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Das Zeitungsmädchen
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von Rolf Isar und Paul Pixie
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Creative Commons: (CC: BY-NC-ND) Rolf Isar
und Paul Pixie. Der Text darf frei verwendet werden, jedoch nicht kommerziell, nur vollständig und unverändert und nur einschließlich der (CC)- und Autorenangaben.
2 – Der Single von knapp sechzig Jahren
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Was bisher geschah: Thea erhält zu ihrem zwölften Geburtstag von ihrer drei Jahre älteren Freundin Dunja Karten für einen gemeinsamen Kinobesuch geschenkt. Der Film handelt von einem Mann, der zunehmend unter den Depressionen seiner Geliebten leidet. Ebenso betroffen ist die fast volljährige Tochter der Frau. Nachdem die Mutter davon erfährt, dass die beiden zu einem innigen Verhältnis zusammengefunden haben, tötet sie ihre Tochter.
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F
alkos morgendlicher Tagesablauf war eine unabänderliche Routine: Um acht Uhr ging sein Wecker, nach der Morgentoilette setzte er Kaffee auf und holte dann die Zeitung aus dem Briefkasten. Von einer Nachbarin wusste er, dass sie seit ein paar Wochen von einem ausgesprochen netten, sehr jungen Mädchen zuverlässig in aller Frühe vor Schulbeginn austragen wurde, während Falko sich in seinem bequemen Bett noch einmal umdrehen konnte. Froh darüber, nun wirklich jeden Tag die Zeitung in seinem Briefkasten erwarten zu können, was früher leider nicht immer der Fall gewesen war, beschloss er, der guten Seele spätestens zu Weihnachten ein kleines Geschenk und ein Trinkgeld bereitzulegen, aber dann vergaß er die Sache auch schon wieder und betrachtete seine Frühstückslektüre wie bisher als Selbstverständlichkeit.
Er war ein freundlicher Mann, der durchaus humorvoll sein konnte, vor allem aber war er ein einsamer Mann. Ganz bewusst verzichtete er auf allzu viele persönliche Kontakte, lebte am liebsten in den Tag hinein. Zu seinen wenigen Freunden zählte Alfons, der in der Stadt eine Apotheke betrieb. Was sie einte, wenn sie sich gelegentlich zu einem Glas Bier trafen, war das Bedürfnis, die eigene Vergangenheit in Frieden ruhen zu lassen. Vor Jahren einmal hatte Alfons, schon sichtlich angeheitert, ein paar Andeutungen gemacht, aus denen Falko sich seinerzeit ein allzu inniges Verhältnis von Alfons’ beiden damals noch kleinen Töchtern zu ihrem Vater zusammengereimt hatte, das gegen die Moralvorstellungen von dessen Gattin und die Gesetzeslage auf mehr oder weniger drastische Weise verstieß. Falko war damals bewusst, dass er besser keine neugierigen Fragen stellte, aber er konnte nicht leugnen, dass sein Interesse geweckt war. Einen besonderen Drang, dieser Geschichte genauer nachzugehen, hatte er indes nicht verspürt, und in letzter Zeit hatte er auch seine Freundschaft mit Alfons arg vernachlässigt.
Mit zunehmendem Alter gab immer mehr die gewohnte Routine seinem Tag eine Struktur, gab Falko eine Sicherheit, die er benötigte, denn danach konnte er frei wählen, ob er seiner Arbeit nachging, lieber den Rasen mähte oder einfach nichts tat. Er wusste, er neigte zu diesen langen Phasen der Antriebslosigkeit, und er hatte niemand, der – oder die – ihn dann aufmunterte, aber wenn er um neun Uhr dreißig die Zeitung zur Seite legte, war er in seinem Rhythmus und wandte sich mit der gleichen Selbstverständlichkeit den Aufgaben des Tages zu, bevor er nach dem abendlichen Gläschen Rotwein zu Bett ging, zufrieden mit dem Vollbrachten.
So ging das seit Jahren, und Falko war zufrieden damit.
Doch dann geschah Überraschendes. Eines Tages lag der Zeitung ein Foto bei. Es zeigte das überaus natürlich und sympathisch wirkende Gesicht eines Mädchens mit langem, dunklem, welligem Haar und braunen Augen. Fasziniert betrachtete Falko das unwiderstehliche Lächeln der Kleinen. Er wusste, wenn ihn ein junges, hübsches Wesen so ansah, konnte er ihm keinen Wunsch abschlagen. Auf der Rückseite des Fotos stand mit etwas ungelenker Handschrift:
„Das bin ich, Ihre Zeitungsfee”
Zunächst dachte Falko, das Mädchen habe an jenem Morgen jedem Exemplar der Zeitung ein Foto von sich beigelegt, wohl, um sich den Kunden einmal vorzustellen, sicherlich durch die Agentur veranlasst und unterstützt. Nette Idee, mit der handschriftlichen und damit sehr persönlich wirkenden Notiz auf der Rückseite. Aber es war kein normales bedrucktes Papier, sondern echtes Fotopapier. Würde eine Agentur so etwas nicht billiger machen wollen?
