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Die verstoßene Tochter
Zootiere Es war ein wundervoller Sommertag. Die Sonne strahlte von einem wolkenlosen Himmel herab. Ein steter Wind wehte leise und machte es nicht unerträglich heiß. Dennoch war das Wetter so angenehm warm, das sie ihrer Tochter ein hübsches Sommerkleidchen angezogen hatte. Selbst sie hatte sich, ganz entgegen ihrer Gewohnheit, dazu entschlossen, etwas von ihrem Körper preiszugeben. Sie hatte einen kurzen Rock und ein T-Shirt angezogen. Einzig auf eine Strumpfhose hatte sie nicht verzichtet. Die trug sie Sommer wie Winter. So gekleidet, hatten sie an diesem Tag wieder einmal den Zoo besucht. Das einzige, was sie sich außer der Reihe leisen konnten, das waren die Jahreskarten für den Zoo. Und von denen machen sie mehr als reichlich Gebrauch. Ihre Tochter war schier verrückt nach dem Zoo. Besonders nach den Elefanten. Und wäre dort kein Wassergraben, die Kleine wäre schon sehr oft zu ihnen gelaufen, um sie zu streicheln. Zu ihrem Glück war der Zoo an diesem Tag nicht sehr gut besucht. Obwohl er einer der Artenreichhaltigsten Zoos im Lande war, nutzten die Menschen heute den schönen Sommertag um ins Schwimmbad zu fahren oder einen Einkaufsbummel zu machen. Für die wenigen Besucher waren die Seelöwen, die Elefanten und die Eisbären wieder die Attraktion. Dort standen sie dichtgedrängt und schauten sich die Tiere an. Bei den Seelöwen waren die Fütterungen immer die Hauptattraktion des Tages. Wie diese Tiere Kunststücke machten und auf Hupen drückten. Bei den Elefanten war es das Fußballspiel oder ihre Sandbäder. Hin und wieder gingen sie auch richtig baden. Und dies schienen die großen Tiere sichtlich zu genießen. Und bei den Eisbären war es die große Rutsche, die sich dort seit einer Woche befand. Die beiden Tiere schienen sie sehr zu mögen. Denn, wie kleine Kinder, benutzten sie diese immer und immer wieder, um dann mit einem großen „Platsch“ ins Bassin zu plumpsen. Die Menschen lachten, wenn einer der Kolosse ins Wasser platschte. Doch plötzlich schrieen sie angstvoll auf. Etwas war ins Wasser gefallen. Ein kleines Kind. Ein Baby! Angstvoll starrten sie schreiend nach unten. Aber nur solange, bis das sie sahen, daß es kein Kind, sondern nur eine Puppe war, die in das Eisbärengehege gefallen war und nun im Wasser schwamm. Die einzige, die jetzt noch heulte, das war jenes kleines Mädchen, welches auf dem Arm ihrer Mutter ihrem geliebten Püppchen nachsah und nun mit entsetzten zusehen mußte, wie der große Eisbär ins Wasser sprang und zielstrebig auf ihr Kostbarstes zu schwamm. Und der kam sehr schnell näher. „Toni! Raus da!“, schrie plötzlich jemand neben den Beiden und zeigte mit der Hand erst auf den Eisbären, und als dieser nach oben schaute, auf einen Platz oberhalb des Wassers. Zuerst hatte sie sich erschrocken. Doch dann sah die Mutter des Mädchens mit offenem Mund zu, wie der Eisbär zu ihnen nach oben geschaut hatte und dann gehorsam ans Ufer schwamm. Ungläubig starrte sie daraufhin den jungen Mann an. Er blickte kurz zu ihr herüber. Doch dieser kurze Augenkontakt genügte, um die Mutter völlig zu verwirren. Doch bevor sie sich fangen konnte, ging dieser Mann am Gehege entlang und verschwand in einen kleinen Raum, der an das Gehege grenzte. Es vergingen einige Sekunden, da schrie die Menge erneut auf. Denn der junge Mann betrat durch eine Seitentüre das Gehege, obwohl die Tiere noch in ihm waren. Doch ohne sich an die oben liegende Bärin und dem am Wasser stehenden Bären zu stören, ging er hinunter an das Becken und besah sich die Bescherung. Und nachdem er sah, daß er so nicht an das Püppchen heran kam, ging er wieder hoch. Am Anfang der Rutsche blieb er stehen und zog sich bis auf die Unterhose, in diesem Fall eine Badehose, aus. Die Menschen hielten erneut den Atem an, weil der Eisbär Toni unterdessen zu ihm gekommen war. Alle schauten sie auf den Eisbären. Alle, bis auf eine. Denn sie hatte nur Augen für den jungen Mann. Als der Mann sich auf die Rutsche setzte kam der Eisbär zu ihm hin. Erneut hielt die Menge den Atem an. Doch bevor er ihn erreicht hatte, da rutschte der Mann bereits herunter. Sekunden später sprang der Eisbär ebenfalls auf die Rutsche und rutscht hinterher. Erneut schrieen die Menschen am Gehege angstvoll auf. Doch als die Beiden im Wasser nebeneinander wieder auftauchten, machte der Bär keinerlei Versuche ihn anzugreifen. Zielstrebig schwammen beide zum Objekt ihrer Begierde. Doch der Eisbär gehorchte, als der Mann sagte: „Toni! Weg da!“ Toni drehte ab und der Mann ergriff die Puppe. Dann schwamm er zurück an das Ufer. Mit dem Püppchen in der Hand stieg er hoch zu seinen Kleidern. Als er dann oben seine Kleidung aufnahm war auch der Bär aus dem Wasser und kam zu ihm. Doch da passierte etwas, womit weder er, noch die Menschen oben gerechnet hatten. „Toni!“, schrie der Mann auf, als der nasse Eisbär neben ihm stand und sich erst hier das Wasser aus seinem Pelz schüttelte und ihn so, von oben bis unten naß spritzte. Doch der Bär sah ihn nur unschuldig an. Doch irgendwie hatte man das Gefühl, das er es mit Absicht gemacht hatte. Sein Gesicht sah richtig schadenfroh aus. Soweit man dies bei einem Eisbären sagen konnte. Jedenfalls hatte der große zottelige weiße Bär die Lacher der Zuschauer auf seiner Seite. Selbst die Mutter des Mädchens mußte lachen. Kopfschüttelnd, aber ebenfalls lachend, ging der Mann nach oben zu jener Türe, durch die er in das Gehege hineingekommen war. Einige Minuten später öffnete sich dann auch die Türe neben dem Gehege und der Mann stand angezogen und halbwegs trocken, sah man von den nassen Flecken auf seinen Sachen und die noch vom Wasser triefenden langen braunen Haare ab, vor der Mutter und dem Mädchen. Die Kleine stand direkt vor ihm und hatte ihre Hände zu ihm erhoben. Der junge Mann war der Mutter gleich sympathisch gewesen. Obwohl sie noch vom ersten Schrecken gezeichnet war, waren ihre Augen voller Bewunderung, noch ehe er „Raus da“ gerufen hatte. Er war etwa ein halben Kopf größer als sie. Und sein Gesicht, sie konnte es in diesem Moment nur im Profil sehen, gefiel ihr sehr. Erst als er ihr einen kurzen Blick zuwarf, sah sie seine braunen Augen. Dann war er ja auch schon fort gewesen. Doch der Blick seiner Augen hatte sie schon gefangengenommen. Eine Gänsehaut jagte ihr in diesem Moment über den Rücken. Lange hatte sie ihm hinterher gesehen, als er um das Gehege herumging. Sein braunes Haar wehte hinter ihm her, welches ihm bestimmt bis auf seine Schultern reichte, wenn nicht noch länger, und schien in seiner Fülle ihrer eigenen Haarpracht in nicht nachzustehen. Seine Bewegungen verrieten ihr, daß er nicht hinter einem Schreibtisch verkümmerte. Schlank war er, aber nicht dünn. Sein T-Shirt spannte sich um seinen muskelösen Oberkörper. Und als er in seiner Badehose im Gehege stand, da sah sie dort einen real gewordenen Adonis stehen. Solch einem Mann wäre sie gerne früher begegnet, wünschte sie sich in diesem Moment. 6 Jahre früher. Dann wäre alles nicht passiert. Als er aus dem Gehege ging, setzte sie ihre Tochter ab, nahm sie an die Hand und ging mit ihr zu jener Türe, durch die er gleich herauskommen mußte. Ein, zwei Minuten später kam er auch dort heraus und ihr Herz blieb stehen. Als er herauskam stand sie vor ihm. Und vor ihr stand das kleine Mädchen. Mit erhobenen Händen wartete sie darauf, daß er ihr das Püppchen gab. Er ging in die Hocke und gab es ihr. „Danke.“, heulte das kleine Mädchen und nahm es entgegen. Dann hob sie einen Arm und schlang ihn um seinen Hals. Er erhob sich und das Mädchen schlang ihre Beine um seine Taille, ließ seinen Hals nicht los. Er faßte unter sie und hatte sie so auf seinem Arm. „Du mußt aber aufpassen. Zum Glück konnte dein Püppchen schwimmen.“ Das Mädchen schaute ihn an und nickte. Dann klammerte sich erneut an seinen Hals. „Wieso läßt du es nicht zu Hause?“ „Dann sieht Helena doch die Tiere nicht.“ „Aber du kannst ihr abends alles erzählen. Dann stellt sie sich einen Elefanten noch größer vor, als er in Wirklichkeit ist.“ Die Frau lächelte. „5 für 13.“, plärrte es in diesem Moment aus dem kleinen Funkgerät, welches an seinem Gürtel hing. Er nahm es in die Hand und sagte: „13 hört.“ „Bei Ursula ist es soweit.“ „In Ordnung, ich komme.“ Dann hing er es sich wieder an den Gürtel. „So Spatz ich muß zu den Zebras.“ „Darf ich mit?“, fragte ihn die Kleine bittend, noch bevor er weiterreden konnte. „Das kann ich nicht entscheiden.“, antwortete er und schaute zu der Frau hin. Die Kleine drehte sich zu ihr herum und sagte: „Ja? Bitte.“ Die Frau lächelte und fragte: „Geht das denn?“ „Natürlich geht das.“ Und als sie sich in Bewegung setzten, klammerte sich das Mädchen auch weiterhin an ihn. Die Mutter an seiner Seite, so gingen sie langsam, aber zielstrebig zum Zebragehege. Dort befand sich, an der Seite des Geheges, ein hölzernes Gatter. Im Gehege stand schon ein Mädchen am Gatter und wartete auf ihn. Es war eine der Tierpflegerinnen. „Ich hab noch Besuch mitgebracht.“ Die Tierpflegerin lächelte und ließ sie herein. Sofort kamen einige Zebras auf sie zu. Die Mutter hielt ihn am Arm fest. „Ist das nicht gefährlich?“ „Nein. Ich würde sie“, und damit nickte sein Kopf auf das Mädchen auf seinem Arm hin, „niemals in Gefahr bringen. Sie nicht und dich auch nicht.“ „Ehrlich?“ Doch anstatt jetzt, wie sie es erwartet hatte, mit „ja“ oder „nein“ zu antworten, sagte er: „Ich werde euch auch niemals anlügen.“ Doch da kam auch schon das erste Zebra an sie heran und das Mädchen streckte seine Hand aus. Unter den ängstlichen Augen ihrer Mutter schnupperte das Tier an der Hand ihrer Tochter. Diese hob daraufhin ihre Hand, und streichelte ohne jede Angst dem Zebra über die Nase. „Das ist Erika.“, flüsterte er dem Mädchen zu. Und nach einigen Sekunden flüsterte er: „Und das ist Herma.“ Ein weiteres Tier war zu ihnen gekommen und das Mädchen streichelte auch dieses. Dann aber ging er weiter. Mit einigem Sicherheitsabstand zu den Tieren, folgte die Mutter ihnen. Sie betraten eine Art Stall und fanden sich, umgeben von drei weiteren Personen vor einer Box wieder. Dort stand ein Zebra und leckte gerade sein Neugeborenes trocken. „Süß! Mama, schau mal. Ein Babyzebra!“, rief das Mädchen entzückt aus. Er zuckte unmerklich zusammen. Dann aber sagte er: „Scheint so, daß ich spät dran bin.“ „Ja. Zwei Minuten.“ „Und? Was ist es?“ „Keine Ahnung.“, antwortete der Angesprochene, welcher einen weißen Arztkittel trug, „Ich geh doch nicht zu ihr rein. Ich liebe meine Knochen als Ganzes.“ Ohne sich weiter um die Umstehenden zu kümmern, nahm er ein Stethoskop aus der Tasche, welche auf der Brüstung der Box stand und ging mit dem Mädchen auf seinem Arm in die Box. Die frischgebackene Zebramama hob den Kopf und schaute zu ihnen hin. Dann leckte sie ihr Junges weiter trocken. Unter den angstvollen Blicken ihrer Mutter setzte er das Mädchen bei dem Neugeborenen ab und horchte es mit dem Stethoskop ab. Das kleine Mädchen sah ihm dabei erstaunt zu. Da nahm er das Stethoskop aus seinen Ohren und steckte es in die Ohren des Mädchens. „Hörst du das kleine Herzchen?“ „Ja.“ „Und?“ „Das geht ja ganz schnell.“, flüsterte sie mit leuchtenden Augen. Er hob eines der Beine des Fohlens hoch und ließ es Sekunden später wieder herab. Dann gingen sie zurück zur Brüstung. Doch bevor er dort ankam, blieb er ruckartig stehen und besah sich den Bauch der Zebramutter. Dann hörte er ihn ab. Das kleine Mädchen schaute ihm auch dabei interessiert zu. Dann durfte sie hören. „Das ist die Mama.“, sagte er. „Das ist viel langsamer als eben.“ „Und jetzt?“ Er versetzte das Stethoskop etwas. „Das ist wieder schnell.“, flüsterte sie. Er hob die Kleine hoch und setzte sie auf die Brüstung ab. Dann füllte er ein Formular aus. „Wie heißt du?“, fragte er sie. „Rosi.“, erwiderte das Mädchen. „Also heißt das Fohlen jetzt Rosi.“ Er schrieb den Namen in das Formular. „Ein Stutenfohlen?“, fragte der Mann in dem weißen Kittel. „Ja.“ „Na, dann sind wir ja hier fertig.“ „Ich ja.“, er schaute auf seine Uhr, „Ich hab jetzt Feierabend. Ihr nicht.“ „Ich weiß. Aber es ist eh nichts mehr zu tun.“ „Doch, hier.“ „Ach ja? Und was? Sie haben das Geschlecht doch bestimmt und es auch abgehört.“ „Bewegt sich der Bauch der Stute?“ Der angesprochene im weißen Kittel schaute auf den Bauch der Stute. Einige Sekunden später weiteten sich seine Augen. „Noch eins!?!“ „Jepp. Ich wünsch noch viel Spaß. Ich verzieh mich jetzt.“ Und zu der Mutter gewandt sagte er: „Wenn ihr wollt, könnt ihr gerne hierbleiben und zusehen. Wenn ihr geht, wird euch einer von ihnen rausbringen.“ Als er ging, hörte er noch, wie die Kleine bettelte. „Hierbleiben. Baby sehen.“ Sie schaute ihre Tochter sehr lange an. „Willst du wirklich?“ „Ja Mama. Bitte.“ Schließlich nickte sie. Doch als sie sich wieder zu ihm hindrehte, war er bereits fort. Er war sehr leise gewesen, denn sonst hätte sie gehört, wie er gegangen war. Sie war mehr als enttäuscht. Zu gerne wäre sie noch mit ihm zusammengewesen. Sie brauchte einige Minuten um sich zu überwinden, dann fragte sie einen der hier anwesenden, wer jener Mann gewesen sei. „Das war Ulrich. Dr. Ulrich Richter.“, sagte eine der Tierpflegerinnen zu ihr. „Dr.?“ „Ja. Er ist der Leiter unserer Tierklinik.“ „Der ist aber noch sehr jung. Oder?“ „Ja. Erich, wie alt ist Ulrich jetzt?“ „24?“ „Nein 23.“, warf eines der der Mädchen ein, „Er wird im Februar 24. Am siebten.“ „Also 23.“, bekam sie nun zur Antwort. 23 dachte sie. Zwei Jahre älter als sie es war.
