|
Die Rückwand kam nach vorne und fiel erst gegen Anne, dann polternd auf den Boden.
Die sechs Menschen starrten entsetzt auf den leblosen Körper des vermißten Mädchens, der in einem Hohlraum von etwa fünfzig Zentimeter Tiefe und einen Meter Breite untergebracht war. Eine Ratte saß auf ihrem nackten Oberkörper und nagte an dem Fleisch der linken Brust.
Annes Mütter wandte sich schnell ab und übergab sich geräuschvoll.
Der Arzt sprang förmlich in den Schrank und zog Anne heraus.
"Ich brauche einen Notarzt!", bellte er, während er die Ratte mit der Faust beiseite schlug. Das Tier klatschte quiekend an die Mauer dahinter. "Voll ausgerüstet, und einen Krankenwagen mit Reanimation!"
Ein Polizist zog das Funkgerät und setzte sich mit seiner Zentrale in Verbindung. Der Arzt hob das nur mit einer Unterhose bekleidete Mädchen heraus und legte es vorsichtig auf den Boden.
"Sie lebt", sagte er nach einem kurzen Check. "Aber sie wird sterben, wenn -"
"Notarzt kommt", beruhigte ihn der Polizist. "Tun Sie Ihr Möglichstes."
"Ich brauche meine Tasche."
Annes Vater lief los, gemeinsam mit einem der Polizisten. Anne faltete die Hände und betete für das Mädchen.
Drei Minuten später versperrten der Wagen des Notarztes und ein Krankenwagen die Straße vollständig. Der Notarzt flog die Treppe hinauf und stürmte in das Zimmer. Die beiden Ärzte wechselten schnell ein paar Fachausdrücke, die außer ihnen keiner im Zimmer verstand, dann übernahm der Notarzt. Er legte dem bewußtlosen Mädchen eine Sauerstoffmaske an, bevor er eine Spritze setzte und die Nadel mit einem dünnen Schlauch verband, der aus einer kleinen Flasche kam. Er sah sich kurz suchend um.
"Ich halte schon." Anne sprang zu ihm und nahm ihm vorsichtig die Flasche ab. "Was ist mir ihr?"
Der Arzt kümmerte sich nicht um Anne, sondern säuberte die fast drei Zentimeter große Fleischwunde an ihrer linken Brust, desinfizierte sie und legte dann einen Verband an. Anschließend sah er zu Anne.
"Du hast sie gefunden?" Anne nickte. Der Arzt lächelte knapp. "Gut gemacht. Fünf Minuten später wäre sie tot gewesen. Die Ratte hatte sich schon fast bis zum Herz durch genagt. Durch die Rippen hindurch. Sie hat sehr viel Blut verloren, aber jetzt wird sie es schaffen. Dank dir."
Anne schossen vor Erleichterung die Tränen in die Augen. Sie kniete sich neben das bewußtlose Mädchen, hielt die Flasche hoch und weinte vor Freude.
Kapitel 5
Eine halbe Stunde später war der Kreislauf des noch immer bewußtlosen Mädchens so stabil, daß sie transportiert werden konnte. Zwei Sanitäter trugen die Bahre, auf der das Mädchen lag, mit äußerster Vorsicht nach unten, luden sie in den Krankenwagen und fuhren mit vollem Christbaumschmuck ab, wie der Notarzt es angeordnet hatte: Blaulicht und Martinshorn. Die beiden Polizisten nahmen Annes Aussage zu Protokoll und gaben dann nach einer Beschreibung, die Annes Vater von dem Nachbar lieferte, eine Fahndung nach dem Mieter der Wohnung auf. Den Namen hatten sie bereits. Der stand deutlich auf der Klingel.
Danach beruhigte sich alles. Der Arzt, den Annes Eltern gerufen hatten, ging noch mit ihnen in ihre Wohnung, wo er Anne ein Beruhigungsmittel verabreichte. Sie schluckte die Kapsel gehorsam, während der Arzt sie musterte.
"Ich muß mich wohl bei Ihnen entschuldigen", sagte er dann mit einer Spur Galgenhumor. "Sie haben das Mädchen wirklich gesehen?"
"Verzeihung." Annes Vater mischte sich ein. "Ich würde die Geschichte gerne von Anfang an hören."
"Sie wird dir nicht gefallen", meinte Anne leise.
"Versuch es einfach."
Einige Minuten später nickte er. "Du hast recht. Das gefällt mir ganz und gar nicht, Anne. Du hast mich tatsächlich verdächtigt, etwas mit dem Verschwinden dieses Mädchens zu tun zu haben?"
"Sie hat doch auf dich gezeigt!", verteidigte Anne sich. "Was sollte ich denn da denken?"
Ihr Vater stieß den Atem aus und wandte sich zornig ab. Annes Mutter schwankte zwischen Vorwurf und Verständnislosigkeit.
"So, wie ich die Sache sehe", meinte der Arzt ruhig, "scheint Anne über eine gewisse Hellsicht zu verfügen. Auch das ist in ihrem Alter nicht ungewöhnlich. Sehr ungewöhnlich ist allerdings die Intensität. Aber dazu gleich. Ihre Tochter hatte wirklich keine Möglichkeit, etwas anderes anzunehmen, Herr Bergmann. Jetzt, im Nachhinein, wissen wir, daß Sie durch Ihren Zusammenstoß mit Ihrem Nachbarn der Schlüssel waren. Sie hatten offenbar als einziger gesehen, daß er flüchtete, auch wenn es für Sie so aussah, als würde er in Urlaub fahren. Woher das Mädchen allerdings wußte, daß Sie ihn gesehen haben, wird wohl vorläufig ein Rätsel bleiben. Genau wie die Frage, warum sie nicht gleich auf das Zimmer über dem von Anne gedeutet hat. Anne konnte wirklich nichts anderes annehmen."
Die ruhige Stimme verfehlte nicht ihre Wirkung. Annes Vater nickte. Zwar noch immer etwas aufgebracht, jedoch schon viel ruhiger als noch vor einigen Sekunden. Der Arzt wandte sich an Anne.
"Sie haben das Mädchen richtig gesehen und gehört?"
"So deutlich, als stünde sie vor mir", antwortete Anne leise und schüttelte sich leicht. "Ich habe alles gesehen. Die strähnigen Haare, das Blut an der Unterhose, den tiefen Kratzer an der Wange... Nur die - die Wunde an ihrer Brust war sehr viel größer. Da war überhaupt keine -" Sie brach ab, als ihre Stimme versagte. Der Arzt wackelte nachdenklich mit dem Kopf; ihre Eltern hörten fassungslos zu.
"Das ist wirklich ungewöhnlich", sagte der Arzt wie zu sich selbst. "Visuelle und auditive Erscheinungen, die dazu noch vollkommen der Wirklichkeit entsprechen... Das kommt nicht sehr oft vor. Ich habe zwar davon gehört, jedoch noch nicht selbst erlebt. Na gut!" Er sah Anne direkt in die Augen.
"Sie bleiben morgen zu Hause. Ich schreibe Ihnen ein Attest. Übermorgen -"
"Ich muß morgen in die Schule!", widersprach Anne, jedoch nicht so energisch, wie sie es wollte. Das Beruhigungsmittel begann bereits zu wirken. "Ich habe einen wichtigen Test in Biologie!"
"Ihre Biologie ist im Moment wichtiger", beharrte der Arzt. "Seien Sie vernünftig, Fräulein Bergmann. Sie haben seit gestern viele Dinge erlebt, die selbst die Nerven von weitaus älteren Menschen über Gebühr beansprucht hätten. Bleiben Sie zu Hause und ruhen Sie sich aus. Einen freien Tag haben Sie sich mehr als verdient." Er packte seine Sachen zusammen, schrieb das Attest aus und wandte sich dann an Annes Vater.
"Seien Sie nachsichtig mit Ihrer Tochter, Herr Bergmann. Es ist am Ende schließlich alles gut ausgegangen. Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen die Adresse eines sehr guten und erfahrenen Psychologen geben, der sich mit diesen Talenten bei Jugendlichen beschäftigt. Er -"
"Danke, das ist nicht nötig." Die Stimme von Annes Vater war sehr unterkühlt. "Den Rest klären wir alleine. Vielen Dank für Ihre Hilfe."
Der Arzt verstand. Er drückte Annes Mutter das Attest in die Hand, lächelte Anne noch ein Mal aufmunternd zu und ging dann hinaus. Während Annes Mutter ihn begleitete, fühlte Anne sich unter den kalten Blicken ihres Vaters mit jeder Sekunde unwohler. Erst als er die Wohnungstür zufallen hörte, sprach er.
"Was ist bloß in dich gefahren?", schnauzte er Anne an, die vor seiner Wut zurück zuckte. "Ist dir eigentlich klar, was du hättest anrichten können? Wie um alles in der Welt kannst du mich mit der Entführung eines Kindes in Verbindung bringen?"
"Ich habe -"
"Sei bloß ruhig!" Er trat einen Schritt auf sie zu. Instinktiv wickelte sich Anne in das Oberbett und rutschte an die Wand. "Wir haben verfluchtes Glück gehabt, daß der Arzt dein Schauermärchen geglaubt hat. Weißt du eigentlich, was passiert wäre, wenn davon ein Wort nach draußen gedrungen wäre? Ich hätte meinen Job verlieren können!" Er wurde immer lauter und wütender. Anne wich so weit zurück an die Wand, wie sie konnte. Ihr Herz raste vor Angst. So zornig hatte sie ihren Vater noch nie erlebt.
"Was hast du dir eigentlich vorgestellt? Daß ich das Mädchen entführt habe? Hast du aber mal darüber nachgedacht, warum ich so etwas Verrücktes machen sollte? Was zur Hölle passiert bei dir im Kopf? Was siehst du noch außer Gespenstern? Tanzende Dämonen?" Er wandte sich vor Wut schnaubend ab und sah zu Annes Mutter, die der ganzen Szene mit wachsender Besorgnis zugesehen hatte.
"Sie hat Hausarrest", ordnete er an. "Bis auf Widerruf."
In diesem Moment erwachte etwas in Anne. Etwas Neues, Starkes. Das Wort "Hausarrest" hatte es ausgelöst. Sie hatte vor, sich morgen mit Tanja und Sybille zu treffen und ins Kino zu gehen, und der Gedanke an die Entschuldigung: "Ich kann nicht, ich hab Hausarrest" löste dieses Neue aus. Sie spürte es innerhalb von Bruchteilen von Sekunden wachsen und wurde von der Kraft in ihr beinahe hinweg gespült.
"Nein." Ihre Stimme war fest, als sie sich aufsetzte. Unter den verblüfften Augen ihrer Eltern schlug sie das Oberbett zurück und stand auf.
"Was, nein?", fragte ihr Vater viel zu ruhig.
"Ich werde nicht im Haus bleiben." Sie ging auf ihn zu und blieb zwei Schritte vor ihm stehen. Sie wußte es nicht, doch ihre blauen Augen strahlten ein Feuer aus, das ihren Eltern Angst machte.
"Ich will morgen mit meinen neuen Freundinnen ins Kino", sagte sie entschlossen. "In die Nachmittagsvorstellung. Und da werden wir auch hin gehen."
Die Wut ihres Vaters siegte über seine Angst vor Annes intensiven Augen.
"Nein!", brüllte er sie an. "Du bleibst im Haus!"
Anne schüttelte den Kopf. Ihr Blick bohrte sich in die Augen ihres Vaters. Sie fühlte es in sich. Es erblühte zur vollen Kraft.
"Anne!" Ihre Mutter schlug entsetzt die Hände vor den Mund. "Deine Augen!"
Auch ihr Vater sah es. Er wich zurück, die Hände so ausgestreckt wie Anne bei dem Mädchen, das ihr erschienen war. Die instinktive Abwehr von etwas, was über das Verständnis hinaus ging. Anne ignorierte es.
"Hast du auch nur eine Sekunde an das Mädchen gedacht?", fragte sie ihn beherrscht. "Hast du dir mal vorgestellt, wie es sein muß, von einer Ratte angefressen zu werden und zu wissen, daß du stirbst? Im Alter von zwölf Jahren? Ist dir dein Beruf wichtiger als das Leben eines Menschen? Kannst du dir überhaupt vorstellen, was das arme Mädchen durch machen mußte? Sie war drei volle Tage in diesem Loch eingesperrt, und alles, worum du dir Gedanken machst, ist dein erbärmlicher Job! Du -"
Eine schallende Ohrfeige traf Anne und riß sie von den Füßen. Geschockt preßte Anne ihre linke Hand an die schmerzende Wange und starrte ihren Vater ungläubig an.
"Mein erbärmlicher Job", zischte er, "hat dafür gesorgt, daß wir ein Dach über dem Kopf haben. Daß wir Essen haben. Daß du zur Schule gehen kannst. Sag noch ein Wort, und ich vergesse mich." Er drehte sich um und stapfte hinaus.
Erst jetzt setzte sich Annes Mutter in Bewegung. Sie ließ sich neben ihrer Tochter nieder, die auf dem Boden saß.
"Was ist mit dir los, Kind?", fragte sie hörbar besorgt. "Was ist bloß mit dir los?"
Das Neue, Starke, Kraftvolle verebbte und verschwand. Zurück blieb ein verstörtes, 14-jähriges Mädchen, das nicht mehr wußte, wer oder was sie war.
"Ich weiß es nicht!" Aufschluchzend warf sie sich an ihre Mutter und klammerte sich weinend an sie.
Und daß sie bei ihrer Mutter Angst vor der eigenen Tochter spürte, erstaunte sie nicht einmal.