Beiläufig fragte er am Abend die Nachbarin, ob sie auch so ein Foto bekommen habe. Sie verneinte und mutmaßte mit einem kleinen Seitenhieb auf Falkos vermeintlich lotterhaft späten Tagesbeginn, dass wahrscheinlich nur jene Kunden damit bedacht worden seien, bei denen das Zeitungsmädchen bislang noch nie eine Chance hatte, sich einmal kurz persönlich vorzustellen. Das mochten vielleicht nur wenige sein, insofern erschien die Erklärung durchaus schlüssig.
Gleichwohl nachdrücklich fasziniert von der Ausstrahlung des Mädchens auf dem Foto, nahm er sich vor, es an den nächsten Tagen einmal zu beobachten, wenn es die Zeitung brachte, doch er stellte sich nicht den Wecker entsprechend und verschlief die frühe Morgenstunde jedes Mal, bis er eines Tages – zwischen Werbebeilage und Sportteil – ein zweites Foto fand. Diesmal war ihr ganzer Körper darauf, schlanke Beine, olivgrüner Rock und passendes Trägershirt, und man konnte sagen, sie sah wirklich hinreißend aus. Gebannt starrte er auf das Foto, studierte jedes kleine Detail und wurde immer begeisterter. Sie war nicht einfach irgendein Mädchen, sie war die Wucht! Endlich kam er auf die Idee, die Rückseite zu betrachten, und was er da las, löste in seinem Körper eine Welle bebender Hitze aus, als wäre er ein Schuljunge, der gerade seinen ersten Liebesbrief erhält:
„Hallo! Sie sehen wirklich nett aus. Und Sie wohnen ganz allein, obwohl Sie doch noch gar nicht alt sind. Das tut mir leid. (Ich bin auch einsam, hab nur meine Freundin.) – Thea”
Falko brauchte einige Minuten, um seine Gedanken ordnen zu können. Einen solchen Gruß von einer erwachsenen Frau hätte er als eindeutige Offerte verstanden, sie zu einem Kennen-lern-Date einzuladen. Aber von einem Schulmädchen? Wie alt mochte es sein? Vielleicht schon vierzehn, wenn es doch den Job als Austrägerin bekommen hatte? Aber ihr Körper wirkte noch sehr kindlich, eher wie elf: die sehr schlanke, gar nicht frauliche Figur, die unter dem Trägershirt nur mit Phantasie die Ansätze von Brüstchen erkennen ließ. Andererseits, ihr Lächeln vermittelte einen durchaus selbstbewussten Eindruck. Aber das wirklich Umwerfende war, dass diese Thea, wie er sich bewusst wurde, tiefste Instinkte in ihm weckte. Dieses Mädchen, dieses halbe Kind – es reizte ihn als junges, unberührtes Weib, dessen Knospe der Fruchtbarkeit jeden Moment zu bersten versprach.
Falko kannte sich selbst wahrlich lange genug, und er hatte es für sich längst akzeptiert, dass seit den Tagen, da er seine eigene Sexualität entdeckte, sein Faible für junge Mädchen im entsprechenden Alter mitnichten geschwunden war, also Mädchen, die selbst gerade ihre erste Regel erwarteten oder noch nicht lange hinter sich hatten und gleichermaßen unerfahren wie neugierig begannen, nach Jungen Ausschau zu halten oder auch, damals zu seinem Leidwesen, nach weitaus älteren Traumprinzen wie aus dem Film oder der Illustrierten
. Die, mit denen er damals zusammen war, erwiesen sich leider als zu sprunghaft, um etwas Dauerhaftes daraus werden zu lassen, und er selbst hatte seinerzeit, wie er zugestehen musste, auch völlig unangemessene Ansprüche.
Seine späteren Erfahrungen mit „richtigen” Frauen waren eher katastrophal. So bevorzugte er in seinen Phantasien eben jene blutjungen Weibchen, deren Fehler zumeist ihrer Unsicherheit geschuldet und somit verzeihlich waren. Das war es, was ihn angesprochen hatte, als der gute Alfons ihm seine vagen Andeutungen machte. Doch es lag weit über dreißig Jahre zurück, dass ein solches hoffnungsvolles Geschöpf ihn – irgendwie – angeflirtet hatte. Was also sollte er, bei Lichte besehen, von dieser Kontaktaufnahme des bezaubernden Zeitungsmädchens halten?