Es war fast 18 Uhr. Die Besucher des Zoos waren schon größtenteils gegangen, da der Zoo um 18 Uhr schloß. Er war nach dem Besuch im Zebragehege nachdenklich durch den Zoo gegangen und ging nun nach Hause. Das Bild der Beiden schwebte ständig vor seinen Augen. Rosi war so ein hübsches kleines Mädchen. Die schwarzen Augen mußte sie von ihrer Mutter haben. Und auch das pechschwarze lange Haar. Erst hatte er gedacht, daß sie Geschwister wären und er hatte sich Hoffnungen gemacht. Doch dann hatte das Mädchen „Mama“ gesagt. Und damit waren seine Hoffnungen mit einem Schlag zerstört worden. Schade, sagte er sich. Das wäre ein Mädchen nach seinem Geschmack gewesen. Schlank, schöne Figur, sehr üppige Brüste, schwarze Augen, langes schwarzes Haar. Sie trug ein T-Shirt, was ihre Oberweite sehr hervorhob. Dazu einen kurzen weiten Rock, der eine gute Handbreit über ihren Knien geendete hatte und ihre Beine freigab. Schöne Beine. Sie war das, was er sich schon oft in seinen Träumen vorgestellt hatte. Und seine Hoffnung, sie näher kennenzulernen, war rapide angestiegen. Am Eisbärengehege kam die Gelegenheit. Und alles lief zu seiner vollsten Zufriedenheit. Bis Rosi im Gehege „Mama“ sagte, und mit diesem Wort alles wieder zunichte gemacht hatte. Sie war verheiratet! Wie sehr war er enttäuscht gewesen. Aber da konnte man nichts machen. Er würde weitersuchen müssen. Aber ob er jemals wieder ein Mädchen wie sie treffen würde? An so ein Glück glaubte er nicht. Daß er überhaupt jemals ein solches Mädchen, wie eben, sehen durfte, das schien ihm schon ein riesiger Glücksfall gewesen zu sein. Nur Schade, daß sie schon besetzt war. Und so ging er nachdenklich nach Hause. „Hallo!“, tönte es plötzlich in einiger Entfernung vor ihm. Und die Stimme kannte er. Und als er hochblickte, kam Rosi auch schon auf ihn zugerannt. Er fing sie mit beiden Händen auf und wirbelte sie einigemal herum. Dann klammerte sie sich wieder an seinen Hals und er hielt sie auf seinem Arm. „Na mein Schatz, wie war es bei den Zebras. Hast du das zweite Fohlen auch gesehen?“ „Ja.“, nickte sie mit leuchtenden Augen. „Und? War es ein Junge?“ „Nein. Auch ein Mädchen.“ „Aha. Und? Hat es denn auch schon einen Namen?“ „Ja.“ „Wie heißt es denn?“ „So wie die Mama.“, sie deutete auf ihre Mutter, die nun auch bei ihnen stand. „Ach ja? Und wie heißt die Mama?“ „Anastasia.“ „Anastasia. Na, das ist ja fast so ein hübscher Name wie Rosi.“ Die Kleine wurde rot und verbarg ihr Gesichtchen an seiner Brust. Aber nur kurz. Dann schaute sie ihm wieder in die Augen. „Geht ihr jetzt nach Hause?“, fragte er Anastasia. „Ja, wird auch Zeit.“ „Gehst du jetzt auch nach Hause?“ „Ja Schatz.“ „Wo wohnst du denn?“ „Rosi!“ „Da drüben.“ Er drehte sich mit ihr, damit sie das Haus sehen konnte. „Boh! Das ist ja ein richtiges Schloß.“ Zwar war sein Zuhause kein Schloß, aber mit seinen beiden Türmchen konnte es für ein kleines Mädchen doch schon zu einem Schloß werden. „Gibt es da auch eine richtige Prinzessin?“ „Nur wenn du mich besuchen kommst.“ Erneut wurde sie rot und verbarg ihr Gesichtchen an seiner Brust. Doch dann fragte sie: „Wohnst du da ganz alleine?“ „Rosi.“, rief ihre Mutter erneut, da es ihr peinlich war, das ihre Tochter ihn ausfragte. Doch er beachtete ihren Einwand nicht. „Nur mit meinen Tieren.“ „Was hast du für Tiere?“ „In dem Turm da“, er deutete auf den linken, „da wohnt ein dicker alter Uhu. Und in dem Turm, DA, siehst du sie.“ In dem Moment flog gerade ein Vogel in den Turm. „Ja.“ „Das ist ein Wanderfalke. Das wohnt ein Pärchen. Sie brüten immer in dem Turm. Und in dem Dach dazwischen wohnen Fledermäuse.“ Sie schaute ihn mit ihren großen Augen ungläubig an. „Was hab ich euch gesagt? Das ich euch nie belügen werde?“ Sie nickte mit ihrem Köpfchen. „In der Küche da drüben, da wohn eine kleine weiße Maus. Und dann hab ich noch meine Miezekatze.“ „Eine Miezekatze?“ „Ja.“ „Kann ich die streicheln?“ „Bestimmt. Das ist eine richtige Schmusekatze.“ „Jetzt?“ „Ich glaub eher, daß die Mama nach Hause muß. Abendessen machen. Der Papa wird bestimmt schimpfen, wenn er nach Hause kommt und kein Essen hat.“ „Wie sind alleine. Nur die Mama und ich.“ Ohne es nach außen hin zu zeigen, hatte ihn diese Nachricht sehr aufgeregt. Alleine! Ob es vielleicht doch möglich wäre? „Dann mußt du die Mama fragen.“, sagte er voller Hoffnung. Sie drehte sich zu ihrer Mutter hin und sah sie bittend an. Er konnte sie bereits wanken sehen. Also half er noch ein wenig nach, sie in die richtige Richtung zu bringen. „Ich mach euch einen Vorschlag. Ich lad euch zum Abendessen ein. Dann brauchst du zu Hause nicht zu kochen und ich sitz nicht wieder alleine zu Hause rum.“ „Abends gibt es nichts Warmes. Nur Brote.“ „Na, Brot hab ich. Und was für drauf auch.“ „Mama.“ „Ja, Mama.“, fügte er lachend hinterher. „Bitte.“ Sie wankte noch einige Sekunden. Schon als Rosi ihn entdeckt hatte, schlug Anastasias Herz schneller. Niemals hätte sie geglaubt, ihn heute noch einmal zu sehen. Und nun kam er ihnen entgegen. Rosi wollte natürlich sofort zu ihm hin und sie ließ sie. Lächelnd sah sie ihr hinterher, wie sie mit ausgebreiteten Armen auf ihn zulief. Er fing sie auf, wirbelte sie einigemal herum und nahm sie dann auf den Arm. Süß, wie sie sich gleich an seinen Hals klammerte. Sie schien ihn sehr zu mögen. Und sie selbst schien auch nicht abgeneigt zu sein. Schließlich schlug ihr Herz noch schneller, als er sie nun ansah. Und als er sagte, das Anastasia fast so ein schönen Name war wie Rosi, da wußte sie, das er beide Namen schön fand. Denn dies verrieten ihr seine Augen, mit der er sie dabei angesehen hatte. Als er Rosi sagte, daß er in jenem Haus wohne, wurden sie schwach. Denn sie bewunderte dieses Haus schon lange. Und als er dann auch noch Rosis Vater ins Spiel brachte, und Rosi ihm sagte, daß sie alleine wären, da hoffte sie innständig, daß er sie absichtlich danach ausfragte. Und dann machte er den Vorschlag bei ihm zu essen. Es stimmte. Eigentlich wären sie jetzt nach Hause gegangen. Sie hätten zu Abend gegessen und noch etwas gespielt. Dann wäre Rosi ins Bett gegangen und sie hätte sich auf das Sofa gelegt und noch etwas gelesen. Sie sträubte sich etwas. Innerlich allerdings hatte sie schon längst „ja“ gesagt. Schließlich gab sie nach, bevor er es aufgab. Und so ging sie mit ihm auf das Haus zu. Es schien nicht so, das Rosi sich von ihm trennen wollte. Sie hatte ihre Ärmchen fest um seinen Hals geschlungen. Und er schien sie mehr als nur auf seinem Arm zu haben, denn er hielt seinen anderen Arm um sie herum. Das Haus kam immer näher. Sie hatten es schon oft gesehen und sie hatte sich gefragt, wie es wohl von innen aussehe, wie es wäre, in diesem verträumten Haus zu wohnen. Rosi hatte es genau getroffen, als sie sagte es wäre ein Schloß. Die roten Backsteine, die Türmchen. Es wirkte so verträumt, so romantisch. Es mußte schön sein darin zu wohnen. Und nun würde sie es von nahem sehen. Und mehr noch. Sie würde es gleich auch von innen sehen. Als sie fast vor dem kleinen Tor standen, kam ihnen ein Mädchen in der Uniform der Tierpfleger entgegen und grüßte. Da stoppte er und rief ihr nach. „Barbara?“ „Ja.“ „Könntest du mir noch schnell einen Gefallen tun?“ „Ja, warum nicht.“, antwortete sie mit einem strahlen im Gesicht. „Würdest du Renana holen und zu mir bringen?“ „Klar. Gerne. Kann aber was dauern.“, lachte sie. „Ich weiß, die Schmusestunde. Hauptsache, du bringst sie mir.“ „Gemacht.“ Sie ging schnellen Schrittes weiter, während er das kleine Tor öffnete. „Immer herein in Dornröschens Schloß.“ Er ließ sie vorbei und schloß hinter sich das Tor. Der kleine Gang, kaum 5 Meter lang, lag parallel zum Zaun. An seinem Ende befand sich ein weiteres Tor, sodaß alles wie ein „Z“ angelegt war. Dort öffnete er das Tor und sie traten auf das Gelände. Die Beiden staunten. Von draußen war es schon schön. Aber jetzt, kaum 10 Meter vor den Mauern, war es wunderschön, traumhaft, romantisch. Der Efeu rankte sich schon bis gut 5 Meter in die Höhe. Noch eine Weile und es würde ganz mit Efeu überwachsen sein. Damit wäre es wirklich zu Dornröschens Schloß geworden. Ohne Rosi vom Arm zu nehmen, führte er die Beiden die Stufen zum Eingang hinauf. Die große zweiflügelige Türe stand weit offen und sie konnten eine große Halle sehen. Links war eine Treppe, die nach oben führte, von wo sie, von links nach recht, als Gang weiterlief. Sie konnte auf dem Gang drei abgehende Öffnungen sehen, aber keine Türen. Da führte er sie nach links. Alexandra kam aus dem Staunen nicht heraus. Denn nun betraten sie ein Wohnzimmer, welches fast schon so groß war wie ihre ganze Wohnung daheim. Besonders der offene Kamin fiel ihr gleich ins Auge. Schon immer träumte sie davon, im Kerzenlicht vor einem Kamin zu sitzen und ein Glas Wein zu trinken. Dem Kamin gegenüber stand ein Sofa. Es ging hinten über Eck. Davor stand ein massiver Holztisch und direkt am Eingang, gegenüber dem kurzen Stück Sofa, ein Sessel, passend zum Sofa. Neben dem Kamin, auf beiden Seiten, standen Schränke. Einzig über dem Kaminsims war etwas, was sie nicht definieren konnte. Es war eine dunkle Fläche, etwa 1.50 mal 80 groß, Vielleicht ein Bilderrahmen, in dem das Bild noch fehlte? Gegenüber dem Eingang gab es einen weiteren Durchgang. Da sie einen Kühlschrank erkennen konnte, war ihr klar, daß dies die Küche sein mußte. „Setz dich.“, sagte er zu ihr und deutete auf den Sessel. Anastasie setzte sich und wäre fast in ihm versunken. So weich war er. Er setzte Rosi neben ihr auf dem Sofa ab. „Möchtet ihr etwas trinken?“ Beide nickten. „Ich habe Sprudelwasser, Limo, Cola, Bier, Wein, Fruchtsäfte, selbstgemachten Zitronensaft“ „Zitronensaft.“, fiel Rosi ein. „Und du?“ „Eine Cola?“ „Kein Problem.“ Er ging zum Schrank und holte drei Gläser heraus, die er auf den Tisch stellte. Dann eilte er in die Küche und kam mit einer Glaskanne und einer kleinen Flasche Cola zurück. Letzeres öffnete er und goß ihr etwas in ihr Glas. Dann nahm er Rosis und sein Glas und goß den Zitronensaft ein. Er setzte sich neben Rosi auf das Sofa und sie tranken. „Hunger?“, fragte er. Rosi schüttelte ihren Kopf. „Also wenn ich ehrlich bin, ich auch noch nicht.“ „Dann warten wir mit dem Abendbrot noch etwas. „Bin schon da.“, hörten sie da eine Stimme, die dem Mädchen von vorhin gehörte. Anastasia drehte sich nicht herum. Doch Rosis Augen wurden immer größer. „Darf ich sie mit nach Hause nehmen?“, fragte jenes Mädchen. „Du kennst doch meine Antwort.“ „Bitte.“ „Da brauchst du nicht zu betteln, du kennst die Antwort.“ Das ging noch einige Sätze weiter und Anastasia grinste. Rosi schaute ihn an und er nickte ihr nur zu. Langsam stand sie auf und ging zu dem Mädchen, welches gerade mit einer riesigen Katze schmuste. „O.K. Dann bin ich jetzt weg. Bis Montag. Schönen Abend noch.“ „Danke Barbara, dir auch.“ Erst jetzt schälte sich Anastasia aus dem Sessel hervor und drehte sich herum um Rosi nachzusehen. Da erstarb ihr grinsen. Sie sah einen Tiger auf dem Boden liegen und ihre Tochter gab ihm gerade einen Kuß auf die Nase. Ihr Herz blieb stehen, als sie sah, wie die lange Zunge des Tigers über das Gesicht ihrer Tochter leckte. „Rosi! Komm her mein Schatz.“ „Miezekatze.“, antwortete sie mit leuchtenden Augen und kam zu ihrer Mutter. Sie riß sie förmlich an sich. „Aua Mama. Du tust mir weh.“ Sie schaute ihn an und zitterte. „Bist du verrückt! Wie kannst du sie mit dem Tier zusammen lassen?“ „Du hast doch gesehen, daß sie sich mögen.“ „Als Abendessen vielleicht.“ Er sah, wie sie ihn vorwurfsvoll anblickte. „Was hab ich dir vorhin gesagt?“, fragte er. „Das du uns nie belügen würdest?“ „Nein, das andere. Das ich euch niemals in Gefahr bringen würde.“ „Ja.“ „Ich hätte euch niemals mitgenommen, wenn es für euch gefährlich wäre.“ „Ich möchte gehen.“ „Mama.“ „Wie du möchtest.“ „Nein.“ „Sei ruhig!“ „He! In meinem Haus schrei nur ich.“ Rosi begann zu weinen und befreite sich aus der Umklammerung ihrer Mutter und lief zu ihm hin. Er hob sie sofort hoch und sie schlang ihre Arme und Beine um ihn. Heulend verbarg sie ihr Gesicht an seiner Brust. „Rosi!“ „Wieso schreist du dein Kind an. Nur weil du mir nicht vertraust? Ich hab dir gesagt, daß es nicht gefährlich ist. Aber du glaubst mir nicht. Schade. Komm, wir gehen.“ Er reichte ihr die Hand um ihr aus dem Sessel zu helfen, doch sie ignorierte sie. Er ging vor, ließ aber Rosi kurz vor dem Eingang zum Wohnzimmer herunter. So konnte sie Renana noch schnell streicheln. „Rosi!