* * *
In dieser Nacht lag Anne noch lange wach. Sie fand keinen Schlaf. Immer wieder sah sie das Bild des Mädchens im Schrank vor ihren Augen, die Ratte, den Arzt, ihren Vater. Die Bilder formten sich zu einer Reihe von Schrecken, die Anne nicht zur Ruhe kommen ließen.
Gegen halb eins stand sie entnervt auf. Sie setzte sich an ihren Tisch und versuchte, noch etwas zu lernen, doch ihr Kopf weigerte sich, auch nur ein einziges Wort aufzunehmen. Schließlich klappte sie die Bücher zu. Es hatte keinen Sinn.
Sie zog sich ihren Bademantel an, ging zum Fenster, zog die Vorhänge auf und öffnete das Fenster weit. In einigen Wohnungen auf der anderen Straßenseite war noch Licht zu sehen. Anne entdeckte durch die Fenster Menschen, die beisammen saßen; Menschen, die sich unterhielten; Menschen, die sich küßten. Sie lächelte wehmütig, während sie das Pärchen beobachtete. Sie wäre jetzt gerne bei Tanja und Sybille gewesen, um mit ihnen zu reden. Mit ihnen zu schmusen. Statt dessen hatte sie einen Abend hinter sich, den sie ihrem schlimmsten Feind nicht wünschte. Ihr Vater hatte sie vollkommen geschnitten und kein einziges Wort mit ihr gewechselt; ihre Mutter war ihr aus dem Weg gegangen. Warum, wußte Anne, als hätte sie es ihr gesagt.
Anne schauderte unter der Kälte, die durch das Fenster kam, und schloß es schnell wieder. Seufzend setzte sie sich auf ihr Bett und schaute sich um, ohne etwas zu sehen.
Was war das in ihr, das nach draußen wollte? Was war das, wovor ihre Eltern Angst hatten? Warum tauchte das immer dann auf, wenn sie es nicht wollte, und nicht dann, wenn sie es wollte? Welchen Weg gab es zu dieser merkwürdigen Kraft in ihr?
"Aber will ich das überhaupt?", flüsterte sie vor sich hin.
Gedankenverloren schaute sie auf den Teppich, während ein Teil von ihr sich bemühte, dieses - Ding in ihr zu fassen.
Doch erfolglos. Was immer da war, es entzog sich ihrem Bewußtsein.
Mit einem Murren zog sich Anne den Bademantel aus, warf ihn auf den Boden und ließ sich in ihr Bett fallen. Sie verschränkte die Arme hinter dem Kopf und dachte an ihren Vater. Er hatte sie niemals zuvor geschlagen; zumindest konnte Anne sich nicht daran erinnern. Sie verstand einfach nicht, daß ihm sein Beruf wichtiger sein konnte als ein sterbendes Mädchen. Was war da los? Oder verstand sie es nicht, weil sie erst 14 war?
Dann die Spannung am Sonntag Abend. Sie war da gewesen, das konnte Anne beschwören. Jedoch nicht, woher sie gekommen war. Tanjas Erklärung glaubte sie nicht so recht. Sie knurrte unzufrieden.
"Kann ich mal bitte Ruhe im Kopf haben?", maulte sie. "Ich hab morgen einen wichtigen Test in Bio. Ich würde gerne schlafen."
Plötzlich, ohne jede Vorwarnung, drehte sich alles. Doch nicht um Anne herum. Es drehte sich in ihr. Sie hatte das völlig verrückte Gefühl, daß sich unterhalb ihrer Haut alles bewegte, wie ein irrsinnig schnelles Pendel von rechts nach links und wieder zurück. Vor lauter Angst krallte sie die Finger in das Bettlaken, doch das Drehen wurde immer schlimmer. Annes Atem beschleunigte sich um das Doppelte.
Dann gab es einen Ruck.
Im nächsten Moment starrte Anne fassungslos auf ihren Körper, der knapp einen Meter unter ihr war.
'Ich bin tot!', fuhr ihr als erstes durch den Kopf. Doch im gleichen Moment wußte sie, daß sie nicht tot war. Ganz im Gegenteil. Ihr Herz schlug kräftig und ruhig, selbst dann, als Anne feststellte, daß sie waagerecht in der Luft lag und schwebte.
Sie wollte schlucken, weil sie das Gefühl hatte, daß ihr Mund trocken war, doch es ging nicht. Irgendwie hatte sie das Körperliche hinter - nein, unter sich gelassen.
'Was kommt jetzt?', dachte sie mit Galgenhumor. Kaum gedacht, richtete sie sich auf. Wie von Geisterhand gezogen schwebte sie auf die Tür ihres Zimmers zu. Sie streckte die Hände aus, um sich abzufangen, doch ihre Hände und Arme gingen ohne jeglichen Widerstand durch das Holz. Im nächsten Augenblick fand sie sich in der Diele wieder. Anne sah sich verwirrt um, während sie auf das Schlafzimmer ihrer Eltern zu schwebte. Sekunden später war sie in dem Zimmer. Ihre Eltern waren noch wach. Anne dachte, daß sie jeden Augenblick auf sie aufmerksam werden müßten, doch ihre Eltern sahen sie nicht.
Sie redeten vielmehr leise, doch unverkennbar ernst miteinander.
"Sie ist verrückt!", hörte sie ihren Vater sagen. "Marie, hast du das nicht mitbekommen? Der Arzt sagte, daß dieses Mädchen völlig ausgehungert und dehydriert war. Außerdem war sie bewußtlos. Schon sehr lange. Wie kann Anne sie dann schreien gehört haben?"
"Sie hat ja auch nicht geschrien", erwiderte die Mutter leise. "Anne hat ihre - was auch immer gesehen."
"Und du glaubst das." Ihr Vater schüttelte den Kopf. "Ein fast totes Mädchen spukt im Haus herum und ruft als Geist um Hilfe. Tut mir leid, aber das gibt es nicht. Darum geht es aber gar nicht. Du hast doch auch vorhin ihre Augen gesehen. Willst du mir allen Ernstes sagen, daß das die Augen eines geistig gesunden Mädchens waren?"
"Wir wissen nicht genau, was mit ihr los ist, Erwin." Anne spürte Hilflosigkeit und Angst in ihrer Mutter. Etwas war im Gange. Etwas, was sie betraf. Gebannt hörte sie weiter zu. "Du hast den Arzt gehört. Diese Fähigkeiten sind etwas, was in ihrem Alter häufig vorkommt."
"Hellsehen!" Ihr Vater schnaubte verächtlich. "Du glaubst diesen Kinderkram doch nicht etwa, oder? Deine Tochter hat ganz entschieden einen gewaltigen Hau."
Natürlich, dachte Anne zynisch. Kaum geht was schief, bin ich die Tochter von dem oder der. Doch der nächste Satz ihrer Mutter warf sie fast um.
"Du hast damals versprochen, für sie zu sorgen, Erwin. Nein, du hast es sogar geschworen! Erinnerst du dich? Als dein Bruder im Sterben lag? Du hast ihm geschworen, Anne als dein Kind anzunehmen. Sie ist jetzt mitten in der Pubertät, und du wirst das mit ihr durch stehen, wie du es deinem sterbenden Bruder versprochen hast."
"Ja, und er ist seit dreizehn Jahren tot. Dreizehn Jahre ein Kind groß gezogen, das sich jetzt als Verrückte entpuppt." Ihr - Nein. Nicht ihr Vater, erkannte Anne mit einem kühl überlegenden Teil, während ein anderer Teil versuchte, das Gehörte zu verarbeiten. Ihr Stiefvater - Adoptivvater - Onkel - oder was er auch immer war, drehte sich zu ihrer Mutter herum.
"Sie ist verrückt, Marie. Ganz eindeutig. Ihre Augen wurden schwarz! Pechschwarz! Als würde die Pupille alles andere verschlucken. Sie ist nicht mehr normal, und alles andere ist auch nicht mehr normal. Herum spukende Kinder. Geister, die auf mich zeigen."
"Du hättest sie nicht schlagen dürfen", flüsterte ihre Mutter. "Sie war mindestens so verstört wie du. Es ging auch über ihre Kraft, Erwin."
"Ach ja? Warum muß immer ich klein bei geben? Warum nicht ein Mal sie?"
"Weil du erwachsen bist."
"Ja, und sie wird erwachsen. Behauptet sie zumindest. Verflucht noch eins! Sie hätte mich um meinen Job bringen können!"
"Das hat sie aber nicht. Sie -"
"Es war nicht weit davon entfernt." Ihr Adoptivvater - Anne hatte sich blitzschnell entschlossen, ihn so zu nennen - setzte sich auf. "Die beiden Bullen waren doch ganz scharf darauf, jemanden zu verhaften. Wenn dieses Blag nicht so durch gedreht hätte und quer durch das ganze Haus gerast wäre... Wer weiß! Vielleicht hätten die mich verhaftet. Einfach so. Und dann? Wenn das in der Firma bekannt geworden wäre..." Er schüttelte den Kopf.
"Sie ist verrückt", wiederholte er eindringlich. "Kein normaler Mensch kann seine Augenfarbe ändern, Marie. Du hast es doch auch gesehen, oder?" Ihre Mutter nickte kaum merklich.
"Also. Bis zum Wochenende will ich nichts mehr davon hören. Ich brauche meine Kraft für die ganzen Konferenzen, die noch anstehen. Am Samstag überlegen wir uns, was wir mit ihr machen."
Ihre Mutter fuhr auf. "Wir werden sie nirgendwo hin bringen!", sagte sie beherrscht. "Du hast deinem Bruder geschworen, dich um sie zu kümmern!"
"Genau das tue ich. Ich sorge dafür, daß sie die beste Pflege bekommt. Mit der Bonuszahlung Anfang Januar kann ich den Rest meiner Schulden bezahlen, und ab dann geht es endlich aufwärts. Nächstes Jahr um diese Zeit sitzen wir in einem schönen Haus anstatt in dieser Bruchbude."
Ihre Mutter schüttelte fassungslos den Kopf. "Du würdest ein Versprechen brechen, daß du einem Sterbenden gegeben hast?"
Ihr Adoptivvater wurde ärgerlich. "Jetzt mach hier kein Theater, ja? Ich habe mich dreizehn Jahre um sie gekümmert. Dreizehn gottverdammte Jahre. Ich habe dreizehn Jahre lang jeden Pfennig gespart, um meine Schulden zurück zu zahlen. Und jetzt, wo gerade die Sonne am Horizont aufgeht, dreht deine Tochter durch und macht alles kaputt. Aber nicht mit mir! Mein Versprechen ging nicht so weit, daß ich für sie den Kopf hin halte. Und für diese völlig aus der Luft gegriffenen Unterstellungen und Verdächtigungen schon mal gar nicht. Gerade wo ich wieder auf die Füße komme, spielt sie verrückt und setzt alles aufs Spiel. Nicht mit mir!" Er legte sich wieder hin.
"Das werde ich nicht zulassen!", flüsterte ihre Mutter.
"Wir werden sehen. Immerhin bin ich ja ihr Vater, nicht wahr? Wir haben da ein paar ganz amtliche Dokumente, die das beweisen. Gute Nacht." Er drehte ihr den Rücken zu.
Im gleichen Moment spürte Anne einen Zug. Sie flog durch den Kleiderschrank ihrer Eltern und die Mauer dahinter in ihr Zimmer zurück und landete mit einem unangenehmen Ruck, der sie zusammen fahren ließ, wieder in ihrem Körper. Sofort raste ihr Herz wie ein auf Vollgas laufender Motor.
"Ich hab geträumt!", flüsterte sie mit zittriger Stimme. "Er hat mich geschlagen, und deswegen hab ich das geträumt. Genau. So war das. Ich hab das alles nur geträumt."
Sie drehte sich auf die Seite und zog Arme und Beine an den Körper.
Kapitel 6
Am nächsten Morgen war Anne todmüde. Selbst eine etwas kühlere Dusche half nicht. Sie wartete, bis ihr Vater aus dem Haus war, und ging erst dann in die Küche. Ihre Mutter sah so aus, wie Anne sich fühlte.
"Morgen, Mami." Gegen ihre sonstige Gewohnheit ging Anne zu ihrer Mutter und drückte sie. Ihre Mutter zog sie auch sofort fest an sich. Die Angst vor Anne war verschwunden.
"Guten Morgen, Kleines. Wie fühlst du dich?"
"Besch...eiden." Anne brachte ein dünnes Lächeln zustande. "Und du?"
"Noch besch....eidener." Sie strich Anne kräftig durch das Haar. "Was macht deine Beule?"
"Tut noch etwas weh, aber nicht schlimm." Sie drückte ihre Mutter noch ein Mal und setzte sich dann hin. "Ich geh gleich zur Schule. Ich muß den Test schreiben, Mami. Ich will auf dem Zeugnis eine Zwei in Bio haben."
Ihre Mutter nickte mit feuchten Augen. "Ist gut. Wann ist der Test?"
"Dritte Stunde." Sie griff nach dem Brotkorb und überlegte kurz, ihre Mutter auf ihren verstorbenen Vater anzusprechen, entschied sich jedoch sofort dagegen. Weder sie selbst noch ihre Mutter waren dafür stark genug. Nicht an diesem Morgen. Das konnte auch noch ein paar Tage warten, auch wenn es Anne auf den Nägeln brannte, mehr darüber zu erfahren.
Doch nicht heute.
"Mami?", fragte sie statt dessen, während sie sich ein Brot machte. "Papa verdient doch richtig gut. Warum wohnen wir dann in dieser kleinen Wohnung?"