Als ein Mann, der sich langsam, aber sicher ernsthafte Gedanken darüber machen musste, wie er seinen sechzigsten Geburtstag zu feiern gedachte, fühlte er sich natürlich geschmeichelt – allein schon durch die Versicherung Theas, er sei doch „noch gar nicht alt”. Nun, dem Gefühl nach hätte er auch lieber dreißig Lenze zählen wollen anstatt des Doppelten. Für einen Moment dachte er wirklich daran, das Mädchen morgens abzupassen und es für den Nachmittag zu sich einzuladen, doch dann obsiegte seine Einsicht, dass das kleine Pflänzchen der Sympathie, das da spross, durch allzu offensives Verhalten womöglich gleich wieder erstickt werden könnte.
Gottlob gab es einen behutsameren Weg: Er konnte ihr doch über den Briefkasten eine Antwort zukommen lassen. Indes, über einen Plan, wohin sich dieser prickelnde Kontakt schließlich entwickeln sollte, mochte er gar nicht nachdenken. Da hätte wohl die Phantasie gar zu arg mit ihm durchgehen können!
* * *
D
ieses eine, ganz bestimmte Haus hatte Thea neugierig gemacht, weil niemals jemand drinnen zu sehen war und auch nicht ein einziges Mal Licht brannte, wenn sie dort die Zeitung in den Kasten steckte. So lange konnten die Bewohner doch gar nicht im Urlaub sein! In ihrer Neugier war sie sodann nachmittags ein paar Mal dort vorbeigegangen, bis sie schließlich den Mann gesehen hatte, der dort wohnte. – Sie fühlte sich wie vom Schlag getroffen! Dieser Mann, er glich dem Meinhard aus dem Film in frappierender Weise! Für einen Moment dachte sie gar, es müsse der Schauspieler selbst sein, der dort wohne, aber mithilfe eines Onlinelexikons hatte sich dieser Verdacht schnell erschlagen. Dennoch, wann immer ihr die Filmstory im Kopf herumging, die Thea noch immer stark beschäftigte, verband sie nunmehr ihren Filmhelden mit jenem Manne, dem sie Tag für Tag die Morgenzeitung lieferte.
Wohl mochte der Mann aus der Nachbarschaft wenige Jahre älter sein, als der Meinhard im Film, doch schon allein des Aussehens wegen schloss die Zwölfjährige ihn spontan ins Herz. Und das noch mehr, als sie feststellte, dass er offenbar ganz alleine dort wohnte, ohne Familie, ohne Frau. Ihre Gedanken, die zuvor um die Figur des Meinhard gekreist waren, richteten sich nun auf einen Menschen, den es wirklich gab, nicht nur im Film, sondern im ganz realen Leben. Ob dieser Mann sich ebenso heldenhaft bewähren würde, wenn er sich in ähnlicher Situation befände wie Meinhard? Wenn er sie, Thea, kennenlernte und er sie nett fände, ob er dann vielleicht gar ihr etwas von seiner Kraft und Fürsorge zukommen lassen würde, wenn es doch aktuell in seinem Leben niemanden anderes zu geben schien, der dieses Schutzes bedurfte?
Thea wusste, das waren kindliche Spinnereien, aber was kostete es, einen Versuch zu wagen, um wenigstens eine kleine Chance zu haben? Dunja war der einzige Mensch, dem sie diese heimlichen Gedanken anvertrauen konnte. Als Thea sich darüber klar geworden war, hatte es keinen Tag mehr gedauert, bis sie ihre Freundin eingeweiht hatte, und diese hatte sich einmal mehr des Vertrauens würdig erwiesen. Sie verstand die um drei Jahre Jüngere nur zu gut. Und noch mehr, sie war es, die die Idee mit den Fotos hatte, und mit ihrer Hilfe waren diese dann auch zustande gekommen. Mit klopfendem Herzen und aller Vorsicht hatte die Kleine dann auf die Rückseiten geschrieben, was die Seele ihr riet, und so waren die beiden Fotos schließlich im Abstand von drei Tagen in den Postkasten Falkos gelangt.