“ Die Kleine ging weiter Richtung Ausgang. Voller Panik drückte sich Anastasia an die Wand, während sie sich an der Katze vorbeidrückte. Hatte sie nun gedacht, daß sie es geschafft hatte, so wurden ihre Hoffnungen zunichte gemacht. Denn er rief das Untier und sie ging an seiner Seite mit hinunter zum Ausgang. Und als er sie in den Gang ließ, kam sie ebenfalls mit. Sofort riß sie Rosi an sich, die schon ihr Ärmchen zu Renana hingestreckt hatte, und diese ihren Kopf an ihrer kleinen Hand rieb. Endlich gab die äußere Türe nach und sie schob Rosi vor sich hin hinaus. Draußen stürmte Rosi sofort wieder zu ihm. Er nahm sie auch gleich hoch und ging zum Ausgang des Zoos. „Willst du hierbleiben?“, fragte er sie, da Anastasia stocksteif stehen blieb, da Renana um sie herum ging. Erst als er sie am Arm packte erwachte sie aus ihrer Trance. Sie riß sich von seinem Arm los und ging mit ihm Richtung Ausgang. Schweigend. Nur Rosis weinen war zu hören. Erst als sie kurz vorm Ausgang waren sprach sie wieder. „Wie konntest du nur?“ „Was.“ „Das ist eine Raubkatze!“ „Hat Renana Rosi gekratzt? Fehlt ihr auch nur ein Finger? Du hast doch gesehen wie lieb sie ist. Barbara hat sie uns gebracht. Fehlte bei ihr was?“ Sie wußte darauf keine Antwort. Dennoch glaubte sie ihm nicht. Ohne ihm zu antworten gingen sie weiter. Am Tor ließ er Rosi herab und schloß es auf. Anastasia zog Rosi mit sich. Erst als sie draußen waren sagte er: „Schade, daß du mir nicht vertraust. Schade, daß du mich in den Topf zu den anderen schmeißt.“ Dann schloß er das Tor und ging. Nur Renana blieb am Tor. Rosi rannte zu ihr. Aber das Plexiglas im Tor hinderte sie daran Renana zu berühren. Anastasia nahm Rosis Hand und zog sie mit sich. Schweigen gingen sie nach Hause. Schräg gegenüber dem Eingang trafen sie auf Barbara, die mit ihrem Freund gerade aus einem Haus herauskamen. „Schon zu Ende?“, fragte sie erstaunt. Anastasia antwortete nicht. Nur Rosi weinte noch. „Sie haben ihm nicht geglaubt das Renana lieb ist. Richtig?“ Anastasia blieb stehen. „Er hat ihnen doch am Zebragehege gesagt, daß es sie beide niemals in Gefahr bringen würde.“ Doch Anastasia reagierte nicht. „Schade.“, sie nahm die Hand ihres Freundes, dann ließ sie die Beiden stehen und ging. Sie sprachen kein Wort. Und als sie zu Hause angekommen waren, sollte Rosi sich gleich ausziehen, sie würde das Abendessen machen. Während sie die Brote machte, ärgerte sie sich über ihn. Wie konnte er das nur machen? Das war doch keine Katze. Das war eine Raubkatze. Ein Raubtier, ein Fleischfresser. Kein Stubentiger, ein richtiger. Beinahe hätte sie sich in die Hand geschnitten, so sehr zitterte sie noch vor Aufregung. Als sie fertig war, rief sie Rosi. Doch sie kam nicht. Auch auf ihren zweiten Ruf hin kam sie nicht. Daher ging sie in Rosis Zimmer. Erstaunt sah sie, daß Rosi sich nicht nur ausgezogen hatte, sondern auch schon in ihr Bett gegangen war und schlief. Ohne Abendessen. Und auch ohne ihr Püppchen. Denn dies hatte Anastasia sich in ihre Tasche gesteckt, als sie bei den Zebras waren. Und dort steckte es noch immer. Das war noch nie vorgekommen. Normalerweise schlief sie ohne ihr Püppchen nicht ein. Anastasia ging zu ihr und wollte sie zudecken. Da sah sie den nassen Flecken auf dem Kopfkissen. Da, wo sie mit ihrem Gesichtchen lag. Rosi hatte geweint. Und dem Fleck nach zu urteilen, nicht gerade wenig. Und sie hatte es nicht gehört. Sie zog das Kissen unter ihrem Kopf etwas hervor, damit sie nicht im nassen lag. Dann ging sie hinaus, löschte das Licht und schloß die Türe. Sie setzte sich auf das Sofa und starrte auf die Brote. Jetzt hatte auch sie keinen Hunger mehr. Sie legte sich aufs Sofa und schloß ihre Augen. Sie fühlte sich schuldig. Schuldig an den Tränen ihrer Tochter. Aber sie hatte doch Angst um sie gehabt. Rosi war doch das einzige, was ihr noch geblieben war. 9 Monate lang hatte sie sie gehaßt. Doch als sie den ersten Schrei von ihr gehört hatte, sie auf ihrer Brust gespürt hatte, da vergaß sie die Adoptionspapiere und liebte sie. Sie unterschrieb sie nicht. Stattdessen behielt sie Rosi, kümmerte sich so liebevoll um sie, daß sie sich nicht vorstellen konnte, daß sie sie hatte fortgeben wollen. Sie wollte sie nicht verlieren. Darum war das doch alles passiert. Dabei war sie doch so glücklich gewesen, als sie ihn vorhin wiedergesehen hatte. Und dann fing sie an zu weinen. Er schlenderte sehr lange durch den Zoo. Seine Gedanken waren ständig bei ihnen. Bei ihr und ihrer Mutter. Er vermißte den kleinen Engel schon. Aber ihre Mutter auch. Schade das Anastasia ihm nicht vertraute. Dabei hätte er doch alles für die Beiden getan. Na ja, fast alles. Renana hätte er niemals fortgegeben. Sie war seine kleine Tochter. Aber sonst hätte er wirklich alles für die Beiden gemacht. Er setzte sich schließlich auf eine Bank und Renana setzte sich neben ihn auf den Boden, legte ihren Kopf auf seine Beine. Sonst kam sie bei solchen Gelegenheiten immer an ihm hoch und leckte ihn ab, wollte schmusen. Aber heute nicht. Als er zu ihr herabsah, schaute sie ihn traurig an. Es schien wirklich so zu sein. Sie trauerte. Er streichelte ihren Kopf. Doch selbst das konnte sie nicht aufmuntern. Sie schien die Maus auch zu vermissen. „So spät noch hier?“, drang plötzlich eine Stimme an sein Ohr. Er blickte hoch und staunte. Karl, der im Zoo mit noch drei anderen die Nachtwächterfunktion inne hatte, stand dort drüben. „Karl?“ „Wer sonst?“ „Wie spät ist es denn?“ „Zwanzig vor zwölf.“ „Was!?!“ „Sie haben wohl die Zeit vergessen?“ „Das kann man wohl sagen.“ Karl lachte und ging weiter. Er stand auf und ging mit Renana nach Hause. In der Nacht kam sie zu ihm ins Bett. Das machte sie sehr oft. Aber in dieser Nacht schmuste sie nicht mit ihm. Sie legte nur ihren Kopf auf seine Brust und er streichelte sie.
Probleme Die kommenden Wochen waren für alle Beteiligten die reinste Hölle. Und alle vier gingen mit ihren Kummer auf ihre ganz spezielle eigene Art und Weise um. Sie schmälerten ihn nicht, geschweige denn verbannten ihn aus ihren Leben. Man lebte mit ihm. Obwohl für jeden von ihnen nur ein Schritt ausgereicht hätte, um aus dem Dilemma herauszukommen, niemand brachte den Mut auf, diesen entscheidenden Schritt zu tun. Und so blieb der Kummer ihr bester Freund. Und das war nicht leicht. So wie bei Ulrich. Seit jenem verhängnisvollen Abend hielt Ulrich jeden Tag im Zoo nach ihnen Ausschau. Doch so sehr er sich auch anstrengte, nirgends war auch nur ein Zipfel von ihnen zu sehen. Täglich drückte er sich um die Arbeiten im Krankenhaus und überließ sie den anderen vier Ärzten seines Teams. Und die waren mehr als froh darüber. So hatten sie ein festes Tagesprogramm. Und dies war in der Zeit sehr klein. Es gab kaum Patienten im Revier. Und so übernahm er für sie die täglichen Inspektionen und mußte sich so gut wie jedes Tier im Zoo ansehen und bei eventuellen Notrufen schnell zum jeweiligen Gehege laufen um Erste Hilfe zu leisten, bis das der diensthabende Arzt zu ihnen kam. Und so kam er täglich überall im Zoo herum. Und er suchte nach ihnen. Aber leider ohne jeden Erfolg. Und wenn er dennoch im Revier arbeiten mußte, so konnte er sich bei den Untersuchungen nicht richtig konzentrieren. Zwar machte er keine Fehler oder übersah etwas. Im Gegenteil. Alle seine Patienten wurden wie immer mehr als gründlich untersucht. Aber alles dauerte etwas länger als sonst. So lange, daß seine Kollegen sich schon wunderten. Und da niemand von ihnen von diesem verhängnisvollen Abend wußte, so konnte sich auch niemand einen Reim darauf machen. Doch meistens war er draußen. Kreuz und quer lief er im Zoo herum. Er schaute ins Restaurant rein, sah sich die Menschen in den Schlangen an den Kassen an, doch er fand keine Spur von ihnen. Zwar sagte er sich immer, daß sie sich in einem anderen Teil des Zoos aufhielten als er. Aber innerlich wußte er genau, daß er sich damit nur belog. Dennoch hoffte er jeden Tag aufs Neue, sie im Zoo anzutreffen. Aber er wußte nur zu genau, daß sie unter der Woche bestimmt nicht in den Zoo kommen würden. Denn wenn Anastasia arbeitete und Rosi in der Zeit im Kindergarten war, dann würden sie bestimmt nicht im Zoo sein können. Und wenn Anastasia bis 16 Uhr arbeitete, dann wäre es doch schon zu spät, um dann noch in den Zoo zu gehen. Vielleicht würde er ja wenigstens Rosi sehen, wenn ihr Kindergarten einen Ausflug in den Zoo machte. Es kam öfters vor, das Schulen oder Kindergärten einen Ausflug hierher machten. Aber in nächster Zeit hatte sich weder eine Schule, noch ein Kindergarten angemeldet. Es blieben ihm also nur noch die Wochenenden als kleiner Hoffnungsschimmer. Und so ging er an den kommenden Wochenenden, erwartungsvoll, mehr Kilometer durch den Zoo, als je zuvor. Dennoch hatte er keinen Erfolg. Sie waren nicht da. Und so ging er jeden Abend völlig entmutigt nach Hause. Dazu kam auch noch, daß er nachts stundenlang wach lag und höchstens ein oder zwei Stunden schlief. Reichlich wenig, doch er kam damit aus. Und ständig dachte er in den Nächten an die Beiden, an den Tag, an den Abend. Er fragte sich, ob er es mit Renana vielleicht zu schnell gemacht hatte. Aber eigentlich hatte er sich so wie jeden Abend verhalten. Entweder holte er Renana aus ihrem Gehege, oder eine der Pflegerinnen tat es, wenn er nach Hause ging. Und die Tierpflegerinnen taten es sehr gerne. So gut wie fast jeden Abend stand eine von ihnen, „rein zufällig“, in der Nähe seines Hauses oder Renanas Gehege und bot sich an, sie für ihn zu holen. Manchmal dachte er, daß sie sich dafür absprachen. Denn nie stand dasselbe Mädchen zweimal hintereinander dort. Dennoch machte er sich Vorwürfe. Das, was hier jeder im Zoo wußte, daß Renana keine Raub, sondern eine liebe Schmusekatze war, das war den Besuchern unbekannt. Und somit auch den Beiden. Einzig Rosi hatte ihm, vielleicht auch aus ihrer kindlichen Naivität heraus, sofort geglaubt. Sie hatte Barbara mit Renana in der Halle schmusen sehen und irgendwie gespürt, daß sie dies auch machen konnte. Und so war sie auch sofort, ohne auch nur die geringste Furcht zu zeigen, zu den Beiden hingegangen und hatte sich sofort mit Renana angefreundet. Nur Anastasia war damit sichtlich überfordert gewesen. Er war anfänglich der Meinung gewesen, sie hätte überreagiert. Doch in ihren Augen hatte er Panik gesehen. Erst viel später konnte er sich in sie hineinversetzen. Dennoch. Wieso hatte sie ihm nicht geglaubt? Hatte er ihr nicht gesagt, daß er sie niemals in Gefahr bringen würde? Sie und die Kleine? Was war bloß in ihrem Leben passiert, das sie kein Verstrauen zu ihm hatte? Renana spürte seinen Kummer nur zu gut. Doch sie konnte ihn nicht aufheitern. Sie schien selber traurig zu sein. Denn sie kam nicht zu ihm um zu schmusen, fraß auch nicht so gierig wie sonst, und in den Nächten lag sie nur mit ihrem Kopf auf seiner Brust ohne sich zu rühren. Vorbei waren auch ihre kleinen Streiche in der Nacht, die sie sehr gerne machte. Streiche in der Art, das er mitten in der Nacht aufwachte, ohne seine Decke, während Renana ihn, eingemummelt, aus der stibitzten Decke anschaute, als wenn nichts gewesen wäre. Auch keine nächtlichen Abstürze mehr aus seinem Bett, wenn sie ihn nachts langsam aber stetig zum Ende des Bettes hin drückte, sodaß er mitten in der Nacht aus dem Bett fiel. Aber wenn sie es gemacht hätte, so hätte er sowieso nicht mit ihr geschimpft. Das hatte er früher nicht gemacht und würde er es jetzt auch nicht tun. Aber selbst dazu wäre er momentan nicht fähig gewesen. Denn er spürte deutlich, daß sie traurig war. Er wußte, daß Renana das kleine Mädchen vermißte. Schließlich hatte Rosi sie ohne Scheu einfach umarmt und sie fest an sich gedrückt. Bei Anastasia und Rosi war es aber auch nicht anders. Eher gesagt war es bei ihnen noch viel schlimmer. Seit jenem Abend war eine unsichtbare Mauer zwischen Anastasia und Rosi errichtet worden. Und Anastasia wußte, daß sie von Rosi errichtet worden war. Zwar versuchte Anastasia ihr Bestes um diese Mauer zu überwinden oder einzureißen, doch sie wußte nicht wie sie es anstellen sollte. Denn mit diesem Problem war sie bisher noch nie konfrontiert gewesen. Bisher war ihre gemeinsame Zeit überaus harmonisch gewesen. Sie hatte noch nie mit Rosi schimpfen müssen. Und bisher hatte Rosi ihr auch noch nie einen Anlaß dazu gegeben. Doch nun dies. Zwar mußte sie nicht mit ihr schimpfen, aber sie drang nicht zu ihr durch. Täglich fragte sie Rosi, wie es im Kindergarten gewesen war. Doch anstatt wie sonst immer, fröhlich über ihren Tag zu reden, beschränkte