Ihre Mutter seufzte stumm und goß sich eine Tasse Kaffee ein.
"Weil er früher mal sehr viel Pech gehabt hat", gestand sie dann. "Trag das bitte nicht bei deinen Freundinnen herum, ja? Er hat sich vor 15 Jahren auf ein sehr riskantes Geschäft eingelassen. Ein so genanntes Warentermingeschäft. Kurz gesagt geht es bei dieser Art Geschäften darum, daß man Geld in eine Ware investiert und darauf spekuliert, daß sie zu dem Termin, an dem sie verkauft werden soll, im Wert gestiegen ist."
"Und das ist sie nicht?"
"Im Gegenteil. Sie ist so gefallen, daß dein Vater fast 200 000 Mark verloren hat. Er mußte seine kleine Wohnung, die er vor unserer Ehe gekauft hat, mit Verlust verkaufen, um wenigstens einen kleinen Teil der Schulden bezahlen zu können, und stottert seitdem den ganzen Rest ab."
Anne nickte verstehend, während sie sich eine Scheibe Wurst auf ihr Brot legte. "Und wann ist das fertig?"
"Im Januar, so Gott will." Ihre Mutter lächelte. "Die ersten fünf Jahre hat er nur die Zinsen für den riesigen Kredit bezahlt. Die letzten zehn Jahre... Du kannst es dir vorstellen. Jeden Pfennig, der nicht dringend gebraucht wurde, hat er in die Rückzahlung gesteckt. Da er dieses Jahr einen großen Bonus heraus gearbeitet hat, der im Januar fällig und ausgezahlt wird, sind dann die Schulden abgehakt."
"Dann wird mir das klar. Und trotzdem hab ich viel Taschengeld bekommen?"
Ihre Mutter griff nach Annes Hand.
"Warum solltest du auch noch darunter leiden, Kleines? Selbst wenn wir dein Taschengeld halbiert hätten, hätte das gerade mal zwei Monate Rückzahlung ausgemacht. Insgesamt gesehen. Das war es nicht wert."
Anne spürte in diesem Augenblick, daß ihre Mutter sie liebte. Wirklich liebte. Sofort wurden ihre Augen feucht.
"Ich liebe dich auch, Mami!", hauchte sie. Ihre Mutter nickte, stutzte dann und lächelte schief.
"Hast du wieder hell gesehen oder wie man das nennt?"
"Nein!" Anne wischte sich lachend die Augen trocken. "Ach, Mami! Ich weiß doch selbst nicht, was in mir ab geht!"
"Wenigstens merkst du noch, daß da was ist." Ihre Mutter lächelte herzlich. "Paß auf dich auf, Anne. Versprichst du mir das?"
"Ja, Mama." Sie sah ihrer Mutter tief in die Augen. "Und ich halte meine Versprechen."
Ihrer Mutter entging der Unterton. "Das weiß ich, Anne. Du hast mich noch nie enttäuscht. Fühlst du dich wirklich fit für die Schule?"
"Nein. Aber ich geh hin. Nach Bio mach ich Schluß und gebe das Attest ab. Die zwei Stunden Deutsch sind halb so wild. Die kann ich schnell nachholen. Kann ich nach der Schule zu Tanja und Sybille?"
Ihre Mutter seufzte stumm. "Nein, Anne. Du hast Hausarrest."
Anne nickte knapp. "Gut. Du hast es mir gesagt."
"Nein, Anne. Diesmal nicht." Ihre Mutter sah sie eindringlich an. "Komm bitte nach der Schule nach Hause und bleib hier. Bitte. Tu in den nächsten Tagen nichts, was deinen Vater aufregen könnte. Halt den Ball ganz flach, ja? Bitte."
Trotz ihrer Müdigkeit spürte Anne diese neue Stärke wieder wachsen. Sie hielt dem Blick ihrer Mutter stand.
"Er ist nicht mein Vater."
Die Augen ihrer Mutter flackerten nur für einen kurzen, kaum meßbaren Moment. Doch dieser Moment reichte Anne. Es war kein Traum gewesen. Was immer auch heute Nacht mit ihr geschehen war, sie war irgendwie im Schlafzimmer ihrer Eltern gewesen und hatte die ganze bittere Wahrheit gehört. Eine Wahrheit, die ihr Leben verändern würde. In welche Richtung auch immer.
"Er ist nicht mein Vater", wiederholte sie, dieses Mal mit zitternder Stimme. "Was ist mit Papa passiert? Woran ist er gestorben?"
Ihre Mutter senkte den Blick.
"Du redest dir da etwas ein, Anne. Du bist wegen der ganzen Aufregung gestern noch durcheinander. Vielleicht solltest du doch besser -"
"Mama! Sag es mir. Bitte. Papa ist gestorben, als ich etwa ein Jahr alt war. Warum? Was hatte er?"
"Mach dich fertig", antwortete ihre Mutter mit brüchiger Stimme. "Sonst kommst du zu spät."
"Mama!" Anne schrie dieses Wort beinahe. "Sag es mir! Was ist mit meinem Vater?"
Ihre Mutter gab auf. Sie warf den Kopf in den Nacken und sah lautlos weinend an die Decke.
"Krebs. Er hatte Krebs, Anne. Einen ganz bösartigen Lungenkrebs. Wir wußten es. Trotzdem wollte ich ein Kind von ihm. Weil ich ihn so sehr liebte. Als ich dann mit dir schwanger war, begann die wirklich kritische Zeit. Ich bin alle zwei Wochen zum Arzt gerannt, um sicher zu gehen, daß du gesund auf die Welt kommen würdest. Dein Vater hat nach deiner Geburt, bei der er übrigens dabei war, ziemlich abgebaut, aber er hatte einen starken Willen. Er blieb so lange am Leben, bis die ersten Untersuchungen gezeigt hatten, daß du kerngesund warst. Doch selbst dann hielt er sich noch aufrecht. Er hat noch gesehen, wie du laufen gelernt hast, und er hat dein erstes Wort gehört." Die Tränen liefen ihr über die Wangen, aber ihre Stimme hielt.
"Dein erstes Wort war -"
"Papa." Auch Anne weinte. Ihre Mutter nickte.
"Ja. Papa. Als er das hörte, war er überglücklich." Sie griff nach einem Taschentuch und trocknete sich die Augen.
"Danach ging es rapide bergab. Innerhalb von zwei Wochen war er am Ende. Er hat mit seinem Bruder geredet, bis der sich einverstanden erklärte, dich zu adoptieren. Und so wurde Onkel Erwin dein Vater."
"Wie hieß mein Papa?", fragte Anne flüsternd.
"Stefan. Stefan Bergmann." Ihre Mutter lachte erleichtert. "Endlich ist es raus. Tut das gut! Woher wußtest du es, Anne?"
Anne seufzte lächelnd. "Das würdest du doch nicht glauben, Mami. Bestimmt nicht. Aber ich bin sehr froh, daß du es mir gesagt hast."
"Ich auch." Sie streckte die Arme aus. Anne sprang auf und lief zu ihr. Die beiden drückten sich einen Moment mit aller Kraft. Dann strich Annes Mutter ihr über die Haare.
"Iß auf, Kleines. Ich fahr dich zur Schule."
"Eine Frage noch. War Papa - mein richtiger Papa ein besserer Vater als - als Onkel Erwin?"
Ihre Mutter sah ihr eine ganze Weile in die Augen, bevor sie schließlich flüsterte: "Dein Vater hat dich über alles geliebt, Anne. Er hätte dir geglaubt und dich nie geschlagen." Sie stieß den Atem aus. "Mach voran."
Anne nickte bewegt. Sie umarmte ihre Mutter ein letztes Mal und mit aller Kraft, wobei sie sich ihr so nah wie noch nie fühlte, und setzte sich dann schnell auf ihren Stuhl, um zu Ende zu essen.
Auf der Fahrt zur Schule stellte Anne halb überrascht und halb erfreut fest, daß diese Stärke in ihr noch immer da war. Sie wußte zwar nicht, was sie damit anfangen sollte, doch es war zumindest besser als dieses ewige und völlig unvorhersehbare Kommen und Gehen. Es war... wie eine Eigenschaft, die ihr noch unvertraut war. Wie damals im Kunstunterricht, als es das erste Mal an Bilder mit Ölfarben ging. Malen konnte sie natürlich, doch mit Öl war es etwas ganz Neues. Die Farben wurden gemischt, nicht aus Plastikschälchen auf den Pinsel gebracht. Sie waren zäher und dichter als Wasserfarben. Sie mußten mit Spiritus entfernt werden anstatt mit Wasser. Anne hatte einige Zeit gebraucht, sich an all diese neuen Dinge zu gewöhnen, doch nach einigen Wochen fühlte sie sich sicher mit den neuen Utensilien.
Genau das gleiche Gefühl hatte sie auch jetzt. Etwas Neues war in ihr, und mit der Zeit würde sie lernen, damit umzugehen. Das glaubte sie nicht nur, das wußte sie.
Vor der Schule vereinbarte Anne noch die Zeit, wann ihre Mutter sie abholen sollte, dann ging sie hinein. Ihr Kopf schmerzte etwas, doch es war zu ertragen. In den ersten beiden Stunden lief sie auf "Sparflamme", nachdem sie den jeweiligen Lehrern das Attest gezeigt und erklärt hatte, daß sie gestern Abend einen kleineren Unfall gehabt hatte. Erst zur dritten Stunde wurde sie hellwach.
Die Aufgaben wurden verteilt und auf Kommando umgedreht. Anne konzentrierte sich. Nicht krampfhaft; eher locker. Doch ihr Bewußtsein war vollständig auf die Aufgaben gerichtet.
Der Test deckte tatsächlich das gesamte Halbjahr ab. Anne löste eine Multiple Choice-Aufgabe nach der anderen. Zuerst die zwanzig Fragen über Pflanzen, dann jeweils fünfzehn über Pilze und Bakterien. Am Ende des Testes, der schon fast einer Klassenarbeit entsprach, fühlte sie sich etwas erschöpft, doch sie hatte das Gefühl, alles richtig gemacht zu haben.
Erleichtert legte sie den Stift zur Seite, ging jede Aufgabe noch ein Mal zur Kontrolle durch und schaute dann auf. Ihr Blick fiel auf die Uhr an ihrem Handgelenk.
Sie erstarrte.
"Was?", flüsterte sie. "Wie spät?"
Eine Gänsehaut zog über ihre Arme. Es waren erst zehn Minuten vergangen.
Fassungslos schaute Anne sich um. Alle in der Klasse waren über ihre Zettel gebeugt und überlegten oder kreuzten an. Die meisten waren erst auf Seite Zwei von insgesamt acht Seiten.
"Ist etwas?"
Anne fuhr zusammen, als die leise Stimme ihres Lehrers neben ihr ertönte. Sie schaute erschrocken auf.
"N- Nein. Ich bin fertig."
Der Lehrer runzelte die Stirn. "Sicher? Kein Blatt übersehen? Alle Aufgaben erledigt?"
Anne blätterte die Seiten durch. "Ja. Alles fertig." Sie legte die Papiere ordentlich aufeinander und gab sie ab. Der Lehrer ging zurück zu seinem Tisch, wobei er sich Annes Lösungen anschaute. Sie beobachtete ihn gespannt. Ihre Augen waren auf seine linke Hand gerichtet, die mit einem roten Stift bewaffnet über den Seiten schwebte.
Doch der Stift senkte sich nicht.
Annes Herz schlug mit jeder Seite, die er umblätterte, schneller, bis er am Ende aufsah und ihr anerkennend in die Augen blickte. Sein rechter Daumen hob sich, dann streckte er kurz den Zeigefinger aus.
"Eins?", wisperte Anne ungläubig. Der Lehrer nickte lächelnd, bevor er ihren Test auf die Seite legte und sich wieder aufmachte, durch die Reihen zu gehen.
"Eins!" Anne ließ sich an die Lehne ihres Stuhls fallen. Sie konnte es nicht glauben. Damit war die Zwei auf dem Halbjahreszeugnis sicher. Bombensicher.
Überglücklich packte sie ihre Sachen, holte das Attest heraus und wartete, bis der Lehrer wieder bei ihr vorbei kam. Sie reichte es ihm mit ein paar geflüsterten Bemerkungen. Als er hörte, daß sie von ihrer Mutter abgeholt werden würde, entließ er sie mit den Worten: "Gut gemacht, Anne. Wirklich gut."
"Danke!" Sie strahlte ihn an, dann winkte sie Bettina zu und lief leise hinaus. Sie glaubte vor Glück zu fliegen. Eine Eins! Sie hatte mit einer Zwei gerechnet, doch eine Eins... Sie konnte ein leises Jauchzen nicht unterdrücken, als sie über die Treppen nach unten lief. Sie stürmte durch die Tür und rannte ausgelassen über den Schulhof. Am Rand zur Straße angekommen machte sie Halt. Ihr Herz hämmerte vor Freude und Aufregung.
"Eine Eins!" Völlig aus dem Häuschen setzte sie sich auf die flache Mauer neben dem Ausgang und wartete aufgeregt auf ihre Mutter, die zwanzig Minuten später eintraf. Noch immer ganz aufgedreht sprang Anne ins Auto und berichtete sofort. Ihre Mutter freute sich unsagbar für sie.
Dennoch erklärte sie Anne, als sie wieder zu Hause waren, daß der Hausarrest nach wie vor galt. Jedoch gestattete sie, daß Anne nach dem Mittagessen Tanja und Sybille zu sich einladen durfte. Das tat Anne dann auch, nachdem sie Bettina angerufen und gefragt hatte, was sie in Deutsch verpaßt hatte.