Thea machte sich wenig Illusionen. Der Erwachsene, schließlich ein Mann, der im vollen Leben stand und ganz anderes im Kopf haben mochte als die kleinen Sehnsüchte eines heranwachsenden fremden Mädchens, würde wahrscheinlich wenig darüber nachdenken, sondern viel eher mit Unverständnis ignorieren, was sie mit Herzblut von sich wissen ließ – wenn er denn die Fotos überhaupt bemerkte. Doch wenn alles anders, besser, käme, dann müsse das der Beweis sein, dass dieser Mann all das Vertrauen und all die liebevollen Gedanken Theas auch tatsächlich verdiene. Die zarte Hoffnung, es möge sich entgegen aller vernünftiger Erwartung doch so fügen und der heimlich Verehrte möge in irgendeiner Weise auf die von ihr gegebenen Zeichen ansprechen, gab dem Zeitungsmädchen ein Gefühl des Wohlseins.
* * *
E
s war unverkennbar, dass in Falko etwas vor sich ging. Er merkte es am Morgen, als er sich dabei ertappte, das Gedicht auf der letzten Seite der Zeitung zu lesen. Falko verabscheute Lyrik, er konnte damit nicht das Geringste anfangen, auch jetzt erschloss sich ihm der Sinn der Verse keineswegs, aber die Tatsache, dass er dennoch jede Zeile las, verunsicherte ihn.
Er merkte es am Abend, als sein freundlicher, immer noch scharfer Blick zwischen den Gegenständen vor ihm auf dem Tisch hin und herhuschte, Weinglas und Pornoheft. Beides nichts für ein kleines Mädchen, und aus irgendeinem Grund beeinflusste ihn dieser Gedanke. Er verkorkte die Flasche, leerte das Glas ins Spülbecken und warf das sündige Magazin in den Müll.
Vor Jahren hatte er kurzzeitig Erfüllung bei den Huren gesucht und nicht gefunden. „Falko, du bist ein verdorbener, alter Sack” hatte er sich gesagt, und das sagte er sich auch jetzt wieder. Er ging ins Bett wie immer, aber anstatt sich – die gestochen scharfen Aufnahmen des Sexmagazins noch frisch in seinem Gedächtnis – eigenhändig ein bescheidenes fleischliches Vergnügen zu verschaffen, dachte er an etwas ganz anderes. Er dachte an Thea.
Immer noch war ihm nicht klar geworden, was er sich von einem Kontakt zu ihr versprach. Aber er war sich sicher, sie konnte ihm etwas geben, was er anderswo nie gefunden hatte. Vielleicht träumte er das nur. Aber es gab keinen Zweifel, dass ihre entzückenden Fotos, ihre kleinen Nachrichten und das vorsichtige Vertrauen, das sie ihm darin entgegenbrachte, ihn zutiefst berührt hatten. Mindestens war er es ihr schuldig, sie wissen zu lassen, dass ihre Nachrichten angekommen waren und Spuren hinterlassen hatten.
Er rappelte sich noch mal auf. Stand eine Weile ratlos vor dem Chaos, das seinen Schreibtisch überzog. Fand ein kleines Stück dünnen Kartons. Er nahm es und griff zu seinem Füllfederhalter. „Liebe, kleine Thea” schrieb er, kratzte sich am Hinterkopf, warf das Kärtchen weg und nahm ein anderes.
„Liebe Thea”
, begann er von Neuem.
„Du hast Recht, ich bin ein einsamer Mann, der sich dafür eigentlich noch zu jung fühlt. Doch lieber lebe ich allein, als mit einer der Frauen, die mich enttäuscht haben. Gerade jetzt bin ich aber vor allem ein glücklicher Mann, denn Deine kleinen Beilagen zu meiner Zeitung haben mir eine große Freude gemacht. Sie haben mich... berührt, sozusagen. Sie haben mich auch ein bisschen traurig gemacht: Ich finde, es gehört sich nicht, dass ein Mädchen oder eine junge Frau in Deinem Alter (ich darf doch Du sagen?) ganz allein ist. Du solltest eine glückliche Familie um Dich haben, wie ich sie früher hatte. Ich frage mich, was mag wohl geschehen sein, dass Du Dich so einsam fühlst? Und trotzdem, auf den Fotos, da ist soviel Lebensfreude und jugendliche Energie in Deinem Blick, dass ich sie als großartiges Geschenk betrachte. Sei Dir sicher, in den nächsten Tagen werde ich meine Zeitung nicht wie bisher schlaftrunken und geistesabwesend aus dem Briefkasten holen, sondern ein bisschen aufgeregt sein und sie hoffnungsvoll auf Nachricht von Dir untersuchen. Es grüßt: Falko.”