sich Rosi nun nur auf die nötigsten Antworten. Und selbst diese fielen mehr als spärlich aus. Zuhause schien Rosi ihr aus dem Weg zu gehen. Aber sie tat es nicht offensichtlich oder provokativ. Doch sie hielt sich mehr als sonst in ihrem Zimmer auf. Für ein Mädchen in einer normalen Wohnung wäre dies nichts Besonderes gewesen. Doch die Wohnung der Beiden beinhaltete ein Bad, ein Wohnzimmer und Rosis Zimmer. Sonst nichts. Und in Rosis Zimmer stand nur ihr Bett und der Kleiderschrank von ihnen beiden. Mehr paßte in das kleine Zimmerchen nicht hinein. Außer ihrem Püppchen, es lag neben ihrem Kopfkissen in ihrem Bett, lagen ihre anderen Spielsachen, es waren nicht viele, im Wohnzimmer. Jenes Zimmer, was tagsüber Küche, Eßzimmer, Wohn-und Spielzimmer in einem, und nachts Anastasias Schlafzimmer war. Anastasie schlief nachts auf dem engen Sofa. Und so hätte Rosi abends vor dem Abendessen bei ihr sein müssen. Stattdessen aber ging sie wortlos in ihr Zimmer. Mehr als einmal hatte Anastasia gesehen, wie Rosi in ihrem Zimmer auf dem Boden, mit angezogenen Beinen und diese umfassend, den Kopf auf ihre Knie gelehnt, saß und vor sich hin träumte. Auch ihre abendliche Spielzeit nach dem Abendbrot ließ Rosi einfach ausfallen. Anstatt sich auszuziehen und wieder ins Wohnzimmer zu kommen, um nach dem Abendessen noch etwas mit Mama zu spielen, ging sie nach dem Abendbrot wortlos ins Bett. Ohne Gute Nacht Kuß. Sogar ihr geliebtes Püppchen blieb unangetastet am Kopfende ihres Bettes sitzen. Auch etwas, was früher nie der Fall gewesen war. Ohne ihr Püppchen konnte Rosi nicht einschlafen. Doch nun rührte sie es nicht an. Auch aß Rosi seit dem Tag weniger. Anastasia hatte sie bisher noch nie zum Essen zwingen müssen. Und da Rosi ja etwas aß, machte sie sich darum keine großen Sorgen. Doch beim Abendbrot selbst spürte Anastasia, daß Rosi so schnell wie möglich wieder alleine sein wollte. Denn das bißchen was sie aß, das schlang sie förmlich hinunter. Was ihr aber dann Sorgen bereitete, das war ein Gespräch mit der Leiterin des Kindergartens. Denn eines Morgens hielt diese sie auf und sprach mit ihr über Rosis eigenartiges Verhalten. „Wir machen uns Sorgen um Rosi.“, sagte sie zu ihr. „Wieso?“, fragte sie ängstlich. „Rosi ist wie verwandelt.“ „Wie meinen sie das?“ „Nun, sie beteiligt sich an keinerlei spielerischen Aktivitäten mehr. Sie sitzt immer nur alleine in einer Ecke und träumt vor sich hin. Sie ist sehr verschlossen geworden. Wenn ich es nicht besser wüßte, dann würde ich sagen, sie bringen uns seit neuesten ein anderes Mädchen.“ Anastasia war von dieser Nachricht sehr schockiert. Daß sich das Verhalten ihre Tochter bis auf den Kindergarten ausweiten würde, das hätte sie niemals gedacht. Und so erklärte sie ihr die Umstände. Sie erzählte vom Besuch im Zoo und dem Vorfall mit Rosis Püppchen und dem Eisbären. Die Zebrafohlen, die nun ihre Namen trugen. Auch erzählte sie von dem Tierarzt, der sie zu den Zebras mitgenommen hatte. Nur das Geschehen um und mit Renana, das verschwieg sie ihr wohlweißlich. Denn sie hatte Angst. Angst, daß man ihr Rosi wegnehmen würde, wenn man erführe, daß sie mit einer echten Raubkatze zusammengewesen war. Die Kindergartenleiterin glaubte ihre Geschichte. Und so sagte sie ihr, daß man sich von nun an verstärkt mit Rosi beschäftigen würde. „Wir werden uns vermehrt um sie kümmern und auch auffordern, mit den anderen zu spielen. Vielleicht fängt die dich ja wieder.“ Doch Anastasia wußte das sie dies nicht schaffen würden. Und einige Tage später gab es zu Hause ein weiteres Problem. Es waren Rosis Nächte. Daß Rosi im Bett weinte, bis das sie eingeschlafen war, das sah Anastasia abends am Kopfkissen, wenn sie nochmals zu ihr ging. Es war immer naß. Aber nach einer weiteren Woche fing Rosi an, nachts im Schlaf zu sprechen. Das machte Anastasia ängstlich. Denn dies hatte sie noch nie getan. Sehr oft hörte sie, wie ihr Schatz in der Nacht „Renana“ sagte. Anastasia zitterte. Sie sah die großen Zähne von Renana vor sich. Doch anscheinend schien ihr Schatz von dieser gefährlichen Katze zu träumen. Und so wie es aussah, schien sie diese zu vermissen. Anastasia fing an sich zu fragen, ob sie vielleicht falsch reagiert hatte. Renana hatte ihr doch eigentlich nichts getan. Dennoch fürchtete sie sich vor diesem Ungetüm und seinen gewaltigen Zähnen. Obwohl, Ulrich hatte ihnen doch gesagt, das er sie niemals in Gefahr bringen würde. Sie und Rosi. Da fiel ihr etwas ein. Er hatte es ihnen schon vorher gesagt. Bei den Zebras. Hatte er es ihnen wegen den herannahenden Zebras gesagt? Oder hatte er vielleicht alles schon von Anfang an so geplant? Was sollte sie davon nur halten? Es vergingen weitere unruhige Nächte, in denen Rosi nach Renana rief. Obwohl sie dann immer zu ihr ans Bett kam, sah sie, daß Rosi fest schlief. Doch nach einiger Zeit schien es fast schon so, als daß Rosi sich beruhigt hatte. Denn ihre Rufe nach Renana wurden seltener. Schließlich hörten sie ganz auf. Anastasia atmete erleichter auf. Doch da passierte es. Sie lag eines Abends in ihrem Bett auf dem Sofa und hatte noch etwas gelesen. Als sie schließlich das Licht löschte, kuschelte sie sich unter die Decke. Sie war fast schon eingeschlafen, da hörte sie Rosi wieder reden. Zunächst verstand sie ihr Mädchen nicht und glaubte, daß Rosi Renana sagte. Doch da hörte sie plötzlich wie sie „Ulrich“ sagte. Aber nur ein oder zweimal. Dennoch fuhr sie erschrocken hoch. Anastasia starrte sehr lange durch die Dunkelheit zu Rosis Türe hinüber. Aber Rosi war wieder still. Innerlich freute sie sich, daß sie nun von Renana ab und nun von Ulrich träumte. Das war schon mehr in ihrer Richtung. Denn auch sie träumte fast jede Nacht von ihm und seinen wundervollen Augen. Und wenn sie aus ihren Träumen die Katze erfolgreich verbannt hatte, so war jeder Traum mehr als wundervoll gewesen. Dennoch wunderte sie sich, daß ihre Tochter Ulrich in der kurzen Zeit so sehr in ihr Herz geschlossen hatte, daß sie nun von ihm träumte und sogar nach ihm rief. Sie war eine erwachsene Frau. Sie wußte was Liebe war. Aber Rosi? Sie konnte doch nicht in ihn verliebt sein. In den folgenden nächsten Nächten paßte sie auf, aber Rosi redete nicht. Schließlich beruhigte sich Anastasia wieder. Doch da passierte es erneut. Aber etwas anderes ließ sie erzittern. Rosi war nicht verliebt in Ulrich. Es war viel mehr. Denn nun sagte sie nicht nur Ulrich, sondern sie sagte auch „Papa!“. Anastasia war erschüttert. Sie hatten niemals über Rosis Erzeuger geredet. Und der einzige Mann, den Rosi näher kannte, das war Ulrich. Sah man vom Filialleiter ab, den sie hin und wieder mal gesehen hatte, wenn sie Rosi mit zur Arbeit nehmen mußte. Dennoch hörte Anastasia deutlich wie Rosi im Schlaf sprach, „Ulrich“ und „Papa“ sagte. Sie dachte daran, wie Rosi auf seinem Arm gesessen hatte. In den Momenten war sie so glücklich gewesen und hatte sich richtig an ihn festgeklammert. Genügte das wirklich, um in ihrem Kopf den Wunsch zu entfachen, daß Ulrich ihr Vater wäre? Sie selbst hätte nichts dagegen gehabt. Und erneut dachte sie daran, wie schön es wäre, jetzt in seine Augen schauen zu können. In jener Nacht machte sie kein Auge zu. Sie weinte nur. Sie drehte sich zur Sofalehne hin und ließ ihrem Kummer freien Lauf. Als sie an diesem Morgen zum Kindergarten gingen, sprach Rosi sie an. Eigentlich hätte sie sich freuen müssen, daß Rosi endlich von sich aus mit ihr sprach. Doch Rosi fragte sie, ob sie geweint hätte und warum. Doch Anastasia schwieg. Sie konnte ihr nicht sagen weshalb sie in der Nacht geweint hatte. Denn das hätte alles nur noch schlimmer gemacht. Vielleicht nicht für Rosi. Aber für sie. Sie hätte erneut geweint. Geweint, weil ihre Gefühle zu Ulrich mit denen von Rosi konform gingen. Daß sie sich so sehr wünschte, daß der damalige Abend einen vollkommen andern Verlauf genommen hätte. Daß sie sich näher gekommen wären. Sehr viel näher. Und vielleicht auch. Sie brachte Rosi in den Kindergarten, ohne auf ihre Frage einzugehen. Und Rosi fragte nicht erneut nach, was sie mit Erleichterung zur Kenntnis nahm. Dann ging sie zur Arbeit. Auf dem Weg dorthin verbarg sie ihr Gesicht tief in ihren Mantel. Aber nicht weil es ihr kalt war. Sie wollte nicht, daß man sie weinen sah. Denn als sie Rosi abgeliefert hatte, dachte sie wieder an die vergangene Nacht. Und damit auch wieder an Ulrich. An der Arbeit blieb sie einige Minuten lang draußen stehen, bis das sie sich wieder gefangen hatte. Und so kam sie das erstemal in all den Jahren zu spät. Doch der Filialleiter sagte nichts. Schließlich war Anastasia seine zuverlässigste und mit Abstand auch seine beste Arbeitskraft. Es vergingen drei weitere Nächte, in denen sie Rosi „Papa“ sagen hörte. Und jede Nacht weinte sie sich ebenfalls in den Schlaf. Schließlich rang sie sich zu einem Entschluß durch. Am Wochenende wollte sie Rosi eine Freude machen. Und eigentlich wollte sie sich selbst damit auch eine Freude machen. Denn sie hoffte. Sie fragte Rosi, ob sie am Sonntag nicht mal wieder in den Zoo gehen sollten. Doch Rosi sagte nur: „Warum“. Anastasia war wie vor den Kopf geschlagen. In diesem Moment mußte sie sich wirklich setzen. Das faßte sie nicht. Das war noch nie vorgekommen. Rosi war doch geradezu verrückt nach dem Zoo und seinen Tieren. Besonders die großen Elefanten hatten es ihr doch immer angetan. Zu oft und zu lange hatten sie vor diesen Riesen gestanden und Rosis Augen hatten dabei immer richtig geleuchtet. Und sie hatte die Pflegerinnen immer ausgefragt. Nach allem Möglichen. Und auch sonst war es doch immer Rosi gewesen, die ihre Mutter nervte, sie sollten doch mal wieder in den Zoo gehen. Auch wenn sie erst am Tag vorher schon dagewesen waren. Und jetzt hätte sie ja auch noch einen Grund mehr dafür gehabt. Ulrich! Darum wollte sie ihr doch damit eine Freude machen. Und sie hoffte ja auch darauf, daß sie Ulrich wiedersah. Doch Rosi sagte nur „warum“. Anastasia verstand ihren Engel nichtmehr. Rosis Begeisterung für ihren heißgeliebten Zoo war zerstört worden. Sie wollte nicht hin. Anastasia konnte sich denken warum Rosi nicht in den Zoo wollte. Schließlich hätte sie es ihr niemals erlaubt, erneut mit dieser gefährlichen Raubkatze zusammenzukommen. Mit Ulrich schon. Aber doch nicht mit Renana. Einzig in ihren Gedanken und Träumen war Rosi dort mit den Beiden zusammen. Und wo sie da war, das konnte sich Anastasia sehr genau denken. Im Haus. Mit der Katze zusammen in der Halle spielen. Sie schauderte bei dem Gedanken. Doch in Bezug zu Ulrich konnte sie ihre Tochter verstehen. Denn sie war in ihren Gedanken ja auch ständig bei ihm. Allerdings ohne Katze. Denn Ulrich ging ihr ja auch nichtmehr aus dem Kopf. Sie hatte sich doch schon am Eisbärengehege in ihn verliebt. Liebe auf den ersten Blick? Ja, das war es gewesen. Und seit dem Moment waren ihre Gefühle zu ihm immer stärker geworden. Selbst das Vorkommnis mit Renana hatten ihre Gefühle zu ihm nicht schmäleren können. Auch wenn sie es ihm übelnahm, Renana mit ins Spiel gebracht zu haben. Dennoch wünschte sie sich insgeheim ihn wiederzusehen. Mit ihm zusammenzukommen. Doch sie wußte nicht was sie machen mußte. Wie sie es anstellen sollte. Denn darin hatte sie doch keinerlei Erfahrung. Das einzige Mal in ihrem Leben hatte keine 5 Stunden gedauert. Und Liebe war damals auch nicht im Spiel gewesen. Die meiste Zeit über hatten sie nur getanzt und getrunken. Getrunken, bis sie nichtmehr wußte wer sie war, oder wo sie sich befand. Nicht wußte, was er da unten mit ihr machte. Zumal sie damals auch noch nicht wußte, was man damit machen konnte. Niemand hatte ihr gesagt, was passieren könnte. Kurz danach, er hatte sie noch zu ihrem Platz gebracht, da war er auch schon wieder aus ihrem Leben verschwunden und hatte ihr etwas hinterlassen. Etwas, wovon sie in diesem Moment noch nichts wußte. Anfangs hatte sie diese Hinterlassenschaft mehr gehaßt als geliebt. Aber als sie Rosi geboren hatte, seitdem liebte sie seine Hinterlassenschaft. Und nun hatte dieser kleine Engel Kummer. Und sie, weil sie Angst um sie hatte. Rosi hatte bisher doch noch nie geweint, unruhig geschlafen oder gar im Schlaf geredet. Selbst dann nicht, als sie krank gewesen war. Und nun das. Sie wollte daß es aufhörte. Sie hätte alles dafür gegeben, daß ihr Engel wieder ein normales Leben führte. Aber Rosi blockierte ihre Bemühungen. Sie hätte sie zwingen können, mit ihr in den Zoo zu gehen. Aber das hätte sie vielleicht nur bockig gemacht. Hätte alles verschlimmert.