Tanja und Sybille sagten sofort zu und trafen gegen halb vier ein. Die Schwestern begrüßten Annes Mutter und zogen sich dann mit Anne in deren Zimmer zurück, wo Anne sich gleich alles von der Seele redete, was in den letzten Tagen passiert war. Sehr zu ihrem Kummer reagierten die beiden jedoch nicht darauf.
"Du siehst, daß alles einen Sinn hat", meinte Tanja nur mit einem hintergründigen Lächeln. Sybille nickte zustimmend, dann war das Thema vom Tisch.
Und Anne war recht verstimmt. Immerhin hatte sie gehofft, Anhaltspunkte zu bekommen. Hilfe. Hinweise. Ratschläge. Doch nun war sie so schlau wie zuvor.
"Nein", widersprach Tanja ernst. "Du weißt heute schon mehr als gestern, und gestern wußtest du mehr als vorgestern. So geht das auch weiter. Was wird jetzt mit deinem - Adoptivvater?"
Anne zuckte mit den Schultern.
"Keine Ahnung. Erst mal so weiter laufen lassen wie bisher." Sie sah Tanja etwas verärgert an. "Ich dachte wirklich, du könntest mir helfen, Tanja. In den letzten drei Tagen habe ich Geister gesehen, bin irgendwie aus meinem Körper gehüpft und in der Wohnung herum gespukt, und dann heute in der Schule... Ich war total weg! Ich hab eine Aufgabe nach der anderen gelöst und gar nicht gemerkt, daß ich irrsinnig schnell war. Dann noch dieses neue Gefühl in mir... Warum willst du mir nicht helfen?"
"Weil es dein Weg ist, Anne!", erwiderte Tanja sehr ernst. "Nur du kannst ihn gehen, und nur du kennst dich am besten. Wenn ich dir etwas sage, kann das völlig falsch sein. Du wirst es lernen, Anne. Ganz bestimmt. In dir wächst etwas, und du wächst mit. Glaube daran."
Das half Anne jedoch auch nicht.
Die beiden Mädchen gingen um neun Uhr nach Hause; mehr aus Vorsicht wegen Annes Eltern als aus Müdigkeit. Denn Annes Eltern konnten auf die Idee kommen, Tanjas und Sybilles Eltern anzurufen, um ihnen zu sagen, daß ihre Töchter bei Anne waren. Was das geben würde, konnten sich alle an einem Finger ausrechnen.
Anne ging direkt danach ins Bett. Sie war immer noch etwas verstimmt, und sie fühlte sich nach dem gestrigen Abend todmüde und ausgelaugt. Sie war so müde, daß sie nicht mal ihren Eltern Gute Nacht sagte. Sie legte sich hin, schaltete das Licht aus und schlief im gleichen Moment ein.
Mitten in der Nacht wurde sie wach, weil etwas in ihrem Zimmer war. Sie fuhr auf und sah - das Mädchen vom Montag Abend. Diese Sabine Karl. Sie trug ein langes Nachthemd. Ihre hellen Haare waren ordentlich. Unter dem Nachthemd sah Anne einen frischen Verband.
Annes Herz schlug schnell, doch es raste nicht mehr vor Angst. Auch an Schrecken konnte man sich gewöhnen.
'Ich habe mich noch gar nicht bei dir bedankt', hörte sie das Mädchen in ihrem Kopf. 'Du hast mein Leben gerettet.'
Anne entspannte sich. "Gern geschehen. Wie geht es dir jetzt?"
'Viel besser.' Sie schritt unhörbar näher und setzte sich zu Anne auf das Bett. 'Der Arzt sagt, ich werde eine Narbe behalten, aber ich lebe. Ohne dich hätte das anders ausgesehen.'
Anne musterte das Mädchen. Sie konnte durch sie hindurch auf ihre Tür sehen. Vorsichtig streckte sie ihre Hand nach dem Mädchen aus und spürte -
- eine Art Energie. Ein sanftes Kribbeln auf der Haut. Schnell zog sie ihre Hand zurück.
"Bist du zu Hause?"
'Nein. Noch im Krankenhaus. Ich schlafe. Wie gestern, als ich bei dir war.'
Anne merkte sich das erst einmal, ohne darüber nach zu denken. "Warum bist du zu mir gekommen, Sabine?", fragte sie leise. "Warum gerade zu mir?"
'Weil du mich sehen konntest.' Sie lächelte traurig. 'Ich war erst bei meinen Eltern. Ich habe sie gerufen. Dann geschrien. Gewunken. Sie haben mich nicht gesehen. Da wußte ich, daß ich tot war. Ich wußte nicht, wo ich hin sollte, und bin zurück zu meinem Körper gegangen. Auf der Treppe habe ich gesehen, wie ein Mann mit dem Mann, der mich entführt hat, zusammen gestoßen ist. Der mit den Koffern hat sich entschuldigt, der andere ist in diese Wohnung gegangen. Dann war ich wieder in meinem Körper. Ich glaube, er hat mich betäubt, denn ich wurde nicht wach.' Sie lachte in Gedanken.
'Kannst du dir das vorstellen? Ich saß neben meinem Körper und wußte nicht, was ich machen soll. Ich wollte nicht weg, aber ich wollte auch nicht da bleiben. Irgendwann wurde ich dann wach. Aber schreien konnte ich nicht. Meine Kehle war total trocken. Und dann kam die Ratte.' Sabine schüttelte sich.
'Ich glaube, da bin ich wieder ohnmächtig geworden. Ich bin ohne meinen Körper durch die Wohnung von dem Mann gelaufen und wußte nicht, was ich machen soll. Ich wollte was trinken, aber meine Hand ging durch den Wasserkran durch. Den Kühlschrank bekam ich auch nicht auf. Das war der Horror.' Anne hörte gebannt zu.
'Aber dann habe ich gemerkt, daß da jemand ist. Ich stand plötzlich hier, in diesem Zimmer. Als ich merkte, daß du Angst vor mir hast, hab ich mich auch erschrocken und war wieder in dem anderen Zimmer. Ich hatte auch Angst. Aber ich wußte da, daß mich jemand sehen kann. Und deswegen bin ich wieder zu dir gekommen.' Sie seufzte leise.
'Aber du hast mich nicht gesehen. Nur manchmal, wenn du ganz ruhig warst. Aber sobald du mich gesehen hast, wurdest du wieder unruhig, und das hat mir auch Angst gemacht. Na ja. Am Ende hat es ja geklappt.' Sie lächelte herzlich.
"Drei Tage." Anne schüttelte den Kopf. "Wie kannst du drei Tage eingesperrt gewesen sein und hast nicht mal versucht, dich zu befreien?"
'Ich dachte, ich war tot. Ich wollte nicht von meinem Körper weg. Und außerdem... Wenn ich mal wach war, dachte ich, das ist auch wieder nur so ein Traum.' Sie zuckte mit den Schultern. 'Ich wußte nicht mehr, was echt und was falsch ist. Ich hab drei Tage nichts gegessen und getrunken. Außerdem bin ich nicht sehr mutig.' Sie verzog das Gesicht. 'Als der Mann mich ins Auto gezerrt hat, hab ich auch nicht geschrien. Ich war nur total steif vor Angst. Ich -' Sie verschwand urplötzlich. Das erschreckte Anne fast noch mehr als ihr Erscheinen.
Verwirrt sank Anne wieder in ihr Bett. Das machte alles keinen Sinn. Diese Sabine wußte also auch nicht genau, warum sie zu ihr gekommen war. Sie hat nur "gemerkt", daß da jemand ist.
Verwirrend.
Laut seufzend rutschte Anne zurecht und schloß die Augen.
Ruhe. Schlafen. Sie lächelte, als die Müdigkeit von ihr Besitz ergriff.
Ruhe.
Plötzlich fuhr sie wieder auf. Ruhe! Sie hatte Sabine gesehen, als sie ruhig war. Sie hatte sich von ihrem Körper gelöst, als sie ruhig war. Sie hatte sich auf die Aufgaben konzentriert, ohne angespannt zu sein. Sie war ruhig gewesen.
"Ist es das?", murmelte sie verblüfft. "Ist das so einfach? Nur ruhig sein?"
Mit einem Griff war das Licht wieder an. Anne sprang auf. Sie lief zu ihrem Tisch, setzte sich hin und atmete tief durch. Sie schob Bücher, Hefte und Stifte mit den Armen beiseite, baute die kleine Figur eines Trolls, mit der sie schon einmal geübt hatte, vor sich auf und sah sie an.
Sie sah sie nur an.
Ihr Atem war noch etwas unruhig, also atmete sie mehrmals tief ein und aus, ohne die Figur aus den Augen zu lassen. Der Troll starrte zurück, mit frech grinsendem Gesicht. Anne lächelte; sanft, einfühlend. Sie fühlte sich in die Figur ein, ohne es zu merken. Sie stellte ein unsichtbares Band her, von ihrem Geist zu dem harten Plastik.
Ihre Gedanken wurden immer langsamer und leiser.
Dann war Stille in ihrem Kopf.
Anne sah, wie der Troll sich bewegte. Sie glaubte, daß er sich bewegte. Sie sah es, und sie glaubte es, auch wenn er noch still stand. In ihrem Kopf fiel er bereits um. Nein, er war bereits umgefallen. Anne sah ihn auf der Seite liegen, auch wenn er noch still stand.
Der Troll fiel mit einem leisen Poltern zur Seite.
Anne schrie erschrocken auf, wich zurück und fiel mit dem Stuhl um. Sie besaß die Geistesgegenwart, sich mit den Händen abzufangen, und saß bereits wieder, als ihre Mutter aufgeregt ins Zimmer stürmte.
"Anne?"
"Alles okay", meinte Anne mit zittriger Stimme. "Ich hab nur was gewibbelt und bin umgefallen."
"Du fällst mir in letzter Zeit etwas zu oft um." Sie kam näher und legte Anne besorgt die Hand auf die Schulter. "Was ist los, Anne? Möchtest du mir etwas sagen?"
"Nein." Anne lächelte. "Ich meine, ich würde dir schon sagen, wenn was ist, aber es ist nichts. Ich bin immer noch etwas aufgeregt wegen des Tests heute Morgen."
"Das verstehe ich." Ihre Mutter schaute sie auffordernd an. "Geh schlafen, Anne. Erhol dich."
"Mach ich. Nacht, Mami."
"Nacht, mein Kleines."
Kurz darauf war Anne wieder alleine in ihrem Zimmer. Nun erst schaute sie mit laut schlagendem Herzen den kleinen Troll an, der auf der Seite lag.
"War ich das?", flüsterte sie perplex. "Hab ich das gemacht? Wie hab ich das gemacht?"
Ihre Finger zitterten, als sie die Figur wieder auf die Füße stellte. Konzentriert schaute sie den Troll an und stellte sich vor, wie er umfiel.
Er blieb stehen.
Anne schüttelte knurrend den Kopf. Sie mußte ruhig bleiben. Nicht angespannt.
Erneut atmete sie tief ein und aus, bis sie ruhig war und diese Kraft in sich spürte. Dann schaute sie den Troll an.
Er sprang fünf Zentimeter in die Luft und fiel polternd zurück auf den Tisch.
Anne sprang entsetzt auf und wich zurück. Diesmal hielt sie den Stuhl jedoch fest.
"Du heilige Scheiße!", wisperte sie schockiert. "Ich kann es!"
Vor Aufregung am ganzen Leib zitternd setzte sie sich wieder hin und stellte den Troll aufrecht. Dann atmete sie tief durch.
Diesmal ging es schneller. Die Kraft in ihr wuchs spürbar.
Auch diese Nacht schlief Anne kaum.
Kapitel 7
Der folgende Morgen begrüßte eine äußerst unausgeschlafene und todmüde Anne Bergmann, doch trotz ihrer sichtbaren Erschöpfung war ihre Laune gut. Sie beschloß, das Attest des Arztes gründlich auszunutzen. Wenigstens für diesen Tag.
Sie stand auf und sagte ihren Eltern Bescheid, daß sie sich nicht gut fühlte, dann kroch sie wieder in ihr Bett und schlief auf der Stelle ein.
Als sie gegen elf Uhr erwachte, fühlte sie sich frisch und ausgeruht. Sie streckte sich gründlich, bevor sie in die Küche lief, um zu frühstücken. Ihre Mutter war nicht da, traf jedoch ein, als Anne fast fertig war. Sie stellte die Einkaufstüten ab und erkundigte sich besorgt, wie es Anne ging.
"Besser!", stieß Anne aus. "Sehr viel besser. Mami? Kann ich heute Nachmittag zu Bettina? Ich wollte mit ihr die Sachen durch gehen, die ich in der Schule verpaßt habe."
"Eigentlich hast du ja Hausarrest." Ihre Mutter sah sie strafend an. Anne erwiderte den Blick unschuldig, bis ihre Mutter auflachte.
"Gut, du hast gewonnen. Du gehst zu ihr, ihr macht die Hausaufgaben, und du kommst wieder zurück. Auf direktem Weg. Ohne Umleitung oder Abstecher. Verstanden?"
"Jawoll!" Anne lachte fröhlich. "Danke, Mami!"
"Dir geht es tatsächlich besser." Sie strich Anne über das Haar und ging dann in die Diele, um ihren Mantel aufzuhängen. Kurz darauf war sie zurück und räumte die Einkäufe zur Seite. Anne wollte ihr helfen, doch ihre Mutter lehnte lächelnd ab. Als sie fertig war, setzte sie sich zu Anne und schaute sie ernst an.