Es kostete ihn einige Mühe, das Kärtchen so in seinem Briefkasten anzubringen, dass nicht jeder es sehen konnte – zum Beispiel eine Horde herumstreunender Rabauken, die nichts besseres zu tun hatten, als in seinen Vorgarten zu pinkeln und herumzuschnüffeln – gleichzeitig jedoch so, dass es Thea beim Einstecken der Zeitung mit Sicherheit auffallen musste. Endlich war er zufrieden mit der Art der Befestigung und kehrte in sein Bett zurück.
Er wachte diesmal lange vor dem Läuten des Weckers auf und war kurz davor, die dadurch gewonnene Zeit am Fenster zu verbringen, um sich davon zu überzeugen, dass das Zeitungsmädchen sein Kärtchen fand und nebenbei einen Blick auf sie – auf ihr Gesicht, ihren Körper, ihre Bewegungen, und auf ihre Reaktion – zu erhaschen.
Aber nein
! Das wäre falsch. In der gleichen Weise, wie es für ihn unerlässlich war, um acht Uhr aufzustehen und keineswegs früher oder später, so mochte, ja musste, es doch auch für Thea wichtig sein, unbehelligt Zugang zu seinem Briefkasten zu haben. Er hatte kein Recht, sie heimlich zu beobachten, es kam überhaupt nicht in Frage. Womöglich würde dies außerdem, wenn sie es bemerkte, gar alles kaputt machen. Und so wälzte er sich ein bisschen hin und her, amüsierte sich darüber, dass ihn in seinem Alter ein kleines Mädchen in solche Unruhe versetzen konnte, und schlief schließlich noch einmal ein.
* * *
A
ls Thea das Kärtchen bemerkte, war sie sich sofort sicher, dass es nur für sie sein konnte. Natürlich freute sie sich. Wohl sogar ein wenig zu sehr, wie sie selbst befand, als sie eine irritierende Hitzewelle von ihrem Bauch in den Kopf aufsteigen fühlte. Froh darüber, dass niemand in der Nähe war, der ihren gewiss hochroten Kopf hätte bemerken können, steckte sie den Karton schnell weg. Die Botschaft zu lesen, wollte sie sich in aller Ruhe Zeit nehmen, und es schien ihr auch gar nicht schlecht, wenn sie sich diese Freude, die sie sich zumindest davon versprach, noch ein paar Stunden bis nach dem Unterricht aufsparte. Ganz leicht fiel ihr dies indes nicht; ein paar Mal musste sie in der Schule mit sich ringen, nicht das Brieflein einzustecken, um es unbeobachtet auf der Toilette zu lesen. Immer wieder wanderten ihre neugierigen Gedanken an jenem Vormittag vom Lehrstoff weg, zu dem Brieflein hin. Der Mann, dem sie, all ihren Mut zusammen nehmend, zwei Fotos und ein paar Zeilen geschickt hatte, er hatte sich offenbar tatsächlich darauf eingelassen. Ihr Held! Es musste – es konnte nur eine schöne, eine liebe, eine freudige Erwiderung sein! An eine andere Möglichkeit mochte sie gar nicht denken.
Als endlich der Gong das Ende ihrer letzten Unterrichtsstunde bekannt gab, hielt sie es kaum noch aus, nach Hause zu kommen, wo sie um diese Zeit, da ihr Brüderchen noch in der Nachmittagsbetreuung war, allein sein würde. So rannte sie mehr, als dass sie ging, nach Hause. Als sie dann an ihrem Schreibtisch saß und das Kärtchen in ihren zitternden Händen hielt, war sie viel zu aufgeregt, um es einfach so zu lesen. Es war eine neue Erfahrung für Thea, etwas so dringend ansehen zu wollen und den Moment doch weiter hinauszuzögern. ‚Feierlich‘, sagte sie sich, ‚es muss ein wenig feierlich sein‘. Sie zündete eine Kerze an. Atmete tief ein und seufzte. ‚Mein Held‘, dachte sie. Ihr Herz pochte aufs heftigste, als sie endlich das Kärtchen aufklappte.
Begierig sog sie Falkos Zeilen ein, las gleich darauf den Text ein zweites Mal und ließ ihre Gedanken schweifen. Mehr aus Gewohnheit rieb sie sich dabei zwischen ihren Beinen, an ihrem Geschlecht, mit der rechten Hand, die sie unter das Röckchen, die Strumpfhosen und den Slip geschoben hatte. Gezeigt hatte Dunja ihr das vor einiger Zeit, und Thea hatte bald erkannt, dass es ihr angenehme, wohlige Empfindungen machte, wenn sie sich selbst im Schritt streichelte. Deshalb tat sie das inzwischen gern und oft, wenn niemand zusehen konnte, wie etwa abends im Bett vor dem Einschlafen oder manchmal sogar auf der Schultoilette und eben auch jetzt.