Die Razzia Sieben Wochen waren seit jenem Schicksalstag im Zoo vergangen. Rosi sprach mittlerweile öfter mit ihr, beschränkte sich aber immer noch nur auf das wesentliche. Auch gab es mittlerweile die Spielstunde wieder. Anastasia hatte lange daran arbeiten müssen, bis das sie Rosi dazu bewegen konnte. Aber Rosis lachen war verstummt. Wenn sie früher ihre Mutter beim „Mensch ärgere dich nicht“ rausgeschmissen hatte, dann lachte sie aus vollem Herzen. Jetzt tat sie es wortlos, ohne eine Regung zu zeigen. Es schnitt Anastasia ins Herz. Rosis Lachen erfreute sie immer wieder. Doch es war verschwunden. In den Zoo waren sie bisher auch nie wieder gewesen. Obwohl Anastasia ihre Tochter mehrmals gefragt hatte, ob sie hingehen sollten. Doch jedesmal sträubte sich Rosi dagegen. Fast schien es so, als ob sie Angst vor dem Zoo hätte. Anastasia wußte nicht was sie tun sollte. Zwingen wollte sie sie auch nicht. Aber sie drang in dieser Beziehung einfach nicht zu ihrer Tochter durch. In den Nächten war schließlich auch wieder Ruhe eingekehrt. Zwar weinte sich Rosi nach wie vor in den Schlaf, doch sie redete nichtmehr. Das jedenfalls dachte Anastasia, da sie in den Nächten nichts von ihr hörte. Bis zu der Nacht, als sie mitten in der Nacht vom weinen ihres Engel geweckt wurde. Sofort sprang sie auf und lief zu ihr. Rosi saß im Dunkeln in ihrem Bett und weinte. Sie sprach nahm sie in die Arme und sprach sie an. Doch sie mußte feststellen, daß Rosi schlief. Und da hörte sie wieder das eine Wort. „Papa“. Zwar gelang es ihr, Rosi wider hinzulegen, aber sie konnte sie nicht trösten. Erst als sie wieder tiefer und fester schlief, hörte auch ihr weinen auf. Völlig aufgelöst saß sie am Bett ihrer Tochter und wußte sich keinen Rat. Und so saß sie am nächsten Tag, wie an jedem Tag, in ihrer Mittagspause einsam im Aufenthaltsraum der Aldi-Filiale, in der sie als Kassiererin angestellt war, träumend am Fenster. Darum nahm sie ihre Mittagspause auch immer als letzte. Denn dann war sie ungestört und konnte ihren Gedanken freien Lauf lassen. Und diese Gedanken kreisten ständig um Rosi und Ulrich. Meistens jedoch nur um Ulrich. Sein Gesicht tauchte immer vor ihr auf. Seine Augen, sein Blick, mit dem er sie bereits am Eisbärengehege gefangengenommen hatte. Sie konnte an nichts anderes denken als an ihn. Und sie wollte auch an nichts anderes denken. Denn dafür war es zu schön. Direkt gegenüber dem Aufenthaltsraum, auf der anderen Straßenseite, lag eine Toreinfahrt. Gleich rechts davon war der zur Einfahrt gehörige Hauseingang. Es war ein Mietshaus, vom Aussehen nicht viel anders als jenes Haus, in denen sie auch wohnten. Vier Etagen, alt und heruntergekommen. Hier hatten sie schon oft finstere Gestalten ein und aus gehen sehen. Aber man hatte sich mittlerweile daran gewöhnt. Und in den Laden waren sie bisher noch nie gekommen. Gedankenverloren schaute sie hinüber. Plötzlich verschwand Ulrichs Bild vor ihren Augen. Etwas hatte sein Gesicht verscheucht. Da wurde sie stutzig. Denn sie sah Rechts und Links des Hauses mehrere Männer in den Hauseingängen der Nachbarhäuser stehen. Die allerdings sahen nicht so aus wie jene Typen, welche im Haus ein und ausgingen. Zumal es auch so aussah, als ob sie Sprechfunkgeräte bei sich trugen. Anastasia schaute die Straße rauf und runter, da sah sie direkt drüben am Haus zwei Wagen parken. In ihnen saßen Männer. Dunkel gekleidet und mit Motorradhelmen. Motorradhelme im Auto? Das war ihr mehr als suspekt. Ängstlich wollte sie schon nach dem Telefon greifen um die Polizei zu rufen, da fuhr plötzlich ein Transporter vor. Er stoppte, fuhr rückwärts an die Einfahrt und dann passierte alles rasend schnell. Die Türen des Transporters sprangen auf. Mehrere schwerbewaffnete Männer stürmten in die Einfahrt. Die Türen der beiden Wagen öffneten sich und die Motorradmänner sprangen aus dem Wagen. Sie trugen Maschinenpistolen und Schutzwesten, auf denen auf dem Rücken in weißer Schrift stand: Polizei. Diese liefen zum Hauseingang und stürmten hinein. Die Männer, welche in den Hauseingängen rechts und links davon gestanden hatten, rannten mit gezogenen Pistolen hinterher. Ein, zwei Minuten lang war es still. Dann fielen Schüsse. Anastasia ging ängstlich in die Hocke. Die Schießerei dauerte für sie unendlich lange. Dann fielen nur noch vereinzelt Schüsse, dann war Ruhe. Ängstlich erhob sie sich. Die Straße hatte sich völlig verändert. 6 oder 7 Streifenwagen waren angekommen. Beamte mit Hunden waren darunter. Und mehr und mehr Beamte gingen in das Haus. Da klirrte es plötzlich. Ein Mann war Parterre durch das Fenster gesprungen. Er landete mit einer Rolle auf dem Boden und sprang auf. Dann rannte er los. Eine Polizistin mit einem Altdeutschen Schäferhund löste dessen Leine und der Hund jagte ihm sofort hinterher. Gerade als dieser den Mann ansprang, drehte er sich herum und schoß. Anastasia stockte der Atem. Der Hund verfehlte den Mann und fiel auf die Straße. Da krachten zwei Schüsse und streckten den Mann zu Boden. Sekunden später waren mehrere Beamte über ihn. Die Polizistin rannte zu ihrem Hund. Sie schrie etwas, was Anastasia nicht verstehen konnte. Scheinbar hatte der Flüchtige den Hund getroffen. Sofort wünschte sie sich, daß Ulrich jetzt hier wäre und dem verletzten Tier helfen würde. Einige Beamte sprachen in ihre Funkgeräte, andere legten eine Decke über den Mann. Anastasia schaute vom Fenster aus zu wie die Polizisten alles absperrten. Aber immer wieder schaute sie zu der Beamtin, die nun bei ihrem Hund kniete und streichelnd auf in einsprach. Aus seinem Maul kam Blut. Anastasia hoffte, daß es nicht so schlimm war. Aber sie hatte trotzdem Angst um den schönen Hund. Es dauerte einige Minuten, da raste plötzlich ein dunkelblauer BMW mit Blaulicht und Martinshorn die Straße hoch. Er wendete und kam mit quietschenden Reifen an der Einfahrt zum stehen. Und als der Fahrer aus dem Wagen sprang, gaben beinahe ihre Beine nach. Ulrich! In grüner OP-Kleidung und mit einer OP-Haube auf dem Kopf sprang er aus dem Wagen und rannte zum Kofferraum. Anastasias Herz schlug bis zum Hals. Ihr Held, der Retter der Tiere, war da. Während er den Kofferraum öffnete kam ein Beamter zu ihm und redete auf ihn ein. Ulrich nickte nur. Dann rannte er zu dem Hund hin. Anastasia konnte nicht sehen was er dort machte. Zum einen kniete Ulrich genau mit dem Rücken zu ihr vor dem Hund, zum anderen standen einige Beamte um ihn herum. Aber nun war sie beruhigt. Sie wußte, daß der Hund jetzt in guten Händen war. Sie sah wie eine Polizistin und ein Polizist die Hundeführerin zu der Bank vor ihrem Fenster führten. Die Hundeführerin schien kaum älter als sie zu sein. Und sie war einem Nervenzusammenbruch nahe. Anastasia tat das, was sie in diesem Moment für das Richtige hielt. Sie griff sich einen der Becher vom Regal des Aufenthaltsraumes und rannte in den Laden. Dort nahm sie eine Cognacflasche aus dem Regal und rannte hinaus zur Bank. Und während sie durch die eine Türe hinauslief, kam der Beamte, der mitgeholfen hatte die Hundeführerin zur Bank zu bringen, zur anderen hinein. „Ich brauche was Starkes.“, sagte der Beamte hastig zum Filialleiter, der sich vom Laden aus das ganze Spektakel auf der Straße angesehen hatte. „Ist schon unterwegs.“, antwortete er dem Polizisten und deutete damit auf Anastasia, die sich in dem Moment auf die Bank setzte und der Hundeführerin einen großen Cognac eingoß. „Karin, beruhig dich mal. Der Tierarzt ist doch bei Rex. Er ist in guten Händen.“ „Ich hab doch nur noch ihn. Was soll ich denn machen, wenn ich ihn auch noch verliere?“ Mit zittrigen Händen führte sie den Becher zum Mund und nahm einen großen Schluck. „Du verlierst ihn schon nicht.“ Sie drückte sie an sich und versuchte sie, so gut es ging, zu beruhigen. Da stand plötzlich Ulrich vor ihnen. Das Mädchen sprang auf. „Doktor. Was ist mit ihm?“ „Er ist ein harter Bursche. Wir bringen ihn zu uns in die Klinik. Da sehen wir dann weiter. So wie ich das sehe, ist das Projektil hier ein“, und damit tippte er der Beamtin auf eine Stelle unterhalb der Schulter, „und hier“, er tippte auf eine Stelle auf ihrem Rücken, „wieder ausgetreten. Was es verletzt hat weiß ich noch nicht. Aber das Herz bestimmt nicht. Er wird schon wieder. Nur sein schönes Fell wird zwei kahle Stellen aufweisen, wenn ich mit ihm fertig bin. Aber das wächst ja wieder nach. Er wird gerade in den Transporter geladen. Fahr mit ihm mit.“ Sie nickte und stand auf. Doch ihre Beine versagten. Mit Hilfe der anderen Beamtin gelang es Ulrich sie auf die Beine zu stellen. Als er sie um die Taille faßte, schaute er Anastasia, welche hinter ihr stand, direkt in die Augen. Ein Schauer lief ihr wieder über ihren Rücken hinab. Wie damals am Eisbärengehege. Wie im Stall. Und wie damals, als sie ihn wiedersah. Als sie nach Hause gehen wollten und Rosi ihn fand. Und es war wieder ein sehr schönes Gefühl. Er half die Hundeführerin zum Transporter zu bringen. Hier stieg sie ein. Die Türen schlossen sich und Ulrich ging zum BMW. Dort stellte er die Tasche hinein und schloß den Kofferraumdeckel. Dann stieg er eilig ein und ließ den Wagen an. Anastasia war ihnen gefolgt. Und als er losfahren wollte sprach sie ihn durch das offene Fenster an. „Dr. Richter.“ „Was kann ich für dich tun?“ „Ich möchte mich entschuldigen. Für damals.“ Er nickte. „Können wir noch einmal von vorne anfangen?“ „Nun, ich werde mich wärmer anziehen müssen, wenn dein Engel ihr Püppchen ins Eisbärengehege schmeißt. Und mit Zebrafohlen kann ich leider auch nicht dienen.“ „Nein, später, danach.“ „Du weißt, daß Renana auch dabei sein wird.