"Erzähl es mir, Anne. Was ist los? Woher weißt du plötzlich diese ganzen Geheimnisse? Wie konntest du dieses Mädchen sehen?" Sie hob die Hand, als Anne den Mund zum Widerspruch öffnete.
"Ich glaube dir, Kleines", sagte sie sanft. "Wirklich. Ich möchte nur wissen, wie du das machst. Seit wann. Woher das kommt."
Anne nickte bedrückt.
"Ich weiß es nicht, Mami. Wirklich nicht." Dann sah sie auf und erzählte ihrer Mutter alles. Ausgenommen Tanja und Sybille. Die ließ sie völlig außen vor. Als sie fertig war mit Erzählen, schaute ihre Mutter sie nachdenklich an.
"Das mit dem Mädchen glaube ich dir unbesehen", meinte sie zögernd. "Den Beweis haben wir schließlich alle gesehen. Nur das andere..." Sie runzelte die Stirn. "Du sagst, du kannst Sachen bewegen? Einfach in dem du daran denkst?"
Anne stieß den Atem aus. "Ja, Mama. Deswegen bin ich gestern Abend wieder umgefallen. Mein kleiner Troll hat sich bewegt, und ich hab mich furchtbar erschrocken. Schau her." Sie griff nach dem Salzstreuer und schob ihn in die Mitte des Tisches. Dann machte sie sich ruhig. Sie spürte die Gedanken ihrer Mutter, die sie ablenkten, und dachte sofort an Sybille, die mitten auf der Straße einen Geldautomaten manipuliert hatte. Also mußte es auch gehen, wenn andere Menschen um einen herum waren.
Sie spürte die Kraft in sich wachsen, sich ausbreiten. Ruhe zog durch ihren Kopf. Ihre Augen fixierten den Salzstreuer.
Im nächsten Moment sprang ihre Mutter entsetzt auf, als der Salzstreuer in die Luft hüpfte und mit einem lauten Geräusch auf die Seite fiel. Die Kraft in Anne wuchs erneut. Der Salzstreuer zitterte und richtete sich langsam wieder auf, bis er stand. Nur ein paar Salzkörner erinnerten noch daran, daß er vor wenigen Sekunden noch gelegen hatte.
"Unfaßbar!" Annes Mutter setzte sich; ihr Gesicht war blaß. "Das hast du gestern gelernt?"
Anne lächelte verlegen. "Ja. Da ist... Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll, Mami. Da ist etwas in mir. Meistens schläft das. Das ist auch noch nicht lange da. Aber wenn ich das benutzen will, wird es wach. Gerade eben wurde es viel schneller wach, und es war auch viel stärker als sonst."
"Faszinierend, Dr. McCoy." Die Mutter lächelte ungläubig. "Wie schwer können die Sachen sein?"
"Weiß nicht. Ich hab gestern noch so lange geübt, deswegen war ich heute Morgen auch noch todmüde. Aber das war nur mit dem Troll." Sie schaute sich suchend um und entdeckte eine Einkaufstüte mit vier Beuteln Milch. Das waren vier Kilo, überlegte Anne. Viel zu schwer.
Oder?
Wieder wurde sie ruhig; so ruhig wie möglich.
Die Einkaufstüte hob sich langsam in die Luft. Annes Aufregung wuchs, als sie daran dachte, die Tüte auf die Arbeitsplatte fliegen zu lassen, und im gleichen Moment fiel die Tüte zurück auf den Boden.
Aufregung. Anne nickte sich selbst zu. Sie hätte ganz ruhig bleiben sollen.
Ihre Mutter blieb still, als Anne einen zweiten Versuch wagte. Wieder griffen ihre Gedanken nach der Tüte. Wieder erhob sie sich in die Luft. Doch diesmal blieb Anne ruhig. Wie unbeteiligt sah sie die Tüte nach oben schweben.
Die Tüte schwebte nach oben.
Anne stellte sich vor, wie die Tüte auf der Arbeitsplatte landete.
Die Tüte schwebte über die Arbeitsplatte und stellte sich sanft ab.
"Anne!" Ihre Mutter lachte perplex. "Das waren über fünf Kilo!"
"Fünf? Ich dachte, vier!"
"Da sind noch zwei Päckchen Butter drin. Die liegen unter der Milch, damit sie kühl bleiben." Ihre Mutter schüttelte verblüfft den Kopf. "Seit gestern?"
"Seit gestern." Anne zuckte verlegen mit den Schultern. "Ich war noch bis zwei Uhr wach. Böse?"
"Nein." Sie griff lächelnd nach Annes Händen, um sie zu drücken. "Ich verstehe zwar nicht, wie du das gemacht hast, aber warum sollte ich dir böse sein? Kannst du mit dieser - dieser Kraft auch den Abwasch machen?"
"Mal sehen!", kicherte Anne. "Aber ich übe anfangs wohl besser mit Plastiktellern."
* * *
Am frühen Nachmittag ging Anne zu Bettina, um mit ihr die Hausaufgaben zu machen und den Stoff zu üben, der gestern nach der dritten Stunde und heute durchgenommen worden war. Den Abend verbrachte sie dann zu Hause, ohne mit ihrem Vater aneinander zu geraten. Sie gingen sich aus dem Weg.
Als es Zeit war, ins Bett zu gehen, versuchte Anne, sich wieder von ihrem Körper zu lösen. Sie lag still im Bett und machte sich ruhig. Sie dachte daran, als Geist durch die Wohnung zu schweben, und im gleichen Moment setzte dieses irrsinnige Drehgefühl wieder ein. Sekunden später gab es einen Ruck, und sie schwebte über ihrem Körper.
'Geil!', dachte Anne kichernd. Sie stellte sich aufrecht und sah hinunter auf ihren Körper. Erst jetzt bemerkte sie ein ganz feines, hell schimmerndes und dünnes Band, das sie mit ihrem Körper verband. Es sah aus wie eine Schnur aus Silber. Sie schwebte zur Tür, das Band fest im Auge behaltend, doch es verlängerte sich ohne jedes Problem.
Fröhlich schwebte sie durch die geschlossene Tür und weiter ins Wohnzimmer, wo ihre Eltern saßen. Sie verspürte Aufregung, als sie sich ihnen gegenüber in einen Sessel setzte und ihre Eltern sie überhaupt nicht sahen. Sie starrten vielmehr schweigend auf den Fernseher.
Anne überlegte gerade, woanders hin zu gehen, als ihr Vater sprach.
"War sie heute draußen?"
"Ja. Bei Bettina, um die verpaßten Hausaufgaben zu machen." Die Stimme ihrer Mutter blieb leise, wurde jedoch schärfer. "Wirst du das auch bestrafen?"
"Natürlich nicht. Ich will nur wissen, was mit ihr los ist. Hast du sie mal gefragt?"
"Ja, und ich habe auch noch mal mit dem Arzt gesprochen." Ihre Mutter beruhigte sich wieder. "Er sagt, daß Jugendliche unter Streß oft übersinnliche Erscheinungen haben. Anne steht unter einem großen Druck. Sie will sich in mehreren Fächern verbessern, und -"
"Es gibt nichts Übersinnliches!", unterbrach ihr Mann sie heftig. "Deine Tochter ist einfach nur durchgedreht."
Anne spürte die Wut ihrer Mutter wie ihre eigene.
"Du wirst sie in Ruhe lassen, Erwin."
"Sie bekommt ihre Ruhe." Ihr Adoptivvater lächelte hintergründig. "Sehr viel Ruhe und Pflege. Da kannst du dich drauf verlassen. Ich werde mein Wort nicht brechen. Keine Sorge."
Anne sah die Gedanken ihres Vaters, als hätte er sie laut ausgesprochen. Er wollte sie, sobald er seine Schulden zurück gezahlt hatte, in einem Pflegeheim unterbringen. In einer geschlossenen Anstalt. Daß dies nicht so einfach sein würde, wie er sich das vorstellte, wußte Anne nicht. Sie sah nur seine Absicht.
Sie schaute auf den Tisch vor ihrem Vater, wo die Programmzeitschrift lag. Noch bevor ihre Mutter wütend widersprechen konnte, blätterte Anne die Seiten um. Trotz ihrer Wut ging das ganz einfach.
Ihre Mutter schluckte schwer, als eine Seite nach der anderen sich bewegte. Ihr Vater bekam riesengroße Augen. Er starrte erschrocken auf die Zeitschrift.
Annes Mutter fing sich sehr schnell wieder; sie hatte etwas Ähnliches schon am Morgen erlebt.
"Es gibt nichts Übersinnliches, Erwin", zog sie ihn spöttisch auf. "Gute Nacht." Sie stand auf und verließ das Wohnzimmer. Anne sah ihr nicht hinterher; sie war sauer. Bis unter die Haare.
Ihr Vater schlug mit beiden Händen auf die Seiten, um sie festzuhalten. Anne wechselte die Richtung ihrer Vorstellung auf den Strauß Blumen auf dem Tisch. Die Blüten begannen, sich unter einem nicht vorhandenen Wind zu bewegen. Als ihr Vater danach griff, machte Anne mit der Zeitung weiter.
Das Spiel begann ihr zu gefallen.
Ihr Vater klappte die Zeitschrift zu und stellte die Blumen darauf. In seinem Gesicht zog Angst auf.
'Ich hatte auch Angst', dachte Anne wütend. 'Und was hast du gemacht? Mich geschlagen.'
Sie richtete ihre Gedanken auf seine Kleidung. Der Kragen seines Hemdes klappte nach oben. Ihr Vater fuhr entsetzt zusammen. Als er aufsprang und sich panisch umschaute, ließ Anne seine Strickjacke von ihren Gedanken aufbauschen. Irgend etwas in ihr schaltete um. Sie merkte, daß sie plötzlich Gewalt über ihren Vater hatte. Über ihren Adoptivvater, der sie abschieben wollte, obwohl er ihrem sterbenden Vater versprochen hatte, sich um sie zu kümmern.
Die Wut wuchs, gemeinsam mit der Kraft.
Die Strickjacke flog hoch und fiel über seinem Kopf zusammen. Ihr Vater unterdrückte ein entsetztes Geräusch. Seine Hände flogen nach oben, rissen die Jacke vom Gesicht weg und drückten sie an seine Seiten. Im nächsten Moment tanzten die Blumen in der Vase.
Die Kraft wuchs und wuchs. Anne spürte eine Energie in sich, die alles Bekannte in den Schatten stellte.
Die Polster des Sofas erhoben sich und fielen verkehrt herum zurück. Die Kissen stiegen von der Lehne auf, blieben einen Moment in der Luft und flogen dann in einer unmöglichen Kurve auf den Boden. Die Blumenvase schob sich von der Zeitung herunter. Die Zeitung klappte wirbelnd auf. Ein Buch schwebte aus dem Regal, drehte sich und schwebte verkehrt herum zurück in die Reihe.
Anne war erfüllt von der Kraft in sich. Sie bestand nur noch daraus. Ein kleiner Teil ihres Bewußtseins mahnte sie zur Vorsicht; leise, doch verständlich. Anne schaute sich ihren Vater an. Er war fertig. Er starrte auf die sich bewegenden toten Gegenstände und sah so aus, als würde er jeden Moment die Kontrolle über sich verlieren.
Es reicht, sagte die leise Stimme in ihr. Widerstrebend gab Anne der Stimme recht. Sie hätte gerne noch weiter gemacht, doch es war genug.
Vorerst.
Sie blieb noch ein paar Sekunden im Wohnzimmer und schaute mit Schadenfreude ihrem so genannten Vater zu, der sich erschöpft den Schweiß von der Stirn wischte, bevor sie wieder in ihr Zimmer flog.
Doch zurück in ihren Körper wollte sie noch nicht.
Sie dachte an Tanja, und daß sie sie besuchen wollte. Im gleichen Moment spürte sie einen Zug, und einen Gedanken später stand sie in Tanjas und Sybilles Wohnzimmer. Beide Mädchen registrierten ihre Anwesenheit sofort.
"Hey!" Tanja sprang freudestrahlend auf. Auch Sybille freute sich unsagbar.
"Du hast es gelernt?", fragte die Zehnjährige aufgeregt.
'Ja', dachte Anne. 'Und nicht nur das.'
Sie berichtete den Schwestern von ihren Erlebnissen und Übungen. Tanja nickte wissend, als sie geendet hatte.
"Diese Sabine ist verschwunden, weil sie geweckt wurde", erklärte sie Anne. "Normalerweise spürt man, daß man aufwacht, und kann den anderen vorwarnen. Aber wenn man geweckt wird, geht das nicht mehr. Sie hat es bestimmt nicht böse gemeint, Anne. Wann kommst du wieder zu uns? Ich meine, richtig?"
'Samstag', erwiderte Anne entschlossen. 'Dann schlaf ich wieder hier, ob der nun platzt oder nicht. Der hat mir nichts mehr zu sagen.'
"Sehe ich auch so", stimme Tanja zu. Sybille nickte kräftig. "Du solltest es aber mit deiner Mutter abklären."
'Das tue ich auch.' Anne überlegte kurz. 'Tanja? Kann ich überall hin?'
Die fast 13-Jährige wußte, was Anne meinte. "Ja. Zu jedem, den du kennst, und zu allen Orten, die du kennst. Alles andere mußt du - ja, erforschen. Geh zu einem Platz, den du kennst, und geh von dort aus weiter, als würdest du tatsächlich da sein."
'Danke. Was habt ihr heute noch vor?'
"Wir gehen gleich ins Bett!", grinste Sybille. "Und was machst du?"