Dunja hatte auch die Idee gehabt, dass sie sich beide gegenseitig streicheln sollten, doch Thea hatte diesen Wunsch abgewiesen, obwohl sie eigentlich neugierig gewesen wäre. Im Grundetraute sie sich nur nicht. Überhaupt hatte Dunja öfter solche Ideen, die Thea im ersten Moment unvorstellbar erschienen, manchmal sogar widerwärtig und eklig, wenigstens aber peinlich. Doch wenn Thea dann darüber nachdachte, wuchs ihre Neugier, und sie bereute die anfängliche Ablehnung. Würde Dunja noch einmal diesen Vorschlag machen, dann wollte sie ihrer Freundin vertrauen und sich darauf einlassen.
Ihr Streicheln geschah freilich in diesem Moment fast unbewusst. Falkos Worte beschäftigten die Gedanken des Mädchens völlig. Darin lag so vieles, das sie, Thea, groß machte, ihre Selbstachtung stärkte. Und der Ton war sehr warmherzig, ja liebevoll. Falko, ja, seinen Vornamen kannte sie schon von der Liste, die sie von der Agentur hatte. Falko war nun nicht mehr nur ein Kunde, sondern ein… ja, was eigentlich? Auf jeden Fall ein Mensch, der sich auch um sie Gedanken machte, um ihre Situation. Und es machte ihr nicht einmal etwas aus.
Normalerweise nämlich mochte sie es gar nicht so gern, auf ihre Familie angesprochen zu werden, in der es schon lange keinen Vater mehr gab und die Mutter permanent gestresst war, von der Arbeit und von Mirko, Theas kleinem Bruder, der gerade die erste Schulklasse besuchte, Schwierigkeiten hatte und Aufmerksamkeit brauchte – für Thea, die Ältere, die Vernünftige, die Pflegeleichte, blieb da kaum etwas übrig. Auch das Geld reichte vorn und hinten nicht.
Aber wenn Falko sich Gedanken machte, war es anders. Er durfte es. Bei ihm hatte Thea, obwohl sie ihn doch gar nicht kannte, das Gefühl, sich nicht für ihre Familienverhältnisse fremd-schämen zu müssen. Genau das war etwas, wonach sie sich sehnte: sich fallen lassen zu können. So, wie sonst nur bei Dunja, ihrer lieben Freundin.
„Es gehört sich nicht, dass ein Mädchen in deinem Alter…“ – jener Satzanfang hatte Thea zunächst zusammenzucken lassen. Genau diese Worte hatte sie schon zu oft von ihrer Mutter gehört, und nach deren Logik hätte der Satz vervollständigt etwa so lauten müssen: „Es gehört sich nicht, dass ein Mädchen in deinem Alter einen fremden Mann anschreibt.“ Doch um wie viel einfühlsamer war die Fortsetzung des Satzes, die ebendieser fremde Mann für sie gefunden hatte!
Dass Falko von Frauen enttäuscht worden war, wie er schrieb – das überraschte Thea nicht. Ja, klar. Was auch sonst! Es musste ja einen Grund haben, dass dieser Mann allein lebte. Sie wünschte sich, ihm etwas von dem geben zu können, was er bei jenen Frauen vermisst hatte. Vielleicht war es doch vor allem Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit? Vielleicht würde ja auch ein Mädchen von gerade einmal zwölf Jahren einem erwachsenen Mann ein wenig Freude bereiten können. Den Versuch war es doch wert.
Thea stellte sich vor, neben Falko zu sitzen, von ihm in den Arm genommen zu werden, ganz freundschaftlich, vertrauensvoll… Da fiel ihr auf, dass sie sich die ganze Zeit nebenher die Muschi rieb. Wie ein Blitz ging es ihr durch den Kopf, dass sie sich das ganz bestimmt nicht erlauben könne, wenn Falko wirklich neben ihr säße und sie im Arm hielte. Oder aber – wenn es doch passierte? Wenn er sie jetzt so sehen könnte, er, der Mensch, von dem sie sich sehnlich wünschte, ihm mehr vertrauen zu können als allen anderen? So, wie sie Dunja vertraute oder womöglich sogar noch mehr? Würde er schimpfen, wenn er sie so sähe? Oder was würde er denken?
In diesem Moment bemerkte Thea ein sehr merkwürdiges Gefühl im Bauch. So, wie auf der Achterbahn, wenn es bergab ging. Als ob Wellen durch ihren Körper gingen, unten von der Muschi her aufsteigend bis zum Hals. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Aber es war irgendwie ein schönes Gefühl. Was ihre Gedanken betraf, war ihr ja klar, dass es nur Spinnereien waren. Schöne Spinnereien.