“ Bei der Erwähnung des Namens zuckte sie sichtlich zusammen und schüttelte unbewußt leicht den Kopf. Er legte den Gang ein. „Du vertraust mir noch immer nicht?“ Sie blickte zu Boden. Er hatte es erkannt. „So wird das nichts. Solange du kein Vertrauen hast.“ „Hab ich doch.“, sagte sie als letzten Ausweg, auch wenn sie es nicht so meinte. Sie belog ihn. Als letzten Ausweg. „Nein. Du vertraust mir nicht.“ „Doch! Das hab ich doch gerade gesagt.“ „Gesagt, ja. Aber es soll nicht von da“, und damit tippte er an seine Stirn, „ sondern von da“, er tippte auf seine Brust, wo in etwa sein Herz lag, „kommen. So bringt das nichts. Schade.“ Er löste die Handbremse und fuhr los. 10 Meter weiter schaltete er das Blaulicht und das Martinshorn ein. Sie sah ihm noch lange nach, obwohl er schon längst nichtmehr zu sehen war. Er fuhr sehr schnell. Nur sein Herz war noch schneller. Es war ein Notruf gewesen und hatte sich zu einem Wiedersehen entwickelt. Zu einem sehr schönen Wiedersehen. Anfänglich. Sie wollte es nochmal versuchen. Und er war der Letzte, der „nein“ gesagt hätte. Dafür vermißte er sie doch zu sehr. Sie und Rosi. Doch dann hörte er Anastasias Stimme in seinem Kopf. „Hab ich doch“ hatte sie gesagt. Hab ich doch. Nein! Hatte sie nicht. Er hatte es sofort gemerkt, daß es ihr nicht ernst damit war. Daß sie ihn belog. Aber er konnte sich auch denken, wieso sie dies getan hatte. Und Verständnis hatte er auch für ihr Verhalten. Nur daß sie es ihm nicht gesagt hatte, das ärgerte ihn ein wenig. Dabei hatte er sich doch so gefreut sie wiederzusehen. Wenn es die Situation erlaubt hätte, dann wäre er ihr am liebsten um den Hals gefallen, als er sie auf der Bank hatte sitzen sehen. Doch dann das. Aber er wußte auch, daß er einen Fehler gemacht hatte. Er hätte nicht von Renana anfangen sollen. Aber sie gehört doch zu ihm. Sollte er sie verleugnen? Das würde er niemals tun. Und leider erforderte es die Situation auch, daß er so schnell wie möglich in die Klinik kam. Denn es stand wesentlich schlechter um den Hund, als er es der Hundeführerin gesagt hatte. Denn sonst hätte er sich mit Sicherheit mit Anastasia länger unterhalten. Und vielleicht hätte sie ihm dann auch den wahren Grund für ihr Verhalten gesagt. Schon auf halber Strecke hatte er den Transporter und die zwei Streifenwagen die ihn begleiteten und die Straße freiräumten, eingeholt. Er überholte sie und bereitete in der Klinik alles vor. Er wußte, daß es bei weitem schlimmer war, als er es eben gesagt hatte. Die Kugel schien die Lunge verletzt zu haben. Und da zählte jede Minute. Über Funk berichtete er seinen Kollegen in der Zooklinik von seiner Annahme und ließ alles vorbereiten. Wenig später traf er dort ein und redete mit ihnen persönlich. Sie waren seiner Meinung. Nur eine sofortige OP könnte den Hund noch retten. Dann trafen auch schon die Beamten mit dem Patienten ein. Während die Kollegen den Hund vorbereiteten, setzte er die Beamtin in sein Büro. Er beruhigte sie, dann ging er in den OP. Die OP dauerte sehr lange. Und es war so, wie er es sich gedacht hatte. Doch als er das verletzte Stück Lunge abklemmte, zum Glück war es nur ein Zipfel gewesen, da hörte die Blutung schlagartig auf. „Der Druck steigt.“, waren schließlich die erlösende Worte. Er vernähte das verletzte Stück und löste die Klammer. Die Blutung war gestoppt, der Druck blieb stabil. Die Kugel hatte sonst keine wichtigen Teile verletzt. Während die Kollegen den Hund in eine Box brachten, ging er in sein Büro zurück. Auf dem Flur warteten schon drei uniformierte Beamte. Er nickte ihnen nur zuversichtlich zu. Erleichtert nahmen sie seine Geste auf. Im Büro saßen zwei weiter bei der Hundeführerin. Und als die Hundeführerin ihn sah sprang sie sofort auf. „Setzten. Noch pennt er.“ „Soll das heißen?“ „Alles in Ordnung.“ Erleichterung machte sich im Raume breit. Die Kollegen meinten, daß sie bei ihrem Hund bleiben sollte. Sie würden in der Zentrale schon Bescheid sagen. Dann gingen sie. Er setzte sich neben sie und sie schaute ihn fragend an. „War es schlimm Herr Doktor?“ Jetzt konnte er ihr endlich die ganze Wahrheit sagen. „Ja, sehr schlimm. Die Kugel hatte die Lunge getroffen. Darum hatte er beim Atmen auch blutigen Schaum im Maul. Zum Glück aber nur eine kleine Ecke der Lunge. Einen Zipfel. Den haben wir dann vernäht. Er war nicht groß. Etwa wie ein Fünfmarkstück. Ohne das Stück Lunge geht es ihm genausogut, wie vorher. Er hat sehr viel Glück gehabt. Ein Zentimeter weiter zur Mitte hin, und die Kugel hätte sein Rückgrat zerfetzt. Allerdings hab ich mit dem Fell gelogen. Er hat jetzt zwei kleine kahle Stellen doch am Bauch ist er jetzt ganz kahl. Aber ich sagte dir ja schon, das wächst nach. In spätestens zwei Wochen jagt er wieder Kaninchen.“ „Das macht er nicht. Das hat er noch nie gemacht.“, flüsterte sie weinend. Und dann erzählte sie ihm von ihrem Hund Rex. Wie sie ihn als Welpen bekommen hatte. Wie sie ihn großgezogen hatte. Mit ihm die Prüfungen spielend gemeistert hatte. Und daß er dabei immer als einer der Besten daraus hervorgegangen war. Aber dann erfuhr er auch, daß sie ihren Mann und ihren kleinen Sohn vor einem knappen halben Jahr bei einem Autounfall verloren hatte. Nur ihr Rex hatte ihr damals noch Halt gegeben. Sie wüßte nicht was sie getan hätte, wenn er nichtmehr bei ihr war. Aber er wußte es nur zu gut. Zu oft hatte er in der Vergangenheit miterleben müssen, wie Menschen am Tod eines geliebten Tieres zerbrachen. Ihnen gefolgt waren. „Wir haben ihn in eine große Box gebracht. Du willst doch bestimmt zu ihm.“ „Ja.“ „Dann komm.“ Er führte sie durch die Räumlichkeiten, vermied aber den direkten Weg durch den blutigen OP. Vor der Box hielt er an und öffnete die Türe. Sie schaute ihn an. Er nickte. „Gehr ruhig rein zu ihm. Er schläft noch.“ Zögernd trat sie ein und setzte sich sofort zu ihrem Hund und streichelte ihn vorsichtig den Kopf. Zu einem seiner Kollegen sagte er: „Erich, bringst du ihr noch ein paar Decken? So wie es aussieht haben wir einen zusätzlichen Gast. Sie wird bestimmt bei ihm bleiben wollen.“ Obwohl er schon längst nichtmehr zu sehen war, schaute sie dennoch hinter ihm her. Erst als sie das Martinshorn nichtmehr hörte, erwachte sie langsam aus ihrer Trance. Mit Entsetzten begriff sie, was sie gemacht hatte. Denn erst jetzt begriff sie, was sie angerichtet hatte. Das war schon ihre zweite Chance gewesen. Und schon wieder hatte sie es versaut. Und ob es eine dritte geben würde, das stand in den Sternen. Und nun war sie innerlich wahnsinnig wütend auf sich selbst. Am liebsten hätte sie sich jetzt selbst verprügelt. Denn mittlerweile wußte sie, daß sie ganz alleine daran schuld war, daß es an jenem Abend zwischen ihnen nicht so gefunkt hatte, wie sie es sich erhofft hatte. Darum wollte sie es vorhin ja auch erneut versuchen. Sie hatte so große Hoffnung gehabt, denn sie hatte doch in seinen Augen deutlich gesehen, wie sehr er sich freute sie wiederzusehen. Und ihr war es doch nicht anders gegangen. Schon als er aus dem Wagen gestiegen war, raste ihr Herz wie wild. Und dann ihre Frage, ob sie nochmal von vorne anfangen könnten. Er wollte! Sie wäre ihm in diesem Moment am liebsten um den Hals gefallen, so glücklich war sie in dem Augenblick. Doch dann kam die Katze wieder dazu. Warum hatte er sie auch wieder zur Sprache gebracht? Und warum konnte sie ihm nicht sagen, daß sie ihm zwar gerne glauben würde, daß aber die Angst um ihren Engel dazwischen stand. Sie konnte sich denken, daß er es verstehen würde. Noch schlimmer. Er schien es sogar schon zu wissen. Bestimmt erwartete er von ihr, daß sie es zugab. Doch dazu war sie vorhin zu feige gewesen. Und so hatte sie ihn belogen. Etwas, was selbst in ihren Augen furchtbar gewesen war. Sie hätte ihn niemals belügen dürfen. Das wußte sie. Und dennoch hatte sie es getan. Und dafür schämte sie sich sehr. Er hatte es sofort gemerkt. Natürlich hatte er das. Und er hatte auch recht mit dem, was er danach gesagt hatte. Es hätte von Herzen kommen müssen, nicht aus Überlegung. Als Versuch, ihn umzustimmen. Er hatte es genau gewußt. Doch jetzt war er wieder fort. Fort, und sie wußte nicht, ob sie ihn jemals wiedersehen würde. Sehr langsam ging sie in den Laden zurück. Der Filialleiter dachte, daß sie von den Ereignissen so mitgenommen war. Darum ließ er sie nach Hause gehen. Dankbar nahm sie sein Angebot an. Sie ging zum Kindergarten und wußte nicht, ob sie Rosi von der Begegnung erzählen sollte. Aber dies hätte Rosi nur falsche Hoffnungen gemacht. Hoffnungen, die sie mit den Worten: „Hab ich doch“ zerstört hatte. Natürlich merkte Rosi, daß ihre Mama geweint hatte. Doch Rosi fragte nicht nach. Sie hatte auf diese Frage schon einmal keine Antwort von ihrer Mutter bekommen. Das hatte sie sich gemerkt. Also frug sie nicht. Der Tag verlief schweigend. Doch nun war Anastasia es, von der das Schweigen ausging. Sie war froh, als ihr Engel im Bett war. Am liebsten hätte sie jetzt die leeren Teller des Abendbrotes durch das Zimmer geworfen. So wütend war sie auf sich. Doch das hätte nur Rosi geweckt. Also räumte sie unter Tränen den Tisch ab und zog sich mühsam aus. Sie wollte nur so schnell wie möglich ins Bett. Zu ihrem Glück schlief sie nackt, außer wenn sie ihre Tage hatte. So brauchte sie sich nicht auch noch Nachthemd anziehen. Aber sie hatte ja eh keine. Sie hätten ein Loch in die schmale Kasse gerissen. Also legte sie sich unter die Decke und zitterte. Aber nicht vor Kälte. Sie zitterte aus einer Mischung von Wut, Trauer und Verzweiflung heraus. Und in dieser Nacht verbrauchte sie sehr viele Taschentücher.
