlichen gehen, die vielleicht gar nicht mal wissen, was sie da anstellen. Die spontane Selbstentzündung gehört auch in diese Kategorie, auch wenn sich die Wissenschaftler da noch nicht so einig sind. Manche vermuten eine noch ungeklärte chemische Reaktion im Körper, andere sagen, es ist ein starker psychischer Vorgang."
"Und Angie kann das?" fragte ich erschüttert. Angie nickte, ihre Mutter hob ratlos die Schultern.
"Ich bin mir da nicht sicher", sagte sie nachdenklich. "Auch wenn ich Angie den Vorgang mit jedem Wort abkaufe, denke ich doch, daß eine reine Panikreaktion war. Nicht bewußt vom Willen gesteuert."
"Doch", widersprach Angie leise. "Jetzt ist das weg, Mami. Das kommt nur, wenn mir jemand was will. Aber dann ist es auch da, und ich weiß, was ich tun muß." Sie sah zu mir; ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen.
"Deswegen habe ich keine Freunde", sagte sie mit einem leichten Schluchzen in der Stimme. "Weil ich keinem weh tun will. Weil ich Angst habe, daß sie mir zu nahe kommen."
"Du armes Kind!" entfuhr mir erschüttert. Angie schaute mich kurz an, dann lag sie an meiner Brust und weinte still. Maja blickte uns überrascht an, doch ich achtete nur auf Angie, die ich streichelte und zu trösten versuchte.
Ich verstand nicht ganz, wovon sie und ihre Mutter geredet hatten. Auch wenn ich einige Artikel in der Zeitung über dieses Phänomen - das Anzünden von Feuer ohne Hilfsmittel, nur mit den Gedanken - gelesen hatte, konnte ich es doch nie so recht glauben. Meiner Meinung nach war das so wie mit den UFOs. Vielleicht gab es sie, vielleicht aber auch nicht. Genau wie die Leute, die Löffel verbogen, ohne sie zu berühren. Die verdeckte Karten erkannten. Die Papier nur durch Ansehen entzündeten. Aber mit meinem Leben hatte das erst mal nichts zu tun.
Bis jetzt jedenfalls nicht.
Doch jetzt war es in mein Leben getreten. In Form eines 13jährigen Mädchens, das überzeugt davon war, in großer Gefahr Feuer machen zu können. Ich glaubte es ihr, auch wenn ich nicht im Geringsten verstand, wie das vor sich gehen sollte. Aber ich glaubte ihr. Ich spürte, daß sie recht hatte. Daß sie wußte, was in ihr war.
"Na komm, mein Süßes!" flüsterte ich, während ich mit der Wange über ihr Haar rieb. "Wird doch alles gut. Das schaffen wir schon." Und viele weitere Worte, die nach und nach Angies Kummer einlullten und sie beruhigten. Maja schaute abwechselnd auf meine linke Hand, die mit Ausnahme des Daumens, der sanft über Angies Wirbelsäule strich, ruhig lag, dann auf meine rechte, die über ihr Haar strich, und schließlich von meinen Augen wieder zurück zur linken Hand.
Angie atmete noch ein paar Mal tief und schnell ein, dann hatte sie sich gefangen. Ganz still und reglos lag sie an mir.
"Glaubst du mir?" hörte ich sie flüstern. Ich nickte.
"Ja, mein Süßes. Ich glaube dir. Ich verstehe zwar nicht, wie du das machst, aber ich glaube dir."
"Danke", hauchte sie. Sie drückte sich noch einmal kurz an mich, bevor sie sich aufsetzte und dann aufstand.
"Ich geh mich eben waschen", sagte sie und lief hinaus. Maja sah ihr bewegt hinterher.
"Du glaubst ihr wirklich?"
"Ja. Ich spüre, daß sie recht hat."
"Das spüre ich auch." Maja zuckte ratlos mit den Schultern. "Aber mein Kopf sagt, das ist alles Humbug. Ich krieg da keine Linie rein. Aber andererseits... Ich sehe Martin mit seinem brennenden Haar noch immer vor mir. Wie kann ein elfjähriges Kind einem erwachsenen Mann, der das Kind mißbrauchen will, die Haare anzünden, wenn nicht so?"
"Richtig." Ich atmete tief ein, um Mut für die nächste Frage zu schöpfen. "Maja, wieso hast du nach diesem Erlebnis noch Männer in deine Wohnung gelassen?"
Sie lächelte verschmitzt. "Das frage ich mich jetzt auch. Nein, die Antwort ist eigentlich ganz einfach. Ich kann weder mich noch Angie jahrelang verstecken. Was passiert ist, war ein Schock für mich, aber erstens hat Angie es sehr gut verarbeitet, weil sie die Bedrohung aus eigener Kraft abgewehrt hat, und zweitens hat sich seitdem mein Gespür für Menschen dieser Art sehr verbessert. Bei dir wußte ich es, als du nach Angies Freundinnen gefragt hast. Das war viel zu beiläufig, Tom. Die Frage kam nicht aus Interesse für Angie, sondern aus der Angst, sie mit anderen Menschen teilen zu müssen. Stimmt's?"
Ich senkte meinen Kopf und nickte verlegen. Im gleichen Moment spürte ich Majas Hand an meiner Schulter.
"Daher", sagte sie leise. "Martin war der erste und letzte in dieser Art. Dieser groben Art, meine ich. Daß Angie dich mag, hörte ich schon am ersten Tag von ihr. Sie hat viel von ihrer Arbeit erzählt, aber noch mehr von dir. Wie du sie behandelst, wie du mit ihr redest, was du ihr gesagt hast. Von daher sah ich also keine Bedrohung. Nur haben mich eben bestimmte Dinge stutzig gemacht. Das Halten ihrer Hand, die Frage nach ihren Freundinnen, deine plötzlichen Stimmungsschwankungen, wenn du sie angesehen hast. Das waren knallrote Hinweisschilder, Tom.
Aber wie gesagt: ich kann weder Angie noch mich verstecken. Wir müssen mit den Menschen, mit denen wir es zu tun haben, irgendwie klar kommen, und das geht nicht, indem wir uns zurück ziehen. Da müssen wir durch. Deshalb, Tom. Einen ähnlichen Test habe ich auch mit Werner gemacht. Er ist wie gewohnt total ausgerastet und hat mir gedroht, mich vor Gericht zu zerren, wenn ich noch einmal so etwas behaupte. Er hat das so aus tiefstem Herzen gesagt, daß ich sofort wußte, daß er keine Gefahr für Angie war. Nicht in dieser Hinsicht. Allerdings ist das Anbrüllen, was er mit ihr gemacht hat, auch nicht zu akzeptieren."
"Und warum bin ich dann noch immer hier?" fragte ich leise. Ihre Hand drückte sanft zu.
"Wegen Angie", sagte sie ebenso leise. "Sie mag dich, und ich habe das Gefühl, daß sie dich braucht. Du gibst ihr sehr viel Selbstvertrauen, Tom. Du magst sie auch, und seit vorhin glaube ich, daß du ihr nichts tun würdest. Du hast sie im Arm gehalten wie einen Säugling. So etwas von zärtlich habe ich bisher bei kaum einem Mann erlebt. Auch wenn mein Verstand sagt, daß ich dich aus dem Fenster werfen sollte, sagt mein Bauch doch, daß du für Angie wichtig bist." Sie schlug mir kräftig auf die Schulter und stand auf.
"Angie und ich haben ein sehr gutes Verhältnis, Tom. Sie erzählt mir alles. Nicht gleich direkt, aber doch sehr schnell. Ich werde wissen, wenn etwas passiert ist, was sie nicht wollte." Sie sah mir noch einmal tief in die Augen und lief dann hinaus.
Daß sie mir nicht mit der Polizei oder sonstwie drohte, machte mir in diesem Moment am meisten Angst.


Kapitel 8

Gegen halb zehn baute ich total ab. Der Streß von gestern, addiert um den Streß von heute, forderte seinen Tribut. Doch wie Angie schon gesagt hatte, ließ Maja mich nicht nach Hause fahren.
"Du schläfst im Wohnzimmer", sagte sie bestimmt. "Wir lassen dich heute nacht auf keinen Fall allein."
"Ist doch Unfug!" erwiderte ich unwirsch, auch wenn ich todmüde war. "Was soll denn schon passieren?"
"Wir werden sehen. Angie, holst du Bettzeug?"
"Ja-ha!"
Wenig später lag eine warme Decke auf den Ledersesseln, damit es mir in der Nacht nicht zu kalt wurde, nebst Kopfkissen und Oberbett. Seufzend schüttelte ich den Kopf.
"Das ist wirklich unnötig, Maja. Ich muß morgen um halb sechs aufstehen. Nein, ich muß vorher noch nach Hause und mich fertig machen. Also fünf Uhr. Das ist doch viel zu früh für euch!"
"Wir können uns anschließend noch hinlegen", lächelte sie unverschämt. "Nacht, Tom. Schlaf schön. Angie, kann ich noch etwas mit in dein Zimmer?"
"Aber nur, wenn du da nicht rauchst!"
"Ich mache das Fenster auf und puste den Qualm raus."
Angie seufzte. "Na gut. Ich wünsch dir auch eine gute Nacht." Sie drückte mich kurz, doch bevor ich sie umarmen konnte, war sie schon wieder weg von mir. Maja lächelte mir noch schnell zu, bevor sie mit ihrer Tochter nach draußen ging.
Dann war ich allein mit meiner Müdigkeit und meinen Gedanken.
Erschöpft und schwerfällig zog ich mich aus, wobei ich nur die Unterhose anließ, und ließ mich dann müde auf die Sessel fallen. Meine Arme waren wie Blei, als ich das Oberbett über mich zog. Ich schloß die Augen und erwartete, jeden Moment einzuschlafen.
Doch statt dessen kamen die Bilder.
Angie und ich am Fluß. Angie in meinem Arm. Angie zwischen Maja und mir. Ihre Augen. Ihr Gesicht. Ihr Mund. Majas Gesicht. Ihre Stimme. Ihre Fragen. Mein Zusammenbruch. Angie und ich am Fluß. Majas Gesicht. Angie in meinem Arm. Majas Fragen. Angie in meinem Büro. Mein Zusammenbruch. Angie in ihrer Uniform. Mein Zusammenbruch. Angie wütend. Mein Zusammenbruch. Angie. Zusammenbruch. Zusammenbruch. Zusammenbruch. Zusammenbruch. Zusamm-
Panik schlug urplötzlich und mit voller Kraft zu, als ich erkannte, daß mein Geheimnis kein Geheimnis mehr war. Angie wußte es, Maja wußte es. Wie lange würde es dauern, bis alle im Geschäft mit dem Finger auf mich zeigten und tuschelten? Oder auf der Straße?
Mein Herz schlug rasend schnell, mein Mund war trocken wie Staub. Ich warf das Oberbett zurück, stand auf und ging zum Fenster. Es war noch hell draußen, doch ich sah nichts. Ich sah nur Bilder von Menschen, die ihre Kinder auf der Straße vor mir weg zogen, die einen weiten Bogen um mich machten, die mich anspuckten. Teenager, die sich über mich lustig machten oder mich anpöbelten. Polizisten, die jeden Schritt, den ich machte, mißtrauisch beobachteten. Obszöne, eindeutige Schmierereien auf der Scheibe des Geschäftes.
Mein Leben war vorbei. Es würde nichts mehr so sein wie früher.
Mein Kopf schlug schwer vor den Fensterrahmen, als mich das Selbstmitleid übermannte. War es nicht besser, gleich hier und jetzt Schluß mit meiner jämmerlichen Existenz zu machen, die sowieso bald ruiniert sein würde? Sollte ich mir, Angie und Maja nicht die ganze Schande, die garantiert kommen würde, ersparen?
Wie von selbst öffnete meine Hand die Balkontür. Wie von selbst trugen mich meine Füße auf den Balkon. Wie von selbst lehnte sich mein Oberkörper über die Brüstung. Wie von selbst lösten sich meine Hände, die an dem Gitter -
"Tom!" Zwei Hände rissen mich zurück, zwei andere stützten mich, als ich stolperte. Ich schluchzte und stammelte unverständliche Worte.
"Ich weiß." Vier Hände führten mich zurück in das Wohnzimmer, zurück in das Leben, das ich nicht mehr führen wollte. Vier Hände schoben mich zurück in mein provisorisches Bett, das diese verführerische, trügerische Ruhe versprach und doch nicht hielt. Ich begann zu zittern; so stark, daß sogar meine Zähne fest aufeinander schlugen.
"Ich bin doch bei dir!" sagte diese liebe Stimme, die mir so viel bedeutete. Ich griff nach der Stimme, bekam sie zu fassen, zog sie an mich und klammerte mich an sie.
"Ich bin ja bei dir", sagte die Stimme zärtlich. "Alles wird gut."
"Was hab ich dir bloß angetan?" schluchzte ich.
"Gar nichts. Du hast mir gar nichts getan." Zwei sanfte Hände legten sich an mein Gesicht. "Das schaffen wir schon. Alles wird gut. Alles wird gut." Weiches Haar schob sich an meine Wange, ein milder, sanfter, beruhigender Geruch umhüllte mich.
"Angie!" flüsterte ich. "Ich liebe dich so sehr!"
"Ich weiß. Ruh dich aus." Zwei weiche, warme Lippen drückten sich sanft auf meine Wange.
"Meine kleine Angie", flüsterte ich. "Meine süße, kleine Angie." Ich strich ihr über das Haar, bis irgendwann meine Hände viel zu schwer wurden und der lang ersehnte Schlaf kam.



Kapitel 9

"Tom", schlich sich eine leise Stimme in mein Bewußtsein. "Aufwachen."
Ich erkannte die Stimme und lächelte.
"Noch zehn Minuten, Mami!" murmelte ich.
"He!" lachte Angie leise. "Ich bin nicht deine Mami, du Doof!"
"Ich weiß." Ich zog sie zärtlich an mich und drückte sie. "Du bist meine einzige, große Liebe. Danke für gestern, mein Engel."
"Danke auch für gestern." Sie schmiegte sich an mich. Sie mußte auch gerade erst aufgestanden sein; ihr Rücken war noch sehr warm. Ich fuhr mit gespreizten Fingern durch ihr weiches Haar, ließ es um meine Finger fließen und fuhr mit den Fingerspitzen darüber zurück, um von vorne zu beginnen.
"Wir verraten dich nicht", sagte Angie leise. "Haben wir ja auch keinen Grund für. Mami sagt auch, daß sie schweigen wird wie ein Grab. Außer, du baust Mist."
"Das wird nicht passieren." Sehr erleichtert drückte ich sie an mich. Im Licht des neuen Tages verschwanden meine ganzen Sorgen von gestern. "Ich bin gestern wohl irgendwie in Panik geraten."
"Bist du. Mami wußte, daß das passiert. Entweder das, oder eben das andere, diese Epho- dieses Efeu."
"Trotzdem danke." Ich küßte sie ganz sacht auf den Kopf. Angie drückte mich einmal ganz kräftig, bevor sie mich los ließ.
"Du mußt aufstehen. Mutti macht schon Kaffee für dich."
"Was?" Ich fuhr auf, ohne daran zu denken, daß ich nur die Unterhose anhatte. Angie übersah meinen bloßen Oberkörper geflissentlich.
"Keine Angst. Es ist zehn vor fünf. Du hast noch Zeit für eine Tasse."
Ich schaute sie gerührt an. "Was seid ihr lieb."
"Du doch auch." Zum ersten Mal zeigten ihre Augen etwas mehr Zuneigung. "Geh dich waschen." Sie lächelte noch einmal, sprang auf und lief hinaus.
"Ja, Mami!" rief ich ihr hinterher.
"Idiot!" lachte sie durch die geschlossene Tür hindurch. "Ist der Kaffee fertig?"
"Ja, Mami", hörte ich Maja lachen.
"Bin ich heute die Mami?" freute sich Angie. "Cool!"
"Tun wir mal so, als wärst du's. Was würdest du dann tun?"
"Geh dein Wohnzimmer aufräumen!" sagte Angie streng. "Mach endlich dein Bett! Wann sortierst du endlich die Sachen in deinem Kleiderschrank? Kannst du nicht mal zwischendurch lüften? Wieso sind die nassen Sachen noch nicht auf der Leine? Hast du -"
"Reicht!" Maja lachte herzhaft. "Klinge ich wirklich so? Nein, sag's nicht. Das will ich gar nicht wissen!"
Bewegt und amüsiert stand ich auf, zog mich schnell an und ging dann ins Bad.
Zehn Minuten und eine starke Tasse Kaffee später stand ich im Flur, zusammen mit Maja und Angie, die herzhaft gähnte.
"Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll", sagte ich verlegen zu Maja. Ich griff nach ihren Händen und drückte sie. "Und Angie natürlich auch. Ich weiß nicht, was ohne euch passiert wäre."
Maja sah fragend zu ihrer Tochter. "Weißt du, wovon der redet?"
"Keine Ahnung", grinste Angie. "Muß wohl noch träumen."
"Das denke ich auch." Sie zwinkerte mir zu. "Es ist wirklich alles in Ordnung, Tom. Du bist lieb zu Angie, und ich bin lieb zu dir. Klar?"
"Glasklar." Ich zog sie kurz an mich und drückte sie herzhaft. "Trotzdem danke."
"Für den Kaffee? Den kriegt jeder Mann, der eine Nacht hier überlebt."
"Jetzt ich!" Etwas eifersüchtig schob sich Angie zwischen ihre Mutter und mich. "Bis morgen, Tom."
"Bis morgen, mein Engel." Ich drückte sie mit all der Zärtlichkeit an mich, die ich für sie empfand. "Ich liebe dich."
"Ich mag dich", flüsterte sie. Sofort darauf riß sie sich los und rannte in ihr Zimmer. Maja drückte meine Hand.
"Mach's gut, Tom. Sehen wir dich morgen?"
"Sehr gerne. Wann?"
"Hmm... Um sieben? Dann müßte ich eigentlich zu Hause sein."
"Ich bin um sieben hier."
"Will ich schwer hoffen."
Ich verstand ihren Blick und nickte lächelnd.
"Doch, Maja. Garantiert."
"Gut. Wieviel Stunden hast du vor dir?"
"Siebzehn", seufzte ich. Maja grinste hinterhältig.
"Dann werde ich an dich denken, wenn ich gleich gemütlich im Bett liege und schlafe."
"So viel Nettigkeit hätte ich dir gar nicht zugetraut."
"Tja, kannst mal sehen." Sie drückte mich kurz und schob mich dann hinaus. "Bis morgen."
"Bis morgen, Maja. Grüß Angie von mir."
"Auf jeden Fall." Sie winkte mir zu, dann schloß sie die Tür. Gerührt, erleichtert und sehr ausgeglichen stieg ich die sechs Etagen hinunter. Ich brauchte Bewegung.

* * *

An Samstagen und Sonntagen gab es eigentlich durchgehend zu tun. Mal mehr, mal weniger, aber im Grunde durchgehend. War mir aber auch recht so. Erstens ging die Zeit schneller herum, und zweitens lenkte mich die Arbeit von meinen Gedanken über Angie ab. Hatte ich am Freitag noch voller Sehnsucht und Kummer an sie gedacht, dachte ich heute voller Zärtlichkeit an sie, aber ich dachte eben fast durchgehend an sie, wenn nichts zu tun war, und so begrüßte ich die viele Arbeit. Wie alle anderen auch, die nicht besonders gerne zwei Stunden herumstanden und krampfhaft nach Arbeit suchen mußten.
Von daher war es kein Wunder, daß die unerwartet laute, schrille, furchtbar ordinäre Stimme, die plötzlich durch den Laden klirrte, alle erstarren ließ, Angestellte wie Gäste.
"Gibt dat jetz mal bald Frühstück hier, oder wat?"
Ich wappnete mich für einen Streit mit einem aufgebrachten Fischweib und drehte mich herum. Dann erstarrte auch ich.
"Maja!"
Sie war tatsächlich die Quelle dieser nervtötenden Stimme, wie mir Angie zeigte, die vor Lachen kaum mehr aus den Augen gucken konnte.
"Maja!" Lachend kam ich hinter der Theke hervor und ging auf sie zu. Sie strahlte mich ganz unschuldig an.
"Morgen, Tom. Alles fit?"
Zumindest sind jetzt alle wach." Ich drückte sie und Angie kurz. "Wo hast du bloß diese widerliche Stimme her?"
"Vom Karneval", prustete Angie. "Die legt sie immer auf, wenn sie so ‚n Typ anmacht."
"Mit durchschlagender Wirkung", meinte Maja, die sehr mit sich und ihrer Wirkung zufrieden war.
"Das kann man wohl sagen. Mir hätte es beinahe die Nerven zerrissen. Was führt euch denn hierher?"
"Der Hunger." Angie rieb sich die Tränen aus den Augen. "Wir wollten frühstücken."
"Genau." Maja verzog das Gesicht und holte tief Luft. Ich hielt mir sofort die Ohren zu.
"Zwei große Frühstücks!" plärrte sie wie eine zornige Marktfrau. "Aber ‚n bisken hoppla, Sie junger Schnösel! Lassen Sie mich man bloß nich warten, nur weil ich ‚n armes Mütterken bin und nich so aufgedonnert ausseh wie die ganzen reichen Tussis hier!"
Diesmal bekam sie sogar Applaus von einigen Gästen, den sie mit einem freundlichen Lächeln und einer Verbeugung quittierte. Angie hielt sich den Bauch vor Lachen, als ich die beiden zu einem Tisch führte.
"So haben wir bei der Konkurrenz mal ein Frühstück umsonst bekommen", stieß Angie erstickt hervor. "Da haben wir uns aber auch extra total alte und kaputte Klamotten angezogen."
"Hauptsache, wir wären still, sagte der Geschäftsführer." Maja blinzelte mir zu. "Zwei Stunden später waren wir aber wieder da, normal angezogen, und haben bezahlt. Ich wollte es einfach mal probieren."
"Hab ich ein Glück, daß ihr auf meiner Seite steht!" schmunzelte ich.
"Mehr als du ahnst." Sie sah zu ihrer Tochter. "Wollen wir mal richtig Geld verdienen?"
Angies Augen leuchteten auf. "Klar!"
Sie stand auf und ging langsam in Richtung Theke. Ich sah ihr verwundert hinterher, als es auch schon passierte: Angie rutschte aus und fiel mit einem lauten Wimmern hart auf den Boden.
"Mein Knöchel!" jammerte sie. "Der tut so weh! Aua!" Sie rollte sich vor Schmerzen ein.
Um uns herum geriet alles in Bewegung. Auch ich war sofort fassungslos und erschrocken aufgesprungen. Wie konnte Angie auf dem trockenen Boden ausrutschen? Ich wollte zu ihr, doch Maja hielt mich fest.
"Sind Sie eigentlich von allen guten Geistern verlassen?" fuhr sie mich erbost an, mit der Stimme einer sehr kultivierten Frau. "Meine kleine Tochter ist verletzt, Sie gewissenloser Schuft! Wie können Sie hier wischen, ohne Warnschilder aufzustellen? Ich werde Sie verklagen! Bis auf den letzten Pfennig! Sie können froh sein, wenn Sie mit 60 wieder das Sonnenlicht sehen!"
Ich war zu geschockt, um zu antworten. Durch Angies Sturz und das "Sie" von Maja war ich instinktiv wieder der Manager, der sofort alle möglichen Komplikationen bis hin zu einer Anzeige wegen fahrlässiger Körperverletzung auf sich zukommen sah. Erst als Angie aufsprang und sich geziert verbeugte, als hätte sie ein Ballettröckchen an, klickte es.
"Maja! Du bist ein Luder!" Lachend drückte ich sie an mich.
"Und ich?" Angie stand mit strahlenden Augen neben mir. Ich hob sie mit dem rechten Arm hoch.
"Du ganz besonders. Was für eine perfekte Vorstellung!"
Angie umarmte mich. Die besorgten Gäste um uns herum setzten sich wieder erleichtert, Angie und ihre Mutter bewundernd anschauend.
"Das kommt von einer Schulaufführung im letzten Schuljahr", erklärte Maja. Ich ließ Angie wieder herab. Wir setzten uns. "Eltern und Kinder sollten gemeinsam kleine Stücke einstudieren und vorführen. Angie und ich haben uns das Thema ‚Sicherheit' ausgesucht. Fünf kleine Szenen, aber alle so intensiv und eindringlich wie die gerade."
"Die letzte", unterbrach Angie aufgeregt, "war mit Auto. Also einem aus Pappe. Mami hat mich auf der Bühne angefahren. Ich bin richtig weit weg gesprungen und so schwer auf den Boden geknallt, daß ich eine Woche lang blaue Flecken hatte!"
"Aber gelohnt hat es sich", sagte Maja. "Die Kinder im Publikum erschraken so heftig, als Angie mit einem lauten Bums auf den Boden fiel, daß sie alle in Zukunft mehr aufpaßten, wenn sie über die Straße gingen. Bei einer anderen Szene mußte Angie eine alte, wackelige Leiter hochklettern, weil die Eltern wollten, daß sie ihren Drachen selbst aus dem Baum holt, und ganz oben ist sie dann abgestürzt, weil eine Sprosse gebrochen ist."
"Fünf Meter!" Angies Augen leuchteten mich an. "Fünf Meter tief bin ich gefallen, auf einen dicken Stapel Matten. Und dann war ich eben tot, und Mami hat sich ganz verzweifelt über mich gebeugt und nur noch gejammert."
"Unglaublich!" konnte ich nur noch staunen. "Die Leute im Publikum müssen doch einen Schock bekommen haben!"
"Haben sie auch." Maja lächelte leicht. "Wir wollten deutlich machen, daß nicht nur auf dem Schulweg Gefahren lauern. Sondern eben überall. Als Angie abgestürzt ist, war das so echt, daß einige Leute sogar ihre Handys wieder einschalteten, um einen Krankenwagen zu rufen. Als wir das gesehen haben, wurde Angie ganz schnell wieder lebendig."
"In euch beiden stecken jede Menge Überraschungen." Ich sah sie kopfschüttelnd an. "Angie, hattest du keine Angst?"
"Bei der Leiter? Nein, eigentlich nicht. Ich wußte ja, daß überall viele Matten lagen. Wir haben das ja auch oft genug geübt. Erst mit einem Meter, dann mit zwei, dann mit drei und so weiter." Sie lächelte verlegen. Ich schaute sie so zärtlich an, daß ich gar nicht mitbekam, wie Maja wieder tief Luft holte. Erst ihre grausam vulgäre Stimme ließ mich zusammenfahren und riß große Stücke von meinen Nerven ab.
"Sach ma", brüllte sie, "müßt ihr dat Huhn erst fangen, um an dat Ei zu kommen, oder wat? Auch wennste dat nich glaubst, Jungchen, aber ich hab Besseres zu tun als hier den Herrgott sein schönen Tach sitzen und euch beim Langweilen zuzusehen!"
Angie warf sich, Tränen lachend, an mich. Unter dem lauten Lachen der anderen Gäste zwinkerte Maja mir zu.
"Die furchtbare Grammatik ist das Schwerste dabei. Manchmal gehen Angie und ich erst am Samstagnachmittag spazieren und verbringen den Morgen statt dessen auf dem Markt, wo ich dann mit einigen Leuten Streit anfange, um zu lernen. Das Problem dabei ist nur: wenn die so richtig in Rage kommen, sind die kaum mehr zu verstehen."
"Und sie werfen manchmal", kicherte Angie.
"Ja, wie den Aal letztens. Der Mann hat sich so aufgeregt, daß er tatsächlich einen frischen Aal nach mir geworfen hat." Maja zuckte mit den Schultern. "Nun essen weder Angie noch ich gerne Aal. Wir ziehen Scholle vor. Aber ihn zu fragen, ob er den Aal gegen zwei Schollen umtauscht, habe ich mich dann doch nicht getraut. Das hätte vielleicht zu Ausschreitungen geführt."
"Das glaube ich einfach nicht!" Auch mir liefen inzwischen die Lachtränen die Wangen herunter. Ich zog schnell ein Taschentuch aus der Tasche und wischte sie ab. "Angie, deine Mutter ist genauso ein Kobold wie du."
"Sie ist schlimmer." Angie nahm mir das Tempo ab, wischte sich ihre Augen trocken und steckte das Tuch ein. "Aber ich bin ja auch erst 13."
Zwei Tabletts mit dem großen Frühstück tauchten vor uns auf.
"Bitte sehr um Verzeihung", sagte Jonas, der nur am Wochenende hier arbeitete, "aber wir haben extra für Sie die schönsten und größten Eier heraus gesucht, Madame."
"Bist ja wohl doch ‚n feines Kerlchen", dröhnte Maja besänftigt. "Dann sach deinen Chef mal ‚n schönen Gruß von mir, und er soll ‚n paar Mark auf dein Gehalt drauf tun."
"Werde ich ihm ausrichten. Ich wünsche den Damen einen gesegneten Appetit."
"Nee!" brüllte Maja überwältigt. "Kerl, wat bist du jut erzogen! Deine Mama kann stolz auf dich sein. Dann hau mal rein, Kindchen. Bei so ‚ne freundliche Bedienung komm wa öfters."
Um uns herum dröhnte Gelächter auf; auch Angie lag wieder an mir, vor Lachen kaum mehr Luft bekommend.
"Na wat is denn nu?" fuhr Maja sie an. "Hau rein, sonst wird et kalt, und der arme Jung muß wieder mit sein Käppi hinter die Henne herjagen, um dat Ei zu fangen!"
"Mama!" kreischte Angie. "Nicht mehr!"
Ich konnte aber auch nicht mehr; mir taten vor Lachen schon die Seiten weh. Maja erbarmte sich und aß still lächelnd unter dem fast schon donnernden Applaus der anderen Gäste.

Eine halbe Stunde später war es so voll geworden, daß ich mit anfassen mußte.
"Danke für euren Besuch", sagte ich zu den beiden. "Das hat mir sehr geholfen. Was habt ihr heute noch vor?"
"Haushalt." Maja verzog das Gesicht. "Angie nimmt mir in der Woche alles ab, dafür bin ich am Wochenende dran. Trotzdem hilft die kleine Maus mir."
"Dann haben wir doch mehr Zeit für uns." Angie schmiegte sich an ihre Mutter. "Heute nachmittag wollen wir vielleicht ins Kino, aber welchen Film, wissen wir noch nicht."
"Dann wünsche ich euch viel Spaß." Ich umarmte Maja, wobei Angie darauf achtete, daß es nicht zu lange dauerte, dann das Mädchen selbst.
"Ich liebe dich, mein süßer Engel", flüsterte ich, als ich sie Arm hatte.
"Ich mag dich!" wisperte sie zurück und drückte noch einmal kräftig zu, bevor wir uns trennten. Wieder drückten ihre Augen etwas mehr Gefühl aus als noch gestern. Daß sie sich selbst so an die Kandare nehmen mußte, um nicht wieder einem Trennungsschmerz ausgesetzt zu sein, tat mir in der Seele weh.
"Los jetzt!" sagte Maja leise. "Sonst starrt ihr euch noch Löcher in den Kopf."
Angie nickte verlegen. "Bis morgen früh, Tom."
"Bis morgen früh, Angie. Maja, wir sehen uns morgen abend?"
"Bei mir hat sich nichts am Terminplan geändert. Komm, Angie; Tom muß was tun."
Ich führte sie zur Tür, winkte ihnen kurz zu und stürzte mich in die Arbeit.


Kapitel 10

An diesem Abend schlief ich sofort ein, ohne belastende Gedanken, und wachte am nächsten Morgen zwar noch müde, aber einigermaßen fit um halb sechs auf. Eine etwas kühlere Dusche als gewohnt und eine zweite Tasse Kaffee halfen mir dann endgültig auf die Beine.
Um halb sieben war ich im Geschäft, und als wir um sieben öffneten, strömten auch gleich die Frühstücker herein: der ältliche Handwerker, der seinen Kasten mit Werkzeug besitzergreifend auf den immer gleichen Stuhl stellte, bevor er bestellte, die Frau Mitte Vierzig, die ihre Zeitung, die sie am Kiosk gegenüber gekauft hatte, auf dem immer gleichen kleinen Tisch ausbreitete, bevor sie zur Theke ging und lange überlegte, was sie essen sollte, und dann doch immer das gleiche wählte, das Pärchen Anfang Zwanzig, das auf dem Weg zur Arbeit noch schnell über zwei Tassen Kaffee irgendwelche Unterlagen durchsah, die kleine, fünfköpfige Gruppe etwa 16jähriger Schülerinnen und Schüler, die sich trotz Ferien bei Cola, Hamburgern und Fritten hier trafen, die zwei unzertrennlichen, 14jährigen Mädchen, die sich nur über Schmuck, Tattoos und Hanna, diese neue Körperbemalung ausließen, eine Zeitschrift nach der anderen durch blätterten und dabei eine Zigarette nach der anderen pafften, ohne etwas zu bestellen, worüber ich - angesichts ihres netten Aussehens - großzügig hinweg sah, und der stille Busfahrer, dessen Schicht um halb acht begann und der sich hier stärkte.
Jeden Tag die gleiche Gruppe, mit der es begann. Oft fragte ich mich, warum die Teenager nicht zu Hause blieben und ausschliefen, aber nach den Erzählungen von Maja hatte ich nun doch etwas Angst, näher darüber nachzudenken. Die Kinder hatten ihre Gründe, so früh außer Haus zu sein, und das mußte mir genügen. Wenn ich ihnen hier - wissentlich oder unwissentlich - eine kleine Pause von was auch immer gönnen konnte, war es in Ordnung.
Joachim war da leider - oder aus Sicht der Konzernleitung glücklicherweise - ganz anders. Er richtete sich nach den Bestimmungen und Gesetzen und verbannte alles, was nicht nach mindestens 16 Jahren aussah, rauchte und keinen Ausweis vorweisen konnte, aus dem Geschäft. Irgendwo hatte er ja auch recht. Laut Jugendschutzgesetz stand eine Geldstrafe von bis zu 30 000 Mark darauf, den unter 16jährigen das Rauchen in Kneipen, Gaststätten, Jugendtreffs usw. zu gestatten.
Er ging eben auf Nummer Sicher.
Mir hingegen stand noch immer der ängstliche, flehende Blick der beiden 14jährigen Mädchen vor den Augen, als ich sie im Februar fragte, ob sie schon 16 wären. Sie waren so ehrlich, ihr tatsächliches Alter anzugeben, und nachdem ich jeder von ihnen einen Kaffee spendiert und ein Feuerzeug mit unserem Firmenaufdruck geschenkt hatte, beruhigten sie sich wieder.
Jeder Mensch ein Schicksal, dachte ich seufzend, während ich die fertigen Fritten aus dem Öl nahm, kurz abtropfen ließ und sie dann in den Stahlbehälter schüttete, um sie zu salzen. Ein Schicksal, von dem man nicht genau wußte, ob man es tatsächlich wissen wollte.
Ich füllte die Fritten in drei Tüten und stellte sie zu den vier Hamburgern und fünf Colas. Die fünf Kinder bezahlten und zogen ab zu einem großen Tisch, direkt am Fenster.
Dem gleichen wie jeden Morgen.
Ich sah zur Uhr: fünf Minuten nach sieben. Manche Filialen gingen auf Nummer Sicher und bereiteten das Essen nach Bestellung zu. Ich ging auf Risiko und sah zu, daß um sieben schon das meiste dessen, was erfahrungsgemäß verlangt wurde, in doppelter Ausfertigung vorhanden war. Meistens ging es gut, wegen Laufkunden, manchmal eben nicht.
Dann sah ich zu den Menschen im Geschäft. Der Busfahrer biß in seinen Burger und sah dabei abwesend nach draußen. Die Frau rührte ihren Kaffee um, schon seit etwa drei Minuten, und las dabei die Zeitung. Der Handwerker brummte leises, unverständliches Zeug vor sich hin, während er eine Art Auftragsbuch durchsah. Das Pärchen unterhielt sich angeregt, wie die fünf 16jährigen.
Alles normal.
Dann sah ich zu den beiden 14jährigen Mädchen. Ich mochte mich täuschen, aber sie sahen von Woche zu Woche nervöser und hektischer aus. Das war schwer zu beurteilen, weil ich sie jeden Morgen sah, und da fielen schleichende Veränderungen nicht auf. Rückblickend gesehen jedoch...
Etwas war da faul. Ich spürte es. Ich konnte nicht sagen, warum und wo ich es spürte, aber ich spürte es. Wie bei Angie, als sie mir erzählte, daß sie mit ihren Gedanken Feuer machen konnte.
Etwas stimmte da ganz und gar nicht.
Ich folgte meinem Instinkt; jetzt konnte ich nicht mehr zurück. Ich goß zwei Becher voll Kaffee, stellte sie auf ein Tablett, packte großzügig Milch und Zucker sowie zwei Löffel dazu und trug das Tablett zu dem Tisch der Mädchen. Beide zuckten heftig zusammen, als ich sie aus dem Studium eines Rückentattoos riß, und sahen mich an; das rechte fragend, das linke mißtrauisch.
"Wir haben nichts bestellt", sagte das rechte Mädchen unsicher.
"Ich weiß. Geschenk des Hauses für Dauergäste." Ich lächelte, doch bei dem linken Mädchen verfehlte das die erhoffte Wirkung.
"Wollen Sie was von uns?" fragte es ziemlich feindselig. Ich nickte.
"Ja. Daß ihr mir einen Moment zuhört." Ich setzte mich ihnen gegenüber hin, verschränkte die Arme auf dem Tisch und sah sie abwechselnd an. Nun zeigten beide Gesichter Ablehnung.
"Egal, was euch gesagt wurde", begann ich, ernst und leise, "es ist falsch. Es gibt jemanden, der euch zuhört, was immer ihr auch zu sagen habt, Kinder. Geht zu irgendeiner Kirche und redet mit dem Pfarrer oder dem Pastor. Was ihr selbst für eine Konfession habt, ist dabei völlig egal. Geht zum Jugendamt. Zum Sozialamt. Zum Roten Kreuz. Zu den Samaritern. Oder sogar zur Polizei, wenn es so schlimm ist. Aber bleibt um Himmels willen zusammen. Bleibt zusammen und redet nur zu zweit mit den Leuten. Sonst kann euch genau das passieren, weswegen ihr jeden Morgen hier sitzt, anstatt zu Hause auszuschlafen."
"Woher wissen Sie denn, daß da was ist?" fragte das rechte Mädchen im Flüsterton, ohne mich anzusehen.
"Ich weiß es nicht, und ich will es auch nicht wissen. Aber ich habe festgestellt, daß ihr von Tag zu Tag etwas nervöser werdet, weil in euch ein Druck ist, den ihr nicht mehr lange aushaltet. Stimmt's?"
Das linke Mädchen verschränkte die Arme und sah mich ausdruckslos an, das rechte nickte unmerklich. Ihre Schultern begannen zu zucken, doch sie fing sich rasch wieder.
"Gut", sagte ich leise. "Das war das, was ich von euch wollte. Daß ihr mir zuhört. Ihr wißt jetzt, daß ihr Alternativen habt. Andere Möglichkeiten. Vielleicht sogar Auswege. Ich drücke euch die Daumen, daß ihr doch noch glücklich werdet."
Ich hatte den linken Fuß noch nicht ganz auf dem Boden, als das rechte Mädchen auch schon bitterlich weinend im Arm ihrer Freundin lag.
"Laß uns gehen!" schluchzte sie leise. "Ich halt das wirklich nicht mehr aus!" Das linke Mädchen öffnete den Mund, sah mich an und schloß ihn gleich wieder.
"Bin schon weg. Viel Glück." Ich nickte ihr zu, und diesmal verlor ihr Blick die Feindseligkeit.
"Darf ich mal fragen, was du mit denen gemacht hast?" fragte Marko entgeistert, der wie Gerrit zur Minimalbesetzung gehörte.
"Ihnen gesagt, daß es heute das letzte Mal war, daß sie hier sitzen können, ohne etwas zu bestellen. Noch Fragen?"
Marko glaubte mir kein Wort, aber mich weiter auszufragen traute er sich auch nicht. Irgendwo gab es nun einmal eine Grenze, ab der weder Anja noch Joachim noch ich Entscheidungen begründen mußten, und das wußten alle. Auch, daß diese Grenze mit dem Satz: "Noch Fragen?" eindeutig festgelegt wurde.
Er wandte sich schweigend ab.
Sein Schmollen war mir jedoch sehr viel unwichtiger als die Hoffnung, den beiden Mädchen vielleicht wenigstens etwas geholfen zu haben. Er war 22, die Mädchen 14. Damit lagen die Prioritäten für mich fest.

Angie kam um fünf vor neun wie ein Wirbelwind in das Geschäft gerannt. Ich hatte gerade den letzten Tisch abgeräumt und die Abfälle in die Tonne geworfen, als sie mich entdeckte. Sie schlug einen ihrer gekonnten Haken, rannte unter den neugierigen bis belustigten Blicken der Belegschaft auf mich zu, prallte gegen mich, daß es mir die Luft aus dem Leib trieb, umarmte mich und schaute mit leuchtenden Augen zu mir auf.
"Rat mal, was Mutti mir gesagt hat!" sprudelte sie los, ohne mich zu begrüßen. Demnach mußte es sehr wichtig sein. Momentan war für Angie ihre neue Anlage sehr wichtig, soweit ich wußte. Also hatte ihre Mutter ihr verraten, daß sie ihr etwas Geld dazu tun wollte.
"Hmm... Laß mich überlegen. Sie hat sich bei deinem Geburtsdatum vertan, und du bist erst elf?"
"Quatsch!" kicherte sie ausgelassen. "Rat noch mal!"
"Sie hat sich bei ihrem Geburtsdatum vertan und ist gar nicht deine Mutter, sondern deine große Schwester?"
"Nein!" quietschte sie fröhlich. "Letzte Chance!"
Ich wollte ihr die Freude nicht verderben und schaute ratlos drein. "Keine Ahnung. Was hat sie gesagt?"
"Daß sie mir Geld zu meiner neuen Anlage dazu tut, damit ich mir eine ganz tolle kaufen kann!" Sie drückte mich stürmisch. "Ist das nicht toll?"
"Das ist super!" freute ich mich mit ihr. "Da gratuliere ich dir, Angie."
"Danke! Wieviel, hat sie nicht gesagt, aber wie ich Mami kenne, sind das hundert Mark. Dann kann ich mir die eine Nummer größer kaufen als die, die ich mir schon ausgesucht habe, auch wenn ich noch fünfzig Mark vom Sparbuch abheben muß." Sie löste ihren Griff, ließ ihre Arme aber locker an mir hängen.
"Ich freu mich so!" seufzte sie glücklich. "Heute will sie pünktlich Schluß machen, also um fünf, und dann mit mir die neue Anlage kaufen gehen. Kommst du mit? Dann hast du doch auch Schluß. Komm bitte mit!"
Wer hätte diesen großen, wundervollen, blaugrauen Augen widerstehen können?
Ich auf gar keinen Fall.
"Ich komme gerne mit, Angie. Unter einer Bedingung."
"Bedingung?" Arme fielen herunter, Freude und Aufregung erloschen, übrig blieb nur Enttäuschung. "Welche?"
Ich drehte sie an den Schultern und schob sie auf die gaffenden Kolleginnen und Kollegen zu.
"Daß du dem Haufen hier erklärst, warum du mich umarmt hast. Du darfst aber nicht sagen, wie ich deine Mutter kennengelernt habe. Du darfst auch nicht sagen, daß ich den ganzen Samstag bei euch war und daß deine Mutter, du und ich gute Freunde geworden sind. Und du darfst auch nicht sagen, was deine Mutter und du gestern hier gemacht habt." Ich gab ihr einen sanften Schubs, der sie bis fast vor die Theke brachte. Angie drehte sich verwirrt zu mir um.
"Du hast doch jetzt schon alles gesagt!"
"Die Bande glaubt mir sowieso kein Wort." Ich strich ihr grinsend über die Haare und ging in mein Büro. Hinter mir hörte ich Angie tief durchatmen und sagen:
"Also..."
Sie brauchte Selbstvertrauen? Kein Problem. Alles im Job mit drin.


Kapitel 11

Es war exakt 9:32 Uhr, als es geschah. Keiner von uns würde diese Uhrzeit vergessen. Nicht bei dem, was dann geschah.
Wir standen alle locker plaudernd hinter der Theke, nur Angie hielt sich an ihrem Besen fest und sah träumend nach draußen, in Gedanken wohl schon bei ihrer neuen Anlage. Punkt 9:32 Uhr fiel ihr der Besen aus der Hand. Wir alle schauten fragend zu ihr, doch sie stand vollkommen reglos da. Ich wollte gerade zu ihr gehen, als sei ein Wort sagte. Ganz vorsichtig, tastend, mit der Stimme eines ängstlichen kleinen Kindes, das urplötzlich im Dunklen steht.
"Mami?"
Dieses Wort, zusammen mit dem Anblick ihrer reglosen Gestalt, verursachte mir eine Gänsehaut. Sie sagte es gleich darauf wieder, diesmal voller Angst.
"Mami!"
Dann schrie sie plötzlich auf; nicht mehr ängstlich, sondern panisch.
"MAMI!"
Wie eine Furie rannte sie durch den Thekenbereich und die Küche, von unseren fassungslosen Blicken verfolgt, sprang regelrecht in mein Büro, riß den Telefonhörer hoch und tippte wie wild auf die Tasten.
"Durchgedreht", hörte ich jemanden sagen. Ich ignorierte es; meine Sorge um Angie war zu groß. Plötzlich redete sie.
"Mami? Mami!" Erleichtertes Aufatmen. "Mami, du mußt ganz schnell kommen. Sofort. Bitte! -- Nein, kann ich dir -" Sie sah mich an, ihre Stimme wurde weinerlich. "Doch, Mami. Genau das. Es ist was ganz Schlimmes passiert. Du mußt mich sofort hier raus holen. Ganz schnell. -- Ja, genau das hat er gemacht. Hol mich hier bitte raus. Sofort.-Ist gut. Danke." Sie legte auf, zog die Hände an die Brust, faltete sie wie zum Gebet, schloß die Augen und bewegte stumm die Lippen.
"Total durchgedreht", hörte ich eine Frauenstimme sagen. Diesmal stimmte ich aus vollem Herzen zu. Wer sollte was mit ihr gemacht haben? Was sollte ihr passiert sein? War das wieder nur eine Vorstellung von Angie?
Ich wählte einen Kompromiß.
"Laßt sie am besten ganz in Ruhe", sagte ich mit rauher Stimme. "Ich weiß auch nicht, was sie hat, aber irgendwie wird sich das schon klären."
Ich behielt sie im Auge, während die anderen leise redend an ihre Plätze zurück gingen, doch Angie öffnete nicht die Augen. Sie blieb still stehen, die Hände wie zum Gebet gefaltet, und bewegte stumm die Lippen.
Wenig später hielt ein sportlich aufgemachter 5er BMW vor der Tür, mit quietschenden Reifen, aus einem irrsinnigen Tempo heraus, und mitten im Halteverbot. Heraus sprang Maja, die Lippen wütend aufeinander gepreßt. Ich sah zu Angie, doch die betete noch immer.
Maja stürmte mit solcher Wucht herein, daß sogar der Türstopper etwas aus der Verankerung brach.
"Wo ist meine Tochter?" herrschte sie mich an. "Was hast du -"
"Mami!" Schluchzend kam Angie nach vorne gerannt, warf sich an ihre Mutter und weinte bitterlich. Maja drückte sie beschützend an sich und sah mich an. Ihre Augen drückten ein ganz sicheres Versprechen aus: mich umzubringen. Ich gab ihr durch Kopfschütteln, einen hilflosen Blick und Schulterzucken zu verstehen, daß ich nicht die geringste Ahnung hatte, was mit Angie los war, doch das kaufte sie mir nicht ab.
"Mami!" stieß Angie erleichtert hervor. "Mami!" Immer nur dieses eine Wort. Maja strich ihr sanft über den Kopf, während ihre Blicke mich durchbohrten.
Angie fing sich recht schnell wieder. Maja riß ihr die Kappe vom Kopf, schleuderte sie mir entgegen und sagte, während sie Angie zum Ausgang zog:
"Wir sind bei der Polizei, wenn du uns suchst. Warum, weißt du ja."
"Nein!" rief Angie schnell, während mit heiß und kalt wurde. "Ich hab das erfunden, Mami."
Maja stoppte mitten im Schritt. Sie drehte sich sehr langsam zu ihrer Tochter um.
"Wiederholst du das bitte noch mal, Angela?" fragte sie sehr ruhig. Ich bekam Angst um Angie. "Du hast erfunden, daß Tom dich vergewaltigt hat?"
Angie nickte schniefend. "Ja."
"Kannst du mir auch einen triftigen Grund dafür nennen, Angela?" Noch immer war Majas Stimme sehr ruhig, doch der heiße Zorn darin war schon zu spüren. Angie schluckte.
"Weil ich dich hier haben wollte", sagte sie leise.
"Weil du mich hier haben wolltest", wiederholte Maja tonlos. "Angie, hat Tom dir etwas getan?"
"Nein. Nichts. Ich wollte dich nur hier haben."
Sie ließ die Hand ihrer Tochter los, legte ihre Hände auf Angies Schultern und sah ihr ganz fest ins Gesicht.
"Ich bin mit über 130 über die Hauptstraße gejagt. Ich habe beinahe zwei Kinder in deinem Alter auf dem Kühlergrill gehabt. Ich habe drei rote Ampeln überfahren. Ich habe nur mit sehr viel Glück keinen Unfall gebaut, Angela Altmann. Und das alles, weil du mich hier haben wolltest?"
"Ja." Angie senkte den Kopf. "Weil ich dich hier haben wollte. Ich bin um kurz vor neun gekommen, und bis jetzt war ich nicht mit Tom alleine. Also hat er das auch nicht machen könne, was ich erfunden habe. Ich wollte dich hier haben."
"Na schön." Maja atmete tief durch. "Angie, du wirst jetzt zum ersten Mal in deinem Leben von mir eine Ohrfeige bekommen. Ich habe eine gewaltige Wut in mir, und ich entschuldige mich schon jetzt, daß sie sehr kräftig ausfallen wird. Aber die hast du bei Gott redlich verdient."
Sie holte zu einer gewaltigen Ohrfeige aus. Angie blieb stocksteif stehen; sie ballte nur ihre Hände zu Fäusten.
Maja hatte den weitesten Punkt ihrer Ausholbewegung erreicht. Sie sah Angie noch einmal an. Das Mädchen drehte weinend den Kopf etwas und hielt ihrer Mutter sogar noch die Wange hin.
Doch zum Schlag kam es nicht.
Gerade als Maja zuschlagen wollte, ertönte draußen eine gewaltige Detonation. So stark, daß bei uns die Scheiben klirrten und der Boden bebte. Alles schrie erschrocken auf und hielt sich irgendwo fest. Auch Maja riß sofort und sehr verstört ihre Tochter an sich.
Eine zweite Explosion, so stark wie die erste, ließ ganz in der Nähe Scheiben zerspringen. Auf der Straße hörten wir Menschen in Panik aufschreien. Maja riß Angie zu Boden und deckte sie mit ihrem Körper, als dicker, weißer Staub von der Decke rieselte. Ich scheuchte meine Leute hinter der Theke weg, damit sie nicht von umfallenden Geräten getroffen werden würden, und rannte zu Maja und Angie.
"Seid ihr okay?" fragte ich besorgt, als ich halb über ihnen lag.
"Ja", erwiderte Maja gepreßt. "Tut mir leid, Tom. Ich -"
"Später." Ich sah kurz auf, auf die Straße, und erstarrte.
Unmengen von Papier, Obst, Stoffen, Abfällen und Kisten fegten über die Hauptstraße auf das Geschäft zu. Ich hatte bei der Bundeswehr einmal miterlebt, wie eine Kiste mit Handgranaten explodiert war. Ein Anblick, der gegen das, was jetzt auf uns zu kam, nur ein Kinderstreich mit einem Chinaböller war.
"In mein Büro!" schrie ich meinen Leuten gellend zu. "Sofort! Alle!" Gleichzeitig damit drückte ich Maja und Angie näher an die Wand heran, während meine Leute Hals über Kopf in mein Büro stolperten.
Dann kam die Druckwelle.
Ein ohrenbetäubender Knall ertönte, stärker als die beiden vorherigen zusammen. Der Boden unter uns zitterte deutlich. Ein Geschäft nach dem anderen zerplatzte buchstäblich, so wie es sich anhörte. Um uns herum zerbarsten dicke, große Fensterscheiben mit nervenzerfetzendem Geklirr, Menschen schrien vor Schmerzen und Angst auf, Bremsen kreischten, Reifen quietschten, Blech prallte hart auf Blech. Kleine Steine aus der Decke fielen auf uns herab. Ich betete, daß Angie und Maja nichts passieren würde, und ich betete, daß meinen Leuten nichts passieren würde.
Dann war es so schnell vorbei, wie es gekommen war.
Nur das Schreien der Menschen auf der Straße hielt an.
Unter mir spürte ich, wie Maja und Angie sich bewegten. Große Erleichterung durchfuhr mich. "Seid ihr zwei okay?" fragte ich.
"Etwas durchgeschüttelt und mit den Nerven am Ende, aber sonst okay", erwiderte Maja.
"Und du, mein Engel?"
"Das gleiche, aber ich bin auch noch halb zerquetscht. Von euch!" Ein staubbedecktes Köpfchen zeigte sich, mit zwei vorwurfsvoll blickenden Augen.
"Wenn das alles ist..." Ich drückte die beiden überglücklich an mich, dann sah ich auf.
"Marko!" brüllte ich. "Alles in Ordnung bei euch?"
"Ja!" rief er zurück. "Nur ein paar Schrammen, aber nichts Ernstes!"
"Ruf sofort einen Glaser in der Nordstadt an. Mach voran! Den Schnaps gibt's gleich!"
"Zu spät!" rief Bettina mit etwas zitternder, aber ansonsten munter klingender Stimme. "Den haben wir schon entdeckt."
"Keinem was passiert. Gott sei Dank." Jetzt, da es vorbei war, setzte das Zittern bei mir ein. Ich setzte mich auf, half Maja und Angie auf die Beine und stand dann selbst auf. Wir drei umarmten uns glücklich und erleichtert, daß uns kaum was passiert war. Maja blutete etwas an der linken Wange, aber das war nur ein leichter Kratzer. Mein rechter Handrücken war sehr angegriffen, aber Angie war vollkommen unversehrt.
"Man kann wirklich nicht sagen, daß das Leben mit dir langweilig ist", lachte Maja, dann drückte sie sich weinend an Angie und mich. Auch uns liefen die Tränen nur so herunter.

* * *

"Glaser angerufen!" rief Marko aus meinem Büro. "Können wir jetzt raus kommen?"
"Ach ja!" Ich löste mich lachend von Angie und Maja. "Kommt her!"
Ziemlich verstört, aber lebendig und relativ unversehrt kamen Marko, Achim, Bernd, Bettina und Gerrit aus meinem Büro. Sie bahnten sich vorsichtig den Weg über umgefallene Kisten und heißes Fett bis zu uns. Ich nahm jeden einzelnen kräftig in den Arm. Wir alle standen etwas unter Schock, aber da keiner schlimm verletzt war, hielt es sich in Grenzen. Angie flitzte sogar schon los und holte Servietten und klares Wasser, um die ersten Wunden zu versorgen. Ich warf ihr schnell den Schlüssel vom Verbandsschrank zu.
"Okay!" sagte ich dann laut. "Keine große Ansprache. Ich bin überglücklich, daß ihr alle lebt und nur leichte Wunden habt. Ich weiß -" Das Telefon in meinem Büro unterbrach mich.
"Maja, wärst du so nett? An den Fritten vorbei und geradeaus."
"Klar." Sie stieg schnell über die ganzen Trümmer. Ich rief ihr ein "Danke!" hinterher und wandte mich wieder an meine Leute.
"Ich weiß nicht, ob die IRA oder die PLO hier geübt hat, aber wir sind nicht die einzigen, die es erwischt hat. Ich überlasse es jedem einzelnen, ob er oder sie jetzt nach Hause geht oder hier bleibt und mit anfaßt, damit wir schnell wieder Ordnung haben. Ich nehme es keinem übel, der geht. Ganz ehrlich nicht. Ich möchte auch mit Maja und Angie nach Hause, darf es aber nicht. Ihr könnt jedoch gehen."
"Tom?" unterbrach Maja mich. "Ein Herr Kahler oder Keller für dich."
"Sag ihm bitte, er soll mich auf dem Handy anrufen." Ich grinste die fünf vor mir schief an. "Deswegen darf ich nicht gehen. Herr Keller ist mein Boß. Überlegt es euch. Bettina, du bist die jüngste von uns allen, deswegen darfst du den Schnaps ausschenken. Mach es großzügig."
"Willst du auch einen?"
"Ja, aber ich darf nicht. Noch nicht. Erst einmal -" Mein Handy klingelte. Ich sah kurz auf das Display und drückte den grünen Knopf.
"Benno? Tom hier.-Nein, keine Ahnung, was das war. Es knallte drei Mal, und jetzt ist die Hauptstraße eine Dekoration für einen Katastrophenfilm.-Schreibst du mit?" Ich ging langsam nach hinten.
"Von hinten nach vorne. Mein Büro ist okay. Das Bild vom Präsi liegt auf dem Boden, aber das hat mir eh nicht gefallen. Der Schrank mit den Ordnern ist unversehrt, alle Unterlagen noch da. Umkleideraum ist auch okay. Jetzt die Küche." Ich ging langsam durch die Reihen.
"Chaotisch, aber defekt scheint nichts zu sein. Woher wußtest du überhaupt, daß es hier geknallt hat? -- Bitte woher? -- Aha. Nett, daß ich das auch mal erfahre. Da reden wir später noch mal drüber. Küche ist auf den ersten Blick in Ordnung, Geräte auch. Zumindest läuft nirgendwo etwas raus. Liegt halt nur viel auf dem Boden rum, und was davon kaputt ist, muß ich noch eruieren.-Ja, genau so sieht das hier aus. Bestell deiner Frau übrigens Grüße von mir, wo wir gerade von ihr reden. Jetzt zum Gästeraum. Reicht dir das Wort: kaputt? -- Na gut. Warte." Ich bahnte mir einen Weg durch die ganzen Scherben und umgekippten Stühle.
"Also. Tische stehen noch, Stühle nicht mehr. Mindestens zwanzig hat's völlig zerhämmert. Die anderen sind auch angegriffen.-Ja, denke ich auch. Ein paar werden noch in Ordnung sein, vor allem die, die weit weg vom Fenster standen, aber der Rest kann für das nächste Osterfeuer gesammelt werden. Einige Tische sind stark zerkratzt, aber die können wir nach und nach austauschen." Ich sah aus den Augenwinkeln, wie Angie sich liebevoll um die kleinen Wunden der fünf kümmerte. Was für ein tapferes Mädchen! Auch Maja half tatkräftig mit. Mich wunderte, daß sie nicht nach ihrem Wagen schaute. So wie der aussah, würde sie einen Anfall bekommen.
"Damit kommen wir zu den teuren Sachen. Die beiden Fenster an der Südwand gibt es nicht mehr. Die sind hin. An der Westwand sind zwei kaputt, die beiden anderen sehen aber auch so aus, als würden sie jeden Moment auseinander fallen. Die halten wohl nur noch durch den Dreck darauf zusammen.-Nein, habe ich nicht, verdammt! Ihr habt uns die Leute gestrichen, und vom Fensterputzen steht in keinem einzigen Vertrag was! Ich hatte einen günstigen Reiniger gefunden, aber das war euch ja auch - Was? -- Ja, okay. Kommt alles auf die große Liste. Also: alle sechs Fenster hin.-Natürlich bin ich gereizt! Was denkst du denn? Uns ist das Geschäft buchstäblich um die Ohren geflogen, ich habe hier fünf verletzte Angestellte, mir selbst tropft das Blut von der rechten Hand, und-Nein, das war kein Witz, Benno. Fünf Leute sind verletzt. Die gesamte Frühschicht. Zwar nur leicht, aber immerhin verletzt. Also entschuldige bitte, wenn ich im Moment nicht so lieb und brav wie sonst reagiere. Wir können der gesamten Hierarchie im Himmel dafür danken, daß kein einziger Gast hier war.-Gut, klingt vernünftig. Jetzt zur Struktur. Warte einen Moment."
Ich ging vorsichtig durch die Trümmer, schaute dabei nach oben an die Decke, doch der einzige Schaden war der Riß in der Decke am Eingang.
"Nicht viel", sagte ich dann. "Kurz hinter der Tür ein Riß in der Decke. Vierzig Zentimeter lang, an der dicksten Stelle vielleicht drei, vier Zentimeter breit.-Nein, sonst nichts. Vielleicht hat da jemand beim Bau gepfuscht und mit Papier und Spucke gearbeitet. Der Boden... Kann ich wegen des ganzen Mülls hier nicht genau sagen, aber der sieht gut aus. Die Druckwelle war ja auch überirdisch.-Draußen? Sekunde." Ich ging vorsichtig hinaus, wo schon Ambulanzen, Feuerwehren und Polizisten kräftig an der Arbeit waren, Ordnung zu schaffen. Ich wandte schnell den Blick von einem Körper ab, der in einer großen Blutlache lag, und zwang meine Gedanken zur Ruhe.
"Benno? Hast du zufällig ein paar Firmenschilder übrig? Ich brauche neue.-Ja, weg. Warte, eins sehe ich. Steckt zur Hälfte in dem Fenster des Möbelgeschäftes in der Kurve.-Das mußt du wissen; Versicherungen sind euer Metier. Aber das von dem Spielwarengeschäft hinter uns steckt gleich daneben, wie's aussieht. Schwer zu sagen, welches zuerst angeklopft hat. Das war's vorerst. Es berichtete Tom Berger, Sonderkorrespondent im Krisengebiet.-Nein, ich tu nur so, Benno. Eine sehr gute Freundin von mir war gerade im Geschäft, als es los ging. Mit ihrer 13jährigen Tochter. Die zwei sind zwar unverletzt, aber meine Nerven liegen zerstört am Boden. Aber falls es dir ein Trost ist: die anderen Geschäfte in der Straße sehen ähnlich ramponiert aus.-Ich weiß es doch nicht, Benno! Woher soll ich wissen, ob eine Versicherung dafür aufkommt, wenn hier noch keiner Bescheid weiß, was überhaupt los war? Wir wissen weder, ob es ein Anschlag oder ein Unfall war, noch wo genau es eigentlich so geknallt hat.-Wirklich keine Ahnung, aber von der Wirkung her würde ich auf C4 oder so etwas tippen. Ziemlich laut, und ziemlich wirkungsvoll.-Ja, gut. Mach das. Ich bin hier, bis die Glaser die Scheiben abgedichtet haben, dann geh ich heim. Heute läuft nichts mehr. Morgen wahrscheinlich auch nicht, aber das sehen wir dann.-Dir auch, Benno. Bis dann." Ich schaltete das Handy vollständig aus und steckte es zurück an den Gürtel. Ziemlich aufgebracht ging ich wieder hinein.
Angie und Maja hatten alle versorgt. Nun standen alle an der Theke, mit Schnaps in Pappbechern.
"Deine Hand", sagte Angie leise. Ich zog sie mit links an mich und drückte sie.
"Ich bin so froh, daß euch zwei nichts passiert ist, mein Engel."
Angie nickte nur wortlos, während sie sich an mich schmiegte und still stehen blieb.
"Tom?" fragte Maja. "Kann ich mal eben bei uns anrufen und Bescheid sagen?"
"Natürlich, Maja. Da mußt du nicht extra fragen. Einfach abheben und tippen. Ganz normales Telefon."
"Danke." Sie ging nach hinten.
"Jetzt aber deine Hand", sagte Angie bestimmt. Ich lächelte gerührt
"Wieso macht dir das nichts aus, Angie? Ich meine, die Wunden zu versorgen."
Sie zuckte mit den Schultern. "In den Osterferien war ein Erste-Hilfe Kurs in der Schule. Der war eigentlich nur für die Leute, die ihren Führerschein machen wollten, aber ich hab trotzdem mitgemacht. Der Typ, der das durchgezogen hat, hat viele Bilder - also Dias - von Verletzungen gezeigt. Das hat mir auch nichts ausgemacht. Keine Ahnung. Mich ekelt das nicht."
"Du Süßes!" Ich strich ihr verliebt durch das Haar. Angie machte sich mit sanftem Nachdruck von mir los.
"Deine Hand!"
"Ja!" lachte ich. "Dann tob dich mal aus."
Sie legte sich alles zurecht und begann. Zuerst wusch sie meine Hand vorsichtig ab, dann zog sie kleine Glassplitter heraus, säuberte anschließend die Wunden und legte mir einen Verband an, nachdem sie flüssiges Pflaster aufgesprüht hatte. In der Zwischenzeit telefonierte Maja mit ihrer Firma.
"Maja hier. Geli, ich - Geli? Angelika! Hallo! Frau Torres!" Sie schaute völlig verblüfft zu uns. "Die flennt! Ist meine Stimme so furchtbar?"
"Heute eigentlich nicht!" Ich zwinkerte ihr zu. Maja grinste kurz und drückte den Hörer wieder ans Ohr.
"Angelika Torres! Was zur Hölle hast du? -- Ich hab vielleicht was verpaßt, aber warum sollte ich nicht leben? -- Was?" Maja wurde kreidebleich. Sie tastete nach dem Tisch und ließ sich darauf fallen. "Sag das noch mal! Was ist mit meinem Büro? -- Alle? Oh mein Gott!" Sie brach in Tränen aus, fing sich jedoch sofort wieder. "Geli, hör zu. Ich bin gerade in der Stadt, weil - weil mich ein Verrückter angerufen und gesagt hat, Angie wäre etwas passiert. Sie ist aber völlig okay. Deswegen war ich nicht da. Ich hab mir den Wagen vom Junior geschnappt, weil meiner ja zu Hause ist, und bin in die Stadt gerast. Ich komme zurück, so schnell ich kann. Nun beruhige dich mal, Mädchen. Wie sieht's sonst bei euch aus?" Sie lauschte eine ganze Weile.
"Aha", sagte sie schließlich. "Klingt ja berauschend. Gut, Geli. Ich komme zurück, sobald ich Angie in Sicherheit weiß. Die Hauptstraße ist ein Chaos. Die meisten Geschäfte bis zur Kurve am Möbelgeschäft sind halb zerbombt.-Ich nehme an, weil nach diesem Komplex direkt die Hauptstraße beginnt und schnurgerade nach Norden geht. Ich hoffe nur, daß unser Wohnblock nichts abbekommen hat. Wie auch immer. Geli, wenn der Junior - Nein warte, das sag ich ihm selbst. Er hing ja so an seinem BMW. Bis gleich, Geli. Halt die Ohren steif." Sie legte auf und kam ziemlich blaß zu uns.
"Es war direkt bei uns", sagte sie zittrig. Ich legte meinen linken Arm um sie.
"Direkt hinter uns, in Richtung Innenstadt, ist - war eine Spedition, und genau die hat's zerlegt. Die erste Explosion war in Richtung uns. Es hat die Buchhaltung getroffen, den Einkauf und das Personalbüro. Geli sagt, alle dort sind tot." Sie drückte sich zitternd an mich. Ich hielt sie erschüttert fest. Angie machte in aller Ruhe weiter und sagte nichts.
"Mein Büro..." Sie schluckte. "Mein Büro ist auch nur noch ein riesengroßes Loch. Wenn ich dagewesen wäre, hätte Angie jetzt keine Mutter mehr. Junior und Senior, die gleich neben mir ihre Büros haben, sind ziemlich übel mitgenommen, aber sie leben wenigstens. Der Senior ist schon auf dem Weg ins Krankenhaus. Ich muß rüber, Tom. Die brauchen mich jetzt."
"Schaffst du das, Maja?"
Sie wußte, was ich meinte, und nickte. "Ja. Bestimmt. Genau wie du." Sie lächelte kurz. "Wenn die Krise kommt, bin ich fit, erst danach kommt das Zittern. Angie?"
Das Mädchen sah auf.
"Angie, wußtest du das? Hast du deswegen gelogen?"
Angie nickte mit feuchten Augen.
"Ja, Mami", hauchte sie. "Ich hab plötzlich gesehen, wie die ganze Wand hinter dir auf dich fiel und du mitsamt den Trümmern durch den Boden gefallen bist. Deswegen wollte ich dich hier haben. Tut mir leid, daß ich dich so böse angelogen hab, aber anders wärst du nicht gekommen." Sie schaute wieder auf meine Hand und wickelte den Verband darum. Maja und ich sahen uns ratlos an; keiner von uns konnte sich das erklären.
Angie verknotete den Verband sorgfältig, musterte ihr Werk kritisch und nickte dann. "Fertig."
"Danke, mein kleiner Schatz." Ich drückte sie an mich und gab ihr einen Kuß auf die Wange. "Der war für all deine Hilfe."
"Schon gut." Sie schmiegte sich an mich und streckte die Hand nach ihrer Mutter aus. Maja nahm sie und schüttelte den Kopf.
"Da reden wir später noch mal über, kleine Maus. Bleibst du bitte bei Tom? So, wie Geli das alles geschildert hat, könnte auch unsere Wohnung etwas abbekommen haben. Da gehst du mir nicht alleine hin."
"Ist gut." Sie lächelte schüchtern. "Jetzt passiert aber nichts mehr. Sei nur vorsichtig, wenn du über die Treppe nach oben gehst; die könnte einstürzen."
Maja nahm das kommentarlos hin. Sie drückte uns beide gleichzeitig, lächelte allen anderen noch einmal kurz zu, strich Angie über das Haar und eilte hinaus.
"Wir haben uns das überlegt", meinte Gerrit. "Alkoholisiert haben wir noch nie arbeiten dürfen, also wird's Zeit dafür. Wo steht der Besen?"
Ich sah die fünf dankbar und gerührt an.








Kapitel 12

Gegen Mittag hatten wir einigermaßen Ordnung geschafft. Einigermaßen. Von den gut 60 Stühlen waren 42 hin oder so beschädigt, daß sie nicht mehr zu gebrauchen waren. Wir zertraten sie vollständig und stapelten die Reste in einer Ecke. Der Glaser war auch mittlerweile bei uns gewesen, hatte die Maße der Fenster aufgenommen und würde am späten Nachmittag mit einbruchssicherer Folie zurück kommen. Als Marko sah, wie viele Leute aus der Umgebung auf den Glaser zu stürmten, verstand er, warum er ihn so schnell hatte anrufen sollen.
Wir sprachen nicht darüber, was auf der Straße passiert war. Wie viele Leute verletzt oder sogar ums Leben gekommen waren. Die Feuerwehr war dabei, alle Blutflecken mit Wasser abzuwaschen. Angie schaute bewußt nicht hin.
Nachdem der Bereich für die Gäste aufgeräumt und ausgefegt war, kam die Küche dran. Angie und ich kontrollierten den Keller, der aber keine Schramme abbekommen hatte. Auch der Kühlraum und das Lager, wo die Getränke mit den Geräten oben verbunden wurden, war unbeschädigt. Beide Toiletten, die für Männer und die für Frauen, waren trocken, die Rohre heil geblieben.
Angie seufzte, als wir den letzten Raum besichtigt hatten. "Noch mal davon gekommen."
"Nicht zuletzt dank dir." Ich kniete mich vor sie. "Angie, was hast du gesehen? Wie hast du es gesehen?"
Sie schüttelte ganz langsam den Kopf.
"Ich weiß es nicht", sagte sie leise, sehr nachdenklich. "Ich hab das... Das war plötzlich da. Ich hab gerade davon geträumt, meine neue Anlage zu haben, und da... Da ging's los. Ich hab Mutti gesehen, wie sie an ihrem Schreibtisch saß, und plötzlich flog die Wand hinter ihr auf sie zu. In vielen großen Trümmern." Sie schluckte schwer.
"Dann riß der Boden auf, Mami fiel durch, und die ganzen Trümmer auf sie. Die vielen großen Steine." Zwei Tränen liefen ihr über die Wangen, als sie aufsah.
"Es tut mir schrecklich leid, daß ich so gelogen hab. Aber Mutti wollte nicht kommen. Erst als sie fragte, ob du mir was Furchtbares getan hast, merkte ich, daß ich sie damit anlocken konnte, und hab's eben gesagt. Es tut mir so leid!"
"Vergeben und vergessen." Wir umarmten uns zärtlich. "Angie, so wie es aussieht, hast du deiner Mutter das Leben gerettet. Hast du nach dem Telefonat gebetet oder so etwas?"
Sie nickte. "Ja. Ich wußte nicht, wann das passiert. Ich wußte nur, daß es passiert. Da hab ich gebetet, daß sie es schafft."
"Das dürften ungefähr fünf Minuten gewesen sein", überlegte ich. "Ganz grob gerundet. Eine Minute Gespräch, deine Mutter mußte zum Auto laufen, ein paar Minuten Fahrzeit, der Streit hier... Doch. Fünf bis sieben Minuten. Danke für alles, mein kleiner Engel." Ich hauchte ihr einen Kuß auf den Mund. "Auch im Namen deiner Mutter."
Angie wurde feuerrot und senkte den Kopf. Einen Moment später sah sie auf, gab mir einen feuchten Kuß auf die Lippen und preßte dann ihre Wange an die meine.
"Ich liebe dich, Angela", sagte ich gerührt. "Für alles, was du bist, und für alles, was du kannst."
Sie brach in Tränen aus und preßte sich ganz stark an mich.

* * *

"Warum hast du dich nach deinem Gespräch mit deinem Chef so aufgeregt?" fragte Angie, als wir wieder die Treppe nach oben hoch gingen. Ich blieb stehen.
"Weil", sagte ich so leise, daß mich niemand oben verstehen konnte, "in der Uhr im Laden eine kleine Kamera eingebaut ist. Damit wurden wir überwacht. Nicht rund um die Uhr, nur gelegentlich. Ich wußte nichts davon, und ich bin sicher, daß auch Joachim - der andere Manager, den du noch nicht kennst - nichts davon wußte. Das war Punkt Eins. Punkt Zwei: Mein Boß hat nicht groß nachgefragt, wie es den Leuten oben geht. Ihm ging es nur darum, den Laden schnellstmöglich wieder aufzubauen. Noch Fragen?"
"Nein." Sie lächelte tief. "Bei dir war es andersrum, nicht? Du hast erst nach Mutti und mir geguckt, dann nach den Leuten, dann nach dem Geschäft."
"Ich bin sicher, daß es jeder hier in der Straße so gemacht hat, kleiner Engel. Sicher, wir sind alles Geschäftsleute, und wir schauen immer zuerst nach den Kunden, weil - ganz brutal gesagt - von der Seite die höchsten Schadensersatzklagen kommen können. Aber bei euch beiden war das etwas anderes. Wenn du etwas abbekommen hättest, dann wären mir die anderen Leute völlig egal gewesen."
Angie grinste breit. "Das glaub ich dir nicht."
"Dann glaubst du es mir eben nicht." Ich zog sie an mich. Sie schlang ihre Arme um mich und sah mich an.
"Wir haben schon ganz schön viel erlebt, was?"
"O ja!" seufzte ich, mit beiden Händen durch ihr Haar fahrend. "Hast du noch mehr auf Lager?"
"Wer weiß", kicherte sie neckisch. "Noch Fragen?"
"Ja. Warum hast du vorhin so geweint?"
Sie legte ihr Köpfchen an meine Brust und sah ins Nichts.
"Weil", sagte sie leise, "du das gesagt hast."
Ich drückte ihr einen sanften Kuß auf den Kopf.
"Komm, kleiner Engel. Helfen wir den anderen. Ich hab Hunger."
"Ich auch!"

* * *

Gegen vier Uhr hatten wir es geschafft, gemeinsam mit den sieben Leuten der Spätschicht und Anja, die natürlich alle vollkommen geschockt waren, als sie sahen, was passiert war. Die Küche war aufgeräumt, geputzt und lief wieder, der Bereich für die Gäste war ebenfalls gewischt, und der Glaser brachte die letzte der provisorischen Folien an. Ein Sicherheitsdienst, der mehrere Geschäfte in der Nacht überwachen sollte, wurde von mehreren Geschäftsinhabern geteilt, darunter auch wir. Ich war zwischendurch kurz zum Geldautomaten gegangen und drückte nun jedem der fünf von der Frühschicht hundert Mark in die Hand, zusammen mit einem von Herzen kommenden "Danke". Angie schaute mich etwas enttäuscht an, als sie nichts bekam, doch sie sagte nichts.
Für sie hatte ich mir etwas anderes ausgedacht.
Nachdem die Frühschicht erschöpft, aber nervlich wieder auf dem Damm nach Hause gegangen war, setzten Angie und ich uns mit einem detailgetreuen Stadtplan an einen Tisch.
"Dann schauen wir mal. Hier ist der Baumarkt, richtig?"
"Genau." Angie deutete auf einen Punkt. "Hier ist unsere Wohnung."
"Okay... Dann laß mich mal sehen. Das Industriegebiet ist wie ein Quadrat. Der Baumarkt und die Spedition liegen direkt an der nordöstlichen Ecke, genau an der Hauptstraße. Es wundert mich, daß der Baumarkt noch steht."
"Der ist hin."
Wir sahen auf, als wir Majas Stimme hörten. Todmüde und erledigt ließ sie sich auf einen Stuhl fallen.
"Die Feuerwehr sagt, die strukturellen Schäden sind so groß, daß er abgerissen werden muß. Aber das geht nicht nur uns so. Das ganze Gebiet ist -" Sie brach ab, als die Tränen aufstiegen. Ich griff schnell nach ihrer Hand und erschrak, als Maja kräftig zudrückte. Sie war fertig.
"Weißt du, was passiert ist?" fragte ich sanft. Sie nickte.
"Ja. Die Spedition hat all ihre Lastwagen von Benzin auf Gas umgestellt. Allerdings nicht offiziell. Die ganze Tankanlage war vom TÜV weder genehmigt noch abgenommen. Irgendein Billigprodukt aus Belgien, wo die Zentrale sitzt. Und genau diese Anlage ist hochgegangen. Zuerst die beiden Tankstellen, und zum Schluß der Haupttank. Die erste Tankstelle lag fast bei uns unter dem Fenster. Nach dem, was ich als Laie verstanden habe, hatten die je einen kleinen Tank für die Zapfsäulen, und dann den dicken, der hier die Straße verwüstet hat. Alle miteinander verbunden." Sie stand abrupt auf. "Ich brauch einen Kaffee."
"Bleib sitzen, ich -"
"Nein." Sie lächelte traurig. "Ich muß was tun. Was ich gesehen hab..." Sie schüttelte den Kopf. "Bin gleich zurück."
Angie und schauten uns bedrückt an, dann sahen wir wieder auf den Plan.
"Wo wohnt ihr genau?"
"Da." Angie deutete auf einen kleinen Block. "Ganz rechts in dem Haus."
Das war fast direkt im Osten des Baumarktes, etwa einen Kilometer entfernt.
Ich überlegte.
Wir waren ebenfalls gut einen Kilometer von dem Baumarkt weg. Etwas mehr vielleicht, aber nicht viel. Die Hauptstraße, die an meinem Geschäft vorbei führte, verlief bis zum Industriegebiet schnurgerade, von Norden nach Süden. Baumarkt, Angies Wohnung und der Laden hier bildeten ein fast rechtwinkliges, gleichschenkliges Dreieck.
"Euer Block", überlegte ich laut, "besteht aus drei Häusern. Richtig?"
"Vier."
"Und ihr wohnt ganz rechts. Dann schätze ich, daß ihr kaum was abbekommen habt, Angie. Die drei Häuser vor euch dürften den Großteil der Druckwelle aufgefangen haben."
"Wär schön", sagte sie leise. "Ich wohn nämlich gern da."
"Dann fahren wir gleich hin und schauen nach. Erst mal müssen wir deine Mutter aufbauen."
Die kam in diesem Moment zurück, mit einem Becher Kaffee. Sie sah wieder gefaßt aus.
"Und?" meinte sie zu Angie. "Wo zieht ihr zwei hin?"
Angie errötete. "Nirgendwo hin. Wir haben nur geguckt, ob unser Haus was abgekriegt hat."
"Hat es nicht. Schon nachgeschaut. Das erste sieht ganz übel aus, das zweite nicht mehr so schlimm, im dritten sind nur drei oder vier Fenster hin, und das vierte - also unseres - ist gänzlich unversehrt." Sie sah für einen Moment auf die Straße, während sie von ihrem Kaffee nippte, und schüttelte dann den Kopf, als wollte sie irgend welche Gedanken vertreiben.
"Den Senior hat's richtig erwischt", sagte sie leise. "Beide Arme, ein Bein und mehrere Rippen gebrochen. Und natürlich haufenweise Prellungen und kleine Wunden. Aber nichts Lebensgefährliches. Der Junior hat's besser überstanden, er hat sich nur den linken Unterarm verstaucht, aber dafür mehr und größere Wunden. Der ist jetzt auch im Krankenhaus."
"Damit bleibt alles an dir hängen."
Sie nickte matt. "Genau. Das Wichtigste habe ich schon hinter mir."
"Was?" scherzte ich. "Deine Kündigung geschrieben?"
"Nein. Unseren Anwalt informiert und die Spedition verklagt. Ich habe keine Ahnung, ob noch jemand von den Verantwortlichen lebt, aber wenn, wird der sein Leben lang nicht mehr glücklich." Sie unterdrückte die Wut, die aufstieg, und lächelte Angie an.
"Du bist wieder fit?"
"Ja, Mami."
"Prima. Angie, du hast mein Leben gerettet, auch wenn ich immer noch nicht weiß, was da genau passiert ist. Dafür schulde ich dir jede Menge."
"Unsinn!" Angie wurde feuerrot. "Hab ich doch gern gemacht. Würde ich auch wieder tun."
"Komm her, kleine Maus." Sie drückte Angie herzlich. "Danke, mein großes Töchterchen."
Angie schmiegte sich an sie und streckte ihre Hand nach mir aus. Ich nahm sie und drückte sie zärtlich.
"Wie geht es jetzt weiter?" fragte ich, als die beiden sich voneinander getrennt hatten. Maja sah sich um und lächelte schief.
"Auf keinen Fall so schnell wie hier. Ich muß mich ab morgen darum kümmern, daß die einsturzgefährdeten Wände abgestützt werden, damit wir die ganzen Waren in ein Lager bringen können, das ich aber auch noch organisieren muß. Da wir das Gelände damals gekauft haben, reißen wir den Bau ab und stellen einen neuen hin. Das wird ein paar Tage dauern."
"Wie sieht es mit euren Gehältern aus? Werden die weiter gezahlt?"
"Keine Ahnung, Tom. Ehrlich nicht. Ich wollte dem Junior nicht mit Geldfragen auf die Nerven fallen. Er macht sich schon genug Sorgen um seinen Vater. Wir werden sehen. Aber da wir zu einer großen Kette gehören, wird sich schon irgend etwas finden." Sie lächelte schelmisch. "Wenn nicht, zieht Angie zu dir, und ich lebe unter der nächsten Brücke."
"Mama!" Angie wurde flammend rot. "Wir bleiben zusammen!"
"War ein Witz, kleine Maus. Aber jetzt siehst du, warum ich immer sage, daß wir Geld auf dem Sparbuch haben müssen. Wenn wir nichts gespart hätten, müßte ich mir jetzt große Sorgen machen, aber so kommen wir notfalls auch ohne Gehalt ein halbes Jahr über die Runden."
Angie nickte. "Hast mich überzeugt."
"Prima. Ziel erreicht. Wenn du fertig bist, gehen wir deine Anlage kaufen, kleine Maus. Oder will Tom mitkommen?"
"Nein." Angie grinste ihre Mutter an. "Ich hab ihn überredet, daß er mitkommt."
"Mußtest du ihn lange überreden?"
"Nein, wieso?"
"Nur so." Sie zwinkerte ihrer Tochter zu und sah zu mir. "Wollen wir?"
Auf dem Weg hinaus fragte Maja, wie es den fünf Leuten vom Morgen ginge.
"Gut soweit. Wieder erholt; das Aufräumen hat den leichten Schock abgebaut."
"Und Tom hat jedem von ihnen noch hundert Mark gegeben, weil sie so toll geholfen haben!" sagte Angie aufgeregt. "Die haben sich gefreut!"
"Kann ich mir vorstellen. Was hast du bekommen?"
Angie senkte den Blick. "Ich wollte nichts."
Maja sah mich fragend an.
"Ich hab ihr nichts angeboten", meinte ich trocken. "Nicht eine Mark."
Maja setzte zu einer scharfen Antwort an, verschluckte sie jedoch im gleichen Moment wieder. Sie blickte mir tief in die Augen, sah dann zu Angie, die den Kopf gesenkt hielt, und wieder zu mir zurück. Plötzlich blitzte es in ihren Augen auf. Ich nickte lächelnd. Maja verstand und grinste ganz kurz und begeistert.
"Na ja", sagte sie dann zu Angie. "Bisher haben wir es ja auch alleine geschafft, Angie. Du kannst dir immerhin sagen, daß du sechs Leute verarztet hast. Das ist mit Geld gar nicht aufzuwiegen."
"So sehe ich das auch", grinste ich. "Deswegen hat sie ja auch kein Geld von mir bekommen."
Angie schwieg, doch ich spürte, daß meine Worte ihr sehr weh taten.
Aber die Überraschung, die ich für sie geplant hatte, würde das doppelt und dreifach wieder wettmachen. Da war ich mir ganz sicher.
Wir gingen um das Gebäude herum auf den Parkplatz. Ich sah auf einen Blick, daß mein Wagen auch einiges abbekommen hatte, aber das waren nur Lackschäden. Das konnte bis morgen warten.
"Wo fahrt ihr hin?" fragte ich Maja.
"Nach dem Fiasko mit der letzten Anlage würde ich sagen, zu Saturn. Das ist zwar in der Nordstadt, aber die haben auch die größte Auswahl. Angie, du fährst mit mir."
Angie nickte schweigend und stieg im Auto ihrer Mutter ein, einem BMW 328i.
"Netter Flitzer", meinte ich anerkennend. Maja grinste.
"Ja, ganz passend für die Stadt. Deiner sieht aber auch nicht gerade lahm aus."
"Ach, der tut nur so." Ich schloß meinen Mazda MX6 auf. "Du fährst vor?"
"Okay."

Auf der Fahrt sah ich, wie Maja häufig mit Angie redete, doch Angie schüttelte jedesmal nur den Kopf und blickte aus ihrem Fenster. Nach zwanzig Minuten standen unsere Autos nebeneinander auf dem Parkplatz. Angie - das sah ich sofort, als wir ausgestiegen waren - hatte nicht mehr die geringste Lust, sich ihre Anlage, auf die sie sich so gefreut hatte, zu kaufen.
Ich konnte sie nicht länger zappeln lassen.
Ich ging auf sie zu und nahm sie in den Arm. Sie rührte sich keinen Millimeter.
"Paß auf, kleiner Engel", sagte ich leise. "Deine Mutti tut dir etwas Geld dazu. Das, was du dann hast, verdoppele ich. Als herzliches Dankeschön für deine unbezahlbare Hilfe."
Ihr Kopf fuhr hoch, ihre Augen starrten mich ungläubig an.
"Was machst du?"
"Das Geld, was du mit deinem und dem von deiner Mutter hast, verdoppeln. Jetzt geh dir deine Anlage kaufen. Eine wirklich gute."
"Tom!" Sie warf ihre Arme um meinen Hals und drückte mir glatt die Luft ab. "Hast du das alles so geplant?"
"Ja, kleiner Engel." Ich drückte sie zärtlich an mich. "Ich wußte nicht, daß es dir so zu Herzen geht, aber ich wollte die Überraschung auch nicht vorher kaputt machen."
"Du verdoppelst!" Sie starrte mich überglücklich an. "Mami, was legst du dazu?"
"280 Mark, damit du genau 1 000 hast." Maja kam zu uns. "Plus zehn CDs nach deiner Wahl, einem Walkman für den Schulweg und zwanzig Leerkassetten. Das hatte ich auch so geplant. Als dicke Entschuldigung, daß du dich zwei Jahre mit dieser Quäke rumärgern mußtest."
"Mami!" Angie fiel fast aus allen Wolken. Sie drückte uns abwechselnd und dann wieder gleichzeitig, weinte und lachte vor Glück und kriegte sich gar nicht wieder ein.
"Eine Anlage! Und zehn CDs und Walkman und verdoppelt und Kassetten! Ist das geil!"
Sie war total aus dem Häuschen. Sie brauchte drei Taschentücher, bis sie sich endlich wieder im Griff hatte. Völlig aufgedreht quetschte sie sich zwischen Maja und mich, legte uns ihre Arme um die Taillen und schob uns kräftig in Richtung Eingang.

 

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