Jetzt war es besonders schön, das Streicheln unten. Thea zog ihre Strumpfhosen aus, auch ihren Rock legte sie ab, und schließlich sogar den Slip, so dass sie unten herum ganz nackt war. Mit einem spitzbübischen Lächeln stellte sie sich nun vor, Falko könne sie so „verderbt” beobachten – freilich im sicheren Wissen, dass das nicht so war und nicht sein konnte. Und doch gefiel es ihr, sich so und nicht anders an den Tisch zu setzen und ihm eine Antwort zu schreiben:
„Hallo, lieber Herr Falko. (Wie soll ich schreiben?) Schade, dass es Frauen gibt, die Sie enttäuscht haben. Ich kann das nicht verstehen. Aber es muss ja einen Grund haben, dass Sie lieber allein leben. Wenn ich Ihnen eine Freude machen kann, möchte ich es gern tun. Wenn Sie es wirklich wissen wollen, kann ich Ihnen auch schreiben, warum ich so allein bin. Dann sind wir ja schon zu zweit. Sie können mir auch alles erzählen, ich würde gern mehr von Ihnen erfahren, und ich verspreche, dass Sie mir vertrauen können. Möchten Sie noch ein Foto von mir haben? Wie möchten Sie mich darauf sehen? Es wird aber ein paar Tage dauern. – Thea…
P.S.: Ich hab mich sooooo über Ihre Antwort gefreut!!!”
* * *
‚
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hea!‘, dachte Falko, ‚Thea ist da!‘ Ihm blieb vor Aufregung ein bisschen die Luft weg. Das Klappern des Briefkastendeckels hatte ihn geweckt, und das konnte nur eines bedeuten.
Er unterdrückte den Impuls, sofort aus dem Bett zu springen und zur Haustür zu rennen. Er ignorierte auch die innere Stimme, die ihn nicht zum ersten Mal gemahnte, wegen eines kleinen Mädchens nicht so außer sich zu geraten. Für volle fünf Minuten, die ihm wie eine Ewigkeit vorkamen, klammerte er sich an seinem gemütlichen Kopfkissen fest, bis er sicher sein konnte, dass Thea außer Sichtweite war. Dann huschte er an seinen Briefkasten und holte die Zeitung, noch bevor er den obligatorischen Kaffee aufgesetzt hatte.
Er trug sie wie eine Trophäe, eine unersetzliche Kostbarkeit. Er schüttelte den Kopf über sich selbst. Er kannte sich lange genug, um zu wissen, dass sein ganzes Verhalten nur eines bedeuten konnte: Er war verliebt. Wie sonst wäre zu erklären, dass er einer simplen Zeitung so viel Wertschätzung entgegenbrachte, um sie dann achtlos durchzublättern und keinem der schönen Artikel auch nur die geringste Aufmerksamkeit zu widmen. Es interessierten ihn weder die Weltpolitik noch der Lokalteil, nicht die Kleinanzeigen reizten ihn und auch nicht die Reiseseite. Zwischen Feuilleton und Sport stieß er auf das, was er zu finden hoffte: Theas Brief.
Als Erstes spürte er tiefe Erleichterung. Jetzt erst war er sicher, mit seinem Kärtchen Theas Geschmack getroffen, die richtigen Worte gefunden zu haben; der schwierige, heikle Anfang war gemacht. Er legte sich schon die ersten Worte seines nächsten Briefes zurecht, aber dann besann er sich darauf, erst einmal zu sehen, was Thea ihm überhaupt geschrieben hatte. Wie sehr ihn das anrührte, vor allem das, was zwischen den Zeilen zu erahnen war, ihr Mitgefühl, ihre Traurigkeit, ihre Sehnsucht danach, sie beide, Falko und Thea, könnten Freunde werden.
Dann stutzte er. Was meinte sie mit noch einem Foto, und wie er sie darauf sehen wollte? Und warum um alles in der Welt hatte er eine Erektion, als er daran dachte, wie es gemeint sein
könnte? „Oh nein, oh nein, du alter Narr”, sagte er laut zu sich selbst, „du wirst es noch alles zerstören!” Nicht Nacktfotos hatte Thea gemeint, nicht ihn zu erregen war ihre Absicht – sie wollte ihm einen Eindruck von sich vermitteln, und die Frage war: Mochte er sie auf dem Foto bei einem ihrer Hobbys sehen, denen sie zweifellos nachging, oder mit ihrer schwierigen Familie, oder mit ihren Freundinnen? Aber wenn er jetzt ehrlich zu sich war, dann spielte in all seinen Überlegungen zu Thea die Vorstellung ihrer Nacktheit durchaus eine Rolle. Er seufzte, holte ihre bisherigen Fotos aus der Schublade, in der er seine teuersten Wertsachen aufbewahrte, betrachtete sie gründlich und nachdenklich – und ertappte sich dabei, seine rechte Hand in die Pyjamahose zu stecken und mit sich zu spielen. Beim besten Willen konnte er nicht widerstehen, so sehr das schlechte Gewissen auch auf ihm lastete, als sich das Sperma in seine Hand ergoss.