Verpaßt Zwei Wochen später, an einem Freitag, Anfang November, machte sie blau. Sie brachte Rosi zum Kindergarten und hatte auf der Arbeit Bescheid gesagt, daß sie zum Arzt müsse, am Samstag aber kommen würde. Da sie bisher noch nie gefehlt hatte, akzeptierte ihr Chef dies ohne zu murren. Doch anstatt zum Arzt zu gehen, ging sie zum Zoo. Sie wollte endlich alles klären. Zu lange schon war das Verhältnis zu ihrer Tochter gestört. Anastasia wußte genau woran es lag. Rosi vermißte nicht nur Renana. Zu oft hatte sie im Schlaf von Ulrich gesprochen. Und das Wort „Papa“ war auch oft genug dabeigewesen. An sich hätte Anastasia nichts dagegen gehabt, wenn Ulrich Rosis Papa werden würde. Aber insgeheim machte sie sich nur etwas vor. Schob Rosi vor. Denn im Grunde genommen war sie es doch, die ihn suchte. Ihn brauchte. Seit der Razzia weinte sie sich jede Nacht in den Schlaf. Zu oft dachte sie an seine Augen, mit denen er sie verzaubert hatte. Zu oft wünschte sie sich in der Nacht in seinen Armen zu liegen und von ihm festgehalten zu werden. Zu oft stellte sie sich vor, von ihm geküßt zu werden. Ob dies jemals der Fall sein würde? Denn sie hörte auch immer wieder ihre Stimme, wie sie zu ihm sagte: „Hab ich doch“ und damit all ihre Hoffnungen zerstört hatte. Zweimal hatte sie ihn vor den Kopf gestoßen. Sie wußte ja woran es lag. Und daß er ihr die Angst vor der Katze nicht von jetzt auf gleich nehmen konnte, das wußte sie auch. Sie würde ihm ja so gerne glauben, aber sie schaffte es nicht. Immer wenn sie daran dachte, da sah sie diese riesigen Zähne der Katze vor sich. Aber etwas anderes lag ihr noch mehr auf dem Herzen. Sie hatte ihn belogen. Das hätte niemals passieren dürfen. Eine Liebe kann nicht halten, wenn sie auf einer Lüge aufgebaut ist. Das hatte sie schon so oft gehört. Früher hatte sie darüber gelacht. Doch jetzt war sie davon überzeugt, daß es so war. Darum hatte sie heute blau gemacht. Darum ging sie zum Zoo. Voller Hoffnung, voller Zuversicht. Ob er überhaupt mit ihr sprechen würde? Seine Augen würden bestimmt wieder leuchten und ihr ein stummes „ja“ zuschreien. Und sein Herz? Würde es dasselbe sagen? Würde er ihr verzeihen? Als sie um neun am Zoo ankam, öffnete er gerade. Zielstrebig ging sie zu seinem Haus. Doch dort war alles dunkel. Ob er schon arbeitete? Bestimmt. Obwohl. Sie wußte ja nicht, wann er morgens anfing. Und wo, das wußte sie doch auch nicht? Der Zoo war sehr groß. Er hätte überall sein können. Allerdings kannte sie auch einige Mitarbeiter des Zoos vom sehen her. Aber besonders die Tierpflegerinnen bei den Elefanten kannte sie gut. Zu oft hatte Rosi ihnen Löcher in den Bauch gefragt. Doch sie lächelten nur und gaben ihr immer bereitwillig Auskunft. Sie wußte auch wann die Fütterung war und schlenderte zu den Dickhäutern hin. 10 Uhr würden sie gefüttert werden. Das war immer ein Heidenspaß für Rosi gewesen. Um halb zehn kamen sie meistens schon zu ihnen. Also setzte sie sich auf eine der Bänke, gegenüber dem Elefantengehege, und wartete die halbe Stunde. Im Geiste legte sie sich alles erneut zurecht. Was sie ihm alles sagen würde und wie sie es ihm sagen würde. Vor allem aber mußte sie sich entschuldigte für ihre Lüge. Ihm erklären, wieso und warum sie ihn angelogen hatte. Darüber hatte sie Nächtelang unter Tränen nachgedacht. Und auch in den Pausen auf der Arbeit. Da tauchte plötzlich eine der Pflegerinnen auf. Fast eine Viertelstunde zu früh. Sie schaute gerade zu ihr hin. Anastasia winkte zu ihr hin und sie kam zu ihr. Als sie sich neben ihr setzte, schaute sie sich um. „Wie? Heute mal ohne Kind?“ „Muß auch mal sein. So kann ich mir die Tiere auch mal in Ruhe ansehen.“ „Sie haben wirklich ein süßes kleines Mädchen. Und sie scheint keine Angst vor den Elefanten zu haben.“ „Wie meinen sie das?“ „Sie hat mich gefragt, ob sie die Elefanten auch mal füttern darf.“ „Das ist aber doch gefährlich.“ „Nicht unbedingt. Man muß nur wissen wie sie drauf sind.“ Sie redeten über die Elefanten. Lange. Sehr lange. Als die Pflegerin aufstand, riß sich Anastasia endlich zusammen und fragte: „Wo ist eigentlich der Tierarzt? Den hab ich ja schon lange nicht mehr gesehen.“ „Welcher? Wir haben vier.“ „Der große, den mit den braunen Haaren. Dr. Rechtner oder Richtner.“ „Dr. Richter.“ „Ja, Dr. Richter.“ „Der war vorhin noch bei uns im Aufenthaltsraum.“ Ihr Kollege kam zu ihnen. „Dieter, ist Dr. Richter noch bei uns?“ „Ja, der ist noch da.“ „Ich müßte ihm was Wichtiges sagen.“ „Dann kommen sie schnell mit, bevor er weg ist.“ „Weg?“ „Ja. Er hat ab heute Urlaub. Drei Wochen Mauritius. Ich beneide ihn. Der hat es jetzt schön warm.“ Sie gingen eiligen Schrittes zu einer Türe am Rande des Giraffengeheges. Als sie eintraten sahen sie einige Personen am Fenster winken. „Ist Dr. Richter noch da?“, fragte die Pflegerin in den Raum. „Da fährt er.“ Anastasia sah am Arm des Mannes entlang und sah den dunkelblauen BMW um die Ecke biegen. Am liebsten hätte sie jetzt geschrien. Geschrien, das er anhalten, umkehren solle. „Da kann man nichts machen. Da müssen sie warten bis er wiederkommt.“ „Wann ist das?“, fragte sie innerlich zitternd. „In drei Wochen. Am ersten Adventswochenende. An dem Freitag. Da übernimmt er den Dienst.“ „Was? Er kommt aus dem Flieger und macht gleich Dienst?“, fragte daraufhin eine der Pflegerinnen. „Ja. Wir wissen nur nicht wann er landet. Er hat was von mittags gesagt.“ „Sie hören es ja. Sie werden bis dahin warten müssen.“ „Ja, danke sehr.“ Alexandra ging hinaus, ohne daß man ihr ansah was mit ihr los war. Sie war den Tränen nahe. Sie hatte kein Interesse mehr an den Tieren. Sie wollte nur noch nach Hause. Und als sie dort ankam, schmiß sie die Wohnungstüre hinter sich zu und feuerte vor Wut ihre Handtasche quer durchs Wohnzimmer. Sie prallte an die Wand hinter dem Sofa und ging auf. Der Inhalt ergoß sich über das Sofa und den Boden. Aber das war ihr egal. Sie war schon längst zusammengesunken und saß mitten im Raum auf dem Boden. Heulend. Wissend, daß sie vorhin zu lange gewartet hatte. Sich zu lange mit der Pflegerin über die scheiß Elefanten unterhalten hatte, anstatt sie direkt zu fragen. Wütend gestand sie sich ein, daß sie sich zu lange nicht getraut hatte nach ihm zu fragen. Und damit hatte sie ihre Gelegenheit vertan. Hatte sie heute ihre dritte Chance vertan? Würde sie noch eine bekommen? Würde sie es überhaupt jemals schaffen? Doch so wie es aussah, war der Weg zu ihm versperrt. Ständig kam etwas dazwischen. Doch das schlimmste daran war, das sie der eigentliche Grund dafür war, das sie keinen Erfolg hatte. Sie ganz alleine.
Letzte Chance Drei Wochen waren seitdem vergangen. Rosis Verhalten hatte sich mittlerweile ein wenig verbessert. Denn hin und wieder lachte sie auch wieder. Aber ihre Nächte hatten sich nicht verändert. Sie rief noch immer nach ihm. Mittlerweile viel öfter als am Anfang nach Renana. Und viel öfter auch nach Papa. Schließlich faßte Anastasia einen Entschluß. Von da an hatte sie sich jeden Abend darauf vorbereitet, was sie zu ihm sagen würde. Hatte sich mit ihm im Geiste im Zoo, bei ihr im Geschäft, bei ihm zu Hause, auf der Straße, ja sogar hier bei ihr in der Wohnung getroffen. Und immer wußte sie was sie ihm sagen würde. Sie sagte es dann auch und übernahm auch seinen Part. Und so ging es immer gut für sie aus. Sie wurde mutiger. Und dies mußte sie auch sein. Zu lange hatte sie schon gewartet. Zulange sich nicht getraut ihm die Wahrheit zu sagen. Zu lange? War es am Ende vielleicht schon zu spät? Hatte er vielleicht im Urlaub? Nein! Sie wollte darüber nicht nachdenken. Das machte ihr schweres Herz nur noch schwerer. Da sie ja wußte wann er zurückkam, plante sie alles bis ins kleinste hinein. Am besagten Freitag nahm sie sich schon um 12 Uhr frei. Zwar mußte sie am folgenden Samstag arbeiten, aber erst ab 13 Uhr. Dafür aber bis um 18 Uhr. Aber sie würde Rosi mit zur Arbeit nehmen. Das hatte sie schon öfter gemacht. Und da Rosi immer brav im Aufenthaltsraum spielte, durfte sie das auch. Und so fieberte sie dem ersten Adventswochenende entgegen. Dann war es soweit. Als sie Rosi zum Kindergarten brachte, sagte sie ihr, daß sie heute schon um zwölf Feierabend habe. Rosi freute sich. Und als sie um halb eins mit ihr den Kindergarten verließ, schlug sie den Weg zum Zoo ein. Rosi kannte den Weg. Dennoch war sie nicht sehr begeistert davon. Schließlich hatte sie ihr ja mit einem gleichgültigen „warum“ geantwortet. Weshalb sollten sie dann noch in den Zoo gehen? Für ihre Tochter gab es da keine glücklichen Erinnerungen mehr, seit sie Rosi brutal von Renana gerissen hatte. Anastasia spürte das Rosi nur wiederwillig an ihrer Hand mitging. Im Zoo steuerte Anastasia gleich die Elefanten an. Rosi mochte diese gewaltigen Kolosse doch so sehr. Und Rosis Augen leuchteten wieder. Nach so langer Zeit. Anastasia war glücklich. Wenigstens das war ihr geglückt. In einem Unbeobachteten Augenblick fragte Anastasia einen der Tierpfleger, ob Dr. Richter schon zurück wäre. „Bis jetzt noch nicht. Aber vor halb drei erwarten wir ihn auch nicht zurück. Dr. Grams sitzt auch schon drüben im Cafe. Der wartet auf ihn. Sie wollten sich dort treffen. Dr. Richter übernimmt ja den Dienst von ihm.“ „Dr. Grams?“ „Ja.“ Und mit geschickten Fragen bekam sie heraus, wie dieser Dr. Grams aussah. Mit diesem Wissen ging sie dann mit Rosi zum Cafe. Rosi bekam von ihr ein Malbuch von Zoo und Buntstifte zum ausmalen. Anastasia half ihr anfangs dabei, behielt aber unterdessen Dr. Grams, am Tisch schräg vor ihnen, ständig im Auge. Ulrich mußte hierher kommen. Zumindest aber sich irgendwie mit ihm treffen. Darum bezahlte sie in alle Getränke und den Kuchen immer gleich, damit sie notfalls sofort aufspringen und gehen konnten, wenn Dr. Grams auch ging. Mehrmals kamen Pfleger und Pflegerinnen ins Cafe. Darunter schließlich auch jene, die für die Elefanten zuständig war und die mit ihr zum Aufenthaltsraum gegangen war. Als sie Anastasia und Rosi sah, kam sie auch gleich zu ihnen. Anastasia bot ihr einen Platz an und sie setzte sich. Rosi erkannte sie sofort und hatte wieder tausend Fragen. Zum Glück. Denn so wurde es halb fünf, ohne das es Rosi langweilig geworden war. Kurz nach fünf, sie saßen seit einiger Zeit bereits wieder alleine am Tisch, da schlug Anastasias Herz wie wild. Sie hatte Ulrich gesehen, wie er auf das Cafe zuging. Als er sich an den Tisch zu Dr. Grams setzte, hatte er sie auch gesehen. Sofort lächelte er. Rosi wollte gleich zu ihm. Doch Anastasia hielt sie fest. „Noch nicht, Schatz. Er muß erst mit dem Mann da reden. Dann kannst du zu ihm.“ Rosi war wie ausgewechselt. Sie griff nach der Hand ihrer Mutter und Anastasia konnte spüren, wie aufgeregt sie war. Zappelnd saß sie auf ihrem Stuhl. Ein weiterer Mann kam schließlich zu den Beiden drüben an den Tisch. Dr. Grams lachte, als er zu ihm kam. Aber seine Augen hatte schon längst etwas anderes gesehen. Anastasia und - Rosi. Und sie schauten ihn an. Die Augen der Beiden leuchteten so hell, das man ohne weiteres das Licht im Cafe löschen konnte, ohne im Dunkeln zu sitzen. Das Gespräch mit seinem Kollegen drehte sich erst nur um seinen Urlaub. Doch es schlug sehr schnell in die eigentliche Übergabe um. Doch er hörte nicht richtig zu. Ständig sah er zu den Beiden hinüber. „Geben sie mir den Funk.“ Ulrich zuckte zusammen. Erstaunt sah er Dr. Horn an. Er saß bei ihnen am Tisch, doch er hatte nicht bemerkt wie er sich zu ihnen gesetzt hatte. Zu sehr war er von den beiden Mädchen abgelenkt gewesen. „Aber das geht doch nicht. Sie haben doch bestimmt was anderes vor. Außerdem ist das doch mein Dienst.“ „Das geht schon. Und so kann ich ihnen wenigstens mal was zurückgeben. Schließlich haben sie mir schon so oft geholfen.“ Er bezog sich darauf daß er, frisch verlobt, an einem Wochenende Besuch von seinen zukünftigen Schwiegereltern bekam und Dienst hatte. Ulrich hatte ihm daraufhin kurzerhand den Funk abgenommen, um so ein häusliches Drama zu verhindern. Grams gab Horn den Funk und verabschiedete sich von ihnen. „Und so wie ich das sehe“, Dr. Horn deutete mit seinem Kopf auf Anastasia und Rosi, „sind sie mit ihren Gedanken ja eh ganz woanders.“ Lachend stand er auf und ging. Ulrich stand auf und wollte zu ihnen hin, da gab Anastasia Rosi einen Stoß und das kleine Mädchen schoß auf ihn zu. Sekunden später hing sie an seinem Hals und gab ihn einen dicken Kuß. Dann heulte sie vor Glück. Doch auch ihm rannen ein paar Tränen aus den Augen. Als Rosi sie an ihrem Gesicht spürte, sah sie ihn an und wischte sie aus seinem Gesicht. Doch Anastasia hatte sie auch gesehen. Sie war erschüttert, das Ulrich weinte. Alles hätte sie geglaubt. Aber das nicht. Schließlich kamen sie zu ihr. „Schön daß ihr hier seid. Ihr ward ja lange nichtmehr hier.“ Anastasia antwortete nicht. Alles was sie sich zurechtgelegt hatte war aus ihrem Kopf verschwunden. Als die Bedienung kam, bestellte er eine Cola für sich und eine heiße Schokolade für Rosi. „Kaffee?“, fragte er sie. Anastasia nickte. „Und einen Kaffee.“ Die Bedienung ging und Ulrich schaute Anastasia schweigend an. Rosi drückte sich an ihn und schien ihn nie wieder loslassen zu wollen. Anastasia sog dieses Bild in sich ein, bis das sie von der Bedienung mit ihrem Kaffee wieder in die Realität geholt wurde. Ulrich setzte Rosi auf ihren Stuhl, vor ihrer Schokolade. „Und?