'Ich liege schon im Bett und werde wohl gleich schlafen gehen. Ich wollte einfach nur mal testen, wie das - Äh, wie nennt man das überhaupt, was ich mache?'
"Spuken!", kicherte Sybille, die sich dafür eine leichte Kopfnuß von ihrer Schwester einfing. Lachend rollte sich die Zehnjährige auf die Seite und streckte Tanja die Zunge heraus. Tanja schnitt ihr noch schnell eine Grimasse, bevor sie sich wieder an Anne wandte.
"Astralwandern, Anne. So heißt das. Der Astralkörper ist - ja, gewissermaßen die Hülle für die Seele. Das, was Seele und Körper miteinander verbindet. Ist dir irgend eine Verbindung zu deinem Körper aufgefallen?"
'Ja! Ein silbernes Band!'
"Das ist die Silberschnur. Wenn die reißt, löst sich die Seele endgültig vom Körper. Das nennt man dann Tod. Aber du mußt keine Angst haben. So schnell geht die nicht kaputt. Die Silberschnur kann sich auch unendlich ausdehnen. Nur als Tipp. Der Astralkörper ist jedenfalls die schützende Hülle für die Seele, und die Verbindung zum Körper. Wenn du etwas ahnst, nimmt der Astralkörper irgend eine Schwingung auf und leitet sie zur Seele weiter, die diese Schwingung dann in ein Gefühl umsetzt. Je mehr du kennst, um so mehr kannst du diese Schwingungen einordnen."
'Warum erklärst du mir jetzt so viel?', wunderte sich Anne. Tanja lächelte schelmisch.
"Hättest du mir das geglaubt, wenn ich es dir vorher gesagt hätte? Bevor du das konntest?"
'Nein', gab Anne verlegen zu. 'Ganz sicher nicht. Und diese - Silberschnur kann sich unendlich ausdehnen?'
"Genau. Mehr verrate ich jetzt nicht." Sie zwinkerte Anne zu.
'Schon klar!', seufzte Anne übertrieben. 'Ich muß alles alleine machen. Du bist eine richtige Freundin.'
"Das bin ich", erwiderte Tanja ernst. "Weil ich dir die Chance gebe, selbst zu lernen."
Darauf wußte Anne nichts zu erwidern. Sie spürte jedoch, daß Tanja recht hatte.
'Okay. Ich rede Freitag mit meinem - Onkel und sage ihm, daß der Hausarrest aufgehoben ist. Samstag bin ich bei euch. Elf Uhr?'
"Elf Uhr. Bis dann!" Die beiden Schwestern winkten ihr zu. Anne dachte daran, wieder in ihrem Körper zu sein, als sie auch schon den Ruck verspürte. Sie schlug die Augen auf und war zu Hause, in ihrem Bett. Ihr Herz raste vor Freude.
"Geil!", kicherte sie aufgedreht. "Nie wieder telefonieren!"
Fröhlich rollte sie sich auf die Seite, schaltete das Licht aus und schloß die Augen.
* * *
Freitag Abend. Anne ging ins Wohnzimmer, wo sie sich ihren Eltern gegenüber hin setzte. Sie strahlte eine Entschlossenheit aus, die ihre Mutter bewunderte und ihrem Adoptivvater Angst einflößte. Zuerst entschuldigte sie sich für ihre falsche Verdächtigung und verkündete dann, daß ihr Hausarrest zu Ende sei. Ihr Vater diskutierte gar nicht erst mit ihr, sondern stimmte mit einem Kopfnicken zu. Anne spürte, woher seine Nachgiebigkeit kam: Er war fest entschlossen, sie im Februar in eine Nervenheilanstalt zu schicken. Dem sah Anne mittlerweile gelassen entgegen. Wenn ihre Kraft, wie sie es nannte, weiterhin in einem dermaßen schnellen Tempo wuchs, wie sie es bisher tat, mußte sie sich keine Sorgen machen.
Am nächsten Morgen fuhr Anne zuerst ins Krankenhaus, um Sabine Karl zu besuchen. Dem Mädchen ging es schon sehr viel besser. Sie bedankte sich persönlich bei Anne, wie auch ihre Eltern, die bei ihr waren. Anne verbrachte fast eine Stunde bei ihr, wobei die Mädchen sich anfreundeten, bevor sie sich auf den Weg zu Tanja und Sybille machte.
Kaum angekommen, wurde sie von den beiden Mädchen in deren Schlafzimmer gezerrt und ausgezogen. Die drei warfen sich auf das große Bett und bildeten ein Dreieck: Annes Kopf zwischen Sybilles Beinen, Sybilles Kopf zwischen Tanjas Beinen, und Tanjas Kopf zwischen Annes Beinen. Wieder fragte sich Anne in einem kurzen, klaren Moment, was sie zu diesen beiden Mädchen hinzog und mit ihnen Sex haben ließ, doch die Gefühle, die Tanjas Zunge in ihrer Scheide auslösten, verdrängten jeden anderen Gedanken außer den an die Erregung.
* * *
Die Winterferien brachen an, und es wurde Heiligabend. Anne verbrachte den Morgen mit ihrer Mutter in der Stadt, um alles für die Festtage einzukaufen. Dabei trafen sie Tanja und Sybille, die Anne nach kurzem Blickwechsel mit ihrer Mutter für den zweiten Weihnachtstag zum Kaffee einlud. Die beiden Schwestern sagten begeistert zu.
Am frühen Abend wurde dann beschert. Anne bekam wie schon in all den Jahren zuvor hauptsächlich Kleidung geschenkt, und zwei CDs von ihrer Mutter. Es war das gleiche wie jedes Jahr, doch dieses Mal empfand Anne den unsichtbaren Druck in ihrer Familie viel stärker. Dank ihrer neuen Kraft wußte sie auch gleich, warum. Ihr Adoptivvater, dem noch immer unbekannt war, daß Anne um seinen Status in der Familie wußte, war fester entschlossen als zuvor, Anne so schnell wie möglich in eine Nervenklinik zu stecken. Anne wußte nicht, daß er dazu einen sehr langwierigen und schwerfälligen Prozeß durchlaufen mußte; sie spürte nur, daß er nach Rückzahlung seiner Schulden im Januar endlich leben wollte. Notfalls auch ohne sie und ohne ihre Mutter. Das Versprechen, das er seinem sterbenden Bruder gegeben hatte, empfand er als genügend eingelöst.
Erst in diesem Moment realisierte Anne, was auf sie zu kommen würde: eine Auseinandersetzung mit ihrem Adoptivvater, bei der es nur einen einzigen Sieger geben würde. Wer das sein würde, stand für ihren Vater bereits fest. Angst stieg in ihr auf. Angst vor einem Auseinanderbrechen der Familie; Angst, ihre Mutter traurig zu sehen; Angst, plötzlich ganz alleine da zu stehen, so wie Tanja und Sybille. Es war eine tiefe, kaum zu bewältigende Angst, denn sie war immerhin erst 14 Jahre jung.
Doch eine leise Hoffnung in ihr sagte beruhigend, daß sich schon alles klären würde. Sie hatte noch einen Monat Zeit, und in diesem Monat konnte viel geschehen.
Sie kämpfte die Angst mit aller Kraft zurück. Schon wenige Sekunden später konnte sie ihren Eltern für die Geschenke danken, als wäre nichts geschehen. Nur ihre Mutter spürte, daß etwas war, doch Anne ließ sie durch einen Blick wissen, daß alles in Ordnung war.
Doch Anne hatte weder zwei Monate noch einen Monat Zeit. Im Hintergrund liefen Dinge ab, die sie nicht wissen oder beeinflussen konnte, selbst nicht mit ihrer neuen Kraft.
Denn es gab noch sehr viel mehr, was stärker als ihre Kraft war.
* * *
Nach den Feiertagen trafen sich die drei Mädchen am frühen Vormittag in der Stadt. Tanja winkte ein Taxi heran, mit dem die drei in einen ganz anderen Stadtteil fuhren. Dort liefen sie nach Annes Ansicht etwas ziellos durch die Gegend, doch Tanja und Sybille wußten ganz genau, wohin sie wollten.
Etwa zehn Meter vor einem Geldautomaten hielt Tanja an und zog Anne zu sich.
"Der Automat da", wisperte sie. "Ganz oben, in der Mitte, ist die Kamera. Kannst du die ausschalten?"
Anne wurde nervös. "Ausschalten?"
"Einen Kurzschluß machen. Versuch's einfach mal. Schau sie an und stell dir vor, daß innendrin alles britzelt."
"Britzelt?"
Tanja lachte leise. "Funkt. Kracht. Blitzt. Knallt. Schmort. Stinkt. Eben britzelt."
"Ach so." Anne schluckte schwer. "Ist das nicht gefährlich?"
"Nein. Versuch mal."
Anne atmete tief durch. Es war falsch, die Kamera kaputt zu machen. Das wußte sie mit aller Deutlichkeit. Doch genauso deutlich ahnte sie, daß sie vielleicht schon in wenigen Wochen darauf angewiesen war, Geld zu bekommen. Auch wenn sich das Ehrgefühl in ihr heftig wehrte, konzentrierte die 14-Jährige sich auf die Kamera.
Eine Sekunde später flogen Funken aus der Kamera auf die Straße. Anne zog erschrocken die Luft ein.
"Wow!", meinte Tanja anerkennend. "Das ging schnell!"
"Weil du geholfen hast." Anne fing sich wieder. Tanja mußte geholfen haben; anders war es nicht zu erklären. Hatte Tanja nicht selbst gesagt, daß sie beim ersten Mal über eine halbe Stunde gebraucht hatte?
"Ich habe nichts gemacht", antwortete Tanja leise, doch eindeutig ehrlich. "Überhaupt nichts. Ich habe nur gewartet. Sybille auch. Das warst du ganz alleine, Anne." Sie griff nach Annes Hand, um sie zu drücken.
"Erinnerst du dich noch an den Abend, wo wir uns getroffen haben? Wo ich dich fragte, ob du eine Hexe bist?" Anne nickte verwirrt. Tanja lächelte. "Ich wußte, daß du eine bist, Anne. Ich hab es gespürt. Aber du wohl noch nicht. Deine Kraft ist erwacht, weil bei Sybilles Einweihung dabei gewesen bist. Als du gemerkt hast, daß es sehr viel mehr gibt als das, was unsere Augen sehen. Du bist eine ganz, ganz starke Hexe, Anne." Sie drückte das nun völlig verstörte Mädchen gründlich.
"Eine ganz starke", wiederholte Tanja leise. "Jetzt zieh Geld. Du kannst es anschließend in die Bank bringen und sagen, daß es vor deinen Augen raus gekommen ist. Sybille und ich haben noch genug. Das ist jetzt nur Übung. Mach. Zieh Geld." Sie zog Anne näher an den Automaten heran.
"Wie das geht, kann ich dir nicht erklären", meinte Tanja leise, als sie vor dem Geldautomaten standen. "Du spürst es aber in dir. Vertrau auf dein Gefühl und laß dich davon leiten. Mach. Du kannst es."
Anne schaute Tanja verstört an. "Wie, spüren? Was soll ich spüren?"
"Das ist Mechanik", erklärte Sybille schnell. "Die Kamera war Elektrik. Du kannst aber auch Mechanik bewegen, Anne. Du mußt nur an dich glauben. Wenn du was machst, dann spürst du, ob es ankommt. Wenn es nicht ankommt, spürst du es auch. Mach mal. Versuch."
Nun war Anne endgültig verwirrt. Wie sollte sie etwas beeinflussen, von dem sie nicht mal wußte, wie es überhaupt funktionierte? Mußte man dafür nicht eine Nummer eingeben? Und was passierte dann? Wie wurde die Nummer an den Stapel Geldscheine weiter gegeben? Gab es nur einen Stapel, oder waren das mehrere? Wie waren die angeordnet? Nebeneinander? Übereinander? Was lag wo? Wie -
"Anne!" Tanja sah sie eindringlich an. "Du kannst es. Geh einfach rein und versuch. Sybille hat recht. Du spürst, ob deine Gedanken etwas bewirken oder nicht. Versuch es."
"Ihr seid Herzchen!", stieß Anne aus. Die beiden Schwestern lachten fröhlich.
"Nun los!", grinste Sybille breit. "Ich will ins Warme."
Seufzend drehte Anne sich zu dem Automaten um. Sie würde es versuchen, und damit sollten die beiden wohl zufrieden sein, auch wenn es nicht klappte. Sie nahm nämlich ganz stark an, daß es nicht klappen würde.
Sie atmete tief durch und machte sich ruhig. Dann stellte sie sich vor, wie die Klappe auf ging und viele Geldscheine in dem Fach dort lagen. Im gleichen Moment spürte sie einen Widerstand.
Anne stutzte kurz, bevor sie den Widerstand untersuchte. Im gleichen Moment raste ein Schauer über ihren Rücken, als sie erkannte wovon Sybille gesprochen hatte. Sie verstand!
Sie spürte, daß die Klappe sich nicht bewegte, weil ein Kontakt nicht geschlossen worden war. Der wurde durch das heraus kommende Geld geschlossen. Sie schickte ihre Kräfte tiefer in den Automaten. Wieder eine leichte Sperre. Anne folgte ihrem Gefühl und kam nach einigen Sekunden an den Anfang der Kette. Im gleichen Moment schoß etwas aus ihr heraus und in den Automaten hinein, der anfing, zu surren. Sekunden später öffnete sich die Klappe. Anne starrte perplex auf den dicken Haufen Scheine.
"Geil!", jubelte Sybille leise, während Tanja der 14-Jährigen anerkennend auf die Schulter klopfte. Das brachte Anne wieder zu sich. Sie blinzelte, doch das Geld verschwand nicht. Schnell griff sie danach und stopfte es in ihre Manteltasche.
"Jetzt in die Bank. Komm." Tanja zog Anne zum Eingang. "Sag einfach, das Ding fing an zu spinnen, als wir vorbei kamen."
Anne stolperte hinter Tanja in die Bank hinein, im Magen einen dicken Knoten. Das würde ihr doch niemand glauben! Jeder wußte doch, daß Geldautomaten mit das Sicherste waren, was es gab!
Tanja schob sie vor einen der vielen leeren Schalter. Der Mann dahinter schaute sie lächelnd an.
"Guten Tag", begrüßte der die Mädchen. "Kann ich Ihnen helfen?"
"Äh - ja." Anne zog mit rasendem Herzen das dicke Geldbündel aus der Tasche und deponierte es auf dem Schalter. "Das hier... Also, wir... Ich meine, wir kamen gerade an dem Automaten da draußen vorbei, und da - da knallte und zischte das da drin, und das Geld hier kam raus."
Der Bankangestellte stutzte. "Einfach so? Unmöglich."
"Wir können es ja auch behalten", mischte sich Tanja ein. "Unsere Freundin hier ist so ehrlich, das Geld wieder abzugeben, aber wenn Sie es nicht wollen..."
"Das habe ich nicht gesagt." Seine Hand schoß vor und legte sich halb auf den Stapel Scheine. Er unterdrückte seine Verwirrung und wurde wieder höflich. "Verzeihung. Es ist nur so, daß Geldautomaten nicht einfach von sich aus Geld ausspucken."
"Der da draußen schon." Tanja lächelte ihn fröhlich an. "Gibt's Finderlohn?"
Anne starb beinahe vor Scham.
"Das ist nicht nötig", meinte sie hastig. "Es war aber wirklich so. Das Ding funkte und zischte, dann ging die Klappe auf, und das Geld hier lag draußen. Auf Wiedersehen." Sie drehte sich um und flüchtete nach draußen. Dort lehnte sie sich gegen die Mauer und atmete erst mal tief und gründlich durch. Dann wartete sie auf ihre Freundinnen, die jedoch erst Minuten später nach draußen kamen, mit lachenden Gesichtern.
"Die sind fertig!", kicherte Tanja. "Die haben den Automaten von hinten aufgemacht und kontrolliert. Das Geld fehlte echt. Jetzt brummt ihnen der Schädel. Super hinbekommen, Anne! Jetzt kannst du dich auch selbst versorgen."
"Nein, danke." Anne schluckte. "Der Schock reicht erst mal."
"War doch nichts." Sybille lächelte ihr aufmunternd zu. "Jedenfalls weißt du jetzt, daß du es kannst. Für den Notfall. Gehen wir was trinken?"
An diesem Abend saß Anne allein in ihrem Zimmer und dachte nach. Sie hatte gestohlen, es aber wieder gutgemacht, indem sie das Geld zurück gegeben hatte. Doch nicht das ging ihr im Kopf herum. Ihre Gedanken kreisten um die Tatsachen an sich.
Sie konnte mit ihrer Kraft Dinge zerstören, wie die Kamera. Sie konnte komplexe Gegenstände wie den Geldautomaten nach ihrem Willen beeinflussen.
Woher kam diese Kraft?
Anne hatte in den letzten Tagen häufig mit ihrer Mutter gesprochen, die Annes Geschichten zwar glaubte, jedoch auch nicht wußte, warum Anne dieses Talent hatte. Annes leiblicher Vater war nach dem Wissen ihrer Mutter nicht in dieser Richtung ausgestattet gewesen. Die vier Großeltern ebenfalls nicht.
Woher kam diese Kraft also? Und warum kam diese Kraft ausgerechnet zu ihr?
Ganz allmählich setzte bei Anne etwas wie ein Schock ein. Das entführte Mädchen. Die sexuelle Beziehung zu Tanja und Sybille, die nicht bekannt werden durfte. Die Tatsache, daß ihr Vater nicht ihr richtiger Vater war. Die Fähigkeit, ihren Körper verlassen zu können. Der täglich steigende Druck mit der unausgesprochenen Drohung ihres Vaters, sie in eine Nervenklinik einweisen zu lassen. Heute die Sache mit dem Geldautomaten.
Es wurde Anne langsam zu viel. Selbst Tanjas Bemerkung, daß sie bei Geburt all das mitbekommen hat, was sie für ihr Leben braucht, half nicht viel. Sie war erst 14! Wieso mutete ihr das Leben schon so viele belastende Dinge zu? Reichte die Geschichte mit ihrem Vater noch nicht? Sie hatte noch nicht einmal begonnen zu verarbeiten, daß ihr Vater eigentlich ihr Onkel war, und mußte nun mit noch viel mehr Dingen klar kommen, die ihr belastend im Nacken saßen.
Mutlos sackte sie in ihrem Stuhl zusammen, den Blick ins Nichts gerichtet, mit der Hoffnung, daß sich alles von alleine klären würde.
* * *
Silvester wollte Anne bei Tanja und Sybille verbringen, doch Annes Mutter sprach ein verschmitztes Veto. Statt dessen lud sie die beiden Schwestern ein, die nach kurzem Zögern zusagten. Die beiden Mädchen trafen gegen fünf Uhr ein, und zwei Stunden später kam es zum großen Knall.
Es geschah beim Abendessen. Die fünf Menschen unterhielten sich angeregt, als sich Sybille plötzlich ganz gerade setzte und Annes Vater tief in die Augen sah.
"Warum verrätst du mich?", fragte sie ihn. Die Unterhaltung am Tisch verstummte; alle Augen richteten sich auf Sybille.
"Entschuldigung?", fragte Annes Vater. "Was meinst du?"
"Du hast mir geschworen, dich um Anne zu kümmern", erwiderte sie. Annes Mutter wurde so blaß wie Anne. Tanja sah fragend in die Runde.
"Ist das ein neues Spiel?" Annes Vater schaute die Zehnjährige fragend an, mit einer Spur Verärgerung.
"Nein, Erwin", erwiderte Sybille ruhig. "Laß mich wiederholen: 'Stefan, ich schwöre dir, mich um Anne und Annemarie zu kümmern. Mein ganzes Leben lang, wenn nötig. Ich werde für beide da sein, solange sie mich brauchen.'"
Tanja und Anne schauten verblüfft auf Sybille. Annes Mutter war leichenblaß, doch ihr Vater...
Erwin Bergmann saß da wie vom Blitz getroffen. Sein Mund bewegte sich, doch kein Wort kam über seine Lippen. Sybille drehte den Kopf zu Annes Mutter, ließ die Augen jedoch auf ihren Vater gerichtet.
"Ich habe schon damals geahnt", sagte sie leise, "daß er sein Wort nicht hält. Nicht ewig. Deshalb bin ich so schnell wie möglich zurück gekommen."
Nun wurde Frau Bergmann bleich wie frisch gefallener Schnee.
"Stefan?", flüsterte sie ungläubig. Sybille nickte knapp.
"Ja, Annemarie. Aber darüber können wir später reden." Sie sah wieder zu Erwin. "Und nun?"
Erwin Bergmann fing sich wieder.
"Das ist ein ganz billiger Trick!", sagte er schwach. "Ich weiß nicht, was ihr hier abziehen wollt, aber -"
"Nichts", unterbrach Sybille ihn. "Noch ein paar Zitate, Erwin? Als wir alleine waren, sagtest du wörtlich: 'Es wird die ersten Jahre schwer werden, Stefan. Wegen meiner Schulden. Die sind einfach zu hoch, um drei Leute zu ernähren.' Und ich sagte: 'Geh mit Annemarie nach meinem Tod zur Bank. Dort habe ich ein Schließfach. Da drin liegen Wertpapiere, die für Annes 18. Geburtstag bestimmt waren. Es ist meine Hälfte vom Erbe unserer Eltern. Das reicht allemal für deine Schulden.'"
Erwin Bergmann griff mit stark zitternden Händen nach seinem Kaffee. Anne und ihre Mutter starrten sich mit großen Augen und offenen Mündern an. Tanja sah mit einem gleichartigen Ausdruck auf ihre kleine Schwester. Die wiederum hatte alles im Griff.
"Was hast du mit dem Geld gemacht?", fragte sie ihn leise. "Willst du es sagen, oder soll ich? Ach, ich vergaß: es gibt ja nichts Übersinnliches. Dann war ich bestimmt nur in meiner Einbildung dreizehn Jahre lang ein Geist und habe jeden deiner Schritte gesehen." Ihr Blick wurde hart, was aufgrund ihres zarten Alters doppelt unheimlich wirkte.
"Du hast die Wertpapiere, die für meine Tochter bestimmt waren, auf deinen Namen angelegt. Ohne Annemarie oder Anne etwas von dem Geld zu sagen. Du willst Anne in eine Klinik sperren und dich von Annemarie scheiden lassen. Hast du überhaupt keine Ehre im Leib?" Sybilles Stimme wurde mit jedem Wort dunkler und männlicher, bis sie am Ende klang wie Annes leiblicher Vater. Annes Mutter griff sich mit der rechten Hand ans Herz. Sofort war Tanja bei ihr und legte ihre kleinen Hände darüber. Sybille kümmerte sich nicht darum. Sie redete weiter, mit der Stimme des seit über dreizehn Jahren toten Stefan Bergmann.
"Hat es dir gar nichts bedeutet, Anne aufwachsen zu sehen? Mitzuerleben, wie aus dem kleinen Baby eine attraktive junge Dame wurde? Ist in all den Jahren nicht das geringste Gefühl zu ihr gewachsen? Bist du wie früher nur auf dich fixiert?" Das kleine Mädchen stand auf, doch sie wirkte wegen ihres harten Blickes und der tiefen, männlichen Stimme wesentlich gefährlicher. Erwin wich auch instinktiv vor ihr zurück.
"Anne, hol etwas zu schreiben. Papier und Stift." Anne sprang auf und raste los. "Erwin, du wirst das Geld aus meinen Wertpapieren auf Anne übertragen. Es steht rechtmäßig ihr zu. Das weißt du. Wenn du dein Erbe mit Huren und Pferden und Spielen und Wetten durchgebracht hast, ist das deine Sache, aber meine Familie wird nicht unter deiner Dummheit leiden." Anne kam atemlos zurück und legte einen großen Block samt Kugelschreiber auf den Tisch.
"Schreib!", befahl Sybille. "Ich, der unterzeichnende Erwin Bergmann und so weiter überschreibe hiermit das Geld auf meinem Festgeldkonto Nummer Soundso mit sofortiger Wirkung auf meine Adoptivtochter Anne Bergmann, vertreten durch meine Gattin Annemarie Bergmann. Datum, Unterschrift. Schreib!"
Anne sah perplex zu, wie ihr Adoptivvater mit zitternden Händen das Verlangte aufschrieb. Auch ihre Mutter, der es dank Tanjas Eingreifen wieder besser ging, schaute fassungslos zu. Sie verstand genauso wenig wie ihre Tochter. Vielleicht einen Bruchteil mehr, doch das war auch alles.
Nur Tanja verstand. Sie schaute ihre kleine Schwester mit großen Augen fragend an. Sybille nickte knapp.
"Gleich, Tanja. Ich habe leider nicht sehr viel Zeit."
Erwin Bergmann riß das Blatt ab und reichte es Sybille, die es gründlich las und dann nickte.
"Nächster Punkt. Schreib: Ich, der unterzeichnende Erwin Bergmann und so weiter erkläre hiermit, im Falle einer Scheidung meiner derzeitigen Ehefrau, Annemarie Bergmann, die Hälfte meines Nettoeinkommens als Unterhalt zu zahlen." Erwin sah auf, doch die Kälte in Sybilles Augen ließ ihn vor Schreck zusammen fahren und weiter schreiben.
"Der Anspruch auf Unterhalt", diktierte Sybille weiter, "gilt ab dem Tag einer eventuellen Trennung zum Zwecke der späteren Scheidung. Meiner angenommenen Tochter Anne Bergmann, Tochter von Stefan und Annemarie Bergmann, werde ich den gesetzlich zustehenden Unterhalt zahlen." Sie sah zu Anne, die noch immer kein Wort verstand. "Das brauchst du eigentlich nicht mehr, aber es soll die Entschädigung für dreizehn Jahre am Rande des Hungertuchs sein, kleiner Floh."
Bei diesem Kosenamen brach Annes Mutter plötzlich in Tränen aus. Sybille lächelte mitfühlend, als Tanja sie schnell tröstete. Anne verspürte bei dem Spitznamen plötzlich ein Gefühl von Ruhe und Schutz. Ihre Augen wurden feucht, als sich längst vergessene Bilder ins Bewußtsein drängten.
"Papa?", flüsterte sie ungläubig. Sybille nickte leicht.
"Gleich, Anne." Sie sah zu Erwin, der eben die zweite Erklärung unterschrieb, bevor er das Blatt abriß und Sybille gab. Sie las es so gründlich wie das erste, dann sah sie ihm voll und mit kaltem Blick in die Augen.
"Ein Trick", sagte sie leise, "und dir wird mehr um die Ohren fliegen als ein paar Polster. Glaub mir das, Erwin. Familie war für mich immer etwas Schützenswertes, aber du hast das Vertrauen von drei Menschen mißbraucht. Das von mir, das von meiner Frau, und das von meiner Tochter, die du einfach abschieben wolltest. Du bist mein Bruder, aber Anne ist mein Kind. Sie kam immer an erster Stelle, für meine Frau wie für mich, und ich werde nicht zulassen, daß du sie einfach irgendwo abstellst und vergißt. Du bist auch Familie, aber du bist erwachsen und hast einen erfolgreichen Beruf. Anne ist 14. Damit ist wohl klar, wo meine Prioritäten liegen." Sybille schwankte einen Moment. Sie hielt sich schnell am Tisch fest.
"Annemarie, steck die Dokumente ein. Anne wird aufpassen, daß sie in eurem Besitz bleiben. Erwin, du wirst deine Sachen packen und verschwinden. Die Zahlungen an meine Familie wirst du aufnehmen, sobald deine Schulden getilgt sind. Ab dann läuft auch der Termin der Trennung. Übermorgen früh trefft ihr drei euch in der Bank, dann wird Annemarie Annes Geld auf einem Konto anlegen." Sybilles Augen flammten hellrot auf. "Wenn du einen einzigen schmutzigen Trick versuchst, bin ich wieder da. Glaub mir das. Und jetzt raus mit dir."
Erwin sprang so schnell auf, daß er den Stuhl und beinahe auch den Tisch umwarf. Die vier hörten, wie er in der Diele etwas Metallisches aufnahm, dann erklangen schnelle Schritte, und die Tür fiel zu. Sybille setzte sich müde hin.
"Tanja, läßt du uns bitte einen Moment alleine?"
Das Mädchen verschwand lautlos. Sybille sah zu Annemarie.
"Er hätte euch betrogen", flüsterte sie. "Er hätte seine Schulden bezahlt und sich dann von euch getrennt. Er wollte nach Neujahr zu einem Arzt und Anne in eine psychiatrische Anstalt einweisen lassen. Das hätte nicht geklappt, und daraufhin hätte er einen befreundeten Arzt bestochen, woraufhin Anne dann in einer Privatklinik verschwunden wäre." Sie holte tief Luft; das Reden und Atmen fiel ihr immer schwerer.
"Das Geld, was Anne gehört, hätte er mitgenommen. Und damit wärt ihr beide mittellos geworden. Das konnte ich nicht zulassen. Ich hatte nach meinem Tod keine Sekunde Ruhe, weil ich geahnt habe, daß er so etwas plant. Aber er war die einzige Hoffnung für Anne, eine gute Schulbildung zu bekommen. Dieses Mädchen hier" - sie deutete auf sich - "war so lieb, mich für eine Weile in ihren Körper zu lassen, aber lange kann ich nicht mehr bleiben." Sie griff nach Annemaries Händen.
"Du hast immer zu ihr gehalten", sagte Sybille erschöpft. "Das rechne ich dir sehr hoch an. Nun zu dir." Sie ließ Annemarie los und streckte die Arme nach Anne aus, die langsam aufstand.
"Mein kleiner Floh!", sagte Sybille zärtlich. "Du bist eine wunderschöne junge Dame geworden. Ich bin stolz auf dich."
"Papa!" Anne schluchzte auf und warf sich in Sybilles Arme. Für einige Sekunden flimmerte die Luft um Sybille herum, und die Umrisse eines kräftigen, großen Mannes waren zu sehen, der Anne fest an sich drückte. Mit viel mehr Kraft als Sybille hatte. Anne drückte sich mit aller Macht an ihn.
Dann verschwand der Umriß wieder.
"Ich bleibe bei euch", flüsterte Sybille. "Bis alles geklärt ist und ihr versorgt seid. Annemarie, Sybille wird dir gleich etwas erzählen. Kümmere dich um die beiden Mädchen, sobald es geht." Sie strich Anne zärtlich über das Haar.
"Ich liebe euch beide", sagte Sybille mit der männlichen Stimme, dann sackte sie bewußtlos zusammen. Anne fing sie auf, während ihre Mutter erschrocken aufsprang, und setzte sie behutsam auf den Stuhl.
"Papa!", weinte Anne. "Komm zurück!"
'Ich bin doch bei dir!', hörte sie die Stimme ihres Vaters in ihrem Kopf. 'Immer.'
Doch das tröstete Anne nicht. Weinend klammerte sie sich an Sybille. Auch ihre Mutter weinte; jedoch vor Glück und Trauer gleichzeitig.
Kapitel 8
Der Januar brachte viele Veränderungen für die Familie Bergmann. Gleich am 1. Januar fuhr Anne mit ihrer Mutter zum Grab ihres Vaters, das ihre Mutter jeden Freitag Vormittag besuchte und pflegte. Als Anne den Namen und die Daten auf dem Grabstein las, stieg eine übermäßige Trauer in ihr auf, doch im gleichen Moment sah sie den Geist ihres Vaters, der ihr zu lächelte.
'Der Tod ist nichts Endgültiges, kleiner Floh', hörte sie seine Stimme in ihrem Kopf. 'Nur eine gewisse Zeit Ruhe. Das wirst du irgendwann verstehen.'
Anne nickte mit feuchten Augen. 'Wie lange bleibst du bei uns?', fragte sie in Gedanken.
'So lange es nötig ist. Hab Vertrauen in deine Zukunft, Anne.'
'Weißt du, warum ich eine Hexe bin?'
'Hab Vertrauen, Anne.' Ihr Vater streckte eine durchsichtige Hand nach ihr aus, deren Berührung Anne Zuversicht gab. Dann war ihr Vater verschwunden.
Und wieder wunderte sich Anne, daß sie all diese beängstigenden Erlebnisse und Erfahrungen ohne größere Probleme hinnehmen konnte.
Am nächsten Tag trafen sie und ihre Mutter ihren Adoptivvater in der Bank. Erwin Bergmann machte im Gegensatz zu vor zwei Tagen wieder den gewohnten gefaßten und sicheren Eindruck. Anne spürte Gefahr, als sich ein weiterer Mann der kleinen Gruppe näherte.
"Du kennst meinen Anwalt", begann Erwin Bergmann, der auf den näher kommenden Mann deutete. Annes Mutter nickte knapp; sie hatte die letzten beide Tage dazu benutzt, sich über verschiedene Dinge ein klares Bild zu machen.
"Ja, ich kenne ihn. Warum brauchen wir ihn?"
"Nicht wir. Ich. Er möchte dir etwas sagen." Er wandte sich zu seinem Anwalt. "Herr Kürten?"
"Die Erklärungen Ihres Mannes", sagte dieser ohne begrüßende Worte, "sind unter Zwang erfolgt, wie ein graphologisches Gutachten beweisen wird. Ihr Mann, Frau Bergmann, sieht sich an seine Erklärungen nicht gebunden."
"Was in letzter Zeit häufiger vorkommt", erwiderte sie mit beginnender Wut. "Sie, Herr Kürten, vertreten mich doch in der Sache wegen meines Autounfalls vor vier Monaten. Wie können Sie da -"
"Ich habe bereits einen Brief an Sie aufgegeben", erklärte Herr Kürten ungerührt. "Darin steht, daß ich mich aus zeitlichen Gründen leider nicht mehr in der Lage sehe, Sie zu vertreten. Sobald Sie einen neuen Anwalt gefunden haben, werde ich ihm sämtliche Unterlagen zukommen lassen."
Annes Magen revoltierte. Sie spürte die Hilflosigkeit ihrer Mutter, die Kälte ihres Adoptivvaters, die Arroganz des Anwalts. Sie hatte den Drang, sich auf der Stelle zu übergeben. Während die drei Erwachsenen weiter diskutierten, wandte sie sich ab, die rechte Hand vor den Mund gepreßt, und suchte nach den Toiletten, doch im gleichen Moment fuhr ein wahrer Sturm von Kraft durch sie hindurch.
'Tu es!', hörte sie die sanfte Stimme ihres Vaters sagen. 'Es geht um euch, kleiner Floh. Rette deine Mutter und dich. Beschütze euch.'
Anne schlug zu, ohne zu zögern. Mit der Sicherheit ihres Vaters im Rücken streckte sie ihre Gedanken nach ihrem Adoptivvater aus, der mitten im Satz abbrach und stockte. Anne fand sofort heraus, was sie zu tun hatte und wie sie es tun mußte.
"Es ist gut, Herr Kürten", hörte sie ihn sagen. "Ich habe es mir überlegt. Ich habe meiner Frau und meiner Adoptivtochter gegenüber eine Verantwortung, und der werde ich mich nicht entziehen."
"Das entspricht nicht dem, was wir telefonisch vereinbart hatten", wandte der Anwalt ein.
"Ich weiß. Ich sagte doch, ich habe es mir überlegt. Würden Sie als Zeuge fungieren, damit alles sauber und ordnungsgemäß dokumentiert wird?"
Zwanzig Minuten später war das Geld, was Anne zustand, auf einem Konto untergebracht, das unter der Obhut ihrer Mutter war. Danach gingen die vier Menschen auseinander: Anne und ihre Mutter fuhren nach Hause, Annes Adoptivvater und sein Anwalt gingen ihren eigenen Angelegenheiten nach.
Anne hatte massive Kopfschmerzen, die von dem "Lenken" ihres Adoptivvaters kamen. Ihre Mutter schickte sie gleich ins Bett, verdunkelte Annes Zimmer und machte ihr einen kalten Umschlag. Dann setzte sie sich zu Anne.
"Du warst das", sagte sie feststellend. Anne nickte mit geschlossenen Augen.
"Ja, Mami. Er wollte uns keinen Pfennig geben. Keinen einzigen."
"Ich weiß." Sie strich ihrer Tochter leicht über das Haar. "Und jetzt sind wir um fast 900 000 Mark reicher. Fast Millionäre."
"Waren Papas Eltern so reich?"
"Scheint so." Die Mutter lachte hilflos. "Dein Vater und ich haben uns nie über Geld unterhalten, Anne. Wir hatten immer genug. Bis zu deiner Geburt haben wir beide gearbeitet, und danach... Es war immer Geld da. Na ja. Ich war ja erst 26, als du zur Welt gekommen bist; da denkt man noch nicht so viel über Geld nach."
"Kaufen wir uns jetzt ein Haus?", fragte Anne schlapp. Ihr Kopf dröhnte und hämmerte. "Und holen Tanja und Sybille zu uns?"
"Wenn sie möchten, ja." Sie seufzte leise. "Die beiden sind wirklich Hexen? Reinrassige Hexen?"
Trotz der Schmerzen mußte Anne etwas lachen. "Ja, Mami. Sie wohnen wirklich seit drei Jahren ganz alleine."
"Reden wir morgen darüber." Sie stand vorsichtig auf, um Annes Bett nicht zu erschüttern. "Laden wir sie zum Essen ein und reden darüber."
Doch als sie am nächsten Tag zu viert zusammen saßen, wollten die beiden Mädchen nicht darüber reden. Tanja lehnte höflich, doch bestimmt ab.
"Das ist sehr lieb von Ihnen, Frau Bergmann, aber Sybille und ich bleiben lieber für uns. Das hat nichts mit Ihnen oder Anne zu tun. Bestimmt nicht. Aber wir sind jetzt so daran gewöhnt, für uns zu sein..." Sie zuckte mit den Schultern und sah ihre kleine Schwester an. "Was meinst du?"
Sybille schüttelte den Kopf. "Ich hab dich", sagte sie leise. "Ich will keine andere Mutter mehr."
Anne sah plötzlich Sybilles Angst vor neuen Schlägen. Schnell griff sie nach Sybilles Händen.
"Mami schlägt nicht", redete sie auf die Zehnjährige ein. "Bestimmt nicht. Das hat sie bei mir auch noch nie gemacht."
Doch jahrelange Gewalt war stärker als Annes Beteuerungen. Sybille schüttelte stumm den Kopf und senkte den Kopf.
'Laß es gut sein', fegte Tanjas Stimme durch Annes Kopf. 'Außerdem können wir schlecht miteinander spielen, wenn deine Mutter ständig dabei ist.'
'Sie will wieder arbeiten gehen', wandte Anne ein. 'Da -'
'Nein.' Das kam sanft, aber so entschlossen, daß Anne aufgab. 'Ich würde gerne zu euch kommen, aber Sybille ist mir wichtiger als alles andere. Du bleibst trotzdem unsere Freundin. Unsere einzige, aber trotzdem unsere beste. Okay?'
Anne beugte sich. Ihre Mutter versuchte es jedoch noch weiter, bis auch sie erkannte, daß sie gegen die Entschlossenheit der beiden jungen Mädchen nicht ankam.
So blieb alles erst mal beim alten. Annes Mutter suchte sich eine Halbtagsstelle und in der freien Zeit gemeinsam mit Anne eine neue Bleibe. Sie fanden schließlich eine schöne Eigentumswohnung in direkter Nähe zur Innenstadt, jedoch gerade so weit davon entfernt, daß es nicht laut war. Die Verträge wurden unterschrieben, und Ende Januar zogen sie ein.
Sabine Karl, das entführte Mädchen, besuchte Anne gelegentlich, wobei die beiden feststellten, daß sie außer wenigen Punkten keine gemeinsamen Interessen hatten. Somit blieb die Freundschaft zwar bestehen, jedoch sehr locker. An den Wochenenden schlief Anne bei Tanja und Sybille, wobei sie ihre sexuelle Beziehung untereinander immens vertieften. Doch die beiden blieben in ihrer Wohnung wohnen, und mit der Zeit sprach Anne sie auch nicht mehr darauf an, daß sie zusammen leben könnten.
* * *
Damit endet dieser Teil. Was Anne mit ihren Kräften noch erlebt und ob ihr verstorbener Vater ein weiteres Mal in ihrem Leben auftaucht, ist vielleicht Stoff für eine Fortsetzung. Vielleicht :-)
ENDE
|
|