Er wusch sich. Nahm dieses Mal sein bestes Briefpapier und den guten Füllfederhalter. „Liebe Thea!”, begann er, und als ihm die weiteren Worte so gar nicht in den Sinn kommen wollten, besann er sich endlich doch auf seinen treuesten Begleiter von allen, den morgendlichen Kaffee.
Und er wurde nicht enttäuscht. Wach und klar, nach einer ausgiebigen Dusche – schließlich wollte er Thea nicht unsauber gegenübertreten, auch nicht in schriftlicher Form – und einer zweiten Tasse Kaffee, flogen ihm die Worte geradezu aus der Feder. Er schrieb:
„Meine liebe Thea! Schon jetzt, obwohl wir uns kaum kennen, spüre ich eine Nähe und Vertrautheit zu Dir und weiß, Du wirst mich nicht enttäuschen, wie auch ich Dich nicht enttäuschen werde. In meinen Gedanken bist Du ganz in meiner Nähe, Tag und Nacht, doch es ist ein bisschen wie im Nebel, ich weiß ja nur, dass Du Zeitungen austrägst. Und mein Herz sagt, dass ich Dich mag. Am liebsten erführe ich mehr über Dich, was Du gern hast und was Du verabscheust und, ja, warum Du Dich so einsam fühlst. Ich würde Dir auch gerne von mir erzählen, aber ich merke, dass mir das schwer fällt. Du könntest mir Fragen stellen, die Dich interessieren, das würde es mir erleichtern, und ich verspreche, jede einzelne von ihnen ehrlich zu beantworten.
Um Dein nettes Angebot aufzugreifen: Ja, ich hätte sehr gern ein weiteres Foto von Dir, und was den zweiten Teil der Frage betrifft: Ich möchte Dich darauf sehen, wie Du Dich am liebsten zeigst. Wie Du am liebsten willst, dass ich Dich sehe. Ich werde ganz aufgeregt sein, wenn ich dieses Foto in meinen Händen halte, das verspreche ich Dir. – Dein Falko.
P.S. Wenn es Dir nichts ausmacht, nenn mich doch einfach Falko und Du. Das würde mir das schöne Gefühl vermitteln, dass wir über den Altersunterschied hinweg einfach Freunde sind.”
Ach, er hätte tausend andere Dinge schreiben können, oder Dutzende besserer Formulierungen finden. Aber er beließ es bei diesem ersten Anlauf, Thea würde ihn schon verstehen. Dann lenkte er sich ab, indem er mitten am Vormittag doch endlich seine Zeitung studierte. In Amerika wurde gewählt, eine Studie warnte vor der wachsenden Zahl alleinerziehender, alkoholabhängiger Frauen, und das Kino in der Stadt zeigte schon wieder diesen alten Schinken, die tragische Geschichte um die junge Klara. Irgendwie war Falko seine Morgenlektüre unwichtig geworden, sie verblasste hinter Theas Beilagen und seinen diesbezüglichen Phantasien. Aber das würde er vorerst für sich behalten.
Den ganzen Tag dachte er, wie gut er sich doch hinsichtlich des angekündigten Fotos aus der Affäre gezogen hatte. Niemals hätte er sich getraut, Thea zu gestehen, wie gern er ihre nackte Haut sähe. Sollte sie jedoch entgegen jeglicher Wahrscheinlichkeit selbst an ein Nacktfoto gedachte haben, dürften seine Formulierungen sie wohl kaum davon abhalten. Andernfalls würde er zumindest etwas über seine kleine Freundin und ihre Vorlieben erfahren und eine weitere Aufnahme ihres entzückenden Gesichtes erhalten.
Sich auf die Arbeit zu konzentrieren, misslang Falko an diesem Tag. Aber als er abends seinen Brief im Briefkasten anbrachte, hatte er Thea einen hübschen Strauß der ersten Blumen des Frühlings gepflückt, den er in einer Vase neben die Haustür stellte.
Das Zeitungsmädchen (Teil 2 von 8) Creative Commons:
(CC: BY-NC-ND) Rolf Isar und Paul Pixie
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