“, fragte Ulrich leise. Anastasia schluckte. Ihr Kopf war leer. Alles fort. Alle Sätze, alle Gespräche, die sie in ihren Nächten mit ihm geführt hatte, alles war fort. Doch sie wußte. Dies war ihre letzte Chance. Denn alle guten Dinge sind nur drei. Und das hier war die Vierte. Wenn sie jetzt nichts sagte, dann wäre es zu Ende, bevor es jemals begonnen hatte. Zögernd fing sie an. „Ich“ Sie senkte ihren Kopf. Sie konnte ihn nicht ansehen. Seine Augen verwirrten sie. Sie strahlten sie an. „Ich“ Erneut stockte sie. Doch dann raffte sie sich auf. „Können wir nochmal von vorne beginnen?“, flüsterte sie. „Schwer.“ Sie zuckte zusammen. War jetzt alles vorbei? Hatte er jemanden im Urlaub kennengelernt? Hatte sie ihre Chancen vertan? „Es ist zu kalt, um im Eisbärengehege ein Püppchen zu retten. Und mit Zebrababys kann ich doch auch nicht dienen.“ „Danach.“, flüsterte sie leise. Er schaute auf die Uhr. 17.46. „Geht ihr gleich nach Hause? Abendessen kochen?“ Rosi zuckte erschrocken zusammen. Doch Anastasia wußte sofort Bescheid. Er wiederholte den Abend. „Abends essen wir nicht warm. Nur Brote.“, flüsterte sie. „Nun Brot hab ich auch.“ „Wieso? Du bist doch gerade erst zurückgekommen.“ „Ich war vorhin noch einkaufen. Ich hab es in der Klinik abgestellt. Wenn ihr mit mir eßt, dann mußt du mir tragen helfen.“ Freudig lächelnd nickte sie. Doch da kam er auf den Punkt. „Du weißt aber auch, wer noch da sein wird?“ Sie nickte. Aber sie war darauf gefaßt gewesen. Und so zuckte sie diesmal nicht zusammen. „Und?“ Anastasia schluckte. Sie wußte genau, daß sie nun alles bekennen mußte. Ein falsches Wort, eine noch so kleine Lüge, nur eine kleine Verschweigung, und all ihre Träume und Hoffnungen wären zerstört. Für immer. „Ich habe Angst.“, flüsterte sie kaum hörbar. Mir sehr sanfter Stimme sagte er: „Ich habe dir doch gesagt, daß sie ihr nichts tun wird. Ihr nicht und dir auch nicht. Sie ist sehr traurig, seit ihr gegangen seid.“ „Ich glaub dir nicht.“, flüsterte sie, „Ich würde dir ja gerne glauben, aber es geht doch nicht. Ich habe Angst. Rosi ist mein Kind. Ich hab doch nur sie auf der Welt. Ich hab Angst sie zu verlieren. Immer hab ich gehört, wie gefährlich Tiger sind. Mordlüsterne Bestien, die aus reiner Lust töten. Und dann kommst du und sagst, daß sie lieb ist. Das ist so, als wenn du mir sagst, „die Welt ist ein Würfel“.“ Sein Gesicht kam nah zu ihrem und sie dachte schon, daß er sie küssen würde. Doch da schaute er sie mit riesigen Augen an und flüsterte: „He, die Welt ist ein Würfel.“ Sie lächelte. „Ich hab dir aber auch gesagt, das“ „Das du uns nie belügen würdest? Hättest du gesagt, daß du einen Führerschein hast, das hätte ich dir das sofort geglaubt. Aber ein Tiger?“ „Du glaubst mir immer noch nicht?“ „Versteh mich doch. Ich würde dir ja so gerne glauben. Aber das ist so, so, so“ Sie fing an lautlos zu weinen. „So unglaubwürdig?“ „Ja.“ Es folgten einige Sekunden totale Stille. „Es tut mir so leid. Ich will ja glauben. Aber meine Angst um Rosi ist größer.“ Da Anastasia ihren Kopf gesenkt hatte, sah Ulrich erst jetzt, daß sie weinte. „Das hast du bei unserem ersten Zusammentreffen nicht gesagt.“ Sie schüttelte leicht ihren Kopf. „Und damals am Auto hast du mir auch nicht die Wahrheit gesagt.“ „Ich weiß. Dafür möchte ich dich um Verzeihung bitten. Ich schäm mich so dafür.“ „Aber heute“ Sie zuckte zusammen. „Heute hast du endlich gesagt, warum du mir nicht glaubst. Das ist doch schon mal ein Anfang.“ Sie schaute ihn erstaunt an. Er reichte ihr seine Hand über den Tisch und sie ergriff sie. „Wollen wir es nochmal versuchen? Mit Katze?“ Unsicher nickte sie. Aber diesmal zuckte sie nicht wieder erschrocken zusammen. „Das ist schon mal ein guter Anfang.“ Nun lächelte sie. Zwar schauderte es sie bei dem Gedanken, heute noch mit Renana zusammenzukommen, aber sie mußte sich zusammennehmen. Sonst wäre alles zu Ende. Als sie alle ausgetrunken hatten gingen sie zur Klinik. Alexandra nahm dort eine der beiden Tragetaschen, Ulrich die andere. Rosi mußte das kleine Brot tragen. So gingen sie langsam in Richtung Haus. Doch je näher sie kamen, umso unsicherer wurde Anastasia. Dann blieb sie plötzlich stehen. „Was ist?“ „Ehrlich?“ „Ja.“ „Hast du eine Waschmachine?“ Ja.“, antwortete er erstaunt, „Wieso?“ „Kann sein, daß ich nachher meine Strumpfhose und mein Höschen waschen muß.“ „Wieso?“ „Ich habe Angst. Ich habe schreckliche Angst. Und ich weiß, daß ich damit alles kaputtmache. Aber ich habe Angst. Ich kann doch nichts dafür. Es tut mir so leid.“ Sie weinte sehr und er nahm sie in seine Arme, tröstete sie wortlos, während ihre Tränen an seinem Hals entlang in seinen Pullover rannen. „Ich kann mir denken wie du dich fühlst. Das war bei den Pflegerinnen am Anfang auch so gewesen. Und jetzt haben sie sich fast darum geprügelt, Renana während meines Urlaubs zu versorgen.“ Sie sah ihn an und lächelte. „Komm weiter. Es ist kalt.“ Zögernd folgte sie ihm. Doch nach wenigen Schritten war sie neben ihm. „Bist du mir Böse?“ „Nein.“ Sie kamen am Haus an. Erleichtert sah Alexandra, daß er die erste Türe aufschloß. Keine Pflegerin, die diese Bestie aus ihrem Käfig holte. Und als sie im Gang standen dachte sie, alles wäre in Ordnung. Doch als er die innere Türe öffnete, schrie Rosi „Renana!“. Sie drückte Ulrich das Brot in die Hand und rannte aufs Haus zu. „Ulrich! Bitte.“ „Schau hin! Schau hin und du wirst es sehen. Bitte.“ Sie wollte nicht sehen wie ihre Tochter zerfleischt wurde. Dennoch konnte sie ihren Blick nicht abwenden. Rosi rannte aufs Haus zu und die Katze sprang mit einem Satz über die große Treppe hinweg hinunter und rannte auf Rosi zu. Doch da stoppte sie schon und Rosi umklammerte ihren Hals. Die Katze fiel um und Rosi landete auf sie, wuselte durch ihr Fell, bekam ihre Zunge über ihr Gesicht geleckt und Rosi gab ihr einen Kuß auf die Nase. „Glaubst du es jetzt?“, fragte er, als Rosi aufstand und mit Renana an ihrer Seite zu ihnen kam. Anastasia antwortete nicht. „He. Trägst du Jeans?“ „Wie, was?“, antwortete sie, die näherkommend Katze nicht aus den Augen lassend. „Ob du auch Jeans trägst.“ „Ja, ja.“ Sie wich an die Wand des Ganges zurück. „Rosi, gehst du mit ihr rein?“, sagte er zu Rosi. „Mach ich. Komm Renana.“ Folgsam wie ein Schoßhündchen, machte sie kehrt und folgte Rosi ins Haus. „Du Miststück.“ „Und? Hast du jetzt gesehen wie sie sich gefreut hat?“ „Rosi hat die ganze Zeit über an sie gedacht.“ „Ich meinte Renana.“ „Ja.“ „Dann komm.“ Sie gingen los, da fragte Anastasia, was er mit der Jeans gemeint hat. „Ohne Strumpfhose und Höschen kannst du hier nicht rumlaufen. Denke mal, daß dir eine Jeans von mir passen wird. Zur Not geh ich rüber und hol dir eine OP-Hose.“ „Brauchst du nicht. Aber viel gefehlt hat da nicht.“, lächelte sie. Doch als sie Rosi mit Renana in der Halle toben sah, da wurde ihr doch Angst und Bange. Ulrich stellte Tasche und Brot ab, dann nahm er ihr die Tüte ab. Anastasias Blick wankte nicht von den Beiden. Erst als er ihr den Mantel aufknöpfte und sie daraus schälte erwachte sie aus der Starre. Er hing ihren Mantel auf, dann sagte er: „Rosi. Dein Mantel.“ Rosi kam zu ihm, während Renana ihr hinterher blickte. Er zog ihr den Mantel aus und hängte ihn ebenfalls auf. Sofort rannte sie wieder zu Renana. Erst dann schälte er sich aus seiner Jacke. „Anastasia?“ Sie starrte noch immer auf Renana und zuckte erst erwachend zusammen, als er ihrem Namen zum zweitenmal rief. „Ja?“ „Laß die Beiden spielen. Wir bringen die Sachen in die Küche.“ „Ungern.“ Aber dennoch half sie ihm bei den Sachen. Als sie in die Küche kam, war sie sprachlos. Sie war so groß. Und er hatte drei Kühlschränke! Sie konnte sich die Frage nicht verkneifen, ob er verfressen sei. Doch er öffnete lachend den ersten Kühlschrank und sagte: „Getränke“. Als er den Zweiten öffnete sagte er „Essen“. Doch als er den dritten öffnete flüsterte er „Futter“. Sie sah, daß der dritte große Fleischstücke enthielt. Sie konnte sich denken, für wen die waren. „Wieso flüsterst du?“ „Willst du das wirklich wissen?“ „Ja.“ „Futter.“, sagte er im normalen Tonfall. Kaum waren seine Worte verhallt, da stand Renana schon neben ihm und schaute ihn an. „Darum.“ Rosi kam in die Küche gerannt und wollte wissen, wieso ihre Miezekatze so plötzlich abgehauen war. Anastasia sah Renana, aber noch etwas sah sie. Die dunklen Stellen an Rosis Strumpfhose. An ihren Knien. „Schatz, zieh die Strumpfhose besser aus, bevor sie ganz schwarz geworden ist.“ Lachend verschwand Rosi ins Wohnzimmer. Einige Sekunden später rief sie „Renana“. Renana machte kehrt und verschwand ins Wohnzimmer. Während er im Wohnzimmer die Heizung herab drehte und den Kamin entzündete, sowie Kerzen auf den Tisch stellte und das Licht löschte, bereitete sie schon das Abendbrot vor, was aus zwei Gründen etwas schmäler ausfallen mußte. Zum einen hatte er ein kleines Brot gekauft und davon auch nur die Hälfte. Zum anderen hatte er es schneiden lassen. Sehr dick schneiden lassen. Und so waren aus dem Brot nur 6 Scheiben geworden. Und auf seine Bemerkung hin, daß es doch sehr wenig Brot sei, antwortete Anastasie: „Rosi hat seit damals wenig gegessen. Nicht zu wenig, aber weniger als sonst. Wir werden schon hinkommen.“ Sie nickte und belegte eine weitere Scheibe mit Salami. Als sie fertig waren, er hatte noch Kakao für Rosi gemacht, trugen sie alles ins Wohnzimmer. Anastasia war im Himmel. Sie hatte den brennenden Kamin sofort gesehen. So oft hatte sie sich gewünscht, wieder an einem Kamin zu sitzen und einfach nur so in die Flammen zu schauen. Aber sie dachte in dem Moment auch daran, das, obwohl er solch eine riesige Wohnung hatte, sie nun, ganz wie bei ihnen zu Hause, im Wohnzimmer essen würden. Sie hätten in der Küche Platz genug gehabt. Und einen Tisch und drei Stühle waren dort auch vorhanden. Doch er hatte bereits die Becher ins Wohnzimmer gebracht. Sie setzte sich wieder in den weichen Sessel und Rosi kam zu ihm auf das Sofa. „Wo ist dein Kleid?“ „Da.“ Rosi zeigte auf das Ende des Sofas, wo die Strumpfhose und ihr Kleid lagen. „Warum hast du das Kleid ausgezogen?“ „Mir ist so warm.“ Anastasia sah ihn fragend an. Doch er nickte nur. Dann setzte er sich neben Rosi. Ulrich fragte sie, was sie wolle und Rosi sagte: „Fleischwurst“. Er schob ihr die größte Brotscheibe mit Fleischwurst auf den Teller und Anastasia sah erstaunt zu, wie ihr kleiner Spatz diese in Windeseile verputz hatte. Doch noch begeisterter war sie, als Rosi noch eine Scheibe Brot haben wollte. Ulrich gab ihr die größte noch übriggebliebene Scheibe und Rosi fiel über sie her. Als Rosi dann noch um das Endstück bettelte, da wußte Anastasia, das ihre Maus wieder die Alte war. Rosi hatte ihre drei Stücke verputzt, da saß sie gerade an ihrem zweiten. „Darf ich spielen gehen?“, fragte Rosi. Ganz erstaunt sah Anastasia, das sie mit der Frage nicht gemeint war. Rosi hatte Ulrich angesehen. „Aber ja Schatz.“, antwortete er. Rosi schlang ihre Ärmchen um seinen Hals, gab ihm einen Kuß, dann war sie auch schon in die Halle gerannt. „He! Wieso wird ich nicht gefragt!“, rief sie ihr hinterher. Rosi kam zurück und schaute sie fragend an. „Na hau schon ab.“ Ein flüchtiger Kuß und weg war sie. Anastasia sah ihr verzweifelt hinterher. „Ich glaube, ich muß dir mal die Geschichte dieser Katze erzählen und wieso sie so lieb ist.“ „Wieso? Was ist an ihr so besonderes? „Die Rasse.“ „Die Rasse?“ „Ja. Die Rasse ist sehr alt. Nachgewiesen schon seit über 1500 Jahre. So um 500 n Chr. kam ein Radscha aus den Bergen des Himalajas nach Indien. Er ließ sich in einer sehr fruchtbaren Gegend nieder und erbaute dort seinen Palast. In seiner Begleitung waren seine Frau und sein damals erst ein Jahr alter Sohn. Neben seiner Leibwache und den Dienerinnen, männliche Bedienstete gab es nicht, wurden sie auch von eine Tigerin begleitet. Rasura. Sie hatte schwarze und weiße Stellen im Fell, wie jede andere Tigerin auch. Jedoch waren die vielen gelben Stellen im ihrem Fell eher golden statt gelb.“ „Genau wie bei Renana!“ „Ja. Die Aufgabe der Tigerin bestand aus drei Teilen. Zum ersten mußte sie den Maharadscha beschützen. Zum zweiten die Maharani, und zum dritten den Thronfolgen und seine Geschwister. Und diese Aufgabe erfüllte sie stets. Auch unter Einsatz ihres Lebens. Als der Palast fertig war, gebar sie drei Tiger. Allesamt Katzen, also Mädchen. Diese erfüllten die Aufgabe Rasura mit der gleichen Hingabe und Treue. Auch war ihr Fell genau so golden wie das von Rasura. Nur ein einziges Mal in ihrem Leben geht eine Tigerin alleine aus dem Palast. Um sich mit einem Tiger im Dschungel zu paaren. Dann kommt sie wieder und gebiert ihre Jungen. Und immer sind es Katzen. Also Mädchen. Sollte es jedoch einmal vorkommen, daß auch ein männlicher Tiger, also ein Kater, geboren wird, so geht die Mutter mit ihm in den Dschungel und zieht ihn dort groß. Wenn er auf eigenen Füßen stehen kann, kommt sie wieder in den Palast zurück. Alleine. Ebenso ist es, wenn vier Katzen in einem Wurf sind. Meistens sind es zwei. Es kommt aber auch oft vor, daß es drei sind. Aber bei vieren bleibt das Letztgeborene zwar im Palast, aber wenn es alt genug ist, dann geht es in den Dschungel.“ „Und was hat das mit Renana zu tun? Und wieso soll sie so zutraulich sein?“ „Vor anderthalb Jahren war ich in Indien. Mit einer Ärztin durfte ich in den Palast und konnte die Tiere mit eigenen Augen sehen.“ „Tiere? Leben denn da noch mehr?“ „Vor anderthalb Jahren waren es 53.“ „53!“ „